image

EDWARD O. THORP

Ein Mann für alle Märkte

Wie ich das Casino und den
Markt geschlagen habe

image

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
A man for all markets: from Las Vegas to Wall Street,
how I beat the dealer and the market

ISBN: 978-1-4000-6796-1

Copyright der Originalausgabe 2017:
Copyright © 2017 by Edward O. Thorp
Published by arrangement with The Robbins Office, Inc. and Aiken,
Alexander & Associates, Ltd.

Published in the United States by Random House, an imprint and division of Penguin Random House LLC, New York. Random House and the House colophon are registered trademarks of Penguin Random House LLC.

Copyright der deutschen Ausgabe 2018:
© Börsenmedien AG, Kulmbach

Übersetzung: Egbert Neumüller

Covergestaltung: Johanna Wack

Coverbildquelle: Shutterstock

Gestaltung und Satz: Sabrina Slopek

Lektorat: Claus Rosenkranz, Elke Sabat

Druck: CPI books GmbH, Leck, Germany

ISBN 978-3-86470-534-2
eISBN 978-3-86470-535-9

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

image

Postfach 1449 • 95305 Kulmbach

Tel: +49 9221 9051-0 • Fax: +49 9221 9051-4444

E-Mail: buecher@boersenmedien.de

www.boersenbuchverlag.de

www.facebook.com/boersenbuchverlag

Für Vivian, für unsere Kinder und ihre Familien:

Raun, Brian und Ava;
Karen, Rich, Claire, Christopher und Edward;
Jeff, Lisa, Kylie und Thomas

Inhalt

VORREDE

VORWORT

KAPITEL 1Liebend gern lernen

KAPITEL 2Mein Spielplatz ist die Wissenschaft

KAPITEL 3Physik und Mathematik

KAPITEL 4Las Vegas

KAPITEL 5Die Kaperung des Blackjacks

KAPITEL 6Der Tag des Lamms

KAPITEL 7Kartenzählen für alle

KAPITEL 8Spieler gegen Casinos

KAPITEL 9Ein Computer, der Roulette vorhersagt

KAPITEL 10Ein Vorteil bei anderen Glücksspielen

KAPITEL 11Die Wall Street: Das größte Casino der Welt

KAPITEL 12Bridge mit Buffett

KAPITEL 13Hinein in die Gesellschaft

KAPITEL 14Vorreiter der Quant-Revolution

KAPITEL 15Aufstieg …

KAPITEL 16… und Fall

KAPITEL 17Eine Phase der Anpassung

KAPITEL 18Schwindeleien und gefährliche Spiele

KAPITEL 19Billig kaufen, teuer verkaufen

KAPITEL 20Den Karren der Banken aus dem Dreck ziehen

KAPITEL 21Ein letzter Zug

KAPITEL 22Die Wetten absichern

KAPITEL 23Wie reich ist reich?

KAPITEL 24Der Zinseszins: Das achte Weltwunder

KAPITEL 25Durch Indexing die meisten Anleger schlagen

KAPITEL 26Kann man den Markt schlagen? Sollte man es versuchen?

KAPITEL 27Asset Allocation und Vermögensmanagement

KAPITEL 28Etwas zurückgeben

KAPITEL 29Finanzkrisen: Nicht gezogene Lehren

KAPITEL 30Gedanken

EPILOG

ANHANG ADie Auswirkung der Inflation auf den Dollar

ANHANG BHistorische Renditen

ANHANG CDie 72er-Regel und mehr

ANHANG DDie Performance von Princeton Newport Partners, LP

ANHANG EUnsere Ergebnisse der statistischen Arbitrage bei einem Fortune-100-Unternehmen

DANKSAGUNGEN

ANMERKUNGEN

BIBLIOGRAFIE

ÜBER DEN AUTOR

Vorrede

Begleiten Sie mich auf meiner Odyssee durch die Welten der Wissenschaft, des Glücksspiels und der Wertpapierbörsen. Sie werden sehen, wie ich Risiken überwunden und in Las Vegas, an der Wall Street und im Leben Belohnungen geerntet habe. Unterwegs werden Sie interessanten Menschen begegnen, von Blackjack-Kartenzählern bis Anlageexperten, von Filmstars bis Nobelpreisträgern. Und Sie werden etwas über Optionen und andere Derivate lernen, über Hedgefonds und warum eine einfache Anlagemethode auf lange Sicht die meisten Anleger einschließlich der Experten schlägt.

Mein Leben begann in der Großen Depression der 1930er-Jahre. Ebenso wie Millionen andere strampelte sich auch meine Familie ab, um von einem Tag zum nächsten zu kommen. Obwohl wir keine hilfreichen Verbindungen hatten und ich staatliche Schulen besuchte, fand ich ein Mittel, das alles änderte: Ich lernte, wie man denkt.

Manche Menschen denken in Worten, andere in Zahlen und wieder andere in visuellen Bildern. Ich tue all das, aber ich denke auch mithilfe von Modellen. Ein Modell ist eine vereinfachte Version der Wirklichkeit, ähnlich wie einem ein Stadtplan zeigt, wie man von einem Teil der Stadt in einen anderen kommt, oder wie die bildliche Vorstellung eines Gases als Schwarm winziger elastischer Kügelchen, die unablässig miteinander zusammenstoßen.

Ich lernte, dass einfache Vorrichtungen wie Zahnräder, Hebel und Rollen grundlegenden Gesetzen gehorchen. Diese konnte man durch Experimentieren entdecken und wenn man die richtigen fand, konnte man die Gesetze verwenden, um vorherzusagen, was in neuen Situationen passieren würde.

Am erstaunlichsten fand ich den Zauber eines Detektor-Baukastens – ein primitives frühzeitliches Radio, das aus einem Draht, einem Kristall und einem Kopfhörer bestand. Plötzlich hörte ich Stimmen, die aus Tausenden Meilen Entfernung kamen und durch einen geheimnisvollen Prozess durch die Luft getragen wurden. Die Vorstellung, dass Dinge, die ich nicht einmal sehen konnte, Gesetzen gehorchten, die ich nur durch Denken aufdecken konnte – und dass ich das, was ich fand, verwenden konnte, um die Welt zu verändern –, inspirierte mich schon in jungen Jahren.

Aufgrund der Umstände lernte ich hauptsächlich autodidaktisch und dies führte dazu, dass ich anders dachte. Anstatt allgemein akzeptierte Ansichten zu unterschreiben – zum Beispiel man kann die Casinos nicht schlagen – prüfte ich erstens selbst nach. Da ich Theorien überprüfte, indem ich mir neue Experimente ausdachte, gewöhnte ich mir zweitens an, das Ergebnis reinen Nachdenkens – zum Beispiel eine Formel für die Bewertung von Optionsscheinen – herzunehmen und es gewinnbringend zu verwenden. Drittens machte ich, wenn ich mir selbst ein lohnenswertes Ziel setzte, einen realistischen Plan und ließ nicht locker, bis ich damit Erfolg hatte. Viertens strebte ich an, konsequent rational zu sein, nicht nur auf einem speziellen wissenschaftlichen Gebiet, sondern im Umgang mit allen Aspekten der Welt. Auch lernte ich, wie wertvoll es ist, mich mit einem Urteil so lange zurückzuhalten, bis ich eine auf Evidenz basierende Entscheidung treffen konnte.

Ich hoffe, dass Ihnen meine Geschichte eine einzigartige Perspektive vorführen wird und dass „Ein Mann für alle Märkte“ Ihnen helfen wird, über Glücksspiel, Geldanlagen, Risiken, Money-Management, Vermögensaufbau und das Leben anders zu denken.

Vorwort

Ed Thorps Memoiren lesen sich wie ein Krimi – darin kommen tragbare Computer vor, auf die James Bond stolz gewesen wäre, zwielichtige Figuren, großartige Wissenschaftler und Vergiftungsversuche (neben der Sabotage von Eds Auto, damit er in der Wüste einen „Unfall“ haben sollte). Das Buch offenbart eine gründliche, präzise, methodische Person auf der Suche nach dem Leben, nach Wissen, finanzieller Sicherheit und nicht zuletzt nach Spaß. Thorp ist auch als intellektuell großzügiger Mensch bekannt, der begierig darauf ist, seine Entdeckungen mit fremden Menschen zu teilen (in gedruckter Form, aber auch persönlich) – etwas, das man bei Wissenschaftlern wohl anzutreffen hofft, aber nur selten antrifft. Dabei ist er aber bescheiden – vielleicht kann er als der einzige bescheidene Trader auf dem Planeten Erde gelten – und so wird der Leser, außer wenn er uminterpretieren kann, was zwischen den Zeilen steht, nicht bemerken, dass Thorps Beiträge enorm viel bedeutsamer sind, als er durchblicken lässt. Wieso das?

Wegen ihrer Einfachheit. Ihrer schieren Einfachheit.

Denn der geradlinige Charakter seiner Beiträge und Erkenntnisse ist das, was sie sowohl für die gelehrte Welt unsichtbar als auch für Praktiker nützlich machte. Ich habe nicht die Absicht, hier das Buch zu erklären oder zusammenzufassen; Thorp schreibt – nicht überraschend – auf eine direkte, klare und fesselnde Art. Ich fungiere als Trader und Praktiker der mathematischen Finanzwissenschaft, um seine Bedeutung aufzuzeigen und sie für meine Gemeinschaft von in der wirklichen Welt lebenden Wissenschaftlern und Tradern sowie allgemein für Menschen, die Risiken eingehen, in den richtigen Zusammenhang zu stellen.

Dieser Zusammenhang ist folgender: Ed Thorp ist der erste moderne Mathematiker, der erfolgreich quantitative Modelle für das Eingehen von Risiken erstellt hat – und ganz sicher der erste Mathematiker, der damit auch noch finanziellen Erfolg hatte. Seither hat es eine Kohorte solcher „Quants“ gegeben, zum Beispiel die Wunderknaben der angewandten Mathematik an der Stony Brook University – aber Thorp ist ihre graue Eminenz.

Sein wichtigster und schillerndster Vorgänger, Gerolamo (manchmal auch Girolamo oder Geronimo) Cardano, ein Universalgelehrter und Mathematiker des 16. Jahrhunderts, der in gewisser Weise die erste Version von „Beat the Dealer“ geschrieben hat, war ein zwanghafter Spieler. Damit war er jedoch gelinde gesagt erfolglos – nicht zuletzt weil Süchtige schlecht mit Risiken umgehen können. Wenn Sie sich davon überzeugen wollen, werfen Sie einmal einen Blick auf die Pracht von Monte Carlo, Las Vegas und Biarritz, die von ihrer Zwanghaftigkeit finanziert wird. Cardanos „Liber de ludo aleae“ („Das Buch der Glücksspiele“) war für die spätere Entwicklung der Wahrscheinlichkeitstheorie von wesentlicher Bedeutung, jedoch anders als Thorps Buch weniger eine Anregung für Glücksspieler als für Mathematiker. Ein anderer Mathematiker, ein protestantischer französischer Flüchtling in London namens Abraham de Moivre, der Spielhöllen frequentierte und „The doctrine of chances: or, a method for calculating the probabilities of events in play“ (1718) schrieb, kam kaum über die Runden. Man kann problemlos ein weiteres halbes Dutzend glücksspielende Mathematiker aufzählen, darunter Größen wie Fermat und Huygens, denen entweder egal war, was unterm Strich blieb, oder die es nicht besonders gut beherrschten. Bei den Mathematikern vor Ed Thorp, die Glücksspiele betrieben, blieb die Liebe zum Glück meist unerwidert.

Thorps Methode sieht so aus: Er kommt direkt zur Sache, indem er einen klaren Vorteil identifiziert (etwas, was das Chancenpendel auf lange Sicht in seine Richtung schwingen lässt). Dieser Vorteil muss offensichtlich und unkompliziert sein. Beispielsweise schätzte er den typischen Vorteil aus der Berechnung des Impulses eines Rouletterads, die er mit dem ersten tragbaren Computer (und keinem geringeren Mitverschwörer als dem großen Claude Shannon, dem Vater der Informationstheorie) vornahm, auf circa 40 Prozent pro Wette. Aber dieser Teil ist leicht, sehr leicht. Den Vorteil zu ergreifen, ihn in Dollar auf der Bank, in ein Essen im Restaurant, interessante Schiffsreisen und Weihnachtsgeschenke für Freunde und Verwandte zu verwandeln – das ist der schwierige Teil. Letzten Endes kommt es dabei auf die Dosierung der Einsätze an – nicht zu wenig, nicht zu viel. Diesbezüglich leistete Ed großartige eigene Arbeit, bevor vom dritten Mitglied des Informationstrios der theoretische Feinschliff kam: von John Kelly, dem Urheber des berühmten Kelly-Kriteriums, einer Formel für die Platzierung von Einsätzen, über die wir heute deshalb diskutieren, weil Ed Thorp sie einsatzfähig gemacht hat.

Doch bevor wir über die Dosierung sprechen, noch ein bisschen mehr zur Einfachheit. Für einen Gelehrten, der von seinen Kollegen beurteilt wird und nicht vom Filialleiter seiner örtlichen Bank (oder von seinem Steuerberater), ist ein Berg, der nach langen, schlimmen Wehen eine Maus gebiert, nicht besonders gut. Ihnen ist es nämlich lieber, wenn die Maus einen Berg hervorbringt. Auf die Wahrnehmung der Raffinesse kommt es an. Je komplizierter, desto besser. Das Einfache beschert einem keine Zitationen, keinen h-Index oder sonstige Kennzahl du jour, die einem die Achtung der Universitätsverwalter einbringt, weil sie zwar diese Dinge verstehen, nicht aber die Substanz des eigentlichen Werkes. Die einzigen Wissenschaftler, die der Bürde der Komplikation um der Komplikation willen entgehen, sind die großen Mathematiker und Physiker (und nach allem, was ich höre, fällt es sogar diesen angesichts der heutigen Finanzierungs- und Ranking-Situation immer schwerer).

Ed war anfangs ein Gelehrter, doch er bevorzugte Learning by Doing, wobei er seine Haut zu Markte trug. Wenn man sich als Praktiker reinkarniert, möchte man, dass der Berg die einfachste mögliche Strategie hervorbringt, und zwar eine mit möglichst wenigen Nebenwirkungen und möglichst wenigen versteckten Komplikationen. Eds Genialität wird durch die Art illustriert, wie er ganz einfache Regeln für Blackjack aufstellte. Anstatt sich auf komplizierte Kombinatorik und auf Kartenzählen einzulassen (für das man eine Inselbegabung braucht), goss er seine ganze ausgefeilte Forschung in einfache Regeln. Gehe zu einem Blackjack-Tisch. Führe eine geistige Strichliste. Fange bei null an. Zähle für starke Karten eins hinzu, für schwache minus eins, für andere Karten nichts. Es ist verstandesmäßig einfach, schrittweise mehr oder weniger zu setzen – mehr, wenn die Zahl hoch ist, weniger, wenn sie niedrig ist –, und eine solche Strategie kann jeder sofort anwenden, der in der Lage ist, sich die Schuhe zu binden oder auf dem Stadtplan ein Casino zu finden. Sogar als er am Roulettetisch tragbare Computer verwendete, war die Erkennung des Vorteils einfach, und zwar so einfach, dass man es begreift, wenn man sich im Fitnessraum auf einen Gymnastikball balanciert. Die Raffinesse steckt in der Umsetzung und in der Verkabelung.

In einer Nebenhandlung entdeckte Ed das, was man heute als Black-Scholes-Optionsformel kennt, vor Black und Scholes (und es zeugt von PR in der Ökonomie, dass die Formel nicht seinen Namen trägt – ich habe sie Bachelier-Thorp genannt). Seine Herleitung war zu einfach – damals begriff niemand, dass sie wirkmächtig sein könnte.

Nun zum Money-Management – von zentraler Bedeutung für jeden, der daraus lernt, dass er seinen eigenen Gewinnen und Verlusten ausgesetzt ist. Einen „Vorteil“ haben und Überleben sind zwei verschiedene Dinge. Für Ersteres ist Letzteres erforderlich. Wie Warren Buffett einmal gesagt hat: „Um Erfolg zu haben, muss man zuerst einmal überleben.“ Man muss den Ruin vermeiden. Um jeden Preis.

Und daher besteht eine Dialektik zwischen einem selbst und der Gewinn-und-Verlust-Rechnung: Man setzt anfangs kleine Beträge ein (einen Anteil des Anfangskapitals) und die Risikokontrolle – die Dosierung – kontrolliert auch die Entdeckung des Vorteils. Das ist wie Versuch und Irrtum, man stellt damit Schritt um Schritt sowohl das eigene Risikoverlangen als auch die Einschätzung der eigenen Chancen neu ein.

Wie Ole Peters und Murray Gell-Mann kürzlich gezeigt haben, hat die Finanzwissenschaft nicht begriffen, dass die Vermeidung des Ruins als Grundprinzip die eigene Glücksspiel- und Anlagestrategie zu etwas macht, das sich extrem von dem unterscheidet, was die wissenschaftliche Literatur behauptet. Wie wir gesehen haben, werden Wissenschaftler von Verwaltungsangestellten über Kollegen dafür bezahlt, das Leben kompliziert statt einfacher zu machen. Sie haben etwas Nutzloses namens Nutzentheorie erfunden (zigtausend Artikel warten immer noch auf einen echten Leser). Und sie haben die Idee erfunden, man könne das kollektive Verhalten künftiger Preise bis zur unendlichen Detailliertheit kennen – Dinge wie die Korrelation, die man heute identifizieren könne und die sich in Zukunft niemals ändern würde. (Technischer ausgedrückt: Um die Portfoliokonstruktion umzusetzen, die die moderne Finanztheorie empfiehlt, muss man die gesamte multivariate Wahrscheinlichkeitsverteilung aller Anlagen über die gesamte Zukunft kennen und dazu noch die exakte Nutzenfunktion von Vermögen zu allen künftigen Zeitpunkten. Und das ohne Fehler! [Ich habe bewiesen, dass Schätzfehler das System in die Luft sprengen.] Wir können uns doch schon glücklich schätzen, wenn wir wissen, was wir morgen zu Mittag essen – wie könnten wir da die Dynamik bis zum Ende der Zeit ausrechnen?)

Die Kelly-Thorp-Methode erfordert weder eine multivariate Verteilung noch eine Nutzenfunktion. In der Praxis braucht man das Verhältnis des Erwartungsgewinns zum Ertrag im schlimmsten Fall – und das passt man dynamisch an (das heißt, man spielt ein Spiel nach dem anderen), um den Ruin zu vermeiden. Das ist alles.

Die Ideen von Thorp und Kelly wurden von Ökonomen trotz ihres praktischen Reizes abgelehnt, weil Ökonomen allgemeine Theorien für alle Anlagepreise, alle Dynamiken der Welt und so weiter lieben. Der berühmte Patriarch der modernen Volkswirtschaftslehre, Paul Samuelson, führte angeblich einen Rachefeldzug gegen Thorp. Nicht ein einziges Werk dieser Ökonomen wird am Ende überleben: Strategien, die einem das Überleben ermöglichen, sind nicht das Gleiche wie die Fähigkeit, Kollegen zu beeindrucken.

Und so ist die Welt heute in zwei Gruppen aufgeteilt, die unterschiedliche Methoden verwenden. Die erste Methode ist diejenige der Ökonomen, die dazu neigen, es entweder regelmäßig zu vermasseln oder aber dadurch reich zu werden, dass sie Gebühren für Geldverwaltung einstreichen, nicht durch direkte Spekulation. Bedenken Sie, dass Long-Term Capital Management, das die Crème de la Crème der Finanzökonomen besaß, im Jahr 1998 spektakulär platzte und ein Vielfaches dessen an Verlust machte, was diese für das Worst-Case-Szenario gehalten hatten.

Die zweite Methode, die der Informationstheoretiker, für die Ed Pionierarbeit geleistet hat, wird von Tradern und von Wissenschaftlern/Tradern praktiziert. Jeder überlebende Spekulant verwendet explizit oder implizit diese zweite Methode (Belege: Ray Dalio, Paul Tudor Jones, Renaissance Technologies, sogar Goldman Sachs!). Ich sage jeder, denn wie Peters und Gell-Mann gezeigt haben, machen diejenigen, die es nicht tun, irgendwann Pleite.

Und dank dieser zweiten Methode wissen Sie, wenn Sie zum Beispiel 82.000 Euro von Onkel Wilhelm erben, dass es eine Strategie gibt, die es Ihnen ermöglicht, Ihr Erbe zu verdoppeln, ohne dabei jemals einen Bankrott zu erleiden.

Noch ein paar zusätzliche kluge Dinge, die ich persönlich von Thorp gelernt habe: Viele erfolgreiche Spekulanten geraten nach ihrem Eintritt ins richtige Leben in groß angelegte Strukturen mit zahlreichen Büros, morgendlichen Besprechungen, Kaffee, Intrigen … und sie bauen ein immer größeres Vermögen auf, während sie die Kontrolle über ihr Leben verlieren. Nicht so Ed. Nach der Trennung von seinen Gesellschaftern und der Schließung seiner Firma (aus Gründen, die nichts mit ihm zu tun hatten) gründete er keinen neuen Megafonds. Er schränkte seine Beteiligung an der Verwaltung des Geldes anderer Leute ein. (Die meisten Menschen begeben sich erneut in die Bequemlichkeit anderer Firmen und nutzen ihre Reputation, um monströse Geldsummen von außen zu akquirieren, damit sie hohe Gebühren kassieren können.) Aber eine solche Zurückhaltung erfordert ein gewisses Maß an Intuition, an Selbsterkenntnis. Es ist sehr viel weniger belastend, unabhängig zu sein – und man ist niemals unabhängig, wenn man in eine große Struktur mit mächtigen Kunden eingebunden ist. Es ist schon schwer genug, mit kniffligen Wahrscheinlichkeiten umzugehen, da sollte man es vermeiden, sich auch noch den Launen menschlicher Stimmungen auszusetzen. Wahrer Erfolg ist der Ausstieg aus einer Tretmühle, um seine Aktivitäten auf den Seelenfrieden abzustimmen. Thorp hat sicherlich seine Lektion gelernt: Der stressigste Job, den er je hatte, war die Leitung der mathematischen Fakultät der University of California, Irvine. Man merkt, dass dieser Mann sein Leben im Griff hat. Dies erklärt, dass er, als ich ihm im Jahr 2016 das zweite Mal begegnete, jünger aussah als beim ersten Mal im Jahr 2005.

Ciao
Nassim Nicholas Taleb

1

KAPITEL

Liebend gern lernen

Meine erste Erinnerung ist, dass ich mit meinen Eltern im Freien auf dem Absatz einer ausgetretenen, schmutzigen Holztreppe stehe. Das war an einem grauen Tag in Chicago im Dezember 1934, als ich zwei Jahre und vier Monate alt war. Obwohl ich meine einzige Winterhose und eine Jacke mit Kapuze trug, war mir kalt. Schwarz und blattlos hoben sich die Bäume von der schneebedeckten Erde ab. Von drinnen sagte eine Frau zu meinen Eltern: „Nein, wir vermieten nicht an Leute mit Kindern.“ Ihre Gesichter wurden lang, sie drehten sich um und gingen. Hatte ich etwas falsch gemacht? Wieso war ich ein Problem? Dieses Bild aus den Tiefen der Großen Depression hat sich mir eingebrannt.

Als Nächstes erinnere ich mich, dass ich im Alter von zweieinhalb Jahren zu dem geliebten Hausarzt meiner Familie, Dr. Dailey, gebracht wurde. Meine alarmierten Eltern erklärten ihm, dass ich noch kein einziges Wort gesprochen hatte.1 Was stimmte da nicht? Der Arzt lächelte und bat mich, auf den Ball auf seinem Schreibtisch zu zeigen. Das tat ich und er bat mich, seinen Bleistift in die Hand zu nehmen. Nachdem ich diese und noch ein paar weitere Aufgaben erledigt hatte, sagte er: „Machen Sie sich keine Sorgen, er wird sprechen, wenn er so weit ist.“ Wir gingen, meine Eltern waren erleichtert und ein bisschen verwirrt.

Danach wurde der Kampf darum, mich zum Sprechen zu bringen, intensiver. Etwa um meinen dritten Geburtstag herum nahmen mich meine Mutter und zwei ihrer Freundinnen, Charlotte und Estelle, in das damals berühmte Chicagoer Kaufhaus Montgomery Ward mit. Als wir auf einer Bank in der Nähe eines Aufzugs saßen, stiegen zwei Frauen und ein Mann aus. Charlotte, die mich unbedingt zum Sprechen verleiten wollte, fragte: „Wo gehen diese Leute hin?“ Ich sagte klar und deutlich: „Der Mann geht etwas kaufen und die beiden Frauen gehen auf die Toilette, um Pipi zu machen.“ Charlotte und Estelle erröteten beide bei der Erwähnung des Pipis. Da ich noch zu jung war, um konventionsbedingte Peinlichkeit gelernt zu haben, fiel mir das zwar auf, aber ich verstand nicht, warum sie so reagierten. Auch irritierte mich die Sensation, die ich mit meinem plötzlichen Wechsel von Schweigen zur Gesprächigkeit verursacht hatte.

Von da an sprach ich überwiegend in vollständigen Sätzen, was meine Eltern und ihre Freunde erfreute.2 Sie löcherten mich mit Fragen und bekamen oft überraschende Antworten. Mein Vater schickte sich an, herauszufinden, was ich lernen könnte.

Mein Vater Oakley Glenn Thorp wurde 1898 in Iowa als zweites von drei Kindern geboren, sein Bruder war zwei Jahre älter als er, seine Schwester zwei Jahre jünger. Als er sechs Jahre alt war, zerbrach die Familie. Sein Vater nahm ihn und seinen Bruder mit in den Bundesstaat Washington, seine Mutter und seine Schwester blieben in Iowa. Im Jahr 1915 starb mein Großvater an Grippe, drei Jahre vor der großen Grippe-Pandemie der Jahre 1918 und 1919, bei der weltweit zwischen 20 und 40 Millionen Menschen starben.3 Bis 1917 wohnten die beiden Jungs bei einem Onkel. Dann ging mein Vater im Alter von 18 Jahren als Angehöriger der großartigen American Expeditionary Force nach Frankreich, um in den Ersten Weltkrieg zu ziehen. Er kämpfte als Infanterist im Schützengraben, stieg zum Sergeant auf und ihm wurden für heldenhaftes Verhalten in Château-Thierry, Belleau Wood und in den Marne-Schlachten der Bronze Star, der Silver Star und zwei Purple Hearts verliehen. Ich erinnere mich, dass ich als kleiner Junge an einem schwülen Nachmittag auf seinem Schoß saß und die Schrapnellnarben auf seiner Brust sowie die leichte Verstümmelung einiger seiner Finger untersuchte.

Nachdem mein Vater nach dem Krieg aus der Armee entlassen worden war, schrieb er sich an der Oklahoma A&M ein. Er absolvierte anderthalb Jahre des Studiums, bevor er wegen Geldmangels aufhören musste. Sein Hunger nach Bildung und sein Respekt davor hielten jedoch an und er impfte sie mir ebenso wie seine unausgesprochene Hoffnung ein, dass ich es zu mehr bringen würde. Da ich dies spürte und da ich hoffte, dies würde uns einander näher bringen, begrüßte ich seine Bemühungen, mir etwas beizubringen.

Sobald ich zu sprechen begann, machte er mich mit den Zahlen bekannt. Mir fiel es leicht, zunächst bis hundert und dann bis tausend zu zählen. Als Nächstes lernte ich, dass man jede Zahl vergrößern und durch Hinzuzählen von eins zur nächsten Zahl gelangen kann, was bedeutete, dass ich ewig würde weiterzählen können, wenn ich nur die Namen der Zahlen kennen würde. Bald lernte ich, wie man bis auf eine Million zählt. Die Erwachsenen schienen das für eine sehr große Zahl zu halten und deshalb machte ich mich eines Morgens daran. Ich wusste, dass ich es irgendwann bis dorthin schaffen würde, hatte aber keine Ahnung, wie lange es dauern würde. Als Ausgangspunkt nahm ich einen Sears-Katalog, der so dick wie das Telefonbuch einer Großstadt war, weil mir schien, er enthalte die meisten Dinge zum Zählen. Die Seiten waren mit Abbildungen von Waren angefüllt, die mit den Buchstaben A, B, C .und so weiter beschriftet waren, nach meiner Erinnerung schwarze Buchstaben in weißen Kreisen. Ich begann am Anfang des Katalogs und zählte alle eingekreisten Buchstaben, zu jedem Artikel einen, Seite um Seite. Nach ein paar Stunden schlief ich bei 32.576 oder so ein. Meine Mutter erzählte mir, als ich aufwachte, hätte ich mit „32.577 …“ weitergemacht.

Ein Charakterzug, der sich etwa um diese Zeit zeigte, war meine Neigung, nichts zu akzeptieren, was mir gesagt wurde, solange ich es nicht selbst nachgeprüft hatte. Das hatte Folgen. Als ich drei war, sagte mir meine Mutter, ich solle den heißen Ofen nicht anfassen, weil ich mich dann verbrennen würde. Ich hielt meine Finger so nahe daran, dass ich die Wärme spüren konnte, und dann drückte ich meine Hand gegen den Ofen. Verbrannt. Nie wieder.

Ein andermal wurde ich gewarnt, frische Eier würden schon zerbrechen, wenn man auch nur ein bisschen darauf drückt. Ich fragte mich, was „ein bisschen“ bedeutet, und drückte ganz langsam auf ein Ei, bis es zerbrach. Dann übte ich, indem ich auf ein anderes drückte und aufhörte, kurz bevor es zerbrach, um exakt herauszufinden, wie weit ich damit gehen könnte. Ich liebte es von Anfang an, durch Experimente und Erkundungen zu lernen, wie meine Welt funktionierte.

Das nächste Projekt meines Vaters, nachdem er mir das Zählen beigebracht hatte, war das Lesen. Wir fingen mit „See Spot“, „See Spot Run“ und „See Jane“ an. Ein paar Tage lang war ich irritiert und desorientiert, dann sah ich, dass die Buchstabengruppen für die Wörter standen, die wir sprachen. In den nächsten paar Wochen ging ich alle unsere einfachen Anfängerbücher durch und entwickelte einen kleinen Wortschatz. Dann wurde es aufregend. Ich sah überall gedruckte Wörter und begriff, dass ich, wenn ich herausfand, wie man sie aussprach, sie wohl alle erkennen und wissen würde, was sie bedeuteten. Die Lautbildung kam ganz von allein und ich lernte, die Wörter laut auszusprechen. Dann kam der umgekehrte Vorgang – ein Wort hören und die Buchstaben sagen –, die Rechtschreibung. Als ich fünf wurde, las ich auf dem Niveau eines Zehnjährigen und verschlang alles, was ich finden konnte.

Außerdem veränderte sich damals die Dynamik in unserer Familie durch die Geburt meines Bruders. Mein Vater, der das Glück hatte, mitten in der Großen Depression Arbeit zu haben, machte Überstunden, um uns zu ernähren. Meine Mutter war mit dem neuen Baby vollauf beschäftigt und konzentrierte sich noch mehr auf meinen kleinen Bruder, als er im Alter von sechs Monaten eine Lungenentzündung bekam und beinahe starb. Dadurch war ich viel mehr mir selbst überlassen und ich reagierte dadurch darauf, dass ich endlose Welten erkundete, sowohl wirkliche als auch fantastische, die ich in den Büchern fand, die mir mein Vater gab.

In den Jahren danach las ich unter anderem „Gullivers Reisen“, „Die Schatzinsel“ und „Stanley and Livingstone in Africa“. Als Stanley nach einer achtmonatigen beschwerlichen und gefährlichen Suche den Gesuchten gefunden hatte, den einzigen Europäer, von dem man wusste, dass er sich im Inneren Afrikas aufhielt, faszinierte mich sein unglaubliches Understatement: „Dr. Livingstone, wie ich annehme“, und ich besprach mit meinem Vater die Pracht der Victoriafälle am Sambesi. Er versicherte mir (zutreffend), sie überträfen unsere Niagarafälle bei Weitem.

„Gullivers Reisen“ war ein besonderes Lieblingsbuch, mit seinen winzigen Liliputanern, den Riesen in Brobdingnag, sprechenden Pferden und schließlich dem geheimnisvollen Laputa, einer am Himmel fliegenden Insel, die durch magnetische Kräfte oben gehalten wird. Mir gefielen die lebhaften Bilder, die dies alles in meinem Geist schuf, und die fantastischen Vorstellungen, die mich anspornten, mir selbst noch andere Wunder auszudenken, die es geben könnte. Die historischen Anspielungen Swifts und seine Gesellschaftssatire entgingen mir damals jedoch größtenteils, obwohl mir mein Vater einiges erklärte.

Aus Malorys Geschichte von König Artus und den Rittern der Tafelrunde erfuhr ich etwas über Helden und Schurken, Romantik, Gerechtigkeit und Strafe. Ich bewunderte die Helden, die durch außerordentliche Fähigkeiten und Findigkeit große Dinge vollbrachten. Da ich introvertiert und nachdenklich war, regte mich das vielleicht dazu an, dies in der Zukunft auf die Art widerzuspiegeln, dass ich meinen Verstand einsetzte, um intellektuelle Hindernisse zu überwinden, nicht meinen Körper, um menschliche Gegner zu überwältigen. Diese Bücher halfen mir bei der Bildung lebenslanger Werte der Fairness, eines ebenen Spielfelds für alle und dass man andere so behandeln soll, wie man selbst behandelt werden möchte.

Die Worte und Abenteuer befanden sich vor allem in meinem Kopf. Ich hatte eigentlich niemanden, mit dem ich darüber sprechen konnte, außer manchmal meinen müden Vater nach der Arbeit oder an Wochenenden. Dies führte gelegentlich zu eigenartigen Aussprachen. Zum Beispiel dachte ich jahrelang, misled („missled“) spreche man wie „meisled“ aus. Noch Jahre danach zögerte ich, wenn ich das Wort gedruckt sah, ganz kurz und korrigierte im Geiste meine Aussprache.

Wenn ich las oder auch nur nachdachte, war meine Konzentration so vollständig, dass ich jegliches Bewusstsein für meine Umgebung verlor. Wenn mich meine Mutter rief, bekam sie keine Antwort. Da sie dachte, ich ignoriere sie absichtlich, wurde aus dem Ruf ein Schreien und dann stand sie mit hochrotem Gesicht direkt vor mir. Erst als sie in meinem Gesichtsfeld erschien, fiel ich plötzlich ins Hier und Jetzt zurück und antwortete ihr. Es fiel ihr schwer, zu einem Schluss zu kommen, ob ihr Sohn stur und unartig war oder ob er wirklich so wenig wahrnahm, wie er behauptete.

Obwohl wir arm waren, schätzten meine Eltern Bücher und schafften es, mir gelegentlich eines zu kaufen. Dabei wählte mein Vater schwere Kost. Infolge dessen trug ich im Alter von fünf bis sieben Jahren erwachsen aussehende Bücher mit mir herum und Fremde fragten sich, ob ich wirklich wusste, was darin stand. Ein Mann unterzog mich einer unerwarteten und möglicherweise peinlichen Prüfung.

Dazu kam es, weil meine Eltern sich mit den Kesters angefreundet hatten, die auf einer Farm in Crete im Bundesstaat Illinois wohnten, etwa 70 Kilometer von unserem Haus entfernt. Ab 1937, als ich fünf wurde, luden sie uns jeden Sommer für zwei Wochen zu sich ein. Diese besonderen Tage waren das, worauf ich mich jedes Jahr am meisten freute. Für einen Stadtjungen aus einem Vorort von Chicago war es eine pure Freude, zuzusehen, wie „Wasserspinnen“ über die Oberfläche eines träge mäandernden Baches huschten, in den hohen Maisfeldern Verstecken zu spielen, Schmetterlinge zu fangen und auf Brettern sortiert und befestigt vorzuführen oder über die Felder, durch die Pappelwälder und die Obstgärten zu gehen. Der älteste Sohn der Kesters, der schon über zwanzigjährige Marvin, trug mich auf den Schultern durch die Gegend. Meine Mutter kochte zusammen mit den Frauen des Haushalts – Marvins hübscher Schwester Edna Mae, ihrer Mutter und Tante May – riesige Mengen an Obst und Gemüse ein. In unserem heimischen Keller baute mein Vater Regale auf für die mit Gummiringen versiegelten Weckgläser voller Mais, Pfirsiche und Aprikosen, die wir mit heimgenommen hatten. Und dann gab es noch reihenweise Obstgelees und Marmeladen sowie Gläser, die oben mit Wachs versiegelt waren. Dieses Füllhorn reichte uns bis weit ins nächste Jahr hinein.

Mein Vater half Marvin und seinem Vater, Old Man Kester, bei der Arbeit auf dem Hof und da war auch ich manchmal dabei. An einem sonnigen Vormittag im zweiten Sommer, in dem wir zwei Wochen in Crete verbrachten, nahm mich mein Vater mit, als er in einem Laden Vorräte kaufen ging. Ich wurde bald sechs, war groß und dünn, mit einem lockigen braunen Haarschopf, leicht sonnengebräunt, trug zu kurze Hosen und meine nackten Knöchel schauten aus Turnschuhen mit abgewetzten Schnürsenkeln heraus. Ich hatte „A Child’s History of England“ von Charles Dickens bei mir.

Ein fremder Mann, der mit meinem Vater plauderte, nahm mir das Buch aus der Hand, das auf dem Niveau der zehnten Klasse geschrieben war, blätterte darin und sagte zu meinem Vater: „Dieses Kind kann doch dieses Buch nicht lesen.“ Mein Vater erwiderte stolz: „Er hat es schon gelesen. Fragen Sie ihn etwas, dann werden Sie schon sehen.“

Mit einem süffisanten Grinsen sagte der Mann: „Also gut, Junge, nenne mir alle Könige und Königinnen von England in ihrer Reihenfolge und sage mir die Jahre ihrer Regierungszeit.“ Mein Vater machte ein langes Gesicht, aber mir schien das bloß wieder eine übliche Aufforderung zu sein, in meinem Kopf nachzuschauen, welche Informationen er enthielt.

Das tat ich und dann zählte ich auf: „Alfred der Große, von 871 bis 901, Edward der Ältere, 901 bis 925“, und so weiter. Als ich die Aufzählung der um die 50 Herrscher mit „Victoria, ab 1837 und es steht nicht drin, wann sie aufgehört hat“ beendete, war das Grinsen des Mannes längst verschwunden. Die Augen meines Vaters leuchteten.

Mein Vater war ein trauriger, einsamer Mann, der seine Gefühle nicht zeigte und uns selten berührte, aber ich liebte ihn. Ich hatte das Gefühl, dieser Fremde benutzte mich, um ihn zu demütigen, und mir wurde klar, dass ich dem einen Riegel vorgeschoben hatte. Immer wenn ich daran zurückdenke, wie glücklich mein Vater darüber war, hallt es in mir mit einer Kraft wider, die mir immer noch unvermindert scheint.

Meine ungewöhnliche Fähigkeit, Informationen zu behalten, blieb ausgeprägt, bis ich etwa neun oder zehn Jahre alt war, dann verblasste sie zu einem Gedächtnis, das zwar bei Dingen gut ist, die mich interessieren, aber von Ausnahmen abgesehen bei vielen anderen Dingen nicht besonders bemerkenswert. Ich weiß immer noch Fakten aus dieser Zeit, zum Beispiel meine Telefonnummer (Lackawanna 1123) und Adresse (3627 North Oriole; 7600 W, 3600 N) in Chicago sowie die siebenstellige Einwohnerzahl der Stadt (3.376.438), die in dem alten grünen „Rand McNally Atlas and Gazetteer“ von 1930 stand, der immer noch in meinem Bücherregal steht.

Im Alter von drei bis fünf lernte ich, Zahlen beliebiger Größe zu addieren, zu subtrahieren, zu multiplizieren und zu dividieren. Auch lernte ich das US-amerikanische System der Bezeichnungen Million, Billion, Trillion und so weiter bis zur Dezillion.4 Ich merkte, dass ich Zahlenkolonnen schnell addieren konnte, wenn ich sie entweder sah oder hörte. Eines Tages, als ich fünf oder sechs war, hörte ich, als ich mit meiner Mutter im Lebensmittelladen um die Ecke war, wie der Besitzer die Preise nannte, während er auf seiner Addiermaschine die Rechnung für einen Kunden zusammenzählte. Als er die Summe nannte, sagte ich „Nein“ und nannte ihm meine Zahl. Er lachte gutmütig, zählte die Zahlen noch einmal zusammen und erkannte, dass ich recht gehabt hatte. Zu meiner Freunde belohnte er mich mit einem Eis. Danach ging ich bei ihm vorbei, wann ich konnte, und prüfte seine Endsummen. In den seltenen Fällen, in denen er auf etwas anderes gekommen war, lag ich gewöhnlich richtig und bekam wieder eine Tüte Eis.

Mein Vater brachte mir bei, die Quadratwurzel aus einer Zahl zu ziehen. Ich lernte sie sowohl mit Stift und Papier als auch im Kopf auszurechnen. Dann lernte ich, wie man die dritte Wurzel zieht.

Bevor die Schrift und die Bücher aufkamen, wurde das Wissen der Menschheit im Gedächtnis bewahrt und von Geschichtenerzählern über Generationen weitergegeben. Aber als diese Fähigkeit nicht mehr notwendig war, ging sie verloren. Ebenso ist in unserer Zeit mit ihrer Allgegenwart von Computern und Taschenrechnern die Fähigkeit des Kopfrechnens weitgehend verschwunden. Aber jemand, der auch nur die Arithmetik aus der Grundschule kennt, kann lernen, Berechnungen bequem und gewohnheitsmäßig im Kopf vorzunehmen.

Diese Fähigkeit – insbesondere die Fähigkeit, schnelle Überschlagsrechnungen durchzuführen – ist nach wie vor wertvoll, vor allem um die quantitativen Aussagen zu beurteilen, denen man ständig begegnet. Beispielsweise hörte ich eines Morgens auf dem Weg ins Büro den Reporter der Wirtschaftsnachrichten sagen: „Der Dow Jones Industrial Average [DJIA] ist aufgrund von Befürchtungen einer weiteren Zinsanhebung, um die überhitzte Wirtschaft zu drosseln, um neun Punkte auf 11.075 Punkte gefallen.“ Im Geiste überschlug ich eine typische Kursänderung (eine Standardabweichung) des DJIA vom Schlusskurs des Vortags bis eine Stunde nach Handelseröffnung, die etwa 0,6 Prozent beträgt, auf circa 66 Punkte.5 Die Wahrscheinlichkeit der gemeldeten Kursbewegung von „mindestens“ neun Punkten oder weniger als einem Siebtel dessen betrug 90 Prozent, also war die Marktbewegung im Gegensatz zur Aussage des Berichts sehr gering und deutete wohl kaum auf irgendeine angstvolle Reaktion auf die Meldung hin.6 Es gab nichts, worum man sich Sorgen machen musste. Einfache Mathematik ermöglichte es mir, das Aufgebauschte von der Wirklichkeit zu unterscheiden.

Ein andermal meldete ein bekannter und geachteter Investmentfondsmanager, Warren Buffett habe seit seiner Übernahme von Berkshire Hathaway sein Geld nach Steuern um jährlich 23 bis 24 Prozent vermehrt. Dann sagte er: „Solche Zahlen werden in den nächsten zehn Jahren nicht mehr erreicht werden – dann würde ihm ja die ganze Welt gehören.“ Eine kurze Überlegung, was aus einem Dollar wird, wenn er sich zehn Jahre lang mit 24 Prozent Zinsen samt Zinseszins vermehrt, brachte mich auf gut acht Dollar (ein Rechner gibt 8,59 Dollar aus).7 Da Berkshire damals eine Marktkapitalisierung von rund 100 Milliarden Dollar hatte, hätte diese Wachstumsrate das Unternehmen auf einen Börsenwert von etwa 859 Milliarden Dollar gebracht. Das liegt weit unter meiner Schätzung des gegenwärtigen Marktwerts der Welt von 400 Billionen Dollar. Die Vorstellung eines Marktwerts für die ganze Welt erinnert mich an ein Schild, das ich einmal an einer Bürotür in der Physik-Fakultät der University of California in Irvine gesehen habe: ERDBEWOHNER, HIER SPRICHT GOTT. IHR HABT 30 TAGE ZEIT, UM AUSZUZIEHEN. ICH HABE EINEN KÄUFER FÜR DAS OBJEKT.

Kurz nachdem ich fünf geworden war, ging ich in die Vorschule der Dever Grammar School im Nordwesten Chicagos. Ich war sofort irritiert, dass alles, was dort von mir verlangt wurde, so leicht war. Eines Tages gab unsere Lehrerin uns leere Blätter und sagte uns, wir sollten die Umrisse eines Hauses von einem Bild abzeichnen, das sie uns gegeben hatte. Ich brachte auf dem Bild kleine Punkte an und maß mit dem Lineal die Abstände zwischen ihnen. Dann übertrug ich diese Punkte auf mein leeres Blatt, wobei ich mithilfe des Lineals für die gleichen Abstände der Punkte wie auf dem Bild sorgte und die richtigen Winkel per Augenmaß abschätzte. Dann verband ich die neuen Punkte miteinander und versuchte, die Kurven zu gut wie möglich nachzubilden. Heraus kam eine sehr ähnliche Kopie der Originalzeichnung.

Diese Methode hatte mir mein Vater gezeigt und auch wie man mit ihrer Hilfe vergrößerte oder verkleinerte Versionen einer Figur zeichnen kann. Um im Maßstab zwei zu zeichnen, braucht man beispielsweise nur die Abstände zwischen den Punkten des Originals zu verdoppeln und die gleichen Winkel zu nehmen, wenn man die neuen Punkte platziert. Für einen Dreiermaßstab verdreifacht man die Abstände zwischen den Punkten und so weiter. Ich rief die anderen Kinder herbei, zeigte ihnen, was ich gemacht hatte und wie das geht, und sie machten sich an die Arbeit. Wir alle gaben Kopien ab, die wir nach meiner Methode angefertigt hatten, statt der freihändigen Skizzen, die die Lehrerin erwartet hatte, und sie war darüber nicht glücklich.

Ein paar Tage danach musste die Lehrerin für ein paar Minuten das Klassenzimmer verlassen. Sie erklärte uns, wir sollten uns mit (für uns) riesengroßen einen Fuß langen hohlen Holzklötzen die Zeit vertreiben. Ich fand, es wäre lustig, daraus eine große Mauer zu bauen, und so teilte ich die anderen Kinder ein und schnell bauten wir aus den Blöcken ein großes terrassenförmiges Gebilde. Leider versperrte mein Projekt die Hintertür vollständig – und für diese hatte sich die Lehrerin entschieden, als sie versuchte, wieder ins Klassenzimmer zu kommen.

Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, kam ein paar Tage danach. Ich saß auf einem der winzigen Stühle der Schule, die für Fünfjährige gedacht waren, und stellte fest, dass eine der rückwärtigen senkrechten Holme gebrochen war. Ein scharfkantiger Splitter ragte an der Stelle über die Sitzfläche hinaus, wo sie sich vom Rest des Holms getrennt hatte, sodass die gesamte Lehne nur noch von dem einen senkrechten Holm gehalten wurde. Die Gefahr lag auf der Hand und es musste etwas getan werden. Ich fand eine kleine Säge, mit der ich in aller Ruhe die beiden Holme glatt auf Höhe der Sitzfläche absägte und so den Stuhl in einen perfekten kleinen Hocker verwandelte. Daraufhin schickte mich die Lehrerin ins Büro des Rektors und meine Eltern wurden zu einem ernsten Gespräch eingeladen.

Der Rektor stellte mir Fragen und empfahl sofort, mich in die erste Klasse zu versetzen. Nach ein paar Tagen in der neuen Klasse war klar, dass auch dort die Aufgaben für mich viel zu leicht waren. Was nun? Wieder eine Eltern-Lehrer-Konferenz. Der Rektor empfahl, mich erneut überspringen zu lassen, diesmal in die zweite Klasse. Aber ich war gerade einmal alt genug für die Vorschule: Ich war anderthalb Jahre jünger als meine Mitschüler in der ersten Klasse. Meine Eltern meinten, das erneute Überspringen einer Klasse würde einen extremen sozialen, emotionalen und körperlichen Nachteil für mich mit sich bringen. Wenn ich auf die zwölfjährige Schulzeit vor dem College zurückdenke, wo ich zu den kleinsten der Klasse gehörte und immer der Jüngste war, glaube ich, dass sie damit recht hatten.

Da wir mit dem von der Depression bestimmten Lohn meines Vaters kaum auskamen, kam eine wissenschaftlich fortgeschrittene Privatschule nie infrage. Wir hatten ja schon Glück, dass er überhaupt Arbeit als Wachmann bei der Harris Trust and Savings Bank gefunden hatte. Dabei mögen seine Medaillen von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs geholfen haben.

Die Depression durchdrang alle Facetten unseres Lebens. Da wir von den 25 Dollar Wochenlohn meines Vaters lebten, verschwendeten wir nie Lebensmittel und unsere Kleider trugen wir, bis sie auseinanderfielen. Ich schätzte Dinge hoch wie die Smith-Corona-Schreibmaschine, die mein Vater bei einem Schreibwettbewerb gewonnen hatte, und das Militärfernglas, das er im Ersten Weltkrieg benutzt hatte. Am Ende wurden beide Teile meiner winzigen Sammlung von Besitztümern und begleiteten mich während der nächsten 30 Jahre. Zeit meines Lebens traf ich immer wieder Überlebende aus der Depressionszeit, die sich eine zwanghafte, oft irrationale Sparsamkeit und eine ökonomisch ineffiziente Neigung zum Horten bewahrt hatten.

Geld war knapp und jedermann ehrte den Cent. Als ich die schwitzenden WPA-Arbeiter in den Straßen sah (die 1935 per Präsidialverfügung geschaffene „Works Progress Administration“ war das größte von Roosevelts Programmen im Rahmen seines New Deal und sollte den Arbeitslosen eine nützliche Arbeit bescheren), lieh ich mir fünf Cent und kaufte damit eine Packung Kool-Aid, aus der ich sechs Gläser zubereitete, die ich den Arbeitern für einen Penny das Stück verkaufte. Damit machte ich weiter und merkte, dass es viel Arbeit kostete, sich ein paar Cent zu verdienen. Aber im nächsten Winter, als mir mein Vater fünf Cent dafür gab, dass ich unseren Gehsteig vom Schnee befreite, war ich auf eine Goldmine gestoßen. Den gleichen Dienst bot ich unseren Nachbarn an und nach einem anstrengenden Tag des Schneeschaufelns kehrte ich schweißnass nach Hause zurück und trug die enorme Summe von mehreren Dollar bei mir, fast den halben Tageslohn meines Vaters. Schon bald folgten jedoch viele andere Kinder meinem Beispiel und die Mine versiegte – eine frühzeitige Lektion, wie der Wettbewerb die Gewinne auffressen kann.

Zu dem Weihnachtsfest, an dem ich acht Jahre alt war, schenkte mir mein Vater ein Schachspiel. Ein Freund von ihm hatte das Brett gebaut, indem er Quadrate aus hellem und dunklem Holz auf eine Filzmatte geklebt hatte, sodass ich das Brett falten oder sogar zusammenrollen konnte. Die Figuren waren klassische Staunton-Figuren, die mir seither die liebsten sind, wobei ebenholzschwarze Kämpfer gegen die kiefernholzweiße Streitmacht antraten. Nachdem ich von meinem Vater die Grundregeln gelernt hatte, beschloss unser Nachbar nach hinten raus, „Smitty“ Smittle, sich die Zeit damit zu vertreiben, dass er gegen mich spielte. Ich war oft bei ihm zu Hause, um seinen Billardtisch zu benutzen, nachdem ich seit Kurzem dieses Privileg genoss. Unsere ersten beiden Partien gewann Smitty problemlos, doch dann wurde es schon haariger. Nach ein paar Spielen gewann ich. Smitty gewann nie wieder und nach zunehmend einseitigen Niederlagen weigerte er sich plötzlich, gegen mich zu spielen. An jenem Abend eröffnete mir mein Vater, nun sei ich an Smittys Billardtisch nicht mehr willkommen.

„Aber warum?“, fragte ich ihn.

„Weil er Angst hat, dass du mit dem Queue den Filz beschädigst.“

„Aber das ist doch Unsinn. Ich spiele dort schon eine Weile und er sieht doch, wie gut ich aufgepasst habe.“

„Ich weiß, aber er will es so.“

Ich war von dieser Behandlung enttäuscht und entrüstet. In meiner Welt der Bücher wurden Können, Fleiß und Erfindungsreichtum belohnt. Smitty hätte sich doch freuen müssen, dass ich es so gut beherrschte, und wenn er es besser können wollte, hätte er üben und lernen sollen, anstatt mich zu bestrafen.

Vor einem anderen Weihnachtsfest folgte nach diesem Miniaturkrieg auf dem Schachbrett der Eintritt der Vereinigten Staaten in den bereits tobenden Zweiten Weltkrieg.