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Ulrich Parzany

Man muss Gott
mehr gehorchen
als den Menschen

Ein Appell zum mutigen Bekenntnis

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Inhalt

Über den Autor

Einleitung

Kapitel 1 | Die ersten Christen

Kapitel 2 | Mutiges Bekenntnis

Kapitel 3 | Dem Staat gehorchen?

Kapitel 4 | Gottes Willen erkennen

Kapitel 5 | Wir leiden an dem, was wir lieben

Kapitel 6 | Toleranz und der Streit um die Wahrheit

Kapitel 7 | Verkündigung und der soziale Frieden

Kapitel 8 | Altbekannte Konfliktfelder

Kapitel 9 | Grundrecht auf Leben

Kapitel 10 | Freiheit und Selbstbestimmung

Kapitel 11 | Christen in der Demokratie

Kapitel 12 | Ein Appell zum mutigen Bekenntnis

Anhang

Anmerkungen

Über den Autor

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ULRICH PARZANY, Jahrgang 1941, ist Leiter der Projektarbeit von ProChrist. Er war Vikar in Jerusalem, Jugendpfarrer in Essen und Generalsekretär des CVJM-Gesamtverbandes in Deutschland. Mit seiner Frau Regine lebt er in Kassel, hat drei Kinder und fünf Enkel.

Einleitung

Ich wurde in meinem Leben von Zweifeln nicht verschont. Sie springen einen an wie Raubtiere. Plötzlich und unerwartet. Gibt es Gott wirklich? Bilde ich mir nicht alles ein? Glaube ich das nur, weil meine Eltern mich so erzogen haben? Woher weiß ich, was Gott will? Weil es in der Bibel steht? Ist es nicht naiv, zu glauben, die Bibel sei Gottes Wort? Oder gar gefährlich? So etwas glauben doch nur Fundamentalisten, oder? Und die sprengen sich und andere nicht selten in die Luft. Wahrheitsfanatiker terrorisieren die Welt.

Was will Gott? Verdammt er alle, die nicht an ihn glauben, in die Hölle? Verurteilt er homosexuelle Partner, die sich lieben? Ist Selbstbestimmung nicht das Grundrecht aller Menschen? Hat nicht jeder die Freiheit, zu lieben, wen er oder sie will? Sollte Abtreibung nicht das Recht jeder Frau sein? Und haben wir nicht auch das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben?

Was lange selbstverständlich als Wille Gottes galt und wenigstens in den christlichen Kirchen anerkannt wurde, wird heute von vielen als menschenfeindlich verurteilt. Sollten Christen sich daher an den Zeitgeist anpassen?

Die Zehn Gebote?

Vorbei sind die Zeiten, in denen man die Zehn Gebote im großen Ganzen als sinnvollen Maßstab für ein gelingendes Zusammenleben in der Gesellschaft ansah. Viele kennen den Inhalt der Zehn Gebote heute gar nicht mehr. Schon das erste Gebot stört den gesellschaftlichen Frieden: »Ich bin der HERR, dein Gott, du sollst keine anderen Götter haben neben mir.« Widerspricht dieser ausschließende Anspruch nicht dem Gebot der Toleranz? Und was soll heute bedeuten: »Du sollst den Feiertag heiligen?« Wer kennt schon das neunte und das zehnte Gebot? »Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.« Und: »Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was dein Nächster hat.« – »Du sollst begehren«, predigt uns jeder Werbespot, »und zwar alles, was andere haben, du aber noch nicht. Und darum sollst du, wenn nötig, Schulden machen!«

Schon die Vereinigung der Silberschmiede von Ephesus machte einen Aufstand, weil die Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus durch Paulus ihr Geschäft massiv schädigte. Die Leute kauften keine Götterstandbilder und Amulette der Göttin Diana mehr, weil sie sich von den Götzen zum lebendigen Gott bekehrten. Da war die Toleranz der Silberschmiede am Ende. Wenn es ums Geld geht, hört der Spaß auf (nachzulesen in Apostelgeschichte 19,23-40).

Gott redet und handelt?

Die ganze Bibel spricht vom Reden und Handeln Gottes. »Das Wort des HERRN geschah« – das ist wohl die wichtigste Formulierung in der Bibel. Gottes Wort selbst ist Ereignis – von der Erschaffung der Welt über die Menschwerdung Gottes in Jesus bis zur Auferweckung der Toten am Ende der Geschichte und die Erschaffung des neuen Himmels und der neuen Erde. Aber kann man das so nehmen, wie es da steht?

Seit etwa zweihundertfünfzig Jahren wird bezweifelt, dass der Mensch überhaupt wissen kann, dass Gott existiert. Er kann sich Gott zwar ausdenken und behaupten, dass er sei und wie. Aber dann ist Schluss. Der Philosoph Immanuel Kant hat 1781 in seiner »Kritik der reinen Vernunft« bestritten, dass der Mensch die Existenz Gottes beweisen kann. Wenn man ihm folgt, haben wir es nur mit Vorstellungen, Meinungen und Behauptungen von Menschen über Gott zu tun, und die müssen natürlich so verschieden sein, wie die Menschen eben verschieden sind. Sie können nicht allgemein gültig sein. Diese Ansicht hat sich durchgesetzt und bestimmt weitgehend unser Denken heute.

Es scheint, als habe der Satz »Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen« damit einfach seinen Sinn verloren. Wenn wir lediglich wissen, was Menschen über Gott behaupten, dann ist die Frage: Welchen Menschen soll ich glauben? Am liebsten würden wir nur uns selbst glauben. Am liebsten möchten wir selbst bestimmen, was richtig und falsch, gut und böse ist. Aber gibt es da wirklich eine klare Unterscheidung? Wie soll ich diese erkennen?

In diesem Zusammenhang hat sich der Umgang mit der Bibel massiv verändert. Das in der Bibel behauptete Reden und Handeln Gottes wird kritisch infrage gestellt. Man meint, diese Aussagen seien lediglich Glaubensüberzeugungen von Menschen, die man untersuchen und bewerten kann. Ob Gott selbst geredet und gehandelt hat, kann die Forschung jedoch nicht bestätigen. Daher muss man es wohl bezweifeln.

Was gefällt?

Was bleibt uns anderes, als dass wir uns umschauen, was andere Menschen denken, sagen und tun. Die Freiheit des Einzelnen gilt zwar als ziemlich höchstes Gut, aber bei mehr als sieben Milliarden Menschen auf der Erde haben die Meinungen von Mehrheiten großes Gewicht. Nicht nur die zwei Milliarden Nutzer von Facebook wissen es zu schätzen, wenn möglichst viele den Gefällt-mir-Daumen anklicken.

Es wird dauernd erforscht, was wer meint und bevorzugt oder ablehnt. Die Umfrageergebnisse werden regelmäßig veröffentlicht und bestimmen das Verhalten von Politikern, Geschäftsleuten und Kunden. Kleidermoden, Essgewohnheiten und Lebensweisen werden so beeinflusst, auch Religiosität und Moral.

Die Soziologen erforschen die Verhaltensweisen und deren Wechselwirkungen in den verschiedenen Gesellschaften. Man redet von sogenannten »Plausibilitätsstrukturen«. Wenn eine Mehrheit von Menschen etwas für wahr hält, ist es relativ leicht, dem zuzustimmen. Es erscheint eben plausibel. Man erhält viel Applaus, wenn man auch so denkt und sich auch so verhält. Wenn nur wenige etwas für wahr halten, die Mehrheit aber andere Ansichten vertritt, ist es anstrengender und ungemütlicher, diese Minderheitsmeinung zu vertreten. Man wird vielleicht sogar angegriffen und muss sich verteidigen. Wer mag das schon?

Zu Weihnachten servieren uns die Zeitungen immer den neuesten Stand der Entwicklung des Christentums in Deutschland. Unter der Überschrift »Der lange Abschied vom Christentum« berichtete am 20.12.2017 die Frankfurter Allgemeine Zeitung über Umfrageergebnisse des Institutes für Demoskopie Allensbach. Thomas Petersen schrieb vom Weihnachtsrummel in vielen städtischen Fußgängerzonen und resümierte: »Und doch verabschiedet sich das Christentum seit Jahrzehnten nach und nach aus dem Leben der Deutschen. Der Grund dafür liegt nicht in der Einwanderung von Menschen aus anderen Kulturkreisen. Der Anteil der Muslime an der Bevölkerung in Deutschland liegt bei knapp sechs Prozent. Es sind die Christen selbst, die sich mehr und mehr von ihrem eigenen Glauben abgewandt haben.«1

Die Forscher orientieren sich natürlich an den Zahlen der Kirchenmitglieder und Gottesdienstbesucher. Aber die Erkenntnisse über Inhalt und Art ihres Glaubens sind noch vielsagender als die abnehmenden Zahlen. Ist Jesus Gottes Sohn? Hat Gott die Welt geschaffen? Werden die Toten auferstehen? Ist Gott der Dreieinige? Weniger Menschen als früher glauben das. »Geblieben ist dagegen eine vage Spiritualität.« Eine überirdische Macht ja, Engel noch mehr, Wunder ebenso. Aber: »Man erkennt, dass das Christentum gleichsam von innen ausgehöhlt wird. Die wichtigsten Bestandteile der Botschaft verlieren an Bedeutung.«

Interessante Beobachtung: »Gleichzeitig scheint das Bedürfnis an religiöser Orientierung nicht in gleichem Maße abgenommen zu haben wie der Glaube an die christliche Lehre.« Die Ökologiebewegung habe die stärkere Bindungskraft entfaltet. Fast zum Schmunzeln: »Man kann in der Ökologiebewegung viele Elemente wiederfinden, die aus klassischen religiösen Zusammenhängen gut bekannt sind. Etwas zugespitzt könnte man sagen, dass die Bandbreite von Essensvorschriften (›Veggie Day‹) über Endzeiterwartungen (›Erst stirbt der Wald, dann stirbt der Mensch‹), himmlische Strafen (›Die Natur schlägt zurück‹) und Drohungen gegen Abweichler (›Klimaleugner‹) reicht bis hin zum Ablasshandel (Abgaben für Flugreisende, um sich ›CO2-neutral‹ zu machen).«

Mancher mag sich damit trösten, dass eine Mehrheit der Bevölkerung christliche Traditionen und Symbole nicht aus der Öffentlichkeit verbannen will. 85 Prozent lehnen die Einführung eines islamischen Feiertags ab, wenn dafür ein christlicher gestrichen werden muss. Schlussfolgerung oder zumindest Zwischenbilanz: »Der christliche Glaube erodiert, doch das Gefühl der Zusammengehörigkeit zur christlichen Kulturtradition ist nach wie vor stark.«

Verschärfte Lage

Die Lage hat sich verschärft, seitdem der christliche Glaube in Europa Konkurrenz durch den Islam bekommen hat.

Lange hat man gedacht, Religion sei Religion, und Religion betrachten wir in Europa seit über hundert Jahren als Privatsache. Staatsreligion ist abgeschafft. Jeder darf für sich glauben, was er will, solange er seinen Glauben nicht anderen mit staatlicher Gewalt aufzwingen will. Nun versteht sich aber der Islam nicht zuerst als individualistische Religiosität, sondern drückt sich vor allem in der sozialen und politischen Gemeinschaft aus. Religion ist Privatsache – das widerspricht dem Selbstverständnis des Islam zutiefst. Natürlich glaubt auch der Muslim persönlich. Aber wichtig ist, dass Gottes Gebote – nach islamischem Verständnis die Scharia, wie sie im Koran und in der Tradition (Sunna) geoffenbart ist – in der Gemeinschaft verwirklicht werden. Deshalb ist der islamische Staat das Ziel. Das widerspricht der in Europa mühevoll errungenen Trennung von Staat und Kirche.

Lange Zeit haben Führungskräfte in Politik und Gesellschaft, auch in den Medien, das gar nicht verstanden. Die wachsende Zahl islamisch motivierter Gewalttaten hat in den letzten Jahren zum Umdenken genötigt. Da man immer bestrebt war und ist, Religionen gleich zu behandeln, hat das dazu geführt, dass alle, die einen allgemeingültigen Wahrheitsanspruch erheben, als Bedrohung der demokratischen Gesellschaft betrachtet werden.

Diese Kritik trifft auch Christen, die an der Autorität der Bibel als Wort Gottes festhalten. Es trifft im Grunde alle Christen, die das Apostolische Glaubensbekenntnis wirklich ernst meinen. Dieses wird in fast jedem evangelischen Gottesdienst gemeinsam gesprochen. Da bekennen wir: »Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde.« Wenn das der Wirklichkeit entspricht, betrifft es nicht nur alle Menschen, sondern das ganze Universum.

Dann bekennen wir weiter: »Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel; er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters; von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten.« Wenn das der Wirklichkeit entspricht, werden also alle Menschen eines Tages vor dem Richter Jesus stehen, ob sie das jetzt glauben oder nicht.

Dann bekennen wir: »Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben.« Auch die Auferstehung der Toten betrifft alle Menschen.

Nun kann man sagen, das sei alles nicht so ernst gemeint. Aber wollen wir den mehreren Hunderttausend Menschen in Deutschland, die das sonntags im Gottesdienst gemeinsam sprechen, tatsächlich unterstellen, dass sie mehr oder weniger gedankenlos religiöse Formeln aufsagen, die nichts mit der Realität dieser Welt zu tun haben? Oder wollen wir ihnen unterstellen, dass sie vorsätzlich etwas formulieren, das sie gar nicht so meinen? Oder müssen wir den Theologen unterstellen, dass sie sich eine Doppelbödigkeit antrainiert haben: Nach dem Maßstab kritischer Vernunft halten sie die Aussagen des Glaubensbekenntnisses für unzutreffend, aber aus liturgischen Gründen sagt man diesen religiösen Text feierlich gemeinsam auf?

Wir sind nicht einig

Damit stehen wir vor einem wirklich schweren Problem der Christenheit heute. Wir sind uns in den christlichen Kirchen und Gemeinden nicht einig. Es ist nicht so, dass alle Christen mit Überzeugung sagen: »Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.« Gerade innerhalb der evangelischen Kirchen ist sehr umstritten, ob man Gott gehorchen soll, wer Gott ist, ob wir seinen Willen kennen, worin dieser Wille besteht, welche Bedeutung die Bibel hat, wie wir sie verstehen, auslegen und anwenden sollen. Die christlichen Kirchen bieten keineswegs die »Plausibilitätsstruktur«, in der es leichtfällt zu glauben, weil alle ringsum glauben. Sie sind weithin nicht der Bereich, in dem Christen in ihrem Glauben gestärkt werden. Im Gegenteil, viele werden irre, wenn sie wahrnehmen, welche unvereinbaren Widersprüche in Kirchen vertreten werden. Viele werden aber auch misstrauisch, weil die Kontroversen in den Kirchen und Gemeinden gar nicht offen angesprochen, sondern mit undeutlichem religiösem Vokabular verschleiert werden.

»Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.« – Dieser Satz der Apostel Petrus und Johannes vor der Regierung in Jerusalem versteht sich heute nicht einmal in den Kirchen von selbst. In der Gesellschaft steht er massiv im Verdacht, die Errungenschaften der pluralistischen Gesellschaft und der Demokratie zu gefährden.

Ich möchte in diesem Buch zeigen, warum und in welcher Weise dieser Grundsatz heute so wichtig und gültig ist, wie er es seit jeher war.

KAPITEL 1

Die ersten Christen

»Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.« In welchem Zusammenhang wurde dieser Satz gesagt und geschrieben?

Aufgeschrieben wurde er von Lukas in der Apostelgeschichte 5,29. Gesprochen wurde er von Petrus und Johannes vor dem Hohen Rat, der Regierung in Jerusalem. Die Jesus-Nachfolger hatten in Jerusalem großes öffentliches Aufsehen erregt. Sie trafen sich nach der Entstehung der Gemeinde nicht nur regelmäßig in Hausversammlungen, sondern auch täglich in den weitläufigen Vorhöfen des Tempels. Sie verkündeten öffentlich, dass der gekreuzigte Jesus von Gott auferweckt worden war. Sie bezeugten Jesus als den Retter und Herrn der Menschen. Außerdem war durch die wunderbare Heilung eines gelähmten Bettlers besonderes Aufsehen erregt worden. Die Regierung befürchtete Unruhen und Schwierigkeiten vonseiten der römischen Besatzungsmacht. Darum verbot sie den Leitern der Gemeinde, öffentlich von Jesus Christus zu reden:

(Sie) sprachen: Was wollen wir mit diesen Menschen tun? Denn dass ein offenkundiges Zeichen durch sie geschehen ist, ist allen bekannt, die in Jerusalem wohnen, und wir können’s nicht leugnen. Aber damit es nicht weiter einreiße unter dem Volk, wollen wir ihnen drohen, dass sie hinfort zu keinem Menschen in diesem Namen reden. Und sie riefen sie und geboten ihnen, keinesfalls zu verkünden oder zu lehren in dem Namen Jesu. Petrus aber und Johannes antworteten und sprachen zu ihnen: Urteilt selbst, ob es vor Gott recht ist, dass wir euch mehr gehorchen als Gott. Wir können’s ja nicht lassen, von dem zu reden, was wir gesehen und gehört haben. Da drohten sie ihnen und ließen sie gehen um des Volkes willen, weil sie nichts fanden, was Strafe verdient hätte; denn alle lobten Gott für das, was geschehen war.

Apostelgeschichte 4,16-21

Warum bleiben die Apostel standhaft? Sie geben eine objektive und eine subjektive Begründung. Sie nennen die bekannten, objektiven Tatsachen: Gott hat den gekreuzigten Jesus vom Tod auferweckt. Durch Jesus geschah die Heilung des Gelähmten. Und diesen Jesus müssen sie verkünden:

Wenn wir heute wegen der Wohltat an dem kranken Menschen verhört werden, wodurch er gesund geworden ist, so sei euch allen und dem ganzen Volk Israel kundgetan: Im Namen Jesu Christi von Nazareth, den ihr gekreuzigt habt, den Gott von den Toten auferweckt hat; durch ihn steht dieser hier gesund vor euch. Das ist der Stein, von euch Bauleuten verworfen, der zum Eckstein geworden ist. Und in keinem andern ist das Heil, auch ist kein andrer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, durch den wir sollen selig werden.

Apostelgeschichte 4,9-12

Das griechische Wort »sozein«, das Luther mit »selig werden« übersetzt, bedeutet eigentlich »gerettet werden«. Aus dieser Tatsache ergibt sich die subjektive Begründung, der persönliche Beweggrund: »Wir können’s ja nicht lassen, von dem zu reden, was wir gesehen und gehört haben« (Vers 20).

Die Apostel berichten der Gemeinde von dem Verhör und dem Redeverbot. Die Gemeinde reagiert, indem sie gemeinsam betet. Man sollte erwarten, dass sie um Hilfe in den Schwierigkeiten bitten wird. Sie betet jedoch überraschend anders. Zuerst vergegenwärtigt sie sich betend, wer Gott ist: »Herr, du hast Himmel und Erde und das Meer und alles, was darin ist, gemacht« (Vers 24). Damit klärt sie sozusagen die Machtverhältnisse in der Welt. Die Regierung mit ihrem Redeverbot rutscht ganz weit nach unten. Der Schöpfer und Herr des Himmels und der Erde ist die höchste Instanz. Er hat das Sagen.

Dann erinnert sie sich und Gott an sein Wort in Psalm 2,1-2: »du hast durch den Mund unseres Vaters David, deines Knechtes, durch den Heiligen Geist gesagt: ›Warum toben die Heiden, und die Völker nehmen sich vor, was vergeblich ist? Die Könige der Erde treten zusammen, und die Fürsten versammeln sich wider den Herrn und seinen Christus‹« (Vers 25-26).

Diese Beschreibung findet die Gemeinde in der aktuellen Lage bestätigt: »Wahrhaftig, sie haben sich versammelt in dieser Stadt gegen deinen heiligen Knecht Jesus, den du gesalbt hast, Herodes und Pontius Pilatus mit den Heiden und den Stämmen Israels, zu tun, was deine Hand und dein Ratschluss zuvor bestimmt haben, dass es geschehen sollte« (Vers 27-28). Damit ist erst einmal klar, dass die Situation unter Gottes Kontrolle ist. Er ist der Schöpfer der Welt und der Herr der Weltgeschichte. Die Feinde Gottes können nichts gegen seinen Plan tun. Welche Zuversicht!

Was erbittet die Gemeinde jetzt? »Und nun, Herr, sieh an ihr Drohen und gib deinen Knechten, mit allem Freimut zu reden dein Wort. Strecke deine Hand aus zur Heilung und lass Zeichen und Wunder geschehen durch den Namen deines heiligen Knechtes Jesus« (Vers 29-30). Sie bittet um Freimut für die Verkündigung und um Bestätigung durch Wunder!

Das Wort »Freimut« hat Martin Luther wohl aus den Worten Freiheit und Mut neu gebildet. Damit übersetzte er das griechische Wort »parrhäsía«, das eine doppelte Bedeutung in sich trägt. Es bezeichnet die Redefreiheit, die z. B. eine Regierung durch Gesetz gewährt, aber auch die innere Freiheit zum Reden, die ein Mensch empfindet. Die Jerusalemer Regierung erteilte den Aposteln Redeverbot. Weil solche Redeverbote mit Strafandrohungen verbunden sind, bewirken sie bei den Bedrohten eine innere Blockierung – jedenfalls sollen sie diese bewirken. Die Gemeinde wendet sich jedoch an die höchste Instanz, an den Schöpfer der Welt und Herrn der Geschichte, und erbittet von ihm Redefreiheit. Der auferstandene Herr Jesus Christus hat es nicht nur erlaubt, sondern seine Jünger sogar beauftragt, zu reden. Die Redefreiheit ist tatsächlich von oberster Stelle gewährt. Nun soll der Herr auch die innere Redehemmung wegnehmen, die durch die Drohung der Regierung verursacht wurde. Darum also bittet die Gemeinde – um objektive und subjektive Redefreiheit, die Gott gibt.

Und ihr Gebet wird erhört: »Und als sie gebetet hatten, erbebte die Stätte, wo sie versammelt waren; und sie wurden alle vom Heiligen Geist erfüllt und redeten das Wort Gottes mit Freimut« (Vers 31). Die Apostel lassen sich nicht einschüchtern. Sie reden weiter öffentlich in den Tempelvorhöfen. Sie werden erneut verhaftet, aber wunderbar durch einen Boten Gottes befreit. Der Engel Gottes bestätigt ihren öffentlichen Auftrag: »Geht hin und tretet im Tempel auf und redet zum Volk alle Worte dieses Lebens« (Apostelgeschichte 5,20). Sie werden wieder verhaftet und dem Hohen Rat vorgeführt. »Und der Hohepriester fragte sie und sprach: Haben wir euch nicht streng geboten, in diesem Namen nicht zu lehren? Und seht, ihr habt Jerusalem erfüllt mit eurer Lehre und wollt das Blut dieses Menschen über uns bringen« (Vers 27-28).

Privat hätten sie alles glauben können. Vermutlich hätte die Regierung nicht einmal gegen Hauskreise etwas einzuwenden gehabt. Aber die Apostel waren zu weit gegangen: »ihr habt Jerusalem erfüllt mit eurer Lehre«! Die Stadtregierung befürchtete, dass ihr Handeln möglicherweise die öffentliche Ruhe und Ordnung und dann auch die Sicherheit gefährden würde. Ein ähnlicher Vorwurf wurde Paulus und der christlichen Gemeinde in Saloniki gemacht. Sie »schleiften« einige Mitglieder der gerade gegründeten Gemeinde »vor die Oberen der Stadt und schrien: Diese, die den ganzen Erdkreis erregen, sind auch hierher gekommen; … Und diese alle handeln gegen des Kaisers Gebote und sagen, ein anderer sei König, nämlich Jesus. So brachten sie das Volk auf und die Oberen der Stadt, die das hörten« (Apostelgeschichte 17,6-8).

Der Konflikt entsteht über die öffentliche Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus. Muss es denn unbedingt sein, dass man das Evangelium öffentlich verkündet? Sollte es nicht eher persönlich vermittelt werden? Nun, das taten die Apostel zu Anfang wie die Missionare in allen Jahrhunderten selbstverständlich. Aber das Evangelium gehört auch in die Öffentlichkeit, weil sein Inhalt eine öffentliche Wahrheit ist. In Jesus hat sich Gott, der Schöpfer und Erhalter der Welt, offenbart. Das geht alle an. »Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber« (2. Korinther 5,19) – auch diese Botschaft geht also alle Welt an. Das Evangelium ist seinem Wesen nach eine öffentliche Wahrheit, die nicht in der privaten Nische versteckt werden darf.

Die Apostel bezeugen dies: »Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen« (Apostelgeschichte 5,29). In der ersten Auseinandersetzung zwischen der christlichen Gemeinde und einer Regierung geht es um die öffentliche Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus!

Den Jesus-Nachfolgern war von Anfang an klar, dass sie in Konflikte mit Menschen in ihrer Umgebung geraten würden, das hatte Jesus deutlich angekündigt. Das Taufbekenntnis der Christen lautete »Herr ist Jesus«. Wenn die Gebote einer Regierung den Geboten Gottes widersprachen, war klar, dass dem Wort Gottes die Vorfahrt gehörte, zumindest grundsätzlich und theoretisch. Praktisch musste das immer wieder gegen die Widerstände von außen und von innen durchgesetzt werden.

Schon bei diesem ersten Konflikt mit einer Regierung hätte es ja in der christlichen Gemeinde unterschiedliche Überlegungen geben können. Hätten die Verantwortlichen nicht der Forderung der Regierung mit guten Gründen nachgeben können? Tausende waren in wenigen Wochen zum Glauben an Jesus gekommen. Die Apostel hatten extrem viel zu tun, um für gesundes inneres Wachstum des Glaubens zu sorgen. Da kam doch das Verbot der öffentlichen Wirksamkeit gerade recht. Man hätte das geradezu als Wink Gottes verstehen können, jetzt erst mal nach innen und nicht weiter nach außen zu arbeiten. Aber den Aposteln war völlig klar, dass alle Menschen die Botschaft von Jesus hören müssen. »(Gott) will, dass alle Menschen gerettet werden und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Denn es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus«, wird Paulus später an Timotheus schreiben (1. Timotheus 2,4-5).

KAPITEL 2

Mutiges Bekenntnis

Die Christen mussten den Konflikt zwischen dem, was die Regierung ihnen befahl, und dem, was Gott ihnen befohlen hatte, von Anfang an in ihren Familien, in ihrem Berufsleben und in ihrem gesamten gesellschaftlichen Umfeld durchstehen. Sie haben nicht immer mutig widerstanden. In den ersten drei Jahrhunderten lebten sie in einem Staat, der sie mehr oder weniger unterdrückte. In Zeiten, in denen der Kaiserkult stark forciert wurde, gerieten die Christen besonders unter Druck. Dass sich die Herrscher als Gottheiten verehren ließen, war bei einzelnen Kaisern sicher ihrem Größenwahn geschuldet, allgemein muss man den Kaiserkult aber wohl als Versuch ansehen, das aus vielen Völkern, Kulturen und Religionen bestehende Römische Reich durch einen alle verbindenden Kult zusammenzuhalten. Das Problem ist uns heute ebenfalls gegenwärtig – sowohl in pluralistischen Demokratien wie auch in den Bemühungen um den Zusammenhalt der Europäischen Union. Totalitäre Staaten wie die Sowjetunion haben versucht, das Problem mit ihren eigenen Zwangsmaßnahmen zu lösen.

In diesem Kapitel werden Beispiele von bekennenden Christen aus alter, neuerer und jüngster Zeit geschildert. Es geht nicht darum, eine Heldengalerie vorzuführen, sondern ich möchte nur daran erinnern, dass mutiges Bekennen zu allen Zeiten mit der Jesus-Nachfolge verbunden war. Oft war der Preis für dieses Bekenntnis hoch. Menschen bekannten sich zu Jesus Christus, wie er in der Bibel bezeugt wird. Ihr Widerstand wurzelte in der Bibel, die als Wort Gottes Maßstab für Glauben und Leben war. In der Kirchengeschichte wurde die Bibel oft an den Rand gedrängt, Machtstreben und Zeitgeist hatten häufig mehr Einfluss als Gottes Wort. Die Widerstandsbewegungen entstanden fast immer dadurch, dass Menschen die Bibel lasen und das Wort Gottes neu entdeckten.

Bevor wir in die frühe Geschichte der Christenheit gehen, beginne ich mit aktuellen Beispielen.

Die Iranerin Laden Nouri fragt: »Was ist Gottes Wille?«

Die Internationale Lausanner Bewegung für Weltevangelisation veranstaltete im August 2016 in der indonesischen Hauptstadt Jakarta ein Treffen für junge Führungskräfte (Younger Leaders Gathering, YLG 2016). Dort berichtete Laden Nouri, eine junge Frau aus Teheran, wie sie als Muslima zum Glauben an Jesus Christus gekommen war und welche Konsequenzen das für sie hatte. Ich lasse sie hier selbst zu Wort kommen: