Grafik1

 

 

GedankenReich Verlag

Denise Reichow

Heitlinger Hof 7b

30419 Hannover

www.gedankenreich-verlag.de

 

GEBORENE DES LICHTS

(Die Legende der Lichtgeborenen I)

 

Text © E.F. v. Hainwald, 2017

Cover & Umschlaggestaltung: Phantasmal Image

 

Lektorat: Teja Ciolczyk

Korrektorat: Die Buchstabenflüsterin

Satz & Layout: Phantasmal Image

Cover: Phantasmal Image

Innengrafiken © shutterstock, Künstler: Katja Gerasimova, Viktorija, Podessto

Druck: bookpress

 

ISBN 978-3-947147-22-9

 

© GedankenReich Verlag, 2018

Alle Rechte vorbehalten.

 

Dies ist eine fiktive Geschichte.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

 

Grafik2

 

Grafik3

 

Sie schwebte. Nur wenige Zentimeter trennten ihre ausgestreckten Zehenspitzen von dem feinen Wüstensand – dennoch verharrte sie genau an dieser Stelle.

Der zarte Körper von Hohepriesterin Pheedre streckte sich und ihr weißes Gewand begann sie wie Rauch zu umhüllen. Mit geschlossenen Augen legte sie den Kopf in den Nacken, als wollte sie die Sonne genießen. Dabei umfloss das lange, farblose Haar ihr schmales Gesicht, wie ein im Sonnenlicht glitzernder Schleier. Als ihre filigranen Hände eine Schale formten und sie die Arme ausstreckte, öffnete sie langsam ihre Lippen. Ein kaum wahrnehmbares Summen erfüllte die Luft. Es war, als würde die Welt einen kleinen Moment innehalten, aufhorchen und schließlich ihren Wünschen folgend zu tanzen beginnen.

Plötzlich ging ein leichter Luftstoß von ihr aus und sie leuchtete sanft von innen heraus, ähnlich Kerzenschein hinter hauchdünnem Seidenstoff. Schimmernde Bänder aus Licht flossen aus ihren Fingern in alle Richtungen und verblassten nach nur wenigen Schritten. Ihre Wirkung blieb jedoch und vermochte es sogar, den Tod selbst fernzuhalten – ihre Macht versagte niemals.

Die ernst dreinblickenden Männer, welche sie schützend umringten, trugen detailreich verzierte Rüstungen und große, ausladende Helme. Es waren die Fähigsten der Kriegerkaste. Das mussten sie auch sein, denn es würde nicht lange dauern bis diese Heilerin das Hauptziel der Gegner darstellte – schließlich hielt sie mit ihren Fähigkeiten nicht nur das Leben der Krieger, sondern auch den Schlüssel zum Sieg in ihren Händen.

Wie erwartet rammte die erste keilförmige Angriffswelle der furchterregenden Angreifer gezielt in ihre Richtung. Es waren die Masakh – wilde, größtenteils mit Beilen bewaffnete Bestien, die Tieren ähnlicher schienen als Menschen. Zwar durchstießen deren wilde Krieger schnell die zwei Frontlinien des Heeres, doch das Licht der Hohepriesterin heilte die verletzten Verteidiger augenblicklich. Die gegnerischen Kämpfer ignorierten daher schnell die wieder aufstehenden Soldaten und versuchten weiter in ihre Richtung vorzupreschen, um sie schnellstmöglich aus dem Weg zu räumen.

Sie würden Pheedre niemals erreichen, denn ihre Konzentration war so massiv wie ein Fels.

Jäh schrak Zeemira aus ihren Gedanken.

»Verdammte Scheiße!«, fluchte sie plötzlich, sodass die Krieger, die zu ihrem Schutz abgestellt waren, sich verdutzt zu ihr umdrehten. »Mist, Mist, Mist! Ich bin so eine blöde…«

Zähneknirschend presste sie die Augenlider zusammen, rammte ihre Arme seitlich in die Luft, als würde sie zwei Wände stützen müssen, und versuchte sich zu konzentrieren.

Sie hatte sich so sehr im ehrfurchtgebietenden Anblick von Hohepriesterin Pheedre verloren, dass sie ihre eigene Einheit völlig vergessen hatte – schon wieder! Sie war selbst eine Heilerin mit fortgeschrittenen Fähigkeiten, aber brachte es erneut fertig, ihre eigenen Soldaten mitten im Kampf zu vergessen. Sich in Gedanken weiterhin selbst verfluchend, wandte sie ihr Empfinden den ihr zugewiesenen Kriegern zu.

Sie waren am inneren Rand an der rechten Flanke des Heeres stationiert, eigentlich keine sonderlich gefährliche Stelle. Die Heilerinnen mit ihren Schutzkriegern waren wie immer außer Sichtweite, weit hinter den Kampfeinheiten, positioniert. Nur durch die Unterstützung der Hohepriesterinnen konnte Zeemira, trotz des großen Abstands, ihrer Aufgabe nachkommen.

Als ihre inneren Fühler die weit entfernten Schutzbefohlenen berührten, durchzog ein stechender Schmerz ihren Bauch. Aufstöhnend ging die Heilerin in die Knie. Es fühlte sich an, als würde ihr jemand die Eingeweide herausreißen. Heiße Tränen schossen Zeemira in die Augen. Der Schmerz konnte nur eines bedeuten: Jemand war gestorben.

Sich durch den Nebel des Leids kämpfend, versuchte sie all ihr inneres Licht zu den verbleibenden Soldaten zu lenken. Es fand jedoch kein Ziel. Sie versuchte es wieder und wieder. Erst beim fünften Versuch erfühlte sie die schwachen Lebenszeichen von einem der Männer. Viele der Kämpfer waren gestorben, zwar erst kürzlich, aber für sie war es unmöglich sie zurückzuholen. Nur eine Hohepriesterin vermochte Verstorbene ins Leben zurückzurufen und nur dann, wenn der Zeitpunkt des Todes nicht allzu lange her war. Aber diese machtvollen Heilerinnen waren natürlich mit den Frontlinien und den Elitekriegern betraut, nicht mit Randeinheiten, so wie Zeemiras. Niemand würde diese Männer hier retten.

Die Erkenntnis über das gebrochene Vertrauen, Trauer um die verlorenen Leben und Wut über ihre eigene Unfähigkeit stiegen in ihr auf.

Sie schluchzte, ließ die Arme sinken und begann am ganzen Körper zu zittern. Noch immer verbunden mit den Soldaten, fühlte sie in ihrem Herzen die Kälte der Ewigkeit, die sich in den toten Leibern der Gefallenen ausbreitete. Sie drohte Zeemiras eigenes Licht zu löschen, denn ihre Gefühle drehten sich in einer Spirale aus Leid und Vorwürfen – und entzogen ihr jegliche Kontrolle über sich selbst.

Dumpfe Schreie drangen zu ihr durch.

»… komm … dir … wach … aufgeben … verdammt …«, sie nahm es kaum wahr.

Da waren nur Schreie und Dunkelheit.

 

Grafik4

 

»Du bist wie dein Vater«, sprach er. »Die gleichen verlogenen Augen. Gut.«

Jaleel wusste nicht, wer sein Vater war oder wie er aussah – keines der Gildenmitglieder wusste, wer die eigenen Eltern waren, man wurde sofort nach der Geburt von ihnen getrennt. Die Gilde der Tassallul – der Schattenschleicher – war die Familie … wenn man das so nennen mochte.

Sein Vater hätte ihm täglich begegnen können, er hätte es nicht bemerkt. Er würde ihn auch nicht als seinen Sohn erkennen. Blut sei stark – so sagte ein altes Sprichwort. Alles Lüge.

»Du wirst dich im Bereich der Täuschung gut in der Ausbildung machen, dessen bin ich mir sicher«, die Stimme des Ausbilders war ruhig und emotionslos. »Aber wir fangen mit den Grundlagen an.«

Er rief ein paar harsche Worte, die Jaleel nicht verstand. Die Tür hinter ihm öffnete sich und gut ein Dutzend Jungen und Mädchen strömten in den kleinen Raum. Sie waren kaum älter als er selbst, aber ihre Gesichter waren steinern, beinahe grausam. Bei den Älteren umspielte ein leichtes Lächeln die Mundwinkel. Sie stellten sich im Kreis um ihn herum auf und starrten ihn unverhohlen an. Sein Herz schlug immer schneller, doch er zwang sich keine Reaktion zu zeigen – er wusste bereits, dass ihm das schwere Strafen einbringen konnte. Keines von den Kindern sagte etwas, der Ausbilder blickte weiterhin regungslos. Dann zeigte er auf Jaleel.

»Los«, sprach er leise.

Es ging alles ganz schnell. Die Kinder schossen wie Blitze auf ihn zu. Er spürte einen dumpfen Schlag im Rücken und stellte überrascht fest, dass er plötzlich mit selbigem auf dem harten Holzboden lag. Es blieb ihm keine Zeit darüber nachzudenken, wie er da hingekommen war, denn die Fäuste und Tritte prasselten wie Hagel auf ihn nieder. Er versuchte seinen Körper mit Armen und Beinen zu schützen, scheiterte jedoch kläglich. Wenn er die Augen öffnete und nach oben blickte, sah er die verzerrten Gesichter der ihn prügelnden Kinder – war da Wut? Hass? Hämische Freude?

Er schloss sie schnell wieder, denn diese Gesichter waren schlimmer als die Schmerzen. Er biss sich auf die Zunge, um ihnen die Genugtuung seiner Schreie nicht zu geben.

Als jedoch ein Tritt heftig seinen Kopf traf, entrang sich ihm ein Stöhnen. Mit seinen sechs Jahren überhaupt so lange tonlos durchzuhalten, musste den Ausbilder beeindrucken. Als wäre der Damm gebrochen, konnte er sich nun nicht mehr zurückhalten. Doch keiner seiner Laute konnte den Schwarm aus Schlägen verringern.

Plötzlich riss eine Hand an seinen Haaren den Kopf aus dem Schutz seiner Arme. Jaleel schrie auf und die zwei kleinen Fäuste eines Mädchens, mit raspelkurzem braunen Haar, wuchteten direkt in sein Gesicht. Er schmeckte Blut.

 

Jaleel riss die Augen auf und ruckte hoch. Die Bettdecke rutschte von seinem unbekleideten Oberkörper. Er schaute sich verstört im Zimmer um.

»Nur ein Traum …«, murmelte er und fuhr sich mit der Hand durch sein schwarzes Haar.

Immer wieder Erinnerungen. Er fragte sich, ob er das alles überhaupt jemals vergessen konnte. Gedankenverloren senkte er den Kopf, die Hand weiterhin im Nacken. Diese Träume kamen jede Nacht – zumindest in jeder Nacht, in der er nüchtern war. Deswegen bemühte er sich stets redlich, diesen Zustand zu vermeiden.

Der Straßenlärm der erwachenden Stadt drang durch die Holzläden der Fenster und das laute Schimpfen einer Frau, die wohl gerade ein paar Kindern die Leviten las, holte ihn in die Realität zurück.

Jaleel schüttelte den Kopf und warf die Decke zur Seite. Er schwang sich aus dem Bett, ging zum Fenster und öffnete es weit. Frische Morgenluft strömte in das Zimmer. Er stützte sich auf den Rahmen, von dem daraufhin knisternd die spröde Farbe abbröckelte, beugte sich vor und atmete tief ein.

»Na aber hallo – wartest du schon auf mich?«, rief eine ihm vage bekannte Stimme fröhlich von der Straße zu.

Er blickte in ihre Richtung und sah eine Frau mit langen schwarzen Locken, die ihre Hände in die Hüfte stemmend zu ihm hoch grinste.

Jaleel runzelte die Stirn und überlegte. Woher zum Teufel kannte er sie? Dann fiel es ihm ein: Letzte Woche hatte sie mit anderen Musikern in der Taverne am großen Marktplatz gespielt. Nach ein paar Bechern Wein hatte sie ihn willig mit auf ihr Zimmer genommen. Aber was machte sie denn hier?

Erneut zu ihr schauend bemerkte er, wie ihr kecker Blick immer wieder an ihm hoch und runter wanderte. Er zog die Augenbrauen fragend nach oben, dann dämmerte es ihm. Jaleel stand nur mit seinem kupfernen Anhänger um den Hals am Fenster. Nicht nur die grinsende Frau, auch die ganze Straße konnte seinen Körper sehen und da das Fenster seine Unterwäsche verdeckte, schien es so, als wäre er splitterfasernackt.

»Was machst du denn hier?«, rief er schmunzelnd und lehnte sich, die Arme vor der Brust verschränkend, zurück.

Er grübelte nebenher, wie ihr Name gewesen war – hatte er ihn überhaupt erfahren? Wenn es etwas gab, was seine Träume noch besser zum Verstummen brachte als Alkohol, so war das, betrunken eine Frau als Bettwärmer zu haben. Der Name war ihm da nicht so wichtig.

»Eigentlich bin ich unterwegs zum Markt, aber dann rückte mir etwas Interessanteres ins Blickfeld«, lachte sie.

Jaleel schaute hinauf zum wolkenlosen Himmel. Der Stand der Sonne war weiter fortgeschritten, als er gedacht hatte.

»Hmmmh, keine Zeit!«, rief er, nachdem er kurz abgewogen hatte, ob es sich lohnen würde nochmal ins Bett zu kriechen – diesmal zu zweit.

»Du wirst mit den bunten Marktverkäufern vorlieb nehmen müssen. Mein Weg führt mich zur Kaserne«, den Kommandanten verärgerte man lieber nicht zu sehr, fügte er in Gedanken hinzu.

Das kam ihm auch recht gelegen. Denn wenn eine Frau mitbekam, dass er ihren Namen vergessen hatte, konnte es unangenehm werden. Man konnte zwar vergesslich sein, sollte jedoch trotzdem zu einem gewissen Maße zuvorkommend sein.

»Schade, aber ich weiß ja, wo du wohnst«, säuselte sie und lief, mit der Hüfte schwingend, die Straße entlang ohne es dabei zu verpassen, dem immer noch am Fenster stehenden Jaleel einen verführerischen Blick aus ihren dunklen Augen zuzuwerfen.

Er wandte sich zurück in sein Zimmer, welches einfach aber gemütlich eingerichtet war: ein breites Bett, ein schmaler Tisch, auf dem sich das Geschirr vom Abendessen der letzten Tage stapelte, und ein großer hölzerner Schrank. Seine Rüstung war in seinem mittlerweile zweiten Heim – der Kaserne – zur Überarbeitung nach der letzten Schlacht untergebracht.

Jaleel überlegte kurz, was er sich anziehen sollte. Es war sowieso wieder Training angesagt, also wozu gute Kleidung riskieren? In eine zerschlissene, braune Lederhose schlüpfend überlegte er, wo er sich ein schnelles Frühstück holen konnte. Er hielt kurz inne und dachte daran, dass es in der Gilde morgens niemals Essen gegeben hatte – das hatte angeblich abhärten sollen.

Wieder ein Pluspunkt für ein Kriegerleben, dachte er, schnappte sich ein Schnürhemd und während er es sich über den Kopf zog, schlenderte er zur Türe hinaus.


Grafik5

 

Grafik7

 

Der Weg zum Konzil der Heiler führte Zeemira an den riesigen Springbrunnen des Kathedralen-Vorhofes vorbei. Das im Überfluss sprudelnde Wasser war so klar wie Kristall. Zarte Regenbögen schwebten zwischen den fliegenden Wassertropfen, die im Sonnenlicht glitzerten wie ein Diamantenregen.

Sie strich gedankenverloren mit den Fingerspitzen über die spiegelglatte Steinfläche eines der ovalen Becken und fragte sich wie so oft, auf welche Art die Menschen vom Sabiqaan – dem langen Vorher – es geschafft hatten, diesen harten Stein so meisterhaft zu bearbeiten. Die skelettartige, gewundene Struktur der Kathedrale war so schwindelerregend hoch und feingliedrig, dass es unmöglich mit den Werkzeugen einer Schmiede und Steinmetzen der jetzigen Zeit gefertigt werden könnte.

Zeemira hielt inne und blickte verträumt den Wasserläufen nach, die sich wie silberne Bänder den Berg hinab Richtung Stadt schlängelten. Das Wasser der Kathedrale war wertvoll, vermochte es doch die Stadt Madina am Leben zu erhalten, so wie ihr inneres Licht die Soldaten in der Schlacht am Leben erhielt.

Sie seufzte laut bei diesem Gedanken.

Wieder war sie unkonzentriert gewesen, doch diesmal trugen die Soldaten nicht einfach ein paar mehr Narben aus der Schlacht mit nach Hause – sie würden niemals zurückkehren. Durch ihre Unzuverlässigkeit waren sie gestorben.

Damit nicht genug: Der Tod der Männer hatte sie so mitgenommen, dass sie nicht mehr in der Lage gewesen war, die verbliebenen Krieger zu heilen. Hätten, die zu ihrer Sicherheit abgestellten, Soldaten sie nicht beschützt und weggetragen, wäre sie vermutlich selbst gefallen, denn die Masakh hatten ihre Chance sofort gewittert und sich auf die Position ihrer Einheit konzentriert.

Nachdem sie sich davon erholt hatte, war das Konzil einberufen worden, um über die weiteren Konsequenzen zu entscheiden. Man mochte meinen, Zeemira hätte sich mittlerweile daran gewöhnt, denn sie wurde ständig vorgeladen, weil sie ihren Pflichten eher oberflächlich nachkam – wenn man es beschönigt ausdrücken wollte. Doch es war jedes Mal schrecklich für sie, vor die strengen Hohepriesterinnen zu treten.

Daher ließ sie sich übergebührlich Zeit. Sie schlenderte langsam an den Brunnen vorbei und schritt durch den riesigen Bogen des Haupttores, welches mit stilisierten Blüten und Ranken aus farbigem Glas verziert war.

Sie senkte den Kopf und bog in einen weniger bevölkerten Seitengang – ein kleiner, willkommener Umweg. Zeemira war nicht erpicht darauf, anderen Heilern zu begegnen, oder gar mit ihnen zu sprechen. Natürlich konnte der gesenkte Kopf, dessen lange Haarpracht ihr Gesicht verdeckte, sie nicht wirklich unscheinbarer machen. Ihr welliges, kupferrotes Haar war weithin zu sehen und so ungewöhnlich, dass es sofort auffiel. Zwischen all den blond- und braunhaarigen Menschen war sie so dezent wie eine kahlgeschorene Katze. Sie hatte mehrmals versucht es zu färben aber das Kupfer schimmerte immer durch die Pflanzenfarben hindurch, sodass es nur noch unangenehmer gewesen war, darauf angesprochen zu werden. Letztendlich hatte sie sich entschieden, es einfach offen zur Schau zu tragen – eine Flucht nach vorn.

»Na, auf dem Weg zur gewöhnlichen Schelte, Pirri?«, hörte sie eine schrille Stimme rufen, gefolgt von einem hohen Kichern.

Zeemira blieb stehen, atmete tief ein und drehte sich in Richtung der Rufe. Zwischen den Säulen der Spitzbogenarkaden standen zwei der anderen Heilerinnen mit ihren bodenlangen, weißen Gewändern. Sie kannte beide nicht, doch jeder kannte Zeemira.

»Ich habe gehört, dass du diesmal mehrere Tote zu verantworten hast. Nicht, dass dein Versagen überraschend gewesen wäre – was will man auch von einem unehelichen Nomaden-Kind erwarten – selbst wenn die Mutter eine Hohepriesterin ist«, Verachtung troff ätzend von ihrer Stimme. »Versuch es doch als Hure, Pirri

»Mein Name ist Zeemira. Und im Gegensatz zu dir stehe ich auch in der Schlacht und sitze nicht nur meinen Allerwertesten in der Kathedrale breit. Wer nichts tut, kann auch keine Fehler machen, nicht wahr?«, entgegnete sie kühl und schaute den beiden direkt in die Augen.

Pirri bedeutete in der alten Sprache flammendes Haar und wurde schnell ihr allseits bekannter Spitz- und Schimpfname. Er brandmarkte sie mit ihrer beschämenden Herkunft.

Bloß nicht aufregen, mahnte sie sich. Ganz ruhig bleiben, Wut spielt ihnen nur in die Hände.

Sie wollte sich eben abwenden, als die andere der zwei Frauen mit leiser Stimme zischte: »Ich hoffe, nächstes Mal lassen die Soldaten dich in der Wüste zurück, damit deine weißen Augen in der Sonne vertrocknen.«

Zeemira hielt inne und ballte die Hände zu Fäusten. Ihre strahlend helle Augenfarbe hatte sie von ihrer Mutter. In ihr floss neben dem Blut eines Badawi – eines Nomaden – auch das einer lichtgeborenen Hohepriesterin. Waren die Haare das Kennzeichen ihres Vaters, so waren die Augen jenes ihrer Mutter und zeugten zudem von der großen Macht, die ihr innewohnen musste. Lichtgeborene waren von Natur aus mächtige Heilerinnen, es lag ihnen im Blut. Andere konnten das Handwerk gewiss lernen, aber vermochten viel weniger auszurichten. Das schürte natürlich Missgunst.

Zeemira kochte innerlich, aber wenn sie sich jetzt noch auf einen Streit einließ, würde das Konzil nur viel härter urteilen. Daher wandte sie sich ab und versuchte weitere Worte der beiden zu überhören. Als sie außer Sichtweite war, beschleunigte sie ihre Schritte.

Vielleicht war es doch nicht so gut Zeit zu schinden, dachte sie entnervt.

Sie trat aus dem schmalen Gang hinaus, in den großzügig angelegten Park, der sich hinter der Kathedrale befand. Die irrgartenähnlich angelegten Blumenbeete auf den quadratischen Terrassen strahlten in satten Farben und ein süßlicher Geruch hing in der Luft.

Tief den schweren Duft einatmend, hielt Zeemira kurz inne und versuchte sich zu beruhigen. Ihr Blick wanderten über das Blumenmeer, aus dem ab und an einzelne, komplett verglaste Spitzbogen herausragten. Hatte die Sonne den richtigen Stand, warfen sie schillerndes Licht auf die Pflanzen, sodass sie zu tanzen schienen. Zeemira hatte gelesen, in den Zeiten vom Vorher hatten die Menschen solcherart Fenster in ihren Häuserwänden. Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf und fragte sich, was solch ein Luxus sollte. Glas war zu zerbrechlich, um vor sandigen Unwettern zu schützen und wenn es sonnig war, ließ es keinerlei kühlende Luft hindurch.

Sie riss sich von dem, wieder einmal ihre Aufmerksamkeit ablenkenden, Anblick los und lief an den Gärten vorbei zu einem Seitentor, um erneut in das Gebäude zu treten. Sie schritt eine schmale, schneckenförmige Wendeltreppe hinauf und betrat hinter zwei knochenartig geformten Säulen den Hauptgang zum Konzil. Nach links und rechts blickend sah sie weit entfernt, wie sich andere Heilerinnen unterhielten.

»Sehr gut, niemand Nervtötendes in der Nähe«, murmelte sie erleichtert und huschte in den breiten Gang.

Sie erreichte den Raum des Abadaan Jawhaar, ohne dass sie jemand ansprach. Das riesige, kristallene Artefakt schwebte frei in der Mitte des Raumes und tauchte ihn in ein sanftes, bläuliches Licht. Drei, mit unlesbaren Schriftsymbolen bedeckte, goldene Ringe rotierten langsam um dessen Mitte. Mehrere Heilerinnen standen auf einem wackeligen Holzgerüst und kratzten mit Kristallstiften an ihnen herum. Sie versuchten die sich aufzehrenden Symbole zu restaurieren, damit das Artefakt seine Macht aufrecht erhalten konnte. Das war ein schwieriges Unterfangen, da niemand die Schrift entziffern konnte. Die Priesterinnen wussten, wie man das Konstrukt in Gang hielt, aber nicht, was genau sie da eigentlich taten.

Es musste funktionsfähig bleiben, denn das Artefakt des Sabiqaan war es, was die Kathedrale und die gesamte Stadt um sie herum vor den heftigen Lichtstürmen beschützte. Ohne den Schutz vor den leuchtenden Schleiern, die das Fleisch von den Knochen rissen und selbst das härteste Material sofort zu Staub zerfallen ließen, würden die Kathedrale und die darunter sprudelnden Wasserquellen schnell hinweg gefegt werden.

Zeemira fühlte ein unangenehmes Kribbeln in der Magengegend und drehte sich um. Hohepriesterin Pheedre schritt lautlos in den Raum. Ihr weißes Haar hatte sie zusammengebunden und nur ein paar einzelne Strähnen fielen in ihr schmales Gesicht. Sie trug dieselbe Kleidung wie in der letzten Schlacht. Kaum zu glauben, dass diese zierliche kleine Frau ein Großteil des Heeres am Leben erhalten hatte.

Und ich habe es nicht einmal geschafft sieben Krieger zu bewahren, gestand sich Zeemira bitter ein.

Pheedre blickte sie nur kurz mit ihren weißen Augen an, zeigte jedoch keine Regung und wandte sich dann leichtfüßig der großen Doppeltür zu, die zum Konzil führte. Zeemira schluckte hart und folgte ihr – jetzt gab es keine Chance mehr es noch weiter hinauszuzögern.

Die Hohepriesterin hob elegant ihre Hand und die große, gewölbte Tür schwang lautlos auf. Ohne sich umzusehen schritt sie hindurch und Zeemira folgte ihr langsam.

Der große Raum war jedes Mal atemberaubend. Seine Decke war eine einzige, massive Spitzbogenkuppel aus Stein, welche mit herrlichen, transparenten Glasreliefs ausgestaltet war. Die Bilder zeigten Szenen der Menschen vom Sabiqaan. Was viele der bizarren Formen genau darstellten, wusste keiner, denn die Kathedrale sollte unbeschreiblich alt sein. Es gab keine Fenster in diesem Raum, aber die Glasszenarien schienen das Kerzenlicht der Leuchter einzufangen und dann völlig farblos, aber um ein Vielfaches verstärkt, zurückzuwerfen. Es tauchte den runden Raum in ein gleichmäßiges, beinahe irreales Licht.

Zwei der anderen Hohepriesterinnen warteten bereits. Die dunkelhäutige Aaminah hob grüßend die Hand und lächelte. Die üppige Lateefah schaute ernst, aber gutmütig, aus ihren hellen Augen zu Zeemira. Diese beiden waren die sanfteren Mitglieder des Konzils – ganz ihren Namen entsprechend: Frau der Harmonie und die Gutherzige.

Zwei der Schreckgespenster fehlen allerdings noch, dachte sie.

Pheedre begrüßte die beiden und die Drei tauschten ein paar höfliche Floskeln aus. Erneut öffnete sich die große Tür und Zeemira biss die Zähne zusammen. Ihre Mutter, Hohepriesterin Maheen, kam mit einem scharfen Soldatenschritt auf sie zu. Das braune Haar hatte sie streng hochgesteckt und es verlieh ihren steinernen Zügen noch mehr Härte. Das Alter zog nahezu spurlos an ihr vorüber, die wenigen Falten um ihre stechenden Augen, deren weiße Iris im Licht schimmerte, waren kaum zu sehen. Die mit dem Mond Verwandte machte ihrem Namen alle Ehre.

Der alte Hohepriester Sameer – was so viel wie Geschichtenerzähler bedeutete – war der einzige Mann in der Runde und der volle Gegensatz zur energischen Maheen. Er schlurfte langsam und mit nach vorn hängenden Schultern heran. Es wirkte, als lastete sein detailreich besticktes Gewand bleiern auf seinem Körper. Männer konnten keine Heilkräfte freisetzen. Doch sie betrachteten Dinge aus anderen Blickwinkeln als Frauen, daher war die Meinung eines Mannes wichtig, um im Konzil Entscheidungsfindungen harmonisch zu gestalten.

Quälend gemächlich reihte er sich endlich in den Kreis der Priesterinnen ein. Er schnaufte und schwitzte, als hätte er gerade allein ein Feld in der brütenden Mittagshitze umgegraben. Alle fünf Mitglieder des Konzils richteten gemeinsam ihren Blick auf Zeemira, der sich dabei unwillkürlich das Herz zusammenzog. Sie hatte das Gefühl seziert zu werden und vermied es vor allem ihrer Mutter in das Gesicht zu sehen.

Ausgerechnet diese öffnete als erste ihren Mund: »Du hast dich dieses Mal wirklich selbst übertroffen.«

Zeemira zuckte zusammen, die Worte waren wie ein Peitschenhieb. Eine Pause folgte. Quälend langsam verstrichen die Momente, in denen sie nur das Rauschen ihres Blutes in den Ohren hörte. Aaminah seufzte und schloss die dunklen Lider ihrer sanften Augen.

»Wenn ich es nicht besser wüsste, müsste ich annehmen, du tust das mit voller Absicht – du weißt schon: versagen.«

Zeemira blickte zu Pheedre, welche diese Worte kühl gesprochen hatte.

»Ich … nein, ich …«, stammelte sie unbeholfen.

»Du bist nicht hierher bestellt worden, um dich zu rechtfertigen. Du bist hier, um unser Urteil zu hören«, fuhr die weißhaarige Heilerin fort.

»Ja, ehrenwerte Hohepriesterin«, presste Zeemira hervor.

Pheedre war die mächtigste Lichtgeborene unter ihnen – aber jeder kannte sie nur mit diesem distanzierten, reservierten Ton.

Wie konnte jemand, der so viel Licht in sich trägt, so kaltherzig sein, fragte Zeemira sich.

Dann ergriff Lateefah das Wort.

»Es ist leider so, dass du heute mehrere Leben zu verantworten hast. Ich bin mir sicher, du selbst leidest ebenso darunter, diese tapferen Krieger verloren zu haben, wie deren Freunde und Familien. Da du dich auch noch hast mitreißen lassen, kostete es weiteren das Leben. Wir bemühen uns alle redlich, dir bei der Ausformung deiner Fähigkeiten zu helfen, aber es scheint, als wären wir nicht sonderlich erfolgreich. Das ist bedauerlich, da du als Lichtgeborene gesegnet bist.«

Sie war stets eine Fürsprecherin Zeemiras gewesen, sie musste jedoch in dieser Angelegenheit objektiv bleiben, das war ihr klar. Das Schlimmste daran war: Sie hatte Recht.

»Der Zustand ist nicht mehr akzeptabel. Deine Taten kosten nicht nur Leben, sondern auch Vertrauen. Und ohne Vertrauen zwischen den Soldaten und uns, werden das Heer und damit unsere Verteidigung auseinanderbrechen. Das ist nicht nur beschämend, sondern schlichtweg lebensbedrohlich. Alles davon!«, sprach ihre Mutter.

Alles? Ja, vermutlich ist es das für sie. Schließlich erinnert sie mein Dasein immerzu an ihre eigene Schande, dachte Zeemira niedergeschlagen.

»Wir müssen dem einen Riegel vorschieben – und zwar endgültig«, sagte sie fest.

Einer nach dem anderen nickte zustimmend.

 

Grafik6

 

Der Soldat fiel hart auf den Boden. Ihm blieb keine Zeit sich aufzurappeln, denn Jaleel war schon über ihm und hielt ihm die Spitze seines Langschwertes an das Kinn.

»Verdammt Jal, das ist ein Übungskampf. Ich glaube, ich habe mir den Arm verstaucht«, keuchte der Kämpfer über Jaleels Klinge hinweg.

Niemand kannte seinen vollen Namen, der in der alten Sprache glorreiche Würde bedeutete. Er hatte keine Ahnung, was sich seine Eltern bei der Namenswahl gedacht hatten. Es war eher ein schlechter Scherz, ein Kind der Tassallul so zu nennen, denn würdevoll war kein Augenblick ihres Lebens. Daher hatte er nach seiner Flucht nur noch die erste Silbe seines Namens benutzt: Jal – der Wandernde.

»Jetzt jammer nicht rum, in der Schlacht nimmt auch niemand Rücksicht. Kämpf' eben besser«, brummte er zurück und nahm sein Schwert vom Kinn seines Gegners.

Ihn zu überwältigen war leicht gewesen. Viele Krieger waren so bedacht darauf ihre Stärke zu trainieren, dass sie bis hin zur Unbeweglichkeit mit Muskeln bepackt waren. Wozu einem Schwert ausweichen, wenn eine Heilerin die Wunde wieder schließen konnte? Jals Körper hingegen war schlank und durchtrainiert. Als Assassine der Schattengilde musste man geschmeidig und wendig sein – kein wahrnehmbares Ziel bieten. Es gab dort höchstens Kräuterkundige und somit konnte jede Wunde den Tod bedeuten.

Er ließ den Arm sinken und schaute sich um. Keiner der anderen Soldaten machte Anstalten näherzutreten, um einen Übungskampf zu beginnen. Auch gut – dann blieb Jal mehr Zeit für die angenehmeren Dinge des Kriegerdaseins: den Sold abholen und ihn schnellstmöglich in Alkohol und Frauen investieren. Nach einer Schlacht war er besonders üppig. Ob das motivieren oder über die Tatsache hinwegtäuschen sollte, dass nie alle Kämpfer zurückkehrten, war ihm einerlei.

Jal warf das klobige Übungsschwert auf den Stapel zu den anderen, lockerte die Riemen seiner schwarzen Lederrüstung und schlenderte in das Haupthaus – sein Ziel war die Auszahlungsstelle im ersten Stockwerk. Ihm begegneten eine Menge Soldaten, die sich lachend darüber unterhielten, was sie mit dem Geld anstellen wollten. Der Umstand, dass sie gerade dem Tod entronnen waren, welcher vielleicht schon morgen ihre Seelen holte, schien sie nicht weiter zu bekümmern. So war das eben als Krieger in Madina – jeder Tag konnte dein letzter sein – also genoss man ihn in vollen Zügen.

Nicht die schlechteste Lebensart, überlegte Jal, als er seinen prall gefüllten Beutel entgegen nahm.

Wenigstens die Zeit zwischen den Kämpfen konnte man genießen, in der Gilde gab es keinerlei Momente der Sorglosigkeit. Niemand der Soldaten hier fragte ihn nach seiner Vergangenheit – ein weiterer Pluspunkt. Jeder war gleich und ausschließlich die Leistung in den Schlachten zählte, denn es stand nur das Heer, bestehend aus den Soldaten und den mächtigen Heilerinnen der großen Kathedrale, zwischen den Masakh und der Stadt Madina. Warum diese tierartigen Wesen immer wieder die Stadt einzunehmen versuchten, war weiterhin ungeklärt. Es schien schon immer so gewesen zu sein und ob ihr Volk wirklich Masakh hieß, konnte keiner sagen. Das Wort bedeutete schlicht Monster in der alten Sprache.

Jal ging zum Rüstmeister, um seine Sachen abzugeben. Er hatte hervorragende Arbeit bei der Überarbeitung geleistet, aber ein paar Stellen rieben unangenehm und Ablenkung im Kampf mochte er gar nicht. Der alte Mann nahm die Rüstung entgegen und hörte sich mürrisch dreinblickend Jals Änderungswünsche an.

Staubig machte er sich dann auf den Weg zur Taverne. Es war Nachmittag, die perfekte Uhrzeit für einen oder mehrere Humpen schweren Weins. Er klopfte sich vor der Eingangstür etwas den Staub von der Kleidung und strubbelte durch sein dunkles Haar. Eine dünne, dreckige Wolke umgab ihn und er musste husten. Heute würde er vermutlich nicht allzu anziehend auf Frauen wirken – zumindest nicht auf die nüchternen.

Wie auch immer, die Rundungen eines Weinballons hatten wenigstens keinen Namen, den er sich merken musste. Jal trat in die Taverne. Muffige Luft und der Lärm von bereits angetrunkenen Soldaten beim Kartenspiel schlugen ihm entgegen.

»Eerol spielt mit gezinkten Karten!«, rief Jal den Soldaten ernst dreinblickend zu und deutete mit einem Nicken in die Richtung des wahrhaft riesigen Mannes, der an der Stirnseite der Holztafel saß.

»Den Teufel tu' ich! Du lebst ja noch, du ausgekochter Hurensohn!«, dröhnte ihm die tiefe Stimme Eerols entgegen.

Ein belustigtes Blitzen war in seinen braunen Augen, unter den buschigen Brauen, zu sehen. Dann lachte er lauthals durch seinen geradezu wildwüchsigen Vollbart und winkte Jal an den Tisch.

»Los, komm her Jal – es ist Zeit deinen Sold an mich zu verlieren!«, rief er.

Der grinste breit, hob zweifelnd die Augenbrauen und setzte sich mit an den Tisch. Es dauerte keine zwei Lidschläge, da stand auch schon der erste, bis zum Rand gefüllte, Krug vor ihm. Der Wein floss in Strömen und nach einer Weile wusste keiner mehr so richtig, ob er nun öfter gewonnen als verloren hatte.

Später am Abend lehnte Jal an der Theke, die Taverne drehte sich angenehm und er wusste: Laufen wäre gerade eine verdammt schlechte Idee.

Aber das mit dem Soldatenleben – das schien ihm mittlerweile eine sehr gute Idee zu sein. Es sollte eigentlich nur eine Zwischenstation sein, nachdem er den Tassallul den Rücken gekehrt hatte. Die Kopfgeldjäger waren monatelang hinter ihm her gewesen und er hatte sich auf niemanden verlassen können. Ein falsches Wort zu einer vertrauenerweckenden Person hatte ihn bereits mehrfach beinahe den Kopf gekostet. Den Kriegern war das alles gleich – und seit er sich in die Kaste eingefügt hatte, war kein Assassine mehr aufgetaucht. Es war wohl zu gefährlich, wenn man ständig von kampferprobten Männern umringt war.

Vielleicht sollte ich so den Rest meines Lebens verbringen, sinnierte er trunken. Die Stadt Madina ist relativ sicher, im Gegensatz zum Rest der Welt. Ab und an ein paar Kämpfe ausfechten und sonst die Seele baumeln lassen – warum nicht?

Diese Perspektive erschien Jal immer verlockender – wieso war das nochmal nur vorübergehend? Es wollte ihm nicht mehr einfallen und die Ausblicke, die sich ihm gerade an der Theke boten, wurden sogar immer besser.

Der verlockende Hüftschwung gehörte einer blonden Frau mit dunklem Teint. Ihre Kleidung war farbenfroh und körperbetont, sie schien nicht aus der Stadt zu sein. Vielleicht eine fahrende Händlerin aus dem Westen? Sie bestellte mit leisen Worten etwas beim Wirt und schlenderte zu einem Tisch in der Ecke. Dort saßen bereits drei andere Männer mit Kleidung im selben Stil. Der eine war um einiges älter.

Vermutlich ihr Vater, schätzte Jal.

»Die anderen beiden sind sicher nur ihre Brüder …«, brummelte Jal sich selbst ermutigend, schüttete den restlichen Wein in seine Kehle und drückte sich beschwingt mit beiden Händen von der Theke ab.

Irgendwie schaffte er es geradeaus zu laufen und dabei halbwegs nüchtern zu wirken – alles eine Frage der Übung und die hatte er ja ausreichend.

»Heyjo – ihr scheint neu hier zu sein, wie gefällt euch unsere Stadt im Schutze der Kathedrale?«, Jal setzte sein strahlendstes Lächeln auf und nickte dem Ältesten der Runde freundlich zu.

Wer den Vater überzeugt, hat schließlich die halbe Tochter, dachte er.

»Sie scheint angenehm zu sein – bis auf die Schürzenjäger überall«, antwortete stattdessen die Frau und wandte sich demonstrativ ihrem Weinkrug zu.

Jals Lächeln gefror ein wenig.

Alles klar, also eine Herausforderung, stellte er fest.

»Das liegt nur daran, das besonders attraktive Schürzen eben begehrt sind«, grinste er und hoffte, dass er nicht trunken lallte.

Sie musterte ihn über ihren Krug hinweg und zog skeptisch eine Augenbraue hoch. Sie stellte ihren Wein ab und stützte das Kinn auf ihre Hand.

»Das ist kein Kunststück – ich frage mich jedoch, warum die meisten der Jäger hier so dreckig sind wie Straßenhunde«, entgegnete sie schnippisch.

Jal fiel bei diesen Worten ein, wie er aussehen musste. Doch der Alkohol hielt glücklicherweise seine Verlegenheit im Zaum. Der Ältere hielt sich galant heraus und kratzte sich schmunzelnd am stoppeligen Kinn. Die anderen beiden rührten ihr Getränk nicht an und musterten Jal alarmiert.

Definitiv die Brüder, bestätigte er gedanklich.

Liebhaber wären schon längst auf ihn losgegangen, diese beiden wollten nüchtern bleiben, um die Ehre ihrer Schwester im Notfall verteidigen zu können. Es gab also keinen Grund das Weite zu suchen.

»Zugegeben, ich hätte vermutlich nach dem Kampftraining ein Bad nehmen sollen. Aber ich habe ja nicht ahnen können, dass in dieser Spelunke eine Schönheit wie du auftauchen würde. Glaub mir, gewaschen mach ich etwas mehr her«, Jal lehnte sich bei den Worten ein wenig zurück und breitete einladend die Arme aus.

»Du gibst also offen zu, dass du ein Schürzenjäger bist und dich gerade an mich heranwirfst?«, die Stimme der Frau war frostig.

»Ich gebe offen zu, dass ich ein Soldat bin, der eine schöne Frau erkennt, diese zu schätzen weiß und sich nicht scheut, das mitzuteilen. Ich kann es auch … anderweitig zeigen«, Jals Blick wurde anzüglich.

»Das reicht jetzt«, sagte der Kerl rechts von ihr und erhob sich ruckartig von seinem Stuhl.

»Ist es verboten, einer schönen Frau Komplimente zu machen?«, fragte Jal trocken, ohne sich von der Stelle zu rühren.

»Hör auf dich so an sie ranzuwerfen und uns zu ignorieren, als wären wir nicht vorhanden«, brummte er und stellte sich genau vor Jal.

Er war einen Kopf größer als er, schaute ihm direkt in die Augen und straffte kampfeslustig die Schultern. Jal wich nicht zurück, sondern grinste breit.

»Ich habe nur Interesse an schönen Frauen, nicht an deren schönen Brüdern«, lachte Jal und legte beide Hände in seinen Nacken.

»Tut mir leid, Kleiner. Aber ich könnte in der Kaserne ein gutes Wort für dich einlegen, da ist sicher ein strammer Soldat für dich dabei«, Jal schaute mit gesenktem Kinn nach oben und seine Lippen zeigten ein charmantes, verständnisvolles Lächeln.

Er vernahm ein leises Kichern vom Tisch und ein Prusten von dem anderen Bruder. Der Kerl vor ihm lief puterrot an und hob die Hände, um ihn zu packen.

»Hey hey, jetzt mal langsam«, lachte die Schönheit hinter ihm. »Setz dich wieder hin, er macht nicht den Eindruck, als würde er mich wie eine Bestie an den Haaren packen und hinter sich her in seine Höhle schleifen wollen.«

»Aber … der Kerl ist total aufdringlich und …«, stotterte ihr Bruder.

»Genug jetzt Bijaan, ich bin schon ein großes Mädchen. Und jetzt setz dich«, entgegnete sie, auf seinen Stuhl deutend.

Der Kerl zögerte, wandte sich schließlich brummend von Jal ab und setzte sich wieder an den Tisch.

»Den Namen deines aufbrausenden Bruders kenne ich nun, der Heldenhafte passt zu ihm. Wie ist deiner? Mich nennt man Jal«, sagte er versöhnlich und zog einen Stuhl heran.

»Ich bin Seerah. Mein Vater, meine Brüder und ich sind in Madina, um unsere Stoffe zu verkaufen«, antwortete sie und nippte erneut an ihrem Wein.

Der Name klang vielversprechend – die Freude Bringende. Jal versuchte ihn sich diesmal besser zu merken.

Sie tranken zusammen und er erzählte das Wenige, was er über die Stadt wusste, in einer Art, bei der man dachte, er hätte schon sein ganzes Leben hier verbracht. Ein paar Ausschmückungen hier, etwas Übertreibung bezüglich seines Soldatendaseins dort und der Alkohol tat bei Seerah sein Übriges, damit sie nach einer Weile Jal beeindruckt mit ihren Augen musterte. Ihre Familie saß stumm daneben und schaute argwöhnisch. Offensichtlich gab die Tochter den Ton an.

»Lass uns noch etwas Wein holen«, schlug Jal vor und deutete mit dem Daumen über seine Schulter Richtung Theke.

Sie nickte und als er aufstand, drehte es ihm ordentlich im Kopf. Noch einen Wein würde er vermutlich nicht überstehen.

Was soll's – man muss eben Opfer bringen, beschloss er mutig.

»Hmmmh, also wenn du nach deinem Training mal etwas Wasser gesehen hättest, könntest du sogar attraktiv wirken«, meinte Seerah und gab nebenher dem Wirt zu verstehen, dass noch zwei Humpen Wein gewünscht wurden.

Hey, sie steht trotzdem mit mir an der Theke und wir unterhalten uns seit Sonnenuntergang. Offensichtlich findet sie mich nicht total übel, dachte Jal zuversichtlich.

Er entschied sich für die Offensive, bevor der Wein seinen letzten Rest Verstand und Wortgewandtheit hinfortspülte.

»Wir nehmen den Wein mit auf ein Zimmer. Dort hätte ich außerdem gern einen Zuber mit heißem Wasser«, sagte er und schob dem Wirt ein paar Münzen zu.

Seerah schaute ihn erst verblüfft, dann belustigt an.

»Ich pflege meine Behauptungen auch zu beweisen – alle davon«, sagte er und legte den Kopf schräg.

»Ah ja, alle?«, grinste sie und hatte wohl die Anspielung auf seine Worte nach dem Schürzenjägervorwurf verstanden.

»Schön, selbstbewusst und ein gutes Gedächtnis …«, murmelte Jal und rieb sich grinsend das Kinn.

Er rutschte ein Stück an sie heran. Sie rümpfte die Nase.