Der Geisterjäger – Jubiläumsbox 4 – E-Book: 19 - 24

Der Geisterjäger
– Jubiläumsbox 4–

E-Book: 19 - 24

Andrew Hathaway

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-162-9

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Dem Satan auf der Spur

Roman von Andrew Hathaway

Paul Tamy war achtzehn Jahre alt und arbeitete im Londoner Hafen. Paul Tamy war groß und athletisch, hatte blaue Augen und schwarze Haare. Er verdiente gut, und die Mädchen schwärmten für ihn. Er war zufrieden. Und er genoß sein Leben ohne Einschränkung.

Bis zu jenem 16. September.

Das Grauen schlug kurz vor Mitternacht zu.

Zuerst glaubte Paul, verrückt zu werden. Später erkannte er, daß er sich nicht täuschte.

Satan war im Londoner Hafen angekommen!

*

Die Samstagnacht war Paul Tamys beste Zeit. Er ließ keine Disco aus, tanzte bis zum Umfallen und machte sogar dann noch weiter. So schnell wurde Paul Tamy nicht müde.

Unter der Woche schuftete er im Hafen für zwei. Jeder dachte, das müsse alle seine Energien aufzehren. Aber Paul zeigte es den Besserwissern. Wenn am Samstagabend die Lichter angingen, war er zur Stelle.

Die Girls in den Discos kannten ihn. Sie rissen sich darum, mit dem großen, gutaussehenden jungen Mann zu tanzen. Vielleicht gab es welche, die besser als Paul tanzten. Aber er unterhielt sich auch gern, war sympathisch und kümmerte sich um seine Partnerinnen.

Paul mochte Rita Lynch besonders. Sie war genauso alt wie er und sah ihm auch verblüffend ähnlich, hatte ebenfalls schwarze Haare und blaue Augen, war nur eine Handbreit kleiner als er und eine fabelhafte Tänzerin.

Am Freitag hatten sie sich verabredet und in einer Boutique am Piccadilly Circus zwei schwarze Overalls gekauft. An diesem Samstag erschienen sie völlig gleich gekleidet in der Disco und waren die Sensation des Abends.

»Gehen wir?« fragte Paul um elf Uhr nachts.

Rita sah ihn überrascht an. »Jetzt schon? Wir sind doch gerade erst warmgelaufen. Wollen wir den anderen nicht zeigen, wie man richtig tanzt?«

Er legte seine Hände auf ihre Schultern und lächelte unternehmungslustig. »Ich möchte dir noch etwas zeigen. Komm!«

»Was denn?« fragte Rita zurückhaltend.

»Ist eine Überraschung«, tat Paul geheimnisvoll, beugte sich vor und küßte sie flüchtig auf den Mund und sah sie so bittend und nett an, daß sie nicht ablehnen konnte.

»Okay, aber mach keinen Unsinn«, warnte Rita. »Irre Partys mit Rauschgift laufen bei mir nicht.«

»Bei mir auch nicht«, versicherte Paul Tamy. »Wir kommst du auf die Idee? Los, wir verschwinden hier.«

Er hatte sein Motorrad vor der Disco stehen. Sie setzten ihre schwarzen Schutzhelme auf, und Paul fuhr das kurze Stück zum Hafen.

»Willst du mir die Piers zeigen?« rief Rita und klammerte sich fester an ihn.

Paul nickte nur.

Der Themsehafen war auch nachts erleuchtet und in Betrieb, obwohl nicht viel los war. Kräne arbeiteten, Scheinwerfer schwenkten herum und beleuchteten die Schiffe, die entladen wurden.

Paul stellte das Motorrad hinter dem Tor ab, nahm den Sturzhelm ab und lachte über das ganze Gesicht.

»Siehst du dort drüben das Bürogebäude?« fragte er und legte seinen Arm um Rita.

Sie sträubte sich nicht und nickte.

»Siehst du die Fenster im dritten Stock?« fuhr Paul fort »Es sind vier Fenster. Ich meine das ganz links.«

»Sehe ich«, bestätigte Rita. »Was ist damit?«

»Dort oben arbeite ich ab Montag«, erklärte Paul stolz. »Mein Chef hat es mir angeboten. Und ich habe natürlich angenommen. Ich brauche mich nicht mehr an den Piers zu plagen, und eine Gehaltsaufbesserung gibt es auch.«

»Wunderbar!« rief Rita Lynch begeistert und fiel ihm um den Hals. »Das ist toll, Paul! Ehrlich! Ganz toll!«

Sie freute sich wirklich mit ihm. Als er ihren lächelnden Mund so dicht vor sich sah, konnte er nicht widerstehen. Er zog sie an sich und wollte sie küssen.

In diesem Moment knallte es.

Erschrocken fuhr Paul Tamy herum. Es war die Tür des Verwaltungsgebäudes, die gegen die Wand schlug. Aus dem Bürohaus stürmte ein Mann, den er gut kannte.

»He, Eric«, rief Paul Tamy.

Eric Ivy arbeitete als Schauermann im Hafen. Er war Mitte vierzig, ein gutmütiger Kerl mit Fäusten wie Schmiedehämmer. Nichts konnte ihn aus der Ruhe bringen.

Im Moment jedoch floh Eric Ivy in blinder Panik.

»Eric, was ist los?« rief Paul und löste sich von Rita.

Er wollte seinen Kollegen aufhalten, schaffte es jedoch nicht. Ivy rannte auf die Kräne zu, die sich pausenlos drehten und schwere Container ausluden.

»Warte hier!« sagte Paul zu Rita und lief hinter Eric her.

Eric Ivy war bärenstark, wenn er eine Kiste heben sollte. Er war jedoch kein schneller Läufer. Paul Tamy hätte ihn eigentlich mühelos einholen müssen.

An diesem Abend schaffte er es jedoch nicht. Hinter Eric Ivy schien der Teufel her zu sein!

»Eric!« Paul wäre beinahe über ein herumliegendes Eisenstück gestolpert. Im letzten Moment schnellte er sich mit einem weiten Satz darüber hinweg.

Sein Kollege verschwand hinter einem hohen Stapel Container.

Paul wollte ihm folgen, blieb jedoch wie angewurzelt stehen.

Zufällig fiel sein Blick auf den obersten Container.

Pauls Mund öffnete sich zu einem Schrei. Aus einer Kehle drang jedoch nur ein heiseres Stöhnen.

Das Wesen dort oben auf den Containern konnte es gar nicht geben! Und doch sah er es vor sich.

Es besaß die Größe eines Menschen, auch ungefähr seine Figur. Der Körper war jedoch mit dichtem schwarzem Fell bedeckt. Zumindest erschien es auf diese Entfernung und bei der unsicheren Beleuchtung so. Das Gesicht verschwand zum größten Teil ebenfalls unter diesem schaurigen Fell.

Dafür sah Paul die Augen um so deutlicher. Sie waren wie rote, glühende Abgründe, aus denen ihm Haß entgegenschlug. Ein Blick in diese Augen genügte, um ihn vor der gefährlichen Bestie zu warnen.

Mit Händen, die in lange Klauen ausliefen, umklammerte das Ungeheuer den obersten Container und stemmte sich dagegen.

Als wäre er eine leere Pappschachtel, kippte der Container.

In diesem Moment löste sich Pauls Sperre. Er schrie entsetzt auf.

Sein Schrei ging in dem donnernden Getöse des Containers unter, der auf den Pier prallte.

Der Betonboden erzitterte. Für einen Moment herrschte tödliche Stille.

Im nächsten Moment liefen von allen Seiten Männer herbei.

Der Stapel versperrte Paul Tamy die Sicht. Er umrundete ihn und zuckte zurück.

Vor ihm lag Eric Ivy.

Der Container hatte ihn voll getroffen!

Pauls Blick zuckte nach oben.

Die Bestie war verschwunden…

*

Der Londoner Privat- und Geisterdetektiv Rick Masters frühstückte ungewöhnlich früh. Außerdem tat er es nicht in seinem Wohnbüro in der Londoner City, sondern bei seiner Freundin Hazel Kent in deren Haus in Westminster.

»Ganze drei Wochen Urlaub!« Hazel schüttelte den Kopf. »Das ist wirklich eine Herausforderung für jeden Menschen, der zu Hause bleiben und arbeiten muß!«

Rick Masters grinste jungenhaft. »Und ich freue mich sogar auf meinen Urlaub«, versicherte er. »Nur schade, daß ich Dracula nicht mitnehmen kann.«

Er beugte sich herunter und streichelte seinen kleinen Hund namens Dracula.

»Ach, daß du mich nicht mitnehmen kannst, stört dich nicht?« rief Hazel Kent. »Das ist ja interessant!«

»Ich hatte dir angeboten, mit mir drei Wochen lang auf die Bahamas zu kommen, Darling«, erwiderte Rick Masters ungerührt. »Du wolltest nicht.«

»Ich wollte schon, aber ich kann nicht«, sagte Hazel seufzend. »Ich darf meine Firmen nicht im Stich lassen. Die Kent-Werke müssen weiterlaufen, besonders in dieser schwierigen Zeit. Die Chefin darf sich eben keine drei Wochen Urlaub gönnen.«

»Du tust mir ja leid, Darling«, versicherte der Geisterdetektiv. »Aber ich kann nun einmal nicht eine Luxusreise ausschlagen, die ich bei irgendeinem Preisausschreiben gewonnen habe. Drei Wochen Bahamas mit Flug und Luxushotel. Ich muß ganz einfach fliegen.«

»Schreib mir«, bat Hazel Kent. Es tat ihr leid, Rick drei Wochen lang nicht zu sehen. Er hatte als Geisterdetektiv zwar immer viel zu tun, aber die wenigen gemeinsamen Stunden entschädigten sie beide für alles. »Ich werde dich im Hotel anrufen.«

»Ich freue mich darauf«, versicherte Rick, beugte sich über den Frühstückstisch und küßte Hazel.

Butler Seton trat ein, verneigte sich und räusperte sich dezent.

»Es wäre angebracht, Mr. Masters, sich auf den Weg zu machen«, erklärte er in seiner etwas altmodischen Ausdrucksweise. »Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.«

»Ja, Seton, Sie haben recht«, meinte Rick nach einem Blick auf seine Uhr. »Ich muß mich von euch verabschieden.«

»Ich kann dich nicht einmal zum Flughafen bringen«, sagte Hazel betrübt. »Was für ein Pech! Ausgerechnet heute muß die japanische Wirtschaftsdelegation bei mir vorsprechen.«

»Das Taxi wird ebenfalls aus der Reisekasse bezahlt«, tröstete Rick seine Freundin. »Machen wir es kurz und schmerzlos! Leb wohl. Paß gut auf dich und Dracula auf.«

Rick umarmte und küßte Hazel, streichelte seinen Hund Dracula und eilte hinter Butler Seton aus dem Raum.

Rick Masters haßte Abschiedsszenen. Sie verdarben ihm jeden Urlaub. Diesmal ließ es sich jedoch nicht vermeiden.

Ohne sich noch einmal umzudrehen, hastete er zu dem wartenden Taxi, in dem schon seine Koffer verstaut waren. Der Fahrer wußte schon Bescheid und fuhr sofort los.

Auf der Fahrt zum Flughafen Heath­row hatte Rick ständig das Gefühl, beobachtet zu werden. Er kümmerte sich nicht weiter darum. Wer sollte ihn schon beschatten? Er hatte in der letzten Zeit sehr viele heikle Fälle bearbeitet, in denen Übersinnliches eine Rolle gespielt hatte. Davon waren seine Nerven strapaziert. Der Urlaub würde ihm guttun. Bestimmt fühlte er sich nur verfolgt, weil er so abgearbeitet war.

Alles verlief ganz normal, die Abfertigung, der Start und der Flug.

Ungewöhnlich war, daß die Maschine zuerst Teneriffa anflog und dort eine Zwischenlandung einlegte. Rick zerbrach sich jedoch nicht weiter den Kopf darüber.

Er dachte sich auch nichts dabei, daß von London nach Teneriffa der Platz neben ihm leer blieb. Er blickte nicht einmal hoch, als sich unmittelbar vor dem Start von Teneriffa ein Mann neben ihn setzte. Rick sah aus dem Fenster und kümmerte sich nicht um seinen Nachbarn.

Erst als die Stewardeß kam und Kaffee und Tee anbot, wandte Rick Masters den Kopf.

Augenblicklich vergaß er die hübsche Stewardeß und winkte nur ungeduldig ab, als sie ihre Frage wieder­holte. Aus zusammengekniffenenAugen starrte er auf seinen Sitznachbarn:

»Was machen Sie hier?« fragte er mit zusammengebissenen Zähnen. Er gab sich selbst gleich die Antwort. »Sie wollen mir den Urlaub vermiesen, Red.«

»Richtig«, bestätigte der Agent des Secret Service. »So lautet mein Auftrag!«

*

Paul Tamys Eltern wohnten in Mittelengland. Dort herrschte noch größerer Arbeitsmangel als anderswo im Land. Deshalb war Paul Tamy nach London gegangen, hatte Arbeit gefunden und eine kleine Wohnung direkt am Hafen gemietet.

Als er an diesem Sonntagmorgen die Augen aufschlug, blinzelte er gegen helles Sonnenlicht an. Stöhnend griff er sich an die Stirn.

»Wie geht es dir, Darling?« drang eine sanfte Stimme an sein Ohr.

»Erbärmlich!« Er wälzte sich herum und starrte Rita Lynch verwirrt an.

»Du siehst krank aus«, stellte Rita fest.

»So fühle ich mich auch.« Paul schluckte schwer. »Habe ich alles nur geträumt, oder ist Eric Ivy wirklich von einem Container erschlagen worden?«

»Das stimmt«, sagte Rita mit merkwürdiger Betonung. »Das schon, aber alles andere hast du geträumt.«

»Alles andere?« Paul rieb sich die Schläfen, als müsse er sein Gehirn wieder anregen. Mit einem Schrei setzte er sich auf. »Die Bestie!«

»Nicht schon wieder, Darling«, bat Rita flehentlich. »Damit hast du letzte Nacht schon die Polizisten verrückt gemacht!«

»Ich habe dieses bepelzte Ungeheuer aber deutlich gesehen!« rief Paul. Er schüttelte sich. Auf seinem nackten Oberkörper erschien Gänsehaut. »Ich… ach was!«

Er brach ab und zuckte die breiten Schultern. Allmählich begann er einzusehen, daß ihm niemand glaubte.

Rita legte ihre Arme um ihn und streichelte besänftigend seinen Nacken. »Ist ja gut, ist ja schon gut«, murmelte sie dabei. »Du darfst dich nicht so aufregen. Es war für dich ein scheußlicher Schock, das verstehe ich. Aber was du angeblich gesehen hast, gibt es nicht. Verstehst du?«

Paul wollte heftig protestieren, doch mittlerweile fragte er sich selbst, ob es nicht nur Einbildung gewesen war. Ein menschenähnliches Wesen, das an Zeichnungen von Höllenbestien erinnerte, gab es nicht. Rita hatte recht.

»Ich mache uns Kaffee«, sagte er und stieg aus dem Bett.

»Ist schon fertig.« Rita deutete auf den gedeckten Tisch. »Du bist zwar mit Geschirr nicht gerade reichlich ausgestattet, aber es hat gereicht. Ein richtiges Frühstück. Geh unter die Dusche, ich koche die Eier.«

Paul wollte ihr zulächeln, doch es mißlang. Er fühlte sich zu elend und verwirrt.

Nach dem Frühstück mußte Rita gehen. Sie hatte ihren Eltern versprochen, zum Mittagessen zu Hause zu sein.

»Ich rufe dich an«, sagte sie, bevor sie die Wohnung verließ. »Okay?«

»Ja, okay«, erwiderte Paul. »Heute abend möchte ich aber lieber nicht ausgehen. Ich bin nicht in der Stimmung.«

Rita verstand es. Paul sagte ihr jedoch nicht, was er wirklich vorhatte.

Kaum war sie weg, als er in den Hafen fuhr. Um die Mittagszeit stand er neben den Containern, die seinem Kollegen Eric Ivy den Tod gebracht hatten.

Es gab keine Spuren mehr. Alles war beseitigt worden. Die Polizei hatte den abgestürzten Container beschlag­nahmt.

Aber die anderen, übereinandergestapelten Container waren noch da.

Niemand hielt Paul auf, als er zu klettern begann. Er war hier im Hafen gut bekannt. Er erklomm den Stapel und stand zuletzt auf den beiden obersten Containern. Da oben befand er sich in schwindelerregender Höhe.

Auf diesen Containern hatte jener Behälter geruht, den die Bestie hinuntergestoßen hatte. Oder der von sich aus gefallen war, wie die Polizei annahm!

Paul sah sich um und zuckte zusammen.

Er entdeckte nämlich einen Fußabdruck.

Auf den ersten Blick schien es der Abdruck eines normalen nackten menschlichen Fußes zu sein. Bei genauerem Hinsehen waren einige Unterschiede nicht zu übersehen.

Erstens war der Abdruck doppelt so groß wie der Fuß eines Menschen. Und zweitens hatte er sich schwarz in die Metallwand des Containers eingebrannt. Und das war völlig unmöglich.

Wo sich der Fuß abzeichnete, war das Metall richtiggehend eingeschmolzen.

Paul wußte noch nicht, ob er seine Entdeckung melden sollte, als sein unsichtbarer Gegner mit voller Macht zuschlug!

*

»Ich mag Sie nicht besonders«, sagte Rick Masters zu Red und verriet dem Geheimdienstmann kein Geheimnis. »Noch viel weniger mag ich es, daß Sie sich im selben Flugzeug befinden wie ich und mich in den Urlaub begleiten.«

Der Geisterdetektiv Rick Masters arbeitete meistens sehr eng mit Scotland Yard zusammen. Gelegentlich hatte er auch einen Auftrag für den Secret Service erledigt, wenn Geister, Dämonen oder Schwarze Magie im Spiel waren.

Er hatte sich jedoch gegen die Methoden von Red, seinem Verbindungsmann zum Secret Service, gestemmt. Daher war das Verhältnis der beiden Männer stets gespannt gewesen.

»Sie täuschen sich in mehrfacher Hinsicht, Mr. Masters«, entgegnete Red ruhig. Der Mann mit den roten Haaren und dem Durchschnittsgesicht blieb ungerührt. »Sie fliegen überhaupt nicht in Urlaub. Es tut mir leid, aber Sie haben gar nicht im Preisausschreiben gewonnen.«

Ricks Augen weiteten sich. »Sagen Sie das noch einmal!« verlangte er.

Red, dessen wirklichen Namen Rick nicht kannte, nickte. »Es stimmt, Mr. Masters, Sie haben nichts gewonnen. Alles hat der Secret Service aufgezogen. Diesen Flug bezahlt auch meine Organisation. Auf den Bahamas angekommen, setzen Sie sich in das nächste Flugzeug, das nach London zurückfliegt.«

»Sind Sie verrückt?« fauchte Rick seinen Nebenmann an. »Ich mache drei Wochen Urlaub im besten Hotel auf den Bahamas.«

»Ich kann Sie nicht daran hindern«, sagte Red kalt. »Auf eigene Kosten können Sie machen, was Sie wollen. Wir bezahlen nichts, und Sie haben nichts gewonnen. Ich wiederhole es. Wir wollten Sie aus London offiziell wegschaffen. Die Gegenseite denkt jetzt, Sie wären drei Wochen lang auf den Bahamas, während Sie in London für uns ermitteln. Dieser Flug dient nur der Tarnung.«

»Ihr Plan besteht nur aus Denkfehlern«, wandte Rick ein. »Mrs. Kent erwartet von mir Ansichtskarten von den Bahamas.«

»Die wird sie erhalten«, versicherte Red. »Sie schreiben sie im Flugzeug auf Vorrat, und ein Vertrauensmann steckt sie in Nassau in den Briefkasten.«

»Sie wird mich im Hotel anrufen«, führte Rick an.

»Das wird sie, aber dort sitzt ebenfalls ein Vertrauensmann, der ihr erklären wird, Sie seien im Moment nicht im Hotel, würden Sie aber zurückrufen. Und das tun Sie dann von London aus.«

»Und wozu das alles?« Rick Masters konnte sich noch nicht an den Gedanken gewöhnen, daß sein Urlaub ins Wasser fiel.

»Unser Land wird von einer feindlichen Macht bedroht«, erklärte Red. Er konnte offen sprechen, da sie allein saßen. Im weiten Umkreis waren die Sitze leer. »Unwichtig, welches Land dahintersteckt. Ein großer Schlag gegen Großbritannien ist geplant. Wir wissen allerdings noch nicht, in welcher Form er stattfinden wird.«

»Wann, wo, wie?« Rick hob die Schultern. »Wollen Sie mir gar keinen Anhaltspunkt geben?«

»Ich kann nicht, weil ich selbst nichts weiß.« Red räusperte sich. »Wir haben einen vertraulichen Hinweis erhalten, daß alles im Londoner Hafen beginnen wird. Daraufhin schleusten wir Beobachter in den Hafen ein. Wir haben jedoch noch nichts herausgefunden.«

»Und ich soll aufdecken, wie ein fremder Geheimdienst gegen unser Land vorgeht?« Rick schüttelte den Kopf. »Ich könnte lachen, wenn es nicht so traurig wäre. Ich bin Geisterdetektiv! Ich habe nichts mit Spionage und Landesverrat zu tun!«

»Unser Informant, der uns den Tip mit dem Londoner Hafen gab, ist tot«, fügte Red hinzu.

»Das kann mich nicht umstimmen.« Rick sagte es so entschieden, als wäre es sein letztes Wort.

»Er wurde von einem herabfallenden Container erschlagen, Mr. Masters«, erklärte Red.

»Ich bin nicht interessiert«, sagte Rick seufzend.

»Die Polizei hat entschieden, daß es ein Unfall war.« Red räusperte sich wieder. »Ein junger Hafenarbeiter will gesehen haben, wie jemand den Container auf den Informanten warf.«

»Dann war es Mord«, sagte Rick desinteressiert. »Ihr Problem, Red!«

»Die Polizei lehnt offiziell eine weiter Untersuchung ab«, fuhr der Geheimdienstmann fort, »weil die Behauptungen des jungen Hafenarbeiters Paul Tamy verrückt klingen. Ich weiß aber, daß er recht hat. Einer meiner Agenten sah nämlich auch den Mörder und identifizierte ihn.«

»Und wer war es?« erkundigte sich Rick Masters und gähnte absichtlich, um zu zeigen, wie wenig er sich locken ließ.

Red sah ihn aufmerksam an. »Ein Dämon«, sagte er.

Im nächsten Moment wußte der Ge­heimdienstmann, daß er gewonnen hatte.

*

Erschrocken schrie Paul Tamy auf, als ihn eiskalte Hände im Genick packten.

Er versuchte, sich umzudrehen und nach dem Angreifer zu schlagen, doch sein Kopf steckte fest. Er trat zwar nach hinten aus, traf jedoch niemanden.

Für einen Moment lockerte sich der Griff.

Paul wirbelte herum. Seine Augen weiteten sich in ungläubigem Entsetzen.

Außer ihm befand sich niemand auf dem Container!

Im nächsten Moment erhielt er einen fürchterlichen Stoß, der ihn gegen die Kante des Containers taumeln ließ!

Tief unter sich erblickte Paul den Betonboden des Piers. Wenn er da hinunterstürzte, war er ein toter Mann.

Das schoß ihm in einem Sekundenbruchteil durch den Kopf. Und schon schnellten seine Hände vor.

Im Sturz bekam er die Kante des Containers zu fassen. Einige Fingernägel brachen ab, als er sich festkrallte und den ärgsten Schwung abfing.

Dennoch konnte er nicht verhindern, daß sein Körper über den Container hinaus kippte. Seine Beine hingen in der Luft und schwangen hin und her.

Noch immer blieb sein Todfeind unsichtbar. Paul hatte keine Ahnung, wer ihn am Hals gepackt und gestoßen hatte. In seiner Lage konnte er auch gar nicht darüber nachdenken, daß es unsichtbare Wesen nicht gab!

Mit aller Kraft hielt er sich fest. Wenn seine Finger jetzt versagten, stürzte er zu Tode!

Und wenn sein Feind ihn ein zweites Mal angriff, war er ebenfalls verloren. Er hielt sich nur mit den Fingern.

Wäre Paul Tamy ein wenig schwächer gewesen, hätte er schon nicht mehr gelebt. So aber schaffte er nicht nur, sich zu halten. Er konnte sogar mit einer Hand nachgreifen, dann auch die andere Hand auf den Container stützen und sich hochziehen.

Seine Muskeln waren zum Zerreißen gespannt, als er sich über den Rand des Behälters hievte und flach auf die Oberseite rollte. Röchelnd holte er Luft. Er hatte nicht geschrien, als er stürzte, und er schrie auch jetzt nicht. Denn nun drang das Unfaßbare voll in seine Bewußtsein.

Er sah noch immer den eingebrannten Fußabdruck vor sich, und er begriff, daß ihn ein Unsichtbarer gestoßen hatte!

Es war heller Tag, und Paul war nicht verrückt. Niemand konnte ihm das einreden! Er hatte alles tatsächlich erlebt, gestern nacht die schwarzbepelzte Bestie auf dem Container, und jetzt das unsichtbare Wesen!

Paul verkrampfte sich und wartete auf den nächsten Angriff. Er war bereit, seine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen. Es blieb jedoch ruhig. Sein Feind kam nicht wieder.

Bebend machte sich Paul an den Abstieg. Er beschloß, zu niemandem über den Vorfall zu sprechen.

Dabei ahnte er nicht, daß ein Zeuge existierte, der jetzt hastig eine Telefonzelle betrat und die Meldung weitergab.

Paul wollte alles für sich behalten und auf eigene Faust ermitteln. Er mußte herausfinden, was dahintersteckte, wer die Bestie und wer der Unsichtbare war!

Daß er sich in Lebensgefahr begab, störte ihn nicht. Er war fest entschlossen, alles zu riskieren.

*

Nachdem Rick Masters gehört hatte, was sich im Londoner Themsehafen ereignet hatte, stand fest, daß er sich um den Fall kümmern würde. Da übersinnliche Kräfte, vermutlich sogar Dämonen im Spiel waren, verlor seine Abneigung gegen Red und dessen Organisation an Bedeutung.

»Sie können mir wirklich nicht sagen, worin der Angriff der gegnerischen Macht bestehen wird?« forschte der Geisterdetektiv noch einmal.

Red zuckte die Schultern.

Die Stewardeß kam zu ihnen und holte »Mr. Red« ins Cockpit. Rick mußte ein Grinsen unterdrücken. Red reiste unter seinem Spitznamen, den er seinen roten Haaren zu verdanken hatte. Oder hieß er tatsächlich so?

Zehn Minuten später kehrte der Secret Service Agent zurück. Seine Miene war noch finsterer geworden.

»Ich habe Ihnen von diesem jungen Hafenarbeiter erzählt, der das schauerliche Wesen mit dem schwarzen Pelz bei der Polizei anzeigte«, sagte Red.

Rick mußte trotz der ernsten Lage über die unbeholfene Ausdrucksweise seines Sitznachbarn lächeln.

»Dieser Paul Tamy wäre vor einer Stunde um ein Haar tödlich verunglückt«, fuhr Red fort und schilderte genau den Zwischenfall am Lagerplatz der Container. Ein Agent hatte alles gesehen.

»Warum mischt sich Mr. Tamy auch ein?« murmelte Rick Masters. »Wenn er zu große Schwierigkeiten macht, müssen Sie ihn unauffällig aus dem Verkehr ziehen, Red.«

»Das geht nicht, Rick«, behauptete der Geheimdienstmann. »Wir würden sonst verraten, daß wir unsere Leute im Hafen haben.«

»Das Leben dieses Paul Tamy ist wichtig!« rief Rick Masters heftig aus.

»Die Sicherheit des ganzen Landes ist mindestens genauso wichtig«, konterte Red.

Sekundenlang maßen die beiden Männer einander mit Blicken.

»Sehen Sie«, meinte Rick Masters bitter, »das ist ein Grund, warum ich Sie nicht mag.«

»Jeder einzelne Mensch ist wichtig«, stimmte ihm Red zu. »Aber das gesamte Land besteht aus Millionen einzelner Menschen. Was ist wichtiger?«

»Ich fälle solche Entscheidungen nicht«, erwiderte Rick Masters leise. »Ich bemühe mich, allen zu helfen.«

»Auf diese Weise umgehen Sie geschickt die Verantwortung«, behauptete Red. »Aber ich wollte mich nicht mit Ihnen streiten. In wenigen Stunden landen wir in Nassau. Dort trennen sich unsere Wege. Sie fliegen zurück. Ich mache meinen Umweg. Man darf uns nicht zusammen sehen.«

»Sie haben etwas sehr Wichtiges vergessen«, erklärte Rick. »Meinen Hund Dracula.«

»Ich bitte Sie!« Red schüttelte den Kopf. »Okay, Sie hängen an Ihrem Hund. Aber das ist kein Grund, daß Sie ihn sofort zu sich holen müssen, wenn Sie in London landen.«

»Sie haben mir keine Anhaltspunkte gegeben und nur gesagt, daß es im Londoner Hafen rund geht.« Rick lehnte sich entspannt zurück. »Um so wichtiger ist es, daß ich Dracula bei mir habe. Er zeigt mir an, wann und wo magische Kräfte wirken.«

»Trotzdem, Mr. Masters, der Hund bleibt bei Mrs. Kent«, entschied Red.

Rick war anderer Meinung, schwieg sich jedoch aus.

»Und was ist mit Chefinspektor Hempshaw?« fragte er statt dessen. »Wir haben oft zusammengearbeitet, daß ich ihm absolut vertrauen kann.«

»Je weniger Mitwisser, desto besser«, behauptete der Geheimagent. »Auch Hempshaw scheidet aus.«

»Er wird sich über Ihr Vertrauen freuen«, erklärte Rick grinsend. »Das wird Ihre Freundschaft heben.«

Red sah Rick Masters offen und ehrlich an. »Wenn ich einen Einsatz ausführe, frage ich nicht nach Freundschaft«, versicherte er.

»Sehen Sie«, murmelte Rick Masters, »das ist ein weiterer Grund, warum ich Sie nicht mag.«

Der Geisterdetektiv kippte seine Lehne nach hinten, schloß die Augen und tat, als wäre er sofort eingeschlafen.

In Wirklichkeit mußte er erst verarbeiten, daß er anstelle eines dreiwöchigen Urlaubs einen lebensgefährlichen Einsatz haben würde.

Von tiefblauem Meer und wiegenden Palmen, weißen Sandstränden und Sonne bekam Rick Masters nicht viel zu sehen. Er warf vom Fenster des Jets einen Blick nach unten, als sie landeten. Eine Stunde später war er schon wieder in der Luft.

Ziel war London, das er mit großen Erwartungen verlassen hatte und in das er unsicher und besorgt zurückkehrte.

Schon vor der Landung merkte er, daß etwas geschehen war. Als sie nämlich die Stadt überflogen, sah er unter sich eine mächtige Fackel.

Er hatte den Stadtplan von London so gut im Kopf, daß er sofort wußte, wo es brannte.

Im Hafen…

*

Während Rita Lynch glaubte, ihr Freund müsse sich von dem Schock zu Hause ausruhen, war Paul Tamy pausenlos im Hafen unterwegs. Niemand stellte Fragen, weil er doch eigentlich gar nicht zu arbeiten brauchte. Alle kannten und mochten den jungen Mann und unterhielten sich bereitwillig mit ihm über den Todesfall in der letzten Nacht.

Eines fand Paul schnell heraus. So lange er Eric Ivys Tod als Unfall darstellte, sprachen seine Kollegen mit ihm. Deutete er aber an, daß es sich möglicherweise um Mord handelte, stieß er auf eine Mauer des Schweigens. Plötzlich hatten es die Kollegen sehr eilig und ließen ihn stehen.

Im Hafen ging die Angst um!

Endlich erinnerte er sich an Eric Ivys Witwe. Er hatte Mrs. Ivy vor zwei Monaten auf einer Betriebsfeier kennengelernt und hatte die zierliche Blondine noch gut in Erinnerung.

Sie wußte auch sofort, wer er war, als er an ihrer Wohnung schellte.

»Danke, daß Sie mich besuchen, Mr. Tamy«, sagte sie leise und ließ ihn eintreten.

Überrascht sah Paul sich um. In der Wohnung fehlten Möbelstücke.

»Eric und ich, wir sind erst vor vierzehn Tagen hier eingezogen«, erklärte Mrs. Ivy, als müsse sie sich entschuldigen. Sie war Anfang vierzig, wirkte im Moment jedoch wie ein kleines, verschüchtertes Mädchen. »Eric und ich, wir wollten erst neue Möbel aussuchen. Aber jetzt…! Ich weiß nicht einmal, ob ich die Wohnung behalten kann. Dieser schreckliche Unfall hat alles verändert.«

»Es war kein Unfall!« platzte Paul heraus und biß die Zähne zusammen. »Entschuldigen Sie, Mrs. Ivy, ich hätte das nicht so ohne Vorbereitung sagen dürfen.«

»Aber warum denn nicht?« erwiderte sie. »Natürlich war es ein Unfall. Das haben alle Zeugen bestätigt.«

Paul schüttelte heftig den Kopf. Sie bot ihm Platz an. Er blieb stehen. »Nein, es war glatter Mord!« rief er heftig atmend. »Ich habe gesehen, wer den Container auf Eric gekippt hat.«

»Sie täuschen sich.« Mrs. Ivy sprach gepreßt und unsicher, als habe sie vor Paul entsetzliche Angst. »Wirklich, es war ein Unfall. Glauben Sie mir und geben Sie Ruhe. Warum laufen Sie im Hafen herum und stiften Unfrieden? Es war ein Unfall!«

Sie sah Paul Tamy beschwörend an.

Paul besaß zu wenig Erfahrung, um sie wirklich zu verstehen. So glaubte er nur, daß sie die Wahrheit nicht hören wollte. Oder daß sie ihn nicht richtig verstanden hatte.

»Hören Sie, Mrs. Ivy«, sagte er daher noch einmal. »Es war Mord! Ein unbeschreibliches schauerliches Wesen mit einem schwarzen, zotteligen Fell und glühenden Augen hat Eric umgebracht. Ich habe es gesehen!«

»Nichts haben Sie gesehen!« schrie sie ihn an. »Sie sind verrückt! Sie bilden sich etwas ein! Es war ein Unfall! Ein Unfall! Merken Sie sich das! Ein Unfall!«

Schluchzend schlug sie die Hände vor das Gesicht.

Paul wollte sie trösten, doch sie deutete auf die Tür.

»Hinaus mit Ihnen!« schrie sie ihn an. »Es war ein Unfall! Und jetzt gehen Sie!«

Sie schob ihn zur Tür, und Paul Tamy gab nach. Er verließ die Wohnung ohne Widerrede.

Während er mit dem Aufzug nach unten fuhr, öffnete sich die Tür des Schlafzimmers. Heraus trat ein Zeuge des Gesprächs, der sich bisher verborgen gehalten hatte.

Er war ungefähr so groß wie ein Mensch, besaß jedoch klauenbewehrte Hände, glühende Augen und am ganzen Körper einen häßlichen schwarzen Pelz. Lautlos schlich er an Mrs. Ivy vorbei zur Tür.

Mrs. Ivy lehnte sich zitternd gegen die Wand des Wohnzimmers. Sie hatte es geschafft, daß Paul Tamy ihre Wohnung wieder verlassen hatte. Es war ihr nicht möglich gewesen, ihn zu warnen. Er wäre sofort von dieser Bestie umgebracht worden.

Nun hoffte sie nur, daß Paul Tamy auch weiterhin Glück hatte. Als sich die Wohnungstür hinter der Bestie schloß, brach Mrs. Ivy zusammen.

Paul Tamy ahnte nichts davon. Er fuhr mit seinem Motorrad zum Hafen zurück und wartete auf die Nachtschicht.

Ein Schiff fiel ihm besonders auf, ein Flußschlepper. Die Matrosen auf diesem Kahn arbeiteten absolut schweigend und warfen von Zeit zu Zeit scheue Blicke zu den Containern, als wüßten sie genau Bescheid.

Paul Tamy machte sich an sie heran. In einer Arbeitspause ging er zu ihnen an Bord und verwickelte zwei Matrosen in ein Gespräch.

»Habt ihr auch gesehen, wie man meinen Kollegen mit dem Container ermordet hat?« fragte er plötzlich.

»Nein«, sagte der eine Matrose hastig.

»Ja«, sagte der andere. »Ja, ich habe es gesehen! Ich habe diese schwarze Bestie gesehen!«

»Sei still!« fuhr ihn sein Kamerad an.

»Nein, einmal muß es gesagt werden«, behauptete der Matrose. »Es war so, daß…«

Weiter kam er nicht.

Im Schiffsbauch ertönte ein dumpfes Grollen.

Im nächsten Moment stieg eine mächtige Stichflamme in den Himmel.

Das Schiff brannte noch, als der aus Nassau auf den Bahamas kommende Jet über den Themsehafen hinwegzog und in Heathrow zur Landung ansetzte.

Menschen waren bei dem Brand nicht zu Schaden gekommen, aber dieses Großfeuer war eine deutliche Warnung. Die Eingeweihten im Hafen verstanden die Botschaft. Ihre Angst vor dem Unbekannten stieg!

*

Die Laune des Geisterdetektivs war genauso düster wie das Wetter in London. Während der Taxifahrt vom Flughafen Heathrow zum Themsehafen blickte Rick durch die Fenster des Wagens. Regen klatschte dagegen. Die Tropfen liefen über die Scheiben.

»Das ist vielleicht ein Wetter«, murmelte der Taxifahrer. »Man müßte einmal verreisen. Einfach weg, wo immer die Sonne scheint.«

»Das habe ich versucht«, antwortete Rick. »Ich war schneller wieder hier als ich dachte.«

»Ja, so geht es im Leben«, meinte der Fahrer weise. »Wohin wollen Sie eigentlich? Sie sagten nur, daß ich zum Hafen fahren soll.«

»Kennen Sie ein kleines, sauberes Hotel, von dem aus man den Hafen gut beobachten kann?« erkundigte sich Rick. »Ich bin Schriftsteller«, fügte er hinzu, als er den erstaunten Blick des Fahrers im Rückspiegel bemerkte. »Ich möchte Studien treiben.«

Damit war der Fahrer zufrieden. Er brachte Rick zu einem Hotel, das zur Straßenfront nur zwei Fenster hatte, Rick mietete sich im vierten Stock ein. Er hatte einen guten Ausblick auf die Hafenanlagen und das brennende Schiff, neben dem zwei Löschboote festgemacht hatten.

Ununterbrochen schossen die dicken Wasserstrahlen gegen das brennende Wrack, das bereits völlig ausgeglüht war.

Es gab gar nichts mehr, das brennen konnte. Rick hatte den Eindruck, als kämen die Flammen direkt aus den Bordwänden.

Die Polizei hatte das ganze Hafengebiet abgesperrt. Trotzdem staute sich eine riesige Menschenmenge vor den Toren des Hafens

Rick schüttelte den Kopf. Wie Red sich diesen Einsatz vorgestellt hatte, konnte es nicht laufen. Rick mußte auf jeden Fall seine Freundin ins Vertrauen ziehen. Er hatte Red gegenüber nur nicht mehr darüber gesprochen, weil er ohnedies stets auf eigene Faust arbeitete und niemanden um Erlaubnis fragte. Auch wenn der Secret Service ihm diesmal offiziell einen Auftrag erteilt hatte, dachte Rick nicht daran, sich die freie Entscheidung nehmen zu lassen.

Vorsichtshalber telefonierte er nicht vom Hotel aus, sondern ging zur nächsten Telefonzelle. Dort wählte er Hazels Nummer.

Butler Seton meldete sich.

»Mrs. Kent, schnell«, sagte Rick mit verstellter Stimme. Obwohl der Butler vertrauenswürdig war, brauchte er nicht alles zu wissen.

»Wer sind Sie?« erkundigte sich Seton, doch Rick schwieg einfach.

Kurze Zeit später meldete sich Hazel Kent. Ihre kühle, beherrschte Stimme war unverkennbar.

»Sag nichts«, flüsterte Rick. »Gar nichts! In einer Stunde vor dem Buckingham Palace. Bring Dracula mit.«

Er legte auf, ehe seine Freundin etwas erwidern konnte. Immerhin mußte Rick mit der Möglichkeit rechnen, daß Hazels Telefon abgehört wurde. Er glaubte es zwar nicht, doch wenn Red recht hatte, war der Gegner gefährlich. Und wenn dieser Gegner magische Waffen einsetzte, lag es nahe, daß er Rick Masters kontrollierte. Rick war bekannt dafür, daß er gegen Magie kämpfte. Er war der schlimmste Feind des unbekannten Gegners.

Da Rick Masters auf seinen eigenen Wagen mit allen Annehmlichkeiten und Hilfseinrichtungen verzichten mußte, nahm er sich wenigstens einen Mietwagen. Er wollte nicht ständig auf Taxis angewiesen sein.

Bereits eine dreiviertel Stunde später war er auf der Mall, die zum Buckingham Palace führte. Er parkte seinen Wagen, stieg aus und schlenderte durch die Allee.

Viele Leute waren an diesem Montag unterwegs. Die meisten von ihnen waren Touristen, die den September nutzten, um London zu besichtigen. Er mischte sich unter die Gruppen und kam immer näher an den Buckingham Palace heran.

Aufmerksam blickte er sich nach allen Seiten um, konnte jedoch keine Verdächtigen entdecken.

Kurze Zeit später rollte Hazels silbergrauen Rolls Royce an ihm vorbei. Er machte sich nicht bemerkbar, da er erst feststellen wollte, ob sie verfolgt wurde.

Der Rolls Royce bog ab und kam fünf Minuten später wieder die Mall entlang.

Auch Hazel war vorsichtig. Es erleichterte Rick, da er sich nun einigermaßen sicher fühlen konnte.

Sie hielt ein Stück weiter vorn und stieg aus, blickte aufmerksam in Ricks Richtung und zuckte zusammen, als sie ihn erblickte. Schon hob sie die Hand, um ihm zuzuwinken, ließ sie jedoch wieder sinken.

Als wäre nichts geschehen, setzte sie sich wieder ans Steuer und schloß die Tür.

Rick ließ sich vom Strom der Passanten treiben. Als er sich mit dem Rolls Royce auf gleicher Höhe befand, riß er hastig die hintere Tür auf und sprang hinein, schlug die Tür wieder zu und ließ sich auf den Wagenboden gleiten.

»Fahr los!« rief er.

Während Hazel Kent beschleunigte, mußte sich Rick seines Hundes erwehren. Hazel hatte Dracula mitgebracht. So klein der Mischling auch war, seine Freude war riesengroß.

»Willst du mir endlich sagen, was das bedeutet?« fragte Hazel. Sie ließ den Rolls Royce ziellos durch die Straßen rings um den Buckingham Palace rollen. »Ich hatte nicht damit gerechnet, dich so bald zu sehen.«

»Werden wir verfolgt?« fragte Rick.

»Nein.« Hazel seufzte. »Es ist schon recht schwierig, mit dir befreundet zu sein, weißt du das?«

»Ich kann es mir vorstellen«, erwiderte er leise lachend. »Tut mir leid, daß ich dir den Sonntag zerstöre, aber mir ist etwas dazwischengekommen.«

»Das dachte ich mir«, bemerkte Hazel lachend. »Also, erzähle endlich.«

Rick Masters erzählte. Er blieb dabei vorsichtshalber auf dem Wagenboden.

»Das ist vielleicht eine abenteuerliche Geschichte«, meinte Hazel, als er fertig war »Aber gut, ich muß sie dir abnehmen. Du bist also wieder hier. Du wolltest Dracula bei dir haben, weil er den magischen Einfluß anzeigen kann. Und nun?«

»Red gegenüber mußt du dich so verhalten, als wüßtest du von nichts«, bat Rick. »Du schreibst mir nach Nassau ins Hotel und rufst mich auch dort an. So weit zur Tarnung. Und nun brauche ich meine Pistole und meine Silberkugel. Red hat nicht daran gedacht, daß ich für diesen Einsatz meine Waffen benötige.«

»In Ordnung, ich hole sie dir«, erwiderte Hazel seufzend. »Noch etwas?«

»Du bist ein Schatz«, sagte Rick. »Du kennst das Versteck, in dem die Silberkugel liegt?«

»Natürlich, du hast es mir selbst gezeigt«, antwortete Hazel. »Wohin soll ich dir deine Waffen bringen?«

»Ich möchte den Strom der Touristen ausnutzen«, entschied Rick. »Sagen wir, wir treffen uns vor der St. Paul’s Cathedrale. Das ist nicht weit von der Wohnung, und dort gibt es bestimmt wieder eine Menge Leute.«

»Gut.« Hazel zögerte einen Moment. »Weißt du, es wäre mir lieber, du wärest auf den Bahamas.«

»Mir auch.« Rick lachte leise. »Warum hättest du es lieber?«

»Es wäre mir schon schwer genug gefallen, drei Wochen auf dich zu verzichten, wenn du ein paar tausend Meilen von mir entfernt bist.» Wieder seufzte Hazel tief auf. »Nun bist du ganz in meiner Nähe, und ich muß trotzdem auf dich verzichten.«

»Das läßt sich leider nicht vermeiden«, entgegnete Rick. »Ich steige aus!«

Hazel stoppte soeben vor einer Ampel. Er stieß die Seitentür auf, beugte sich kurz zu Hazel, küßte sie auf den Nacken und sprang aus dem Wagen. mit Dracula auf dem Arm verschwand er zwischen den parkenden Autos am Straßenrand.

Rick fand sich auf der Victoria ­Street wieder. Er mußte ein ganzes Stück quer durch den St. James’ Park zur Mall gehen, wo er seinen Mietwagen zurückgelassen hatte. Dracula tobte sich aus. Er freute sich, daß sein Herr wieder da war. Hinterher war er so müde, daß er sich auf dem Nebensitz von Ricks Mietwagen zusammenrollte und sofort einschlief.

Rick beneidete seinen Hund. Er hatte zwar an Bord der Jets geschlafen, fühlte jedoch bleierne Müdigkeit in seinen Knochen stecken.

Er fuhr zur St. Paul’s Cathedrale und parkte im Halteverbot. Es gab keine freien Parkplätze.

Obwohl er ständig nach Parkpolizisten und gleichzeitig nach Hazel Ausschau hielt, fielen ihm nach einiger Zeit die Augen zu.

Dracula weckte ihn, indem er ihn immer wieder mit seiner Schnauze anstieß.

Rick schrak hoch. Sein Blick fiel auf die Uhr im Armaturenbrett. Im ersten Moment glaubte er, sie wäre defekt, doch ein zweiter Blick auf seine Armbanduhr überzeugte ihn davon.

Er hatte ungefähr sechs Stunden geschlafen!

Es ging bereits auf zwei Uhr zu, und Hazel war noch immer nicht gekommen! Sie hätte ihn auch in dem fremden Auto sehen müssen!

Erschrocken gab Rick Vollgas und fuhr zu seiner Wohnung. Nun war es gleichgültig, ob seine Tarnung zusammenbrach oder nicht. Er mußte wissen, was aus Hazel geworden war!

*

Rick Masters fuhr vor seinem Wohnhaus mit zwei Rädern auf den Bürgersteig. Er kümmerte sich nicht um die verärgerten Blicke einiger Passanten. Jetzt durfte er keine Zeit mehr verlieren.

Dracula sprang mit einem weiten Satz aus dem Wagen. Er mußte noch einen Laternenpfahl suchen. Rick konnte nicht abwarten. Er hetzte in das Haus hinein.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte er zu seinem Wohnbüro hinauf und stockte vor dem Eingang.

Die Tür war nur angelehnt!

Rick war unbewaffnet. Dennoch zögerte er nicht und warf sich gegen die Tür, ließ sich fallen und rollte den Sturz ab.

Niemand griff ihn an.

Mit einem raschen Blick überzeugte er sich davon, daß alle Türen offenstanden. So verließ er immer seine Wohnung.

Er sah Hazel sofort. Sie lag im Schlafzimmer neben seinem Bett auf dem Teppich!

Mit zwei Sätzen war Rick bei ihr und beugte sich über sie.

Hazel hielt die Augen geschlossen, bewegte sich nicht, atmete jedoch. Ein Stein fiel Rick vom Herzen. Er rüttelte seine Freundin, ohne daß sie reagierte.