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ELISABETH ETZ

NACH
VORN

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Für Christine

2018

© Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck

Umschlaggestaltung: Nele Steinborn

unter Verwendung einer Illustration von 123RF.com

Satz- und Layoutgestaltung: Nele Steinborn, Wien

Schriften: FF Casus Pro, Heading Pro, Antiphon

Druck und Bindung: FINIDR, Tschechien

ISBN 978-3-7022-3700-4 (gedrucktes Buch)

ISBN 978-3-7022-3701-1 (E-Book)

E-Mail: buchverlag@tyrolia.at

Internet: www.tyrolia-verlag.at

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Über den Autor

MEIN DANK GEHT AN

1

DER TAG, an dem der Port raus kam, war kein besonderer Tag. Nicht mein Geburtstag, nicht der Tag des ersten Schnees und auch nicht der Tag an dem Sarah Puntigam ihr Team mit dem entscheidenden Elfmeter gegen Spanien ins EM-Halbfinale schoss. Hätten wir alle gern gehabt, war’s aber nicht. War ein ganz gewöhnlicher Tag. Mit einem grau bedeckten Himmel und einem ekelhaften Wind, der an den Kleidern zerrte und einem den Staub ins Gesicht blies. Wenn’s drauf ankommt, spielt das Wetter nie mit. Das Radio sprach von Sturmwarnung, und in der Nacht hat’s dann auch tatsächlich ein paar Bäume umgelegt. Aber da war ich schon längst zuhause und es erwischte nur mehr die anderen.

Ich hatte mich mit meinen Eltern darauf geeinigt, dass der Tag, den wir feiern würden, derjenige sein sollte, an dem der Port raus kam. Der Tag, an dem wir es wagen würden, das Wort endgültig auszusprechen. Endgültig raus. Endgültig gesund. Endgültig wieder in der Lage am Leben teilzunehmen. Am Leben zu sein.

Auch wenn uns das kein Arzt jemals so unterschrieben hätte. Endgültig sagt man nicht. Erstens mal generell nicht. Wer weiß schon, was morgen ist? Zweitens gibt es die Fünf-Jahres-Regel. In den ersten fünf Jahren danach war ich mal gar nichts, schon gar nicht geheilt. Es konnte jederzeit von Neuem losgehen. Erst nach fünf Jahren konnte man anfangen aufzuatmen.

Aber auf der Station hatten sie mir einen Pokal überreicht und eine Urkunde, weil ich es geschafft hatte. Hatten mir applaudiert und mich mit großem Trara verabschiedet. Da waren mir Regeln egal. Ich hatte nicht vor wiederzukommen.

Ich fuhr mit der Hand über mein Schlüsselbein, wo bis gerade eben noch ein kleines Gerät unter meiner Haut gesessen hatte. Fuhr mir über die Narbe, die sich dort gebildet hatte und noch etwas schmerzte. Menschen wie ich hatten Narben dort, wo andere keine hatten. Aber die Schmerzen würden schnell vergehen. Alles würde vergehen und von Neuem, Schmerzlosem abgelöst werden.

Der Tag, an dem der Port raus kam, war kein besonderer Tag. Ich konnte es meinen Eltern ansehen, dass sie gerne etwas Besonderes gehabt hätten. Aber zu oft war es bergauf gegangen und zu oft gleich danach wieder bergab. So oft, dass mein einstiges Lieblingsessen mir mittlerweile zum Hals heraushing. Dabei hatten meine Eltern extra ein Buch über die griechische Küche angeschafft, weil Moussaka im Kochbuch für die kluge Hausfrau nicht drinstand.

Auch andere Bücher hatten sie sich zugelegt. Das Anti-Krebs-Kochbuch zum Beispiel.

„Ist doch sinnlos“, habe ich gesagt. „Ich soll das essen, was da drin steht, um dem Krebs vorzubeugen?“

„Ach, Lena“, hat meine Mutter gesagt und geseufzt. So hab ich damals geheißen. Lena. Helene kann man auf unterschiedliche Arten abkürzen. Damals fand ich Lena noch okay. Nur das andere, das war nicht okay.

„Damit ich dem Krebs vorbeuge?!?“, habe ich geschrien. Ich habe ihr das frisch gekaufte Buch aus der Hand gerissen und in die Mülltonne geschmissen.

„Für wie blöd haltet ihr mich denn?!? Glaubt ihr noch immer, dass man da was vorbeugen kann?!?“

Ein paar Wochen später musste ich ein weiteres Buch entdecken. Eigentlich hatte ich nach etwas ganz anderem gesucht und plötzlich in einer Schublade versteckt ein Kochbuch gefunden.

Krebszellen mögen keine Himbeeren. Obwohl ich gerade relativ gut gelaunt war, brachte mich der Anblick dieses Buches total aus der Fassung. Ich riss so fest an der Lade, dass sie aus ihrer Verankerung sprang und sie auf den Boden knallte. Das Buch schleuderte ich gegen die Wand. Ich schwöre, irgendwann bringe ich die Leute, die sich solche Titel ausdenken, eigenhändig um. Nachdem mein erster Wutanfall vorbei war, saß ich schluchzend am Küchentisch und spürte die Hand meiner Mutter auf meiner Schulter. Wenn ich die Kraft gehabt hätte, hätte ich sie weggestoßen. Aber ich hatte sie nicht.

Selbst wenn wir schon vor Jahren Anti-Krebs gegessen hätten, es wäre egal gewesen. Die Wahrheit war nämlich: Krebszellen mögen keine Menschen. Sie mochten insbesondere mich nicht. Sie hatten vor, mich umzubringen. Und so wie es aussah, würde es ihnen auch gelingen.

Der Tag, an dem der Port raus kam, war kein besonderer Tag. Und eigentlich war der Tag, ab dem ich wusste, dass es nun endlich vorbei war, schon vorher. Annette hatte mir gerade verkündet, dass nur noch meine Eltern einwilligen müssten, weil Portkatheter entfernen eine OP und ich minderjährig und so. Zuerst wusste ich gar nicht, ob ich ihr das glauben sollte. Aber sie sagte Dinge wie „… aufgrund des positiven Verlaufes in der letzten Zeit …“ und „… wir können mit ziemlicher Sicherheit ausschließen …“ Sie sagte, „… wir rechnen anhand der vorliegenden Befunde nun nicht mehr mit einem Rezidiv …“ Da dämmerte mir langsam, dass es ernst gemeint war. Annette war die Stationsärztin und sie sagte niemals leichtfertig etwas.

Annette sagte noch eine ganze Menge, aber ich konnte gar nicht richtig zuhören, weil sich dieses Grinsen in meinem Gesicht ausbreitete, das ich nicht mehr kontrollieren konnte. Ich dachte, dass ich jetzt etwas sagen sollte, mich bedanken oder so, aber ich saß bloß da und grinste, weil ich nicht wusste, was man sonst tut in so einer Situation. Annette grinste zurück und ich dachte, wahrscheinlich ist Grinsen sowieso das einzige, was passt.

Ich ging zurück auf den Flur und in den Hof, weil die Sonne schien und von da oben in mein Grinsen einstimmte und weil ich einfach ein bisschen für mich sein wollte damit. Ich wusste, gleich würden meine Eltern kommen und mich abholen und wir würden einander umarmen und Freudentränen vergießen. Ich wusste auch, dass ich das eigentlich gar nicht wollte, das mit dem Umarmen und dem Heulen. Davon hatte ich im letzten Jahr genug gehabt.

Aber sie waren meine Eltern und außer mir hatten sie niemanden, der sie umarmte und tröstete und sich mit ihnen freute. Es gab Schlimmeres.

Im Hof stand Ronnie an die Mauer gelehnt und rauchte. Es war sein letzter Tag als Zivi bei uns in der Klinik und er war ziemlich oft auf der Onko rumgehangen. Er war gekommen, als sie mir das erste Mal verkündet hatten, dass die Chemo bei mir nicht so anschlug wie gedacht und ich wohl länger hier bleiben musste, als erwartet. Fast gleichzeitig. Nun sollte er auch gleichzeitig mit mir gehen.

Ich stellte mich neben ihn und stützte ein Bein gegen die Mauer. Ronnie hielt mir das Zigarettenpäckchen hin und ich fischte mir eine heraus und ließ mir Feuer geben. Obwohl ich früher schon ein paar Mal mit Freundinnen auf dem Dachboden heimlich geraucht hatte, war mir, als wäre das hier die allererste Zigarette meines Lebens.

„Na, jetzt haben wir’s beide hinter uns“, sagte Ronnie.

Ich blinzelte in die Sonne und stellte mir vor, ich wäre das ganze letzte Jahr hier auch bloß Zivildiener gewesen.

Der Kamp kam durch den Hof gelaufen und ich hob die Hand und winkte. Kamp war Oberarzt und hatte es immer eilig. Manchmal kam er mit Annette zur Visite und stresste rum. Ich war froh, wenn ich ihn nicht sah.

Trotzdem hob ich die Hand. Ich wollte, dass er sah, wie ich da stand und rauchte, so wie das hunderttausend normale Jugendliche in meinem Alter tun. Wie ich neben Ronnie stand. Zwei normale Menschen, die beide in einer halben Stunde ganz normal hier rausgehen würden.

Der Kamp hielt wirklich inne und winkte zurück. Er lächelte. Alle lächelten heute. Auch wenn hinter den Mauern das Sterben weiterging. Das war mir jetzt egal. Es betraf mich nicht mehr.

Der Kamp musste wie immer schnell weiter, aber ich stellte mir vor, wie er sich im Laufen Freudentränen aus den feuchten Augen wischte. Natürlich war das nur in meiner Vorstellung so. Die Ärzte auf der Onko weinen nicht. Auch nicht, wenn einer stirbt. Die sind tough, so wie wir. Irgendwann weinen wir auch nicht mehr. Weinen ist für die von draußen. Für die, die kommen und Geschenke bringen. Für die, die kommen und nicht rein dürfen, weil wir hochanfällig für Infektionen sind. Für die, die kommen und Unordnung stiften. Für die, die kommen, und uns zum Lachen bringen. Heulen tun sie alle irgendwann.

Wir nicht. Ich nicht. Das hab ich mir geschworen. Dass ich nie wieder heule.

War auch nicht mehr notwendig. Die Sonne schien, Ronnie rauchte, Annette grinste und es würde noch mindestens eine halbe Stunde dauern, bis meine Eltern kämen.

Der Tag, an dem der Port raus kam, war nicht der Tag, an dem ich wieder in die Schule gehen hätte können. Das war schon einige Monate vorher. Bloß war da das Schuljahr fast zu Ende und es hatte wenig Sinn. Schließlich wusste man auch noch nicht, wie alles verlaufen würde. Ich hatte also erst mal Sommerferien und dann die OP. Den Eingriff, wie sie es nannten. Sie setzten alles dran, um das Wort Operation so gut es ging zu vermeiden. So als könne man uns das nicht auch noch zumuten. Als würden wir aus den Latschen kippen, sobald wir dieses Wort hörten. Total verlogen, fand ich. Als ob das noch einen Unterschied gemacht hätte. Auch wenn das Ding aussah wie ein Spielzeug aus einem Überraschungsei, es saß unter meiner Brust und es gehörte da nur so lange hin, wie ich mir regelmäßig Chemikalien durch den Körper jagen lassen musste.

Das aber war jetzt endgültig vorbei. Und eine OP war eine OP.

Ich konnte also ganz normal im September wieder in die Schule gehen. Natürlich nicht in meine alte Klasse, aber eine Klasse drunter. Würde nicht in einem Jahr die Matura machen, sondern erst in zwei. Als wäre ich sitzengeblieben. So wie Nono. Das mit September war also unheimlich praktisch. Ich hatte Nono, mit dem ich zwar nicht befreundet war, den ich aber noch aus meiner Klasse kannte.

Ich würde auch in einigen Fächern die gleichen Lehrer haben. Den Stricker, der mir in Mathe das Leben zur Hölle gemacht hatte, war ich los. Obwohl ich das mit der Hölle jetzt im Nachhinein noch mal anders definieren würde. Egal, ich musste mir über ihn keine Gedanken mehr machen.

Ich sollte mir auch keine Gedanken mehr machen über das, was gewesen war. Ab jetzt ging es nach vorn. Die letzten Augusttage war ich ziemlich gut gelaunt. Ich hatte das Gefühl, die Welt mochte mich. Sie wollte es mir leicht machen auf meinem Weg nach vorn.

Und jetzt sitze ich da in der neuen Klasse. Neben Nono. Ein halbes Jahr schon. Ich konnte sogar durchsetzen, dass wir einen Tisch in der Mitte nehmen und uns nicht irgendwo hinten in die letzte Reihe verdrücken. Nono hatte keine Lust auf Lernen. Ich schon. Ich wollte endlich wieder eine richtige Schülerin sein.

Die erste Zeit in der neuen Klasse habe ich vor allem damit verbracht, die anderen zu beobachten. Herauszufinden, wer wie zu wem steht. Wer welchen Status hat. Wer das Sagen hat und wer sich unterordnet. Und wo ich mittendrin meinen Platz finde. Auf blöde Blicke oder Fragen hatte ich mich vorbereitet, aber die sind gar nicht gekommen. Ich weiß nicht, wer aller wusste, warum ich hier sitze. Vermutlich haben sie anfangs gedacht, ich sei sitzengeblieben. So wie Nono.

Denjenigen, mit denen ich mich angefreundet habe, habe ich selbstverständlich was erzählt. Nicht viel. Keine Details. Aber dass ich nicht blöd bin, sondern krank war. Was natürlich eine stark vereinfachte Form der Dinge ist, denn Nono ist auch nicht blöd. Er zieht es nur vor, sich die Birne wegzukiffen, anstatt zu lernen. Egal. Luna, Shirin und Julia jedenfalls wissen so ungefähr, was ich die letzten eineinhalb Jahre gemacht habe. Und Marc.

Luna, Shirin und Julia sind jetzt meine Clique. Marc ist mein Freund.

Wirklich wissen tun sie natürlich nichts.

2

ES WAR erstaunlich leicht, mich in der neuen Klasse einzuleben. Die ersten Wochen blieb alles ganz nett. Nichts Besonderes, aber okay. Du hattest eine schwere Zeit, jetzt geht’s bergauf. Du wirst nicht mehr sterben. Du gehörst jetzt wieder dazu. Zu uns.

Das Problem war nur, dass ich ziemlich bald merkte, dass es kein uns gab, zu dem ich gehören wollte. Nicht, dass sie mich nicht gewollt hätten. Meine neue Klasse war ein Ausbund an Klassengemeinschaft. Ein paar kannten Nono schon, weil er gutes Gras vercheckte, ein Bonus, den er mir voraus hatte. Aber auch ich hatte keine Schwierigkeiten. Ich hatte das Gefühl, die Welt mochte mich. Bloß war ich mir nicht sicher, ob das auf Gegenseitigkeit beruhte.

Alles war zu perfekt. Die Leute in meiner Klasse waren freundlich und unbeschwert. Lästereien hielten sich in Grenzen, und die, die sich nicht mochten, gingen sich aus dem Weg. In der Pause wurde gemeinsam voneinander abgeschrieben und wenn die Gangaufsicht kam, funktionierte das Warnsystem hervorragend. Am Klo wurde gemeinsam geraucht und, wenn Nono dabei war, gemeinsam gekifft. Nachrichten, die die Runde machten, wurden immer auch an mich geschickt, und ich bemühte mich, etwas Witziges oder Freundliches zurückzuschreiben. So wie man das in dieser Welt anscheinend erwartete.

Luna, Shirin und Julia haben ziemlich bald beschlossen, mich interessanter zu finden als Nono. Die drei waren nicht so auf Kiffen aus und ich auch nicht, eine Gemeinsamkeit hatten wir also schnell gefunden. Ich war lange genug zugedröhnt, das brauche ich jetzt nicht freiwillig, nein danke.

Ich habe schnell herausgefunden, dass Shirin und Julia die waren, die in der Klasse den Ton angaben, also war ich dankbar für ihr Freundschaftsangebot. Zuerst dachte ich, ich würde auch eine wie Luna werden, die den beiden einfach überallhin nachlief und lachte, wann immer die beiden etwas sagten. Wäre mir auch recht gewesen. Aber irgendwie scheinen mich Julia und Shirin ernsthaft interessant zu finden. Ich vermute, sie dichten mir eine mystische Aura an, so als wäre ich durch meine Krankheit in irgendwelche Tiefen hinabgestiegen, aus denen ich Weisheit mitgebracht hätte. Mit dem Hinabsteigen haben sie recht. Legt auch mein neuer Name nahe.

Denn Lena, das bin ich nicht mehr. Ich nenne mich Hel. Hel wie Hölle. Damit alle gleich wissen, woran sie sind.

Bei der Weisheit hingegen bin ich mir nicht so sicher. Aber ich war froh, dass ich mich gleich in den ersten Wochen an sie dranhängen konnte und wir nun zu viert durch die Gegend zogen. Ich konnte auch sehen, wie es die Lehrer freute, dass ich so schnell Anschluss fand. Die waren schließlich eingeweiht, manche haben mir im letzten Jahr Unterrichtsmaterialien zukommen lassen und teilweise sogar versucht, mir über Skype Privatstunden zu geben.

Mussten wir aber abbrechen. Mir ging es zu schlecht. Die Kids um mich rum waren ganz begeistert vom Unterricht, der auf der Station angeboten wurde. Die Kliniklehrerin, die zu allen kam, um mit ihnen zu lernen, war das Highlight ihres Tages. Aber die waren alle so klein und leicht zu begeistern.

Ich bin froh, dass wir über dieses Thema heute den Mantel des Schweigens breiten. Dass niemand mit mir darüber reden will. Denn ich soll nicht mehr an Rückfälle denken. Ich bin aufgestanden und jetzt geht es nach vorn.

Auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob ich mag, was ich dort sehe.

Ich bin schnell draufgekommen, was die Dinge sind, die die anderen in meiner Klasse beschäftigen. Unglückliche Liebe. Verbote der Eltern. Streit mit der besten Freundin. Selbst Nono, der tut, als stünde er über den Dingen, leidet daran, dass Shirin ihn nicht beachtet.

„Du bist ihr zu entspannt“, formuliere ich es freundlich, wenn er sich bei mir ausheulen will. „Die will nicht nur abhängen, die steht nicht so auf Leistungsverweigerung. Die steht auf Typen, die was schaffen oder zumindest schaffen wollen.“

Typen wie Marc. Bloß hab den ich abgekriegt. Irgendwie war er plötzlich da. Mit sechs Anrufen in Abwesenheit. Alles Marc. Scheiße, wir hatten doch bloß rumgeknutscht. Da musste man doch nicht gleich sechs Mal anrufen.

Ich wusste, ich sollte zurückrufen. Sollte mich mit ihm treffen. Aufgeregt sein. Herzklopfen haben. Ihn vermutlich noch mal küssen. Mich ins Kino einladen lassen. Seine Eltern kennen lernen. Seine kleine Schwester süß finden. Das ganze Paket.

Ich wusste, dass mich abgesehen von Shirin noch mindestens drei weitere Mädchen und zwei Burschen aus meiner Klasse um den Kuss von Marc beneideten. Aber ich hatte es bloß getan, weil ich nichts Besseres zu tun hatte. Da war ich, da war Marc, da war ein Bier oder auch zwei. Da waren plötzlich wir beide. War halt so. War doch kein Grund, Telefonterror zu machen.

Ich hatte mich ein Jahr lang damit beschäftigt zu sterben, jetzt wollte ich mich endlich wieder damit beschäftigen zu leben. Bloß hatte ich irgendwie vergessen, wie das geht.

Während in den Kalendern der anderen die Termine für Partys und erste Dates immer mehr wurden, häuften sich in meinem bloß die Chemozyklen. Während ihre Körper das Gewand ablegten, um mit anderen Körpern das erste Mal ins Bett zu steigen, legte meiner die Sachen nur ab, um Infusionen angehängt zu bekommen. Das erste, zweite, hundertste Mal.

Während die anderen bei der Ärztin waren, um sich kleine Pillen verschreiben zu lassen, die fast 100-prozentig gegen neu entstehendes Leben schützten, bekam ich große Pillen gegen neu entstehendes Sterben. Wirksamkeit 75 Prozent.

Während die Eltern der anderen seufzten, weil sie zur vereinbarten Zeit nicht zu Hause waren, seufzten meine, weil ich schon wieder nicht nach Hause gehen konnte.

Während die anderen Vokabelhefte anlegten, hätte ich die ganzen neuen Vokabeln am liebsten sofort wieder vergessen. Vincristin, Rezidiv, Alopezie.

Natürlich habe ich Marc zurückgerufen und seither sind wir ein Paar. Ich habe ein Jahr verloren, vielleicht eineinhalb. So viel ist das nicht bei einer Lebenserwartung von, sagen wir mal, achtzig Jahren. Eine vernachlässigbare Größe. Ich muss einfach alles nachholen, was mir entgangen ist, dann werde ich mich vielleicht irgendwann gar nicht mehr daran erinnern können, dass da was fehlt. Dass da Zeit fehlt, gefehlt hat. Einfach alles nachholen. Nach vorn schauen.

Ich habe also jetzt einen Freund.

Immer wieder habe ich mich während der letzten zwei Jahre gefragt, ob ich das wohl noch erleben würde. Den ersten Kuss. Den ersten Freund.

Und jetzt ist er da. Der erste Kuss war zwar nicht besonders spektakulär, doch mit der Zeit wurde es besser. Marc sabbert auch nicht mehr so viel wie zu Beginn, aber vielleicht liegt das auch an mir.

Schließlich ist Marc der Profi und ich die Spätzünderin. Eigentlich könnte es mir peinlich sein. Ist es aber nicht.

Natürlich gibt es in meinem Leben noch Peinlichkeiten. Wenn ich was nicht weiß, oder merke, dass ich nicht ganz so cool rüberkomme, wie ich vorhatte, laufe ich innerlich knallrot an.

Aber meinem Körper ist nichts mehr peinlich. Der hat die entblößendsten Situationen schon hinter sich. Er hat gelernt, Peinlichkeitsgefühle zu ignorieren. Das habe ich ihm beigebracht.

Nach der Schule steht Marc mit einem Einkaufswagen vor dem Schultor.

„Wo hast’n den aufgetrieben?“

Marc grinst. „Setz dich rein“, fordert er mich auf.

Ich steige in den Wagen, schiebe seine Hand weg, die mir helfen will. Ich kann das alleine.

Kaum sitze ich, beginnt Marc den Einkaufswagen zu drehen. Ich stoße einen Schrei aus, aber dann halte ich mich einfach nur fest und lache. Marc hat die Arme überkreuzt und hält den Griff fest, ich weiß, dass er nicht loslassen wird. Nach und nach füllt sich der Platz vor der Schule, der Unterricht für viele Klassen endet jetzt.

Mir wird schwindlig, aber das ist mir egal. Ich genieße, dass ich weiß, woher der Schwindel kommt. Dass ich ihn jederzeit stoppen kann, indem ich den Wagen anhalte, denn Marc wird den Wagen anhalten, wenn ich es ihm sage.

Aber ich lasse ihn drehen, drehen, bis ich wirklich nicht mehr kann und Stopp schreien muss. „Stopp“, und Marc stoppt und ich falle aus dem Wagen, falle ihm in die Arme. Er hält sein Handy vor uns und fotografiert. Macht kleine Filmchen. Marc und Hel. Hel und Marc. Mit ein paar Klicks können es alle seine Freunde und Follower sehen. Marc ist nämlich einer, der Follower hat.

In meinen Gedanken schicke ich die Bilder auch an Annette, mit der ich natürlich nicht privat befreundet bin. Sehe sie lächeln und sich freuen, wie gut ich das gemacht habe mit dem Überleben.

3

DASS ICH eine Spätzünderin bin, ist Marc egal. Erstens bin ich damit bestimmt nicht die Einzige in meinem Alter. Zweitens habe ich eine Entschuldigung dafür und zwar eine gute. Eine, die niemand jemals anzweifelt. Trauen sie sich gar nicht. Du brauchst nur Krebs zu sagen und schon verfallen alle in Schreckstarre. Eigentlich sollte ich das mal probieren. Vielleicht könnte ich die ganze Welt so lahmlegen. Ich könnte hingehen, wo immer ich will, niemand könnte mich hindern, denn das verwünschte Wort würde einen Eishauch um alle legen, die sich mir in den Weg stellen.

Marc lässt sich nicht lahmlegen. Er weiß sogar ein bisschen was über Chemos und so. Seine Tante hat Brustkrebs gehabt und ist mit nur noch einer halben Brust, dafür aber mit dem ganzen Leben aus dem Krankenhaus zurückgekommen.

Ein Treffen mit Marcs Familie interessiert mich überhaupt nicht, aber ich brenne darauf, Marcs Tante kennenzulernen. Ich bin nämlich neugierig auf ihre halbe Brust. Ich habe mehrere fehlende Körperteile gesehen im letzten Jahr, aber Brüste sind nie dabei gewesen. Wir waren einfach zu jung dafür. Wenn Brüste nicht da waren, dann deshalb, weil sie noch nicht gewachsen waren.

„Die trägt einen ausgestopften BH“, sagt Marc, als ich ihn drauf anspreche. „Da merkst du gar nichts.“

„Meinst du nicht, dass man da was sehen kann? Wenn man genau hinschaut?“ Ich kneife die Augen zusammen. „Ich kann das sicher sehen.“

„Ich sag dir doch, da sieht man nichts.“

„Und ich sag dir, ich kann so was sehen. Ich hab da einen speziellen Blick. Den Krebs-Blick.“ Marc lächelt gezwungen. Er weiß nie, wie er auf so etwas reagieren soll.

Aber er lässt sich breitschlagen und verspricht, dass zu dem Treffen mit seinen Eltern auch seine Tante kommen wird.

Evelyn heißt sie. Ein schöner Name. Etwas altmodisch, aber jung ist sie ja nicht mehr. Evelyn. Ein Name, der auf der Zunge zergeht wie ein Bonbon, das man im Mund von einer Seite zur anderen schiebt.

Marc ist eher das Geräusch, das es macht, wenn man das Bonbon zerbeißt. Krach. Marc. Schöne Zähne hat er. Ganz gerade.

„Schön, dass wir dich kennenlernen.“ Marcs Mutter strahlt mich an und reicht mir die Hand. „Marc hat schon viel von dir erzählt.“

Hat er das also. Klar, jemand wie Marc versteht sich natürlich gut mit seinen Eltern. Die reden bestimmt über alles. Auch über meine Diagnose und warum ich ein Schuljahr verloren habe.

Ich bin heute also wieder mal Die-die-Krebs-gehabt-hat.

Ich setze mein schönstes Lächeln auf, weil es manchmal einfacher ist, das Spiel mitzuspielen und weil sich die Leute so freuen, wenn sie sehen, wie unversehrt und strahlend man aus dieser schweren Zeit zurückgekommen ist. „Was hat er denn erzählt?“, frage ich lächelnd.

„Nur Gutes.“ Marcs Vater ist hinter der Mutter aufgetaucht, auch er streckt mir die Hand hin und lächelt. Er ist in Anzug und Hemd, nur den obersten Knopf hat er gelockert und keine Krawatte umgebunden. Entweder er kommt grad von der Arbeit oder er läuft auch zuhause so rum.

„Komm doch rein.“ Marcs Mutter schiebt mich ins Wohnzimmer. „Schuhe ausziehen brauchst du nicht.“

Am Wohnzimmertisch sitzt Marc und zeigt einer Frau Fotos auf seinem Handy. Als er mich sieht, springt er auf, um mir einen Kuss zu geben. Ich schiele dabei an seinem Gesicht vorbei auf die Frau am Tisch. Das muss Evelyn sein. Marc hat recht. Da sieht man tatsächlich nichts.

Ich versuche, ihren Blick einzufangen, doch sie sieht mich nicht besonders lange an. Nicht länger, als man die neue Freundin des Neffen eben ansieht, wenn man Hallo, ich bin die Tante sagt.

Die Die-die-Krebs-gehabt-hat-Neugierde setzt bei ihr nicht ein. Warum sollte sie auch. Hat er also eine mit nach Hause gebracht, sagt ihr Blick. So sieht die also aus. Aha.

„Setzt euch doch.“ Marcs Vater deutet auf die freien Stühle. „Suppe kommt gleich.“

Marc hält unter dem Tisch meine Hand, bis wir zur Hauptspeise kommen und beide Hände für Messer und Gabel brauchen. Ich mag es, dass jemand wie er meine Hand hält. Meine Hand, die nicht mehr kraftlos auf der Bettdecke liegt. Die man nicht deshalb halten muss, weil man befürchtet, ich könnte jeden Moment verschwinden. Meine Hand, die jetzt den Druck erwidern und danach nach dem Besteck greifen kann.

„Gibt’s bei euch immer so gutes Essen?“, flüstere ich ihm zu.

„Nur wenn Gäste kommen.“ Er grinst. „Was glaubst du denn, warum ich dich eingeladen habe.“

„Als würdest du sonst verhungern.“ Marcs Mutter lacht auf und beginnt, Risotto auf unsere Teller zu verteilen. „Fangt schon mal an.“

Es gibt sogar frischgepressten Orangensaft. Vitamin C. Marcs Eltern gehören anscheinend zu denen, die glauben, damit könne man die Gesundheit beeinflussen. Antioxidantien und so Scheiß. Aber der Saft schmeckt gut und ich gieße mir nach, nachdem ich mein erstes Glas in einem Zug geleert habe.

Ich überlege, wie ich Evelyns Aufmerksamkeit auf mich ziehen kann.

„Was arbeiten Sie eigentlich?“, frage ich sie also.

Evelyn lacht. „Können wir bitte du sagen?“ Sie schenkt sich ein Glas Wein ein. „Oder möchtest du lieber gesiezt werden?“

„Äh, nein, natürlich nicht, kein Problem“, stottere ich.

„Sie ist Museumskuratorin“, rettet mich Marc. Hoffentlich finden es seine Eltern nicht komisch, dass ich sie nicht nach ihren Berufen frage. Aber die weiß ich schon.

„Was genau macht eine Kuratorin?“

„Ich plane und entwerfe Ausstellungen“, erklärt Evelyn.

„Spannend.“

„Im Technischen Museum“, ergänzt Marc.

„Da war ich letzten Monat“, sage ich begeistert. „Die uralten Staubsauger fand ich voll cool. Die schauen aus wie Raketen.“

„Die Haushaltsausstellung hab ich mitkuratiert.“ Evelyn lächelt freundlich. Dann widmet sie sich wieder dem Risotto auf ihrem Teller. Was ich mache, fragt sie nicht. Wär auch eine blöde Frage. Schülerin, was sonst. Aber irgendwas könnte sie doch über mich wissen wollen. Will sie aber nicht.

„Echt, du hast seine Eltern getroffen? Jetzt schon? Ist ja krass.“ Shirin nimmt es mir nicht übel, dass Marc mit mir zusammen ist und nicht mit ihr. Sie hat genug andere Verehrer.

„Na ja, die wollten halt wissen, ob ich gut genug für ihr Söhnchen bin.“ Luna macht neugierige Augen. „Und, bist du?“

Ich wiege den Kopf hin und her. „Sie haben zumindest nichts Gegenteiliges gesagt.“

„Und deine Eltern wollen ihn nicht kennenlernen?“ Shirin sieht mich fragend an. Ich seufze. „Doch, natürlich. Aber …“

„Du willst das nicht“, stellt Julia fest.

„Das wird total mühsam. Meine Eltern sind so begeistert darüber, dass ich jetzt wieder ein normales Leben führe, dass sie alles toll finden, was ich mache. Die wollen ja auch euch unbedingt kennenlernen.“

„Ich muss sagen, das versteh ich irgendwie.“ Luna sieht mich entschuldigend an, als würde ich es ihr übel nehmen, dass sie eine andere Meinung hat. Diesen Blick hat sie öfters.

„Dann kommen wir dich doch einfach besuchen“, beschließt Shirin. Ich rolle mit den Augen.

„Ach, komm schon.“ Julia kneift mich in die Seite. „Wir machen auch auf ganz gesittet.“ Sie setzt sich gerade auf und macht einen Kussmund. „Deine Eltern werden uns lieben. Wir sind das neue Leben ihrer Tochter. Das gute neue Leben.“ Sie lacht. „Stimmt doch, oder?“

Ich verziehe das Gesicht. „Ja, eh.“ Ich weiß, dass sie recht hat. Meine Eltern sagen zwar nichts, weil sie mich nicht drängen wollen, aber ich weiß, dass sie darauf brennen, meinen neuen Freundeskreis kennenzulernen. Julia, Luna und Shirin sind auch Freundinnen, von denen meine Eltern begeistert wären.

„Machen wir also“, beschließt Julia. „Frag mal, wann wir kommen dürfen. Um dein neues Leben zu feiern. Mit deinen Eltern.“ Sie kichert.

Shirin nickt und beißt in ihren Apfel. Kauend sieht sie mich an. Lange.

„Ich find dich voll stark“, sagt sie schließlich, als sie hinuntergeschluckt hat. Julia nickt. Luna auch, natürlich.

„Wieso bitte?“

„Also ich weiß nicht, ob ich das gekonnt hätte. So mit Haarausfall und so.“ Julia nimmt ein Zopfgummi aus der Hosentasche und spielt damit herum.

Ja genau. Als ob mich jemand gefragt hat, ob ich das kann.

„Schau mal, der Hund dort sieht doch aus wie eurer“, versuche ich abzulenken und zeige auf das Hinterteil eines Labradors, der gerade hinter einer Ecke verschwindet. Ein kläglicher Ablenkungsversuch. „Und ja, ich frag meine Eltern.“ Zweiter Ablenkungsversuch, genauso kläglich.

„Ich hätte das nicht durchgehalten“, sagt Luna bestimmt.

„Du musst echt ein voll tapferer Mensch sein. Find ich bewundernswert.“ Shirin.

In meinen Ohren beginnt es zu rauschen, ich starre auf die Ecke, hinter der der Hund verschwunden ist. Ich sollte Julia den Haargummi aus der Hand nehmen und selber damit gegen mein Handgelenk schnalzen. Hilft angeblich gegen Übelkeit, weil da irgendwelche Akupressurpunkte am Handgelenk sind oder so. Da gibt’s spezielle Bänder, aber in Wahrheit tut’s ein ganz normaler Zopfgummi auch. Und in ganz wirklicher Wahrheit bringt das alles überhaupt nichts.

Ich weiß nicht, ob die drei noch über mich und meine Stärke reden, oder ob sie schon bei anderen Themen angelangt sind, denn ich kann nicht hören, was sie sagen. Nur das Rauschen in meinen Ohren. Dieses verdammte Tapferkeitsgelaber vereint wohl Freunde und Angehörige auf der ganzen Welt.

Es war tapfer, wie ihr mit allem umgegangen seid, sagen sie andauernd. Wie ihr der Krankheit getrotzt habt, und den Schmerzen. So als hätte es einen Plan B gegeben. Als hätten wir aussteigen können aus dem Spiel. Als wären es wir gewesen, die gesagt haben, nein, noch nicht, lass uns das mit dem Tapfersein noch ein bisschen beweisen.

Ist es tapfer, wenn du Schmerzen hast und trotzdem lächelst? Wenn du Schmerzen hast und den Mund verzerrst, aber nicht heulst? Wenn du heulst, aber nicht stirbst? Und die, die gestorben sind, waren die einfach nicht tapfer genug?

Das mit der Tapferkeit ist eine große Lüge.

Ich wünsche mir Evelyn herbei. Die würde jetzt wissen, was zu tun ist. Die würde nicht nur gemeinsam mit mir die Augen verdrehen, sondern ihre halbe Brust schwingen und etwas Schlagfertiges kontern.

Ich sehe wie Shirin, Luna und Julia ihre Münder öffnen und schließen, spüre, wie ich nicke und lächle und Mhm brumme, ohne zu hören, was sie sagen. Stelle mir vor, wie Evelyn und ich uns durch Blicke verständigen, dass es nun endgültig reicht mit all dem Tapferkeitsgelaber. Wie wir gemeinsam aufspringen, uns auf einen Besen setzen, oder auf diesen alten, spacigen Staubsauger aus der Haushaltsausstellung, und durchs geöffnete Fenster ins Freie fliegen. Wie wir all die Angehörigen mit offenen Mündern zurücklassen und draußen unsere Kreise ziehen.

Über die Stadt. Über das Land. Und über das Meer. In welche Richtung auch immer.

Julia rüttelt mich an der Schulter. „Alles klar mit dir?“

„Äh, ja.“ Keine Evelyn, dafür Luna, Shirin und Julia, die mich besorgt ansehen.

„Kann ich mal dein Haargummi haben?“, frage ich schnell, bevor sie irgendetwas sagen oder fragen können. Julia hält es mir hin, ich streife es mir über die Hand und lasse es mit den Fingern gegen mein Handgelenk schnalzen. Dann erzähle ich den dreien von Akupressurpunkten, davon, wie gut das gegen Übelkeit hilft und dass eigentlich, also eigentlich alles gar nicht so schlimm war.

4

„KANN ich bei Marc übernachten?“, frage ich, mehr rhetorisch als sonst was. Schließlich weiß ich, dass die Antwort nicht Nein lautet.

„Du passt auf, ja?“, hat mein Vater nur gesagt, als ich das erste Mal bei Marc übernachten wollte, und ich habe sofort mit den Augen gerollt. Damit hatte sich die Diskussion erledigt. Vermutlich auch deshalb, weil meine Eltern wussten, dass die Wahrscheinlichkeit, mich schwanger vor ihrer Tür stehen zu haben, relativ gering war. Was ja das Hauptproblem zu sein scheint, warum Eltern ihre Kinder nicht bei Jugendlichen des anderen Geschlechts übernachten lassen wollen. Alle haben sie Angst, dass sie Alimente zahlen und Windeln wechseln müssen und die Zukunft ihrer Kinder im Arsch ist.

So als könnte man Dinge durch Verbote verhindern.

Trotzdem formuliere ich den Satz als Frage. Ich könnte auch Ich bin heut wieder bei Marc sagen, oder Ihr wisst ja, wo ich bin. Tue ich aber nicht. Ich frage. So als würde ich insgeheim auf ein So nicht, junges Fräulein warten. Nicht, dass mich meine Eltern jemals junges Fräulein nennen würden. Aber irgendetwas in der Art wäre schön. Irgendwie.