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Antoine Blondin

TOUR DE FRANCE
MYTHOS & LEGENDE

Aus dem Französischen von
Stefan Rodecurt

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Der Australier Phil Anderson, Fünfter der Tour,
im Gespräch mit Blondin, 1982
.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Der rote Peugeot 203, Nummer 101

Das Mittelalter

Eine Art Pilgerfahrt

Eine Figur des Besenwagens

Der Tod fährt immer mit

Der Mann, der in die Tiefe stürzte

Die Reifenpanne im dichten Nebel

Falscher Harn im Schlauch

Das Zeitfahren gegen das Monster

Ein Adler in Radsocken

Danksagung

Über den Autor

»Für Athleten und Dichter ist das Leben nur ein Zweitberuf.«

Blondin über Blondin

Vorwort

Antoine Blondin, am 11. April 1922 in Paris geboren, liebte Albert Londres, Arthur Rimbaud, Rugby, seine Mutter und Bourbon Whiskey - letzteren ganz besonders. Und alljährlich im Juli die Tour de France. Von 1954 bis 1982 fuhr er sie, als Chronist für die Sportzeitung »L’Équipe« rechts auf der Rückbank eines mythischen, rotleuchtenden Peugeot 203 mit der Nummer 101 sitzend, links neben ihm Pierre Chany, ebenfalls Journalist. Wenn man Zeitzeugen glauben darf, war die Sitzordnung der Insassen zugleich deren politische Ausrichtung.

Der Peugeot der L’Équipe war tagsüber Blondins Sommerresidenz, nachts waren es zahlreiche Bistros bis zum Morgengrauen.

Siebenundzwanzig Mal verfolgte er die Tour im Windschatten von Hinterteilen in kurzen Hosen, was ihn nicht störte. Dass an drei Abenden hintereinander Perlhuhn bei einem offiziellen Dinner aufgetragen wurde, schon: »Wenn dieses Federvieh die gesamte Tour bestreiten soll, dann gebe man ihm gefälligst eine Startnummer!«

Gleich in seiner allerersten Chronik der Etappe Bordeaux-Bayonne setzte Blondin 1954 ein Ausrufezeichen. Ein Auszug: »Ich bin erstaunt, mitten in der Karawane zu fahren, die die Frisuren der Mädchen zaust, die die Soutanen der kirchlichen Würdenträger zum Flattern bringt, die Polizisten erstarren lässt und die Paläste in simple Pressezentren verwandelt, und die direkt dem Pulk von Kerlen folgt, die bewundert werden und darüber selbst verblüfft sind und dabei den Namen einer Keksmarke auf dem Leibe tragen. Einziger Wermutstropfen: Ich habe mich nicht vorbeifahren sehen.«

Nur einmal musste er auf seine geliebte Sommerresidenz, wie er sie nannte, verzichten. Das war 1958. Ihm versagte damals seine Karriere als Romanautor den Ausflug auf die Landstraßen der Tour. Denn er musste, preisgekrönt schon bei seinem Debütroman »L’Europe buissonnière« (1949), nach »Les Enfants du bon Dieu« (1952) und »L’Humeur vagabonde« (1955) an seinem Buch »Un singe en hiver - Ein Affe im Winter« weiterschreiben. Das lohnte sich dann auch. Denn statt Anquetil zu folgen - Poulidor wurde erst zwei Jahre später Profi - durfte er erleben, wie der »Affe im Winter« nicht nur mit dem prix Interallié ausgezeichnet, sondern auch mit Jean Gabin und Jean-Paul Belmondo in den Hauptrollen verfilmt wurde. 1970 erschien sein letzter Roman »Monsieur Jadis ou l’école du soir«.

Blondin war das metallene Hämmern der Schreibmaschinen in den Pressesälen zuwider, weshalb er seine Glossen ein ums andere Mal in der Hotellounge oder direkt auf dem zinc, dem Bistrotresen, fein säuberlich, mit fast kindlicher Schrift schrieb. Bei Redaktionsschluss wurden die zumeist fliegenden Blätter eingesammelt. Fernschreiberinnen tippten und versandten sie per Lochstreifen an die Pariser Redaktion in der Nummer 10 Rue du Faubourg Montmartre, dem damaligen Stammsitz. Oje, das waren noch Zeiten!

Selbst wenn sich heute die Heldenlieder des Tour-Journalismus verändert haben, prägte Blondin mit seinen brillanten Chroniken wie kein anderer den Radsport über drei Jahrzehnte hinweg und verlieh ihm gar Noblesse. Er knüpfte dabei an seinen Helden, Albert Londres, an. Der war Kriegsberichterstatter und kam später Lenin und Trotzki, Gandhi und Nehru nahe. Und er schrieb über die Tour de France! Londres und Blondin schrieben nicht einfach Nachrichten, sondern verfassten Milieustudien, mal poetisch, mal analytisch. Blondin verband Präzision mit subtilem Humor. Alkohol war sein Treibstoff in einem Umfeld, in dem auch die Objekte seines Interesses nicht immer mit Wasser fuhren.

Auf der Rückbank des Peugeot 203 wurde Blondin fester Teil der Karawane und selbst ein Held der Tour. »Weißt du schon, worüber du heute schreibst«, fragte ihn mal ein Kollege. Blondin: »Nein. Ich weiß nur, was ich trinken werde.«

Blondins Glossen machen heute noch die Runde. Eine Anekdote über ihn geht so: In einem Etappenort feiert er mit einem befreundeten Journalisten ein unverhofftes Wiedersehen. Nach einer kurzen Nacht nehmen sie, noch benebelt von der nächtlichen Spritztour, auf einer Sitzbank mit schöner Patina Platz, rufen den Inhaber und bestellen zwei Espresso. Der Patron blickt sie irritiert an, doch Blondin lässt nicht locker. Daraufhin der Chef: »Meine Herren, bitte verstehen sie mich nicht falsch, ich bin Antiquitätenhändler.

Der Autor starb am 7. Juni 1991 an Lungenkrebs in Paris. Nach seinem Begräbnis titelte France-Soir, nun ja, ein Boulevardblatt: »Selbst die Kirche war rappelvoll, rappelvoll bis zum Stehkragen.«

Antoine, da bin ich mir ziemlich sicher, hätte wohl nichts gegen die Textzeile gehabt.

Stefan Rodecurt, im Mai 2018

Der rote Peugeot 203, Nummer 101

Als mir Marcel Prousts Fragebogen vorgelegt wurde, antwortete ich auf die Frage nach meiner Lieblingsbeschäftigung: »Die Tour die France verfolgen«, was im Milieu der Provinzliteraten ungläubiges Stirnrunzeln hervorrief. Marcel Proust hatte seinerzeit geantwortet: Lieben und der Romancier François Mauriac wenig später: Träumen.

Was auch immer geschehen sein mochte, meine Äußerung war einem gewissen kumpelhaften Umgang mit den angesehenen Veteranen nicht abträglich, handelte es sich doch in meinem Fall um die Erfüllung eines Wunschtraumes aus Kindertagen, durchaus würdig, sich mit der Suche nach der verlorenen Zeit (so der Proust’sche Buchtitel) zu beschäftigen.

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