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WAS BLUMEN ERZÄHLEN

Sagen aus der Pflanzenwelt

Margareta Fuchs

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Wenn du’s aber noch nicht weißt,

Wo die Engele wohnen zumeist,

Wenn sie vom Himmel zur Erde kummen,

So will ich dirs sagen, das sind die Blummen.

Liebes Maidelein, wenn du dann

Willst allweil die Engelein um dich han,

So mußt du’s nur mit den Blümlein halten,

So wer’n auch die Englein um dich walten.

Stell’ eine Blume vor das Fenster dein,

So läßt sie dir keinen bösen Gedanken herein;

Stecke vor deine Brust einen Blumenstrauß,

So gehst du allweg mit einem Engelein aus.

Begieße frühmorgens ein Lilienreis,

So bleibst du den ganzen Tag lilienweiß;

Stell’ Nachts an dein Bett eine Rose zur Hut,

So wiegt dich ein Engel auf Rosen gut.

Friedrich Rückert (1788–1866): Die Blumenengel (in Ausschnitten)

Inhalt

Einleitung

Acker-Winde (Convolvulus arvensis)

Affodill (Asphodelus)

Akelei (Aquilegia)

Allermannsharnisch (Allium victorialis)

Alpen-Grasnelke (Armeria alpina)

Alpenrose (Rhododendron)

Arnika (Arnica montana)

Aster (Aster)

Beifuß (Artemisia vulgaris)

Bibernelle (Pimpinella) und Baldrian (Valeriana officinalis)

Bilsenkraut (Hyoscyamus niger)

Blutwurz (Potentilla erecta)

Christrose (Helleborus niger)

Distel (Cirsium)

Dolomiten-Fingerkraut (Potentilla nitida)

Dorant (Achillea ptarmica) und Gewöhnlicher Andorn (Marrubium vulgare)

Eberwurz (Carlina acaulis)

Echte Edelraute (Artemisia mutellina/umbelliformis)

Edelweiß (Leontopodium alpinum)

Ehrenpreis (Veronica officinalis)

Eisenkraut (Verbena)

Engelwurz (Angelica)

Enzian (Gentiana)

Feuerlilie (Lilium bulbiferum)

Fingerhut (Digitalis purpurea)

Frauenmantel (Alchemilla)

Frauenschuh (Cypripedium calceolus)

Gänseblümchen (Bellis perennis)

Gefleckter Aronstab (Arum maculatum)

Geflecktes Knabenkraut (Dactylorhiza maculata)

Gemeines Fettkraut (Pinguicula vulgaris)

Glockenblume (Campanula)

Gundelrebe (Glechoma hederacea)

Hauhechel (Ononis)

Hauswurz (Sempervivum tectorum)

Herbstzeitlose (Colchicum autumnale)

Immergrün (Vinca minor)

Jerichorose (Anastatica hierochuntica)

Johanniskraut (Hypericum perforatum)

Jungfer im Grünen (Nigella damascena) und Vogelknöterich (Polygonum aviculare)

Kaiserkrone (Fritillaria imperialis)

Kamille (Matricaria chamomilla)

Klatschmohn (Papaver rhoeas) und Margerite (Leucanthemum vulgare)

Klee (Trifolium)

Kohlröschen (Nigritella nigra)

Königskerze (Verbascum)

Kornblume (Centaurea cyanus)

Kuckucks-Lichtnelke (Silene/Lychnis flos-cuculi)

Labkraut (Galium verum)

Lilie (Lilium candidum)

Löwenmaul (Antirrhínum majus)

Löwenzahn (Taraxacum officinale)

Maiglöckchen (Convallaria majalis)

Mannstreu (Eryngium)

Mariendistel (Silybum marianum)

Märzenbecher/Frühlingsknotenblume (Leucojum vernum)

Mauerpfeffer (Sedum acre)

Monte-Baldo-Anemone (Anemone baldensis)

Moschus-Schafgarbe (Achillea moschata)

Mutterkraut (Tanacetum parthenium oder Matricaria parthenium)

Narzisse (Narcissus)

Nelke (Dianthus)

Osterglocke (Pulsatilla vulgaris)

Pfingstrose (Paeonia)

Quendel (Thymus serpyllum)

Raute (Ruta graveolens)

Safran (Crocus sativus)

Schlüsselblume (Primula)

Schneeglöckchen (Galanthus nivalis)

Schöllkraut (Chelidonium)

Schwertlilie (Iris)

Seerose (Nymphaea)

Soldanelle (Soldanella alpina)

Sonnenblume (Helianthus annuus)

Speik (Primula glutinosa oder Valeriana celtica)

Spitzwegerich (Plantago lanceolata)

Stechapfel (Datura stramonium)

Steinbrech (Saxifraga)

Sterndolde (Astrantia)

Tausendgüldenkraut (Centaurium erythraea)

Teufelsabbiss (Scabiosa succisa)

Tulpe (Tulipa)

Türkenbund (Lilium martagon)

Veilchen (Viola odorata)

Vergissmeinnicht (Myosotis)

Wegmalve (Malva neglecta)

Wegwarte (Cichorium intybus)

Weiße Schafgarbe/Bittere Garbe (Achillea clavennae)

Wermut (Artemisia absinthium)

Wilde Karde und Weber-Karde (Dipsacus sylvestris und Dipsacus fullonum)

Wildes Stiefmütterchen (Viola tricolor)

Wohlriechende Weißwurz (Polygonatum officinale)

Zymbelkraut (Cymbalaria muralis)

Einleitung

Blumen sind seit vielen Jahrtausenden unsere lieblichsten Wegbegleiterinnen – in Freud und Leid, in Gesundheit, in Liebe und Tod. Sie sind überall anzutreffen: unscheinbar am Straßenrand, in bunten Wiesen bis hinauf in hochalpines Gelände sowie in edler, gepflegter Form in Parkanlagen und Gärten. Seit Jahrtausenden sind sie Bestandteil von Kultstätten: Sie zieren Tempel, Moscheen und Kirchen, den kleinen Bildstock und das hölzerne Wegkreuz. Keine religiöse Feier findet ohne sie statt: Sie begleiten Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen. Auch die Gräber der Verstorbenen werden seit jeher mit Blumen geschmückt: Bereits in einem über 40.000 Jahre alten irakischen Grab, dem sogenannten „Blumengrab“, fand man Spuren von Kornblumen, Schafgarben und Malven.

In ihrem schweigsamen Dasein bergen Blumen unzählige Geheimnisse, und wer genügend Zeit mit ihnen verbringt, kann davon mehr erfahren. Man kann aber auch den alten Blumengeschichten lauschen – sie öffnen die Tür zu einem wundersamen Kosmos.

Von der Wiege bis zum Grab verschönern Blumen unseren Jahres- und Lebenslauf, und ‚durch die Blume‘ drücken wir unsere Gefühle aus und teilen Botschaften mit. Diese Sprache der Blumen war bereits vor vielen Jahrhunderten im Orient ein beliebtes Verständigungsmittel: Schenkte oder zeigte eine türkische Frau einem Mann z. B. ein Muschirumi (= Traubenhyazinthe), sagte sie zu dem Liebenden: „Ich gewähre dir alles.“ Eine Herbstzeitlose drückt aus: „Meine schönsten Tage sind vorüber“, und die Ringelblume versinnbildlicht Verzweiflung und Kummer. Die Rose gilt als Symbol der Liebe, die Lilie repräsentiert die Reinheit, das Vergissmeinnicht die Treue. Auch die Farben der Blumen haben ihre Bedeutung: Rote Blumen stehen für die Liebe, blaue für Sehnsucht und Treue, weiße für Mitgefühl und Trauer.

Zahlreiche Mythen und Sagen auf der ganzen Welt erzählen vom Werden und Vergehen und vom Wirken der Blumen. So sind sie auch Begleiterinnen der Göttinnen: Laetitia, die römische Göttin der Freude, wird mit einem Blumenkranz auf dem Kopf dargestellt, und auch Spes, die grün gekleidete Göttin der Hoffnung, trägt in der rechten Hand eine sich entfaltende Blume. Ja, laut manchen Mythologien sind Blumen sogar erst unter göttlichen Fußtritten entstanden, z. B. unter jenen der griechischen Aphrodite, der wendischen Göttin Mara und der christlichen Maria. Sie sind den Gräbern und Körpern heiliger oder unschuldiger Menschen entwachsen oder aus deren Blut hervorgegangen: wie eine wilde Nelkenart aus dem Blut einer getöteten Jungfrau in einer cadorinischen Sage oder jenem des gekreuzigten Jesus in der christlichen Legende. Laut einer orientalischen Sage waren Hyazinthen, Veilchen und andere wohlriechende Blumen aus den Tränen Adams entsprossen, als er nach dem Sündenfall auf einen der höchsten Berge Sri Lankas (Adam’s Peak) niederstürzte.

Blumen sind Aufenthaltsort und Nahrung der Seelen. So erzählt eine Allgäuer Sage von einem jungen Ziegenhirten, der täglich beim Beten im Freien Blumen in seinen Hut gepflückt habe und, als dieser randvoll war und vor dem geweihten Bildstock entleert wurde, zusehen habe können, wie sich die armen Seelen um diese Blumen rauften.

In anderen alten Erzählungen werden Blumen mit sinnlicher Liebe und Fruchtbarkeit in Verbindung gebracht: Laut griechischer Mythologie ist unter dem Liebeslager von Hera und Zeus der Safran entstanden und laut römischer Mythologie wurde Juno schwanger, als die Blumengöttin Flora ihren Leib mit einer Blume berührte, und sie konnte so ohne männliches Zutun den großen göttlichen Mars gebären.

Die Blume ist ein archetypisches, tiefschichtiges Symbol. Es erstaunt mich immer wieder, wenn ich in meinem Tiroler Heimatland an vielen verschiedenen Orten dasselbe Blumenornament mit seinen sechs Blütenblättern entdecke – eingekerbt in alte und neue hölzerne Türen, Kästen und Truhen. Bereits vor vielen Jahrhunderten wurde es in Kirchenmauern und noch früher auf etruskische Sarkophage eingraviert. Mit ihrem Blühen, Absterben und Wiedererwachen versinnbildlicht die Blume auch hier den ewigen, geheimnisvollen Kreislauf von Leben, Tod und Wiedergeburt bzw. Neubeginn.

So schön die Blumen für unser Auge sind, so hat auch alles einen tieferen Sinn. Der gelbe Punkt im Blütenmittelpunkt des Vergissmeinnichts oder der violette Schlund des Bilsenkrauts haben die Aufgabe, Insekten anzulocken, damit sie die wichtige Aufgabe der Blütenbestäubung übernehmen können: ein überaus faszinierendes Kapitel der Biologie und auch für Laien ein spannendes Thema. In die Blüte des stark giftigen Eisenhuts können beispielsweise lediglich Hummeln mittels ihrer langen Saugrüssel vordringen und die Pflanze bestäuben. Es ist absolut beeindruckend anzuschauen, wie diese kleinen, brummenden Wesen ganz im Blüteninneren des Eisenhuts verschwinden, um an den Nektar zu kommen.

Wer sich mit Blumen beschäftigt, erfährt viele weitere interessante Dinge, z. B. dass nicht nur die Bäume ein beträchtliches Alter erreichen können, sondern auch die Blumen. So kann die liebliche Silberwurz mehrere hundert Jahre alt werden, der Gelbe Enzian bis zu 70. Es ist kaum zu glauben, dass die ersten Akelei-Arten bereits vor mehr als sechs Millionen Jahren entstanden sind und der Spinnweb-Steinbrech schon vor 50 Millionen Jahren in den Bergen westlich des Gardasees zu Hause war. Auch die Blüte ist ein komplexes Gebilde: Temperatur, Tageslänge und Licht spielen dabei eine wichtige Rolle. Manchmal dauert es Jahre, bis eine Blume zum ersten Mal blüht: So braucht der Gelbe Frauenschuh dafür ca. 16 Jahre, der Gelbe Enzian 7–10 Jahre.

Blumen mussten, so wie Pflanzen generell, aufgrund der verschiedenen klimatischen Begebenheiten spezielle Überlebensstrategien entwickeln. So gelingt es Alpenblumen mittels ihrer Behaarung, ihrer wasser- und energiespeichernden Blätter und Wurzelknollen sowie ihrer Wuchsform, sich vor UV-Strahlen, Trockenheit, Wind und Kälte zu schützen. Der Steinbrech ist imstande, Temperaturen bis zu –40 Grad zu überstehen; das duftende, sagenumwobene Kohlröschen trotzt Windgeschwindigkeiten bis zu 150 km/h, seine beiden handförmigen Wurzeln – eine schwarze und eine weiße – haben zu vielen kuriosen Sagen geführt, die ebenso in diesem Buch nachzulesen sind.

Blumen übernehmen auch wichtige ökologische Aufgaben. So tragen sie vor allem im alpinen Gelände zur Bodenfestigung bei und hemmen Schutt- und Geröllbewegungen. Sie stehen in einer harmonischen Wechselbeziehung zu anderen Wesen der Natur, bieten ihnen Nahrung und gewähren Schutz. Wie faszinierend ist der Anblick der Fliegenragwurz, einer seltenen heimischen Orchideenart, deren Blütenblätter auf frappierende Weise einer Wespe ähneln und mit ihrem Aussehen die Männchen einer Wespenart anlocken!

Ein weiteres fesselndes Kapitel der Pflanzenmythologie handelt von der Entstehung heilkräftiger Blumen und dem uralten, magischen Volksglauben hinsichtlich ihrer Verwendung. Viele Sagen berichten, dass der Mensch erst durch das Verhalten der Tiere auf die Heilkräfte der Pflanzen aufmerksam geworden sei: So soll z. B. der Waldehrenpreis zuerst von einem Hirsch nach einem Wolfsbiss erfolgreich verwendet worden sein. Noch vor 150 Jahren glaubten die Tiroler Jäger, dass das Essen der Wurzel der Gämswurz, auch Schwindelkraut genannt, sie völlig schwindelfrei mache, weil sie beobachtet haben, dass Gämsen sie sogar aus dem Schnee herausgraben. Hirschkühe fressen angeblich Türkenbundblätter, um brünstig zu werden, und Wölfe graben nach der Wurzel des Schlangen- oder Wiesenknöterichs, wenn sie von einer Schlange gebissen werden.

Das Wissen um die Heilkraft vieler Blumen reicht in die graue Vorzeit zurück. Das Bilsenkraut ist eines der ältesten Narkotika der Menschheit, und der Wermut fand gleichfalls bereits in Urzeiten therapeutische Anwendung. Der als Unkraut verpönte Löwenzahn wurde schon von den altarabischen Ärzten Avicenna und Rhazes (1./2. Jh. n. Chr.) als vorzügliches Mittel bei Leberentzündungen und Gelbsucht erwähnt, der Mauerpfeffer war gar schon um 300 v. Chr. als Heilpflanze bekannt.

Auch im christlich-religiösen Glauben spielen Blumen eine wichtige Rolle. Stellvertretend sei hier die ‚Dreißgenzeit‘ genannt, der Zeitraum zwischen dem Hochunserfrauentag am 15. August und dem Fest von Mariä Geburt am 8. September. Mariä Himmelfahrt ist bekanntlich das älteste Marienfest, an dem im gesamten deutschen Sprachraum die bäuerliche Blumen- und Kräuterweihe stattfindet. Es wird angenommen, dass dieses christliche Frauenfest auf den höchsten Festtag der römischen dreigestaltigen Natur- und Fruchtbarkeitsgöttin Diana zurückgeht, der ebenso in diese Zeit fällt.

In der Zeit der Dreißgen liegt laut Volksglauben ein dreifacher Segen auf allen Gewächsen der Erde, die gesammelten Pflanzen besitzen eine dreifache Wirkung und alle giftigen Pflanzen und Tiere verlieren ihre Schädlichkeit. Je nach Region wurden für das Dreißgenbüschel unterschiedliche Blumen und Kräuter gesammelt und geweiht, manche Blumen wurden eigens zu diesem Zweck in den Gärten gezogen, wie z. B. im Südtiroler Unterland der rot blühende Fuchsschwanz, der auch Unseres Herrgotts Geißel genannt wird. Laut Tiroler Volksmeinung freuen sich die Blumen das ganze Jahr auf die Zeit der Dreißgen. Die besondere Kraft der Blumen in dieser Zeit wird in einer christlichen Blumenlegende erklärt: Als die Apostel am dritten Tag nach der Bestattung Mariens noch einmal ihre Grabesgrotte aufsuchten, fanden sie statt des Leichnams duftende Blumen und Kräuter in der Gruft.

So manche einstmals berühmte Heil- oder Zauberblume ist mittlerweile in Vergessenheit geraten: So war der Heilziest von der Antike bis ins Mittelalter ein wahres Allheilmittel und wird heute nur noch gelegentlich in der Volksmedizin genutzt. Das Läusekraut, in Südtirol Einhacken oder Einsankenblume genannt, galt bei unseren Vorfahren als ‚fürnehmste Bergblume‘ – die einzige Pflanze, die von Natur aus hoch geweiht sei und zu Mariä Himmelfahrt nicht in der Kirche gemeinsam mit den anderen Pflanzen gesegnet werden müsse: Beim geringsten Verdacht von Hexerei im Kuh- oder Hühnerstall genügte es laut dem Glauben früherer Generationen, diese Blume im Stall zu vergraben.

Auch in puncto Liebe und Beziehung galten Blumen als wirksames Hilfsmittel. Die meisten Menschen kennen wohl die Verwendung der Margerite oder des Gänseblümchens als Liebesorakelblume, vergessen ist hingegen die magische Nutzung heimischer Blumen: Wenn ein Mann den gelb blühenden Odermennig bei sich trage, würden ihn alle Frauen und Mädchen lieb haben, so glaubte man früher in Tirol. Zu Pulver gestoßener Baldrian in Wein getrunken sorge für eine gute Freundschaft zwischen Mann und Frau, die Seerose hingegen wurde schon bei den Römern als eine Vernichterin der Liebe verwendet.

Anschauliche und liebenswerte Namen wurden den Blumen gegeben, welche ihre Wesensmerkmale oft treffender beschreiben als die offiziellen Bezeichnungen. So heißt z. B. das weiß blühende, lieblich duftende Moosauge, welches seine Blüte stets nach unten gerichtet hält, in der Umgangssprache Gschamiges Dirndl. Das in zwei Farben blühende Lungenkraut wird Hansl und Gretl genannt, der gelb blühende Hornklee wegen seiner Blütenform in ganz Tirol Frauenschiachl (= Frauenschühlein), die heilkräftige Rosenwurz aufgrund ihrer Wuchsform Frauenzopf. Und an all diese Namen sind immer wieder schöne Geschichten geknüpft.

Dieses Buch ist ein Streifzug durch die wunderbare heimische Blumenwelt und ist allen PflanzenliebhaberInnen gewidmet sowie jenen Personen, die Gefallen an Sagen, Mythen und Märchen haben. Aufgrund der alphabetischen Ordnung kann es zur Lektüre beliebig aufgeschlagen, aber auch von vorne nach hinten gelesen werden. Manche Sagen wurden wörtlich übernommen, andere neu erzählt. Aus Platzgründen war eine Pflanzenauswahl erforderlich, so wurden z. B. Strauchblumen, wie die Rosen, oder Gräser gar nicht berücksichtigt. Es sollen PflanzenkennerInnen gleichermaßen wie Unkundige angesprochen werden, vor allem aber soll das Buch den stummen Blumenwesen eine Stimme verleihen. Alljährlich gehen aufgrund von menschlichen Eingriffen in die Natur viele zarte Blumenschönheiten unwiederbringlich verloren. „Was Blumen erzählen“ soll deshalb ein kleiner Beitrag sein, in uns allen mehr Verantwortungsgefühl für die Natur und für die gesamte Schöpfung zu wecken.

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Acker-Winde (Convolvulus arvensis)

Muttergottesgläschen

Es hatte einmal ein Fuhrmann seinen Karren, der mit Wein schwer beladen war, festgefahren, so dass er ihn trotz aller Mühe nicht wieder losbringen konnte. Nun kam gerade die Mutter Gottes des Weges, und als sie die Not des armen Mannes sah, sprach sie zu ihm: „Ich bin müd und durstig, gib mir ein Glas Wein, und ich will dir deinen Wagen frei machen.“ „Gerne“, antwortete der Fuhrmann, „aber ich habe kein Glas, worin ich dir den Wein geben könnte.“ Da brach die Mutter Gottes ein weißes Blümchen mit roten Streifen ab, das Feldwinde heißt und einem Glase sehr ähnlich sieht, und reichte es dem Fuhrmann. Er füllte es mit Wein, und die Mutter Gottes trank ihn, und in dem Augenblick ward der Wagen frei und der Fuhrmann konnte weiterfahren. Das Blümchen heißt noch immer Muttergottesgläschen.1

Die liebliche Acker-Winde war in der griechischen Antike eine heilige Blume der Göttin Demeter.2 Von Gärtnerinnen und Bauern ist sie trotz ihrer Zierlichkeit nicht gerne gesehen, denn mit ihrem weit verbreiteten Wurzelnetz und ihrem raschen Wachstum überwuchert sie Nutz- und Zierpflanzen. Ihre becherförmigen Blüten sind meistens weiß-rosa gestreift und öffnen sich nur bei Sonnenschein für einen einzigen Tag.

Der ‚Trinkbecher der Muttergottes‘ wird von Laien häufig mit der Zaunwinde verwechselt, einer lästigen, kaum auszurottenden Rankpflanze, die lange, weiße Wurzeltriebe bildet. Acker- und Zaunwinde lassen sich an der Form und Größe der Blätter unterscheiden; zudem ist die Blüte der Zaunwinde strahlend weiß und wird von zwei grünen Vorblättern umrahmt. Beide Pflanzen sind leicht giftig.

Affodill (Asphodelus)

Von der Asphodeloswiese

Hermes, der Gott von Kyllene, hat die Macht, mit seinem goldenen Herrscherstab die Augen der Menschen zu schließen, wann immer er will. Schwirrend wie Fledermäuse in den Winkeln düsterer Höhlen müssen die Seelen ihm dann folgen, durch dunkle, schimmlige Pfade, durch die Flut des Ozeans, die leukadischen Felsen, durch das Sonnentor und das Land der Träume. Bald erreichen sie nun die graue Asphodeloswiese, wo die Seelen wohnen, die Luftgebilde der Toten: die Seele des Achilleus, jene von Patroklos und vom gewaltigen Aias; auch die Seele von Agamemnon kommt trauernd daher, umringt von anderen Seelen … und ebenso der ungeheure Orion verfolgt auf der Asphodeloswiese die drängenden Tiere, die er einst zu Lebzeiten auf wüsten Gebirgen getötet hatte …3

Nach dem antiken Schriftsteller Lukian von Samosata (um 120–180 n. Chr.) betraten die Seelen der Verstorbenen eine mit Affodillen reich bewachsene Wiese, nachdem sie den Styx passiert hatten. Auch Odysseus gewahrte diese Affodillen-Wiese, als er in die Unterwelt hinabstieg. Laut der Jenseitsvorstellung der antiken Griechen bestand das dunkle Reich der Persephone und ihres Gemahls Hades aus drei Bereichen: dem Elysion (der Insel der Seligen), dem Tartaros (Ort der ewigen Verdammnis) und dem Asphodeliengrund (wo laut Mythologie die Seelen der meisten Toten als Schatten lebten, bis sie sich nach geraumer Zeit verflüchtigten). Dies wird wohl auch der Grund sein, warum der Affodill als Trauerpflanze gilt; in Südeuropa wird er heute noch auf Gräbern gepflanzt.

Der Affodill wird aber nicht nur in der Odyssee mehrfach genannt, auch andere antike Autoren berichten von ihm. Er galt als echtes Wunderkraut: Seine Wurzeln bestehen aus mehreren fingerlangen und -dicken Knollen, die innen goldgelb sind. Sie sind reich an Stärkemehl und Zucker und dienten im Altertum der armen Bevölkerung als ergiebiges Nahrungsmittel; hierzu wurden die Wurzeln mit Malven und Feigen gemeinsam zerrieben.4

Der Weiße Affodill (Asphodelus albus), ein gruppenbildendes Liliengewächs, ist auch in manchen Gegenden des südlichen Trentino zwischen April und Juni auf Wiesen und Waldlichtungen im Mittelgebirge zu bewundern, wie z. B. in der Nähe des Bordalapasses/Val di Gresta. Die Pflanze hat wunderschöne, lang gestielte Blüten und wird ca. einen Meter hoch. Wer den Blick über diese weiß geschmückten Wiesen schweifen lässt, kann sich vielleicht auch eine Vorstellung vom mythischen Asphodeliengrund der griechischen Unterwelt machen.

Akelei (Aquilegia)

Heimliche Liebe

Ein Hirte aus dem Dörfchen Durlo in den Lessinischen Bergen brachte täglich seine Schafe auf die grünen Weiden hinter den Monte Alba. Erst am Abend, bei Sonnenuntergang, kehrte er mit seiner Herde wieder ins Dorf zurück, und täglich trug er ein Sträußchen von Blumen, die er tagsüber gepflückt hatte, bei sich. Die Blumen waren für ein Mädchen aus dem Dorf bestimmt. In den vielen einsamen Stunden drehten sich die Gedanken des Schafhirten nur um sie; jeden Abend freute er sich, das Mädchen wiederzusehen. Keine andere aus dem Dorf war so anmutig und liebenswürdig wie sie. Sie hatte langes, glänzendes Haar und den Blick eines sanften Rehs. Doch das Schicksal meinte es nicht gut mit dem jungen Burschen, denn der reiche und strenge Vater des Mädchens wollte von einer Verlobung seiner Tochter mit einem armen Hirten absolut nichts wissen. Er verbot ihr sogar, sich mit ihm zu treffen. Doch was wäre wahre Liebe, ließe sie sich von einem solchen Verbot einschüchtern? Jede Nacht trafen sich die beiden Liebenden heimlich hinter dem alten Bildstock, nicht weit vom Dorf entfernt.

Ein neuer Frühling kam ins Tal. Auf den Wiesen, an den Wegrändern, sogar auf den felsigen Berghängen sprossen frische Gräser und bunte Blumen hervor. Die allerschönsten, lieblich duftenden Blumen pflückte der junge Hirte für sein Mädchen, und zum Dank erhielt er warme Küsse und sanfte Zärtlichkeiten. Wie glücklich er war! Nichts anderes wünschte er sich vom Leben, nur dass es immer so weiterginge …

Eines Nachts hatte sich das Mädchen wieder einmal zum Ort des Stelldicheins hinter dem alten Bildstock begeben. Sie wartete auf ihren Geliebten, aber er kam nicht. Sie zählte alle Sterne am dunklen Nachthimmel, doch als sie fertig gezählt hatte, war er immer noch nicht gekommen. Da begann sie zu beten, sie flehte die Muttergottes vom Bildstock um Hilfe an. Und der Tag brach an, ohne dass der Bursche gekommen war, und auch die Stunden des Tages gingen vorüber …

Am Abend verbreitete sich im Dorf die Nachricht, dass der Schafhirte tot war. An den steilen, tückischen Felshängen des Sengiobianco war er zu Tode gestürzt.

Das ganze Dorf begleitete den Hirten auf seinem letzten Gang. Auch das Mädchen, stumm und tieftraurig, ihr Gesicht war totenblass. Ein unbeschreiblicher Schmerz ließ ihr Herz beinahe zerspringen, doch aus Angst vor dem strengen, jähzornigen Vater wagte sie es nicht, ihren Tränen freien Lauf zu lassen.

Als der Sarg in die dunkle Erde des kleinen Dorffriedhofs hinabgesenkt wurde, näherte sich ein Mann unauffällig dem Mädchen. Es war jener Mann, der den leblosen Körper des Dorfhirten gefunden hatte. Wortlos reichte er ihr ein Blumensträußchen. Es waren Akeleiblumen, zart und frisch, als ob sie gerade gepflückt worden wären.

Ein Blick in die Augen des Mannes genügte. Sie hatte alles verstanden. Verzweifelt presste sie die Blumen an ihre Brust, und heiße Tränen rannen über ihre Wangen und über ihr Gesicht. So erfuhr die ganze Dorfgemeinschaft von dieser tiefen, heimlichen Liebe.

Es gibt in den Lessinischen Tälern wohl wenige Liebesgeschichten, die an den vielen Spinnstubenabenden früher so oft erzählt worden sind wie diese. Erst in den letzten Jahrzehnten ist die Geschichte in Vergessenheit geraten, so wie viele Bräuche und Traditionen der Bergbewohner zusehend vergessen werden. Wenige nur wissen heute, warum die Akelei auch Heimliche Liebe – Amor nascosto – genannt wird.

Schau dir diese Blume einmal aufmerksam an: Ihre tiefroten Blütenblätter haben dieselbe Farbe wie das Blut. So erinnert die Akelei dich und mich an jenen armen, jungen Hirten, der beim Pflücken von Akeleien für seine heimliche Liebe das Leben verlor.5

Die Schwarzrote oder Schwarzviolette Akelei ist eine von ca. 70 Akelei-Arten aus der Familie der Hahnenfußgewächse. Sie wächst sowohl in Tallagen als auch in Bergwiesen bis auf 2000 Meter Meereshöhe. Akeleien sind sehr alte Pflanzen. Die ersten Arten sind vor mehr als sechs Millionen Jahren in Asien entstanden.

Zur Bedeutung und Namensentstehung der Akelei gibt es verschiedene Hypothesen: Das althochdeutsche Wort agana, das ‚Spitze‘ oder ‚Stachel‘ bedeutet, weise auf die fünf spitzigen Schoten der Blume hin, die wie Vogelklauen gekrümmt sind.6 Andere bringen den botanischen Namen Aquilegia mit dem lateinischen aqua (= Wasser) und mit legere (= sammeln) in Verbindung, womit die Blume zur ‚Wassersammlerin‘ wird; denn in den fünf trichterförmigen Kronblättern sammelt sich leicht Regenwasser an.

Früher wurde die Blume Aglei genannt, auch Gotteshut, Elfenhandschuh und im Italienischen Amor nascosto.7 Einst der deutschen Göttin Frigga zugeordnet, wurde sie mit dem Christentum zu Unserer Frauen Handschuh. In Kaltern ist sie das Antonius-, in Hall in Tirol das Aluisiglöckchen.

Akeleien sind Sinnbild für Melancholie, Bescheidenheit und Demut und ein Symbol der Schmerzensmutter. Sie finden sich seit der frühen Renaissance in christlichen Kunstwerken, wie beispielsweise im Vordergrund des weltberühmten Gemäldes „Portrait einer Prinzessin Ginevra d’Este“ von Pisanello im Pariser Louvre oder auf dem „Portinari-Triptychon“ von Hugo van der Goes in den Uffizien in Florenz (beide 15. Jh. n. Chr.).

Durlo aus der Sage ist ein kleines Dorf im Gebiet des Naturparks von Lessinien. Dieser grenzt im Westen ans Trentiner Etschtal, im Osten und Süden an die Provinzen Vicenza und Verona. Der in der lessinischen Sage genannte alte Bildstock steht immer noch.

Allermannsharnisch (Allium victorialis)

Alraunwurzen graben

Da hat der Georg Steeger ungefähr um 1840 in Prettau den Glauben gehabt, am Hochunserfrauentag müsse er Alraunwurzen graben vor Sonnenaufgang und dann zum Weihen tragen, dann hilft das zum Unsichtbarmachen.

Oben auf der Steeger Wiesen ist ein Etschen [Grat], da ist es fürchterlich steil, auch Edelweiß wächst dort. Als er nun die Wurzen gegraben hatte, sah er auf der Etschen einen großen Menschen daherkommen. Da hat ihn die Furcht ergriffen, und wie er zur Hütte kam, hat er geweint wie ein Kind. Die Leute glauben, das wird vielleicht der Teufel gewesen sein, sonst kommt bestimmt keiner des Morgens am Hochunserfrauentag über einen so steilen Knotten herab.8

Der Allermannsharnisch, auch Siegwurz, Wilder Knoblauch oder Neunhäuterwurz genannt, ist ein Lauchgewächs, das auf Hochstaudenfluren und felsigen Bergwiesen auf ca. 1500–3000 Meter Meereshöhe zu finden ist. Die Pflanze wird ca. 30–60 Zentimeter hoch, besitzt kurzgestielte, schwertförmige Blätter, weiße bis gelblichgrüne, kugelige Blüten und hat einen knoblauchähnlichen Geruch. Der Name der Alraune erinnert an Alruna, die gotische Seherin. Das gotische Wort runa bedeutet so viel wie ‚Geheimnis‘, ähnlich dem angelsächsischen runjan (= Zumurmeln, Eingeben); in der deutschen Sprache kennen wir den Begriff ‚Raunen‘.9 Weil die Echte/Gemeine Alraune (Mandragora) in Südtirol nicht wächst, wurde der Allermannsharnisch ähnlich wie sie gebraucht. Mit etwas Fantasie kann in der Wurzel des Allermannsharnisches wie in jener der Echten Alraune eine kleine, menschenähnliche Gestalt gesehen werden, zumal die zweigeteilten Wurzelausläufer wie zwei kleine Beine ausschauen. Die Wurzel wurde getrocknet und ähnlich ‚gehegt und gepflegt‘ wie jene der Gemeinen Alraune.

So stand die Alpen- oder Wilde Alraune in und außerhalb von Tirol als Zauberpflanze über Jahrhunderte in überaus großem Ansehen. Ihre Wurzel ist dicht von Fasern umschlossen und ähnelt einem Panzernetz, was zum Glauben führte, dass die bei sich geführte Wurzel dem Träger Schutz verleihe. So wurde sie auch in Kriegen, teilweise noch im Ersten Weltkrieg, von den Soldaten als Amulett um den Hals getragen. Zudem war man überzeugt, dass die Wurzel auch in finanzieller Hinsicht Glück ins Haus brachte.

Als Neunhäuterwurz halte sie außerdem Verhexungen vor Haus und Stall fern. In einem Bauernhof in Riol oberhalb von Franzensfeste fand man 1968 über der Küchentür eine Alpenalraun-Wurzel in einem kleinen Särglein eingemauert.10 Laut dem Tiroler Sagensammler Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg (1806–1873) galt die Allermannsharnischwurzel auch bei den Rosshirten als „ein gutes Stück“. Es lebe bei diesen der Glaube, dass man „vermeinten“ oder „beschrieenen“ Pferden lediglich die Wurzel um den Hals hängen brauche, dann höre der Zauber auf, so Alpenburg. Auch in Kuhställen hänge zumeist ein Wilder Alraun, besonders im Rossstall, so wie er sich in den meisten Bauernhäusern zur Viehdoktorei finde – wie als Talisman aufbewahrt –, denn die Bauern sagen: Diese Wurzel ist „ein Harnisch für Allermann, d. h. für Jedermann, für jede Frau, jedes Kind und jedes Vieh“11. Die Wurzel legte man deshalb auch Kindern als Schutzmittel in die Wiege. Die Zwiebelhäute waren zudem ein beliebtes Blutstillungsmittel.12 Der Mandragora/Alraune wurden seit der Antike also nicht nur zauberische Kräfte beigemessen; man schätzte auch ihre schmerzlindernde, beruhigende, narkotisierende und schlafbringende Wirkung. Noch um die Jahrhundertwende war es in Tirol üblich, Frauen zur Erleichterung der Geburt mit Alraunwurzel zu bestreichen.13

Alpen-Grasnelke (Armeria alpina)

Die Schlernhexen

Es ist schon lange, lange her. Damals, als der Rosengarten noch ein Garten voll blühender Rosen war und das Königlein Laurin dort oben die Krone trug, da blühten auf dem Schlern drüben Rosmarin, Gilgen und Nelken. Der kleine König hat oft voller Neid und Grimm von den Zinnen seiner Rosenburg hinübergesehen auf die Pracht dieser Blumen, und mancher tollpatschete Riese, manch raunziger Zwerg und nicht zuletzt die Buben von Seis und Völs versuchten, mit den saligen Fräulein anzubandeln, die im Schlerngarten die Blumen zu pflegen hatten. Und die Riesen und Zwerge, die Seiser und Völser haben ganz ähnlich geseufzt und ähnlich gejammert, wie heutzutage noch dann und wann die Bozner Buben jammern.

Wie sie aber dem König Laurin die Rosen zertreten haben und ihn selbst gebunden hinunterführten in das Tal, da hat eine von den Saligen, die gerade nach Tiers hinabgestiegen war, mit einem Nelkenstöckl für die alte, kranke Viglin, über das arme Königlein gelacht. Da ist Laurin ganz außer sich gekommen vor Wut und Zorn und hat den Schlerngarten verflucht und die schönen Gärtnerinnen in Hexen verwandelt. Damals ist der Schlern zu dem wilden Berg geworden, der er noch heute ist, und damals sind die blauen Blumen entstanden, die nach der Blüte die grauen Zottelhaare ansetzen – die Schlernhexen.

Und so hätte es bleiben müssen bis an das Ende der Welt. Denn welcher Pater hätte den Zauber brechen sollen? Hat doch keiner gewusst, dass die Blumen verwunschene Salige sind. So hat sich auch kein Pater um die Schlernhexen gekümmert, höchstens dass einer, der auf den Schlern gekommen ist, um Messe zu lesen in der Kassiankapelle, ein paar solcher Blumen mit seinen Bundsohlen zertreten hat. Doch davon sind sie auch nicht entzaubert worden. Da hat sich denn der Schlernwind ins Zeug gelegt. Das ist ein großmächtiger, bärtiger Riese, nicht eben recht freundlich, aber er hat ein gutes Herz.

Der hat im Herbst einmal zu schnaufen und zu blasen angefangen, dass den armen Blumen oben am Schlern ganz angst und bange wurde. Doch je mehr sie gezittert haben vor Schrecken und Bangen, desto mehr hat der Schlernwind geblasen und gestürmt.

Die Schlernhexen haben sich kaum mehr am Boden halten können, so wild hat er getan und hat der einen die Haare ausgerissen, der andern den ganzen Kopf davon – husch und wu-ih, wu-ih – hoch hinauf in die Luft bis zu den Wolken und dann wieder tief hinab bis ins Tal.

Als der Schlernwind mit den Hexenhaaren lang genug gespielt hatte, hat er sie grob und leichtsinnig neben der Heiliggrabkirche am Kalvarienberg zu Boden geworfen.

Im nächsten Frühjahr hat es seltsame, neue Blumen gegeben dort am Bozner Kalvarienberg.

Im Herbst ist dann die Stampf-Nandl immer hinauf, um das Unkraut auszustechen rings um die Heiliggrabkirche innerhalb des steinernen Geländers, und da hat die Nandl manche Schlernhex aus dem Boden gezupft und in ihren Korb geworfen, und abends hat sie den Korb in den Brunnen geleert drinnen in der Kapelle. Sie hat sich wohl oft gewundert, wohin der ganze Haufen Unkraut vom Vortag gekommen sei, wenn sie am nächsten Abend wieder einen Korb voll in den Brunnen geschüttet hat. Doch das Unkraut war weg, das war für sie die Hauptsache, und weiter hat sie sich keine Gedanken gemacht, die Nandl.

Wisst ihr aber, was mit den Schlernhexen in der Kapelle geschehen ist? Die sind allesamt wieder in ganz kleine, winzig kleine Salige verwandelt worden. An dem heiligen Ort hat sich der Fluch des Königleins nicht halten können.

Und wenn der Storch einmal recht gut gelaunt ist und ein recht schönes Mädel in die Stadt bringen will, eines mit dunklen Augen, die doch nicht schwarz sind, und mit dunkelblondem Haar – boznerisch dunkelblond –, dann fliegt er nicht zu den Talfertümpeln neben der Wassermauer und nicht hinaus nach Kampill. Nein, dann fliegt er hinauf auf den Kalvarienberg. Denn dort oben ist ein Brunnen mit zwei Wasserbecken, im rechten schwimmen die Buben und im linken die Mädchen. Von dort holt der Storch von alters her die Mädchen, eine von jenen Saligen, die früher einmal, vor langen, langen Jahren, am Schlern oben die Blumen gepflegt haben und die später dann – das darf man nie vergessen – in Schlernhexen verzaubert worden waren.14

Die Alpen-Grasnelke, im Volksmund Schlernhexe genannt, gehört trotz ihres Namens nicht zur Familie der Nelken, sondern ist eine von ca. 50 Grasnelken/Armeria-Arten aus der Familie der Bleiwurzgewächse. Sie zählt in Südtirol zu den geschützten Pflanzen und kommt in alpinen Höhenlagen bis auf ca. 2700 Meter Meereshöhe vor, oft in der Nähe von Bergseen. Sie blüht von Juli bis Oktober rosa-violett. Ihre Bezeichnung Schlernhexe bezieht sich wohl auf die sich lustig im Höhenwind wiegenden und raschelnden Fruchtköpfe. Nach der Samenreife trägt der Wind die vom schlottrigen, dünnhäutigen Kelch umhüllte Samenkapsel teilweise auch über größere Strecken davon und sorgt so für die Verbreitung der Blume. Der botanische Name Armeria sollte eigentlich Armoeria lauten, was auf das keltische und altslawische ar moer (= am Meer) zurückzuführen ist. Die Grasnelke ist nämlich auch eine typische Blume der Meeresküsten.

Ob es sich bei der in der Sage genannten Blume tatsächlich um die Alpen-Grasnelke handelt, muss angezweifelt werden, denn sie blüht kaum in blauer Farbe, wie in der Geschichte geschildert. Eher handelt es sich um die in gedämpftem Lila-Weiß blühende Frühlings-Küchenschelle (Pulsatilla vernalis). Eine ihr verwandte Küchenschellen-Art, die Brocken-Anemone, wird im Harz und in preußischen Sagen aufgrund ihres zotteligen Aussehens im verblühten Fruchtzustand ebenfalls den Hexen zugeordnet und wird Hexenbart genannt.

Alpenrose (Rhododendron)

Der Alpenrosenfluch

In der ladinischen Sagenwelt heißen die im Wald und im Gebirge lebenden Zwerge Salvàns. Werden sie von den Menschen geachtet, erweisen sie sich als hilfreich, geben den Bauern gute Ratschläge, hüten deren Schafe oder Kühe oder helfen bei anderen Arbeiten mit. In manchen ladinischen Tälern tragen sie laut Volksüberlieferung rote Kleidung, so wie ihnen überhaupt Freude an bunten Tüchern nachgesagt wird. Wenn man ihnen ein solches Tuch verspricht, arbeiten sie hart, um es sich zu verdienen.

Im ladinischen Fassatal half einmal ein Salvàn einen ganzen Sommer lang bei der Heumahd oben auf der Alm, und zum Lohn erhielt er ein rotes Tuch. O wie freute er sich darüber! Er sprang über die Felsblöcke, die da oben herumlagen, über die Zäune der Weiden, bis hin zum Waldesrand. Die Bauersleute schmunzelten darüber, sie hatten ja keine Vorstellung, wie wertvoll so ein rotes Tuch für einen Salvàn war.

Am Waldesrand saß eine junge Schafhirtin. Oft schon hatte der Salvàn sie aus der Ferne beobachtet, denn sie gefiel ihm sehr. Nun ging er zu ihr hin und breitete das Tuch vor ihr auf dem Gras aus. „Schau“, sagte er zu ihr, „dieses Tuch habe ich mir verdient und ich will es dir schenken und dich fragen, ob du mich heiraten willst.“ Die Hirtin schaute ihn erst ganz erstaunt an, dann drehte sie sich von ihm weg und gab ihm nicht einmal eine Antwort. Dieses hochmütige Verhalten des Mädchens kränkte den Salvàn über alle Maßen. Voller Zorn trat er auf das Tuch und rief: „Verflucht soll dieser Berg sein mit all seinen Wiesen, Weiden und Almen! Alles soll rot werden, rot wie mein Tuch hier!“ Dann stapfte er hinauf auf den Gipfel des Berges.

Noch am selben Tag breitete sich eine ungeheure Menge von Alpenrosensträuchern über die Alm und die Weiden aus und überwucherte alle saftigen Gräser, Blumen und Kräuter. Der ganze Berg verwandelte sich für immer in ein rotes Meer von Alpenrosen.

Der Salvàn aber blieb von nun an oben auf dem Berg, auf dem Piz del Salvàn. Wehe aber, wenn die Menschen ihn in seinem einsamen Reich da oben stören! Dann schleudert er Steine und Felsen auf sie hinab. Deshalb wagt sich kaum noch jemand in diese einsame Bergwildnis.

Nur wenn zwei sich von ganzem Herzen lieben und da hinaufwandern, lässt er sie in Frieden. Dann versteckt er sein Gesichtchen in seinem roten Tuch und zieht sich in seine Höhle zurück.15

Die einzigen in Tirol heimischen Alpenrosen-Arten sind die Rostblättrige Alpenrose (Rhododendron ferrugineum) und die Behaarte Alpenrose (Rhododendron hirsutum). Die zartschöne, auf Dolomitböden wachsende Zwergalpenrose (Rhodothamnus chamaecistus) ist mit diesen Alpenrosen nicht verwandt.

Im Volksmund hat die Alpenrose suggestive Namen wie Donnerbuschen, Zetten, Rafausle, Bergrose, Almbux u. a. m. Die Rostblättrige Alpenrose ist ein buschiger, bis zu einen Meter hoch wachsender, immergrüner Strauch. An der Unterseite ihrer Blätter befinden sich rostbraune Drüsenschuppen, von denen der typische herb-aromatische Duft der Blume ausgeht. Die Behaarte oder Bewimperte Alpenrose verdankt ihren Namen den waagrecht von den Blatträndern abstehenden Härchen. In Tirol wird vor allem diese Alpenrose Almrausch genannt. Der Name ist nicht definitiv geklärt. Laut dem deutschen Botaniker Heinrich Marzell (1885–1970) versteht man unter Rausch bzw. Rauschbeere auch verschiedene andere wintergrüne Heidekrautgewächse, wie die Bärentraube, die Rauschbeere und die Krähenbeere. Marzell war der Meinung, dass Rausch ganz allgemein immergrünes, alpines Buschwerk bedeute und dass der Almrausch wohl kaum gegen den Rauschbrand, eine akut verlaufende infektiöse Tierseuche, verwendet worden sei, wie dies manche Autoren vermuten.16 Die Rostblättrige Alpenrose galt früher in der Volksmedizin als hilfreich bei rheumatischen Beschwerden, bei Gicht- und Steinleiden. Frauen im Sarntal erzählten mir, dass sie mit den Blüten der Alpenrose einen Hustensirup herstellten. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen allerdings, dass die Alpenrose für Menschen und Tiere giftig ist.

Zwar ist die Alpenrose mit ihren rosa bis kräftig rot blühenden Blüten eine allseits beliebte Alpenblume, doch ist sie von Almbesitzern nicht immer gern gesehen, denn sie verbreitet sich als Weideunkraut relativ rasch auf Almwiesen und macht diese damit für das Weidevieh unbrauchbar. Die Alpenrose steht laut Südtiroler Volksglauben auch mit dem Gewitter in Beziehung. Wer eine Alpenrose bei sich trage, werde vom Blitze getroffen, deshalb der Name Donnerrose, hieß es im Passeiertal.17 Eine Sage aus Flaas/Jenesien schildert diese Gefahr anschaulich.

Das Donnerröschen

Auf der Saubacher Alpe schlief eine Sennin mutterseelenallein. Da ward sie durch ein furchtbares Hochgewitter aufgeweckt, und mitten durch das Donnergekrache hörte sie die Stimme ihres Geliebten. Sie stand auf und wollte ihn einlassen, doch kein Mensch und kein Hund waren draußen. Kaum hatte sie sich aber wieder zur Ruhe gelegt, als ihr Bursche von Neuem zu rufen schien. Die Dirne stand wieder auf und forschte – doch umsonst. So ging es auch zum dritten Male. Dann verzog sich das Ungewitter und die Sennin konnte ungestört schlafen, bis der Tag anbrach. Nur düstere Träume und bange Ahnungen ängstigten sie. Am folgenden Tage ward ihr Geliebter, vom Blitze erschlagen, im Walde gefunden. Eine Donnerrose, die den tödlichen Strahl angezogen hatte, hielt der Bleiche noch in der Hand.18

Den weiß blühenden Alpenrosen werden besonderes Ansehen und Zauberkräfte zugeschrieben, doch sind sie nur selten zu finden. Es sind zwar einzelne Fundorte aus dem Villnößtal, dem Pfunderertal und dem Vinschgau bekannt, doch werden sie zumeist geheim gehalten.

Die weißen Alpenrosen auf der Burgeiser Alm

Auf der Burgeiser Alm wachsen weiße Alpenrosen, die nur von unschuldigen Leuten gesehen werden. Der Finder einer solchen Wunderblume muss sich wohl vor Betörung hüten. Er darf von der erblickten Blume nicht wegsehen, sondern muss alsogleich seinen Hut oder sein Tüchlein darauf decken, Leute rufen und an der Stelle nachgraben. Tut er dies, wird er unter der Rosenstaude einen großen Schatz finden und ihn erheben können.19

Arnika (Arnica montana)

Die Blume der Guana

In der Nähe der Pale von San Martino lebte auf einem Gehöft namens Maso delle Guane ein junges Mädchen. Eine Guana war sie, mit wunderschönen langen Haaren; überhaupt war sie lieblich anzusehen, wie eine Fee. Nur etwas war seltsam an ihr: Einer ihrer beiden Füße war nach hinten gekehrt. Einem jungen Burschen aus Primiero/Primör war das Mädchen schon lange aufgefallen. Eines Tages sagte er sich: „Was ist schon so ein kleiner Schönheitsfehler? Ich will sie fragen, ob sie mich heiraten will, ich will nur sie oder keine.“ Die Guana sagte ja, aber nur unter der Bedingung, dass er in ihre Behausung ziehe, und, was noch wichtiger sei, dass er niemals ihr Haar berühren dürfe, niemals! Der Bursche versprach es. Schon zwei Monate später waren die beiden verheiratet und es begann eine glückliche Zeit für sie. Die junge Frau schenkte nacheinander sechs Kindern das Leben, fünf Buben und zum Schluss noch einem Mädchen, das dasselbe wunderschöne Haar wie ihre Mutter hatte.

Eines Tages hatte der Mann, er war mittlerweile ungefähr 35 Jahre alt, im Dorf zu tun, er trank dort auch noch ein paar Gläschen Wein, und als er nach Hause zurückkehrte, war es bereits Nacht, und Frau und Kinder schliefen schon. Wie er in die Kammer trat, sah er die Haare seiner Frau wie einen goldenen Wasserfall vom Bett auf den Boden hängen. Ohne darüber nachzudenken, was er tat, strich er ihr sanft übers Haar. Da fuhr die Guana entsetzt aus dem Bett hoch, wurde totenbleich, fing an zu zittern, wurde schmal und schmäler, und schlussendlich löste sie sich, einem dünnen Rauchfaden gleich, in Luft auf. Verzweifelt rief der Mann nach ihr, jedoch vergeblich. Er hatte sein Versprechen gebrochen und wusste, dass seine Frau wegen ihm fort musste. Er weinte die ganze Nacht überm Küchentisch, es schien ihm, als versinke das ganze Haus in Trauer. Erst am Morgen, als die Kinder erwachten, fasste er sich. Er musste ja den anfallenden Arbeiten nachgehen, und so trug er den Kindern auf, brav zu sein, bis er später wiederkäme. Ohne ihnen ein Frühstück zuzubereiten, verließ er betrübt das Haus.

Wie staunte er, als er am Abend das Haus aufgeräumt vorfand, die Kinder sauber und ordentlich! Verwundert fragte er sie, wer da so fleißig gewesen sei. „Es war die Mutter“, antworteten sie, „die Mutter war den ganzen Tag bei uns, erst vorhin hat sie uns einen Kuss gegeben und ist weinend davongegangen.“

So ging dies mehrere Monate. Die Guana kam, wenn er nicht zuhause war, sie streichelte die Kinder mit unendlicher Zärtlichkeit, erledigte die Hausarbeiten und verließ weinend wieder das Haus. Eines Tages aber hielt der Mann es nicht mehr aus. Der Wunsch, seine geliebte Frau wiederzusehen, war so groß, dass er nur so tat, als ob er das Haus verließe. In Wirklichkeit versteckte er sich hinter dem großen Backtrog. Es dauerte auch nicht lange, da hörte er das Knarren der Holztür, die vertraute Stimme seiner Frau, die ihre sechs Kinder der Reihe nach beim Namen rief. Als sie gekämmt und gewaschen waren, liefen sie hinaus auf die Wiese, und sie räumte das Haus auf. Aus seinem Versteck konnte der Mann sie genau beobachten. Jetzt, da er sie so aus der Nähe sah, schlug sein Herz ihm bis zum Hals vor Sehnsucht nach ihr. Wie konnte es bloß möglich sein, dass all die gemeinsam verbrachten Jahre der Liebe und des Glückes für sie so wenig zählten? Warum nur verzieh sie ihm diesen einzigen Fehler nicht? Hatte sie seine Liebe, seine Zärtlichkeit denn ganz vergessen?

Als sie in die Nähe des Backtrogs kam, sprang er hervor, umschlang sie mit seinen Armen und rief: „Verzeih mir doch, liebe Frau, ich bin todunglücklich ohne dich, ich bitte dich, bleib wieder bei mir!“ Da schrie die Guana laut auf und unter Schluchzen stieß sie hervor: „Was hast du nur getan! Ein schlimmer Zauber liegt über mir! Jetzt dürft ihr mich nie wieder sehen!“ Sie riss sich von ihm los, lief zur Tür hinaus und eilte über die grüne Wiese davon. Immer wieder verlor sie eines ihrer wunderschönen goldenen Haare, so wie die reifen Samen der Pusteblume, und auf der Wiese verwandelten sie sich in seltsame kleine Pflänzchen.