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[7]»Jede Philosophie enthält menschliche Projektionen und damit eine anthropologische Aussage.«
(Landmann 1982, 29)

Was ist philosophische Anthropologie?

Eine Einführung zum Thema philosophische Anthropologie muss zu Beginn Rechenschaft darüber geben, ob sie sich eher vom Begriff und von der Wissensdisziplin oder von der Sache des Denkens leiten lässt. Es besteht durchaus eine Differenz zwischen einem Philosophieren vom Menschen aus und einem Fragen nach dem Menschen als Gegenstand der Wissenschaft. Die Spannung zwischen diesen Sichtweisen ist nicht zu leugnen und soll in diesem Band berücksichtigt werden. Die philosophische Anthropologie war und ist, so viel darf vorausgeschickt werden, die philosophische Disziplin mit dem Anspruch, den Menschen als Fragenden und Objekt der Befragung in eine Synthese zu fassen.

Ein kurzer Blick in die wissenschafts- und philosophiegeschichtlichen Zusammenhänge gibt hier einen ersten Eindruck. Vor allem die begriffsgeschichtlichen Daten geben einen verlässlichen Anhaltspunkt. Von »Anthropologie« ist seit dem 16. Jahrhundert innerhalb der deutschen Schulphilosophie und im Horizont neostoischer Philosophie die Rede. Hier zeigt sich, dass die Anthropologie als Wissensdisziplin einhergeht mit der Frage: Wie ist der Mensch zu bestimmen, wenn die Metaphysik nicht mehr und die moderne Naturwissenschaft noch nicht ein zureichendes Paradigma liefern? Die Antwort auf diese Frage erfolgt nicht in Definitionen, sondern in ausführlichen Beschreibungen der Natur des Menschen und seiner Lebenserfahrung. Es geht, wie Michel de Montaigne (15331592) es anschaulich gemacht hat, zugleich um [8]Selbsterfahrung und Menschenkenntnis. Festzuhalten ist zudem die Spannung zwischen einer überkommenen und einer erst zu gewinnenden Perspektive, einem »nicht mehr« und »noch nicht«, die für das anthropologische Denken über die Epochen hinweg charakteristisch ist. In Zeiten des Übergangs wird der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen, so auch in unserer Gegenwart. Aktuell ist der Mensch eine Schnittstelle unterschiedlichster Forschungsrichtungen. Das Paradigma einer »interdisziplinären Anthropologie«, gemeint als Synthese empirischer Forschung und philosophischer Reflexionsarbeit, scheint sich zu etablieren.

Für eine Bestimmung unserer gegenwärtigen Situation ist es notwendig, den Blick gut hundert Jahre zurückzuwerfen. Als sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Begriff »philosophische Anthropologie« entwickelt, ist die Situation zwar vergleichbar mit derjenigen der frühen Neuzeit, aber sie ist auch ungleich komplexer. Um es auf eine Formel zu bringen, ist »Natur« kein stoisches Konzept mehr, sondern ein darwinsches. Hinzu kommt, dass die Ausdifferenzierung der Wissenschaften vom Menschen vorangeschritten ist und infolge der Abkehr von der Philosophie als Leitdisziplin ein gemeinsamer Referenzrahmen fehlt. Zudem verweist die individuelle Lebenserfahrung im Zeitalter der sozialen und politischen Katastrophen auf ein zumeist erschütterndes Bild, das jede allgemein verbindliche Aussage zur Menschenkenntnis infrage stellt. In diesem Kontext ist auch die Entstehungsgeschichte der philosophischen Anthropologie vom Bewusstsein getragen, durch den Verlust von Denktraditionen und den Zusammenbruch von Weltanschauungen an einem Wendepunkt der Geschichte zu stehen, der in seiner Unausweichlichkeit jeden Vergleich mit anderen Epochen der Sozial- und Geistesgeschichte außer Kraft setzt. Max Scheler (18741928) bringt diesen Befund auf die Formel, dass »zu keiner Zeit der Geschichte [9]der Mensch sich so problematisch geworden ist wie in der Gegenwart« (Scheler 1927, 162).

Dieses Krisenszenario steht am Anfang der philosophischen Anthropologie als Wissensdisziplin, die nicht mit dem Anspruch antritt, die anderen Wissenschaften vom Menschen zu ergänzen, sondern sich schon bei Scheler anschickt, »zum Titel für die amtierende Grundphilosophie« (Marquard 1982, 123) zu werden. Aber diese Emphase verstellt auch unseren Blick. Andere Denker – von Bernhard Groethuysen bis zu Michael Landmann – vertreten nämlich die Ansicht, dass es weder einen radikalen Epochenumbruch gibt noch die philosophische Anthropologie als vermeintliche Antwort auf einen solchen eine erste Wissenschaft vom Menschen sein soll. Ihrer Ansicht nach erschöpft sich die Funktion anthropologischen Denkens sowohl in der frühen Neuzeit als auch in der Moderne darin, dass sie eine Antwort auf die für den Menschen entstehende Anforderung gibt, die mit der Umbesetzung im Konzept »Natur« einhergeht. Es geht um ein neues Konzept vom Menschen. Statt einer Selbstdramatisierung und Selbstüberhöhung der Gegenwart im Vergleich zu vergangenen Zeiten das Wort zu reden, wird hier die These vertreten, dass der Mensch auf jedem Niveau seiner kulturellen Entwicklung ein Bewusstsein seiner Gefährdung artikuliert. Die Mythen und Riten der Frühzeit, die Schriftkultur der historischen Zeit wie auch die Wissenschaften der neueren Zeit – sie alle liefern Indizien dafür, dass Selbst- und Welterkenntnis immer schon ein riskantes Vorhaben war, ist und auch in Zukunft sein wird.

Bei beiden Denkrichtungen, die auf eine Metaphysik des Menschen oder auf eine (Wissenschafts-)Theorie vom Menschen abzielen, geht es gleichwohl um eine einheitliche Idee des Menschen angesichts seiner natur- und kulturgeschichtlichen Veränderlichkeit. Ihr Ansatzpunkt sind die Denkbewegungen, in denen sich die Kulturmenschheit seit Anbeginn [10]ihrer Position im Kontrast zu ihren Umwelten gewiss zu werden versuchte. Anthropologie in diesem Sinn meint eine Bestandsaufnahme anthropologischen Philosophierens, von den ersten Dokumenten der Kulturmenschheit bis zu ihren neuesten Errungenschaften in den Wissenschaften. Die Tatsache, dass die philosophische Anthropologie erst im 20. Jahrhundert auf den Begriff gekommen ist, lässt sich aus der allgemeinen Tendenz zur Ausdifferenzierung im Feld der Wissenschaften und in der sozialen Wirklichkeit begreifen. In unserer modernen Welt wird sie zu einer Wissensdisziplin, die sich dieser allgemeinen Tendenz entweder entgegenstemmt oder aber sie reflektierend begleitet. Auch diese Spannung besagt einiges über die Funktion philosophischer Anthropologie im biologischen Zeitalter. (Vgl. Illies 2006.)

Die philosophische Anthropologie erfüllt aber nicht nur eine wissenschaftstheoretisch zu beschreibende Funktion, insofern sie die Frage aller Fragen, »Was ist der Mensch?«, aufwirft. Wie Immanuel Kant (17241804) an prominenter Stelle (Kant 1968, 25) betont hat, fallen in dieser Frage alle weiteren Fragen – »Was kann ich wissen?«, »Was soll ich tun?«, »Was kann ich hoffen?« – zusammen. Diese Fragestellung hat keinen Zeitindex, nur die Antworten sind geschichtlich. Wer sie für unangemessen hält, weil sie entweder ontologisch (so Martin Heidegger) oder epistemologisch (so Ludwig Wittgenstein) unbestimmt ist, verfehlt Intention und Anspruch philosophischer Anthropologie. Es ist nämlich gut möglich, dass Sinn und Legitimität philosophischen Fragens nach dem Menschen gar nicht an der Bestimmtheit der Fragestellung oder gar an der Hoffnung auf Beantwortbarkeit hängen, sondern vielmehr daran, dass es uns Menschen in einem fundamentalen Sinne auszeichnet, nach uns selbst – unserem Wesen, unserer Herkunft und Zukunft – zu fragen. Das gilt für das Wort des Psalmisten an den Gott Israels »Was ist der Mensch, dass du seiner [11]gedenkst« (Psalm 8,5) ebenso wie für jedes gegenwärtige Fragen nach dem Menschen – ob in theologischer, religionsphilosophischer, kulturphilosophischer, kulturhistorischer oder kulturanthropologischer Absicht.

Die Funktion philosophischer Anthropologie liegt darin begründet, dass sie diese Frage aller Fragen immer wieder von Neuem stellt, »aber nicht primär in dem Sinne, daß sie Hoffnungen auf die Beantwortung dieser Frage setzt oder erweckt, sondern in dem Sinne, daß sie im Hinblick auf diese Formel fragt: was war es, was wir wissen wollten? Und was kann es sein, was wir erfahren könnten?« (Blumenberg 2006, 483). Diese Überlegung Hans Blumenbergs ist bemerkenswert, weil sie eine Brücke über die Epochen der Geistesgeschichte hinweg bildet und die zwei genannten Aspekte – das Philosophieren vom Menschen aus und die kritische Auseinandersetzung mit den Wissenschaften vom Menschen – zusammenfügt. Hierzu gehören die dringliche Beschäftigung mit unserer Tradition (was wollten wir wissen?) und die ebenso dringliche Öffnung hin auf unsere Zukunft als Kulturmenschen (was könnten wir erfahren?).

[12]Begriff und Geschichte philosophischer Anthropologie

Anthropologisches Philosophieren geht von der Grundfrage »Was ist der Mensch?« aus. Die Antworten auf diese Frage geben Anhaltspunkte dafür, was wir Menschen über uns wissen wollten. Doch die Zahl der Definitionen, die über die Jahrtausende kulturgeschichtlicher Entwicklung in Anschlag gebracht wurden, ist schier unendlich. Sie reichen vom »zweibeinigen Lebewesen ohne Federn« (Platon), »vernünftig sprechenden Lebewesen« (Aristoteles), »Ebenbild Gottes« (A. T.) und vom »vernünftigen sterblichen Lebewesen« (Augustinus) über Pascals »denkendes Schilfrohr« und Jean-Jacques Rousseaus »entartetes Tier« bis zu dem »prügelnden Tier« Arthur Schopenhauers, dem »kranken Tier« Friedrich Nietzsches und dem »Triebverdränger« Sigmund Freuds. (Vgl. Hartung 2003, 1135.) Es gibt daher gute Gründe, die unüberschaubare Fülle der Antworten und Definitionsversuche in einen geschichtlichen Überblick und in typologische Muster einzufangen. Diese Vorgehensweise hat den Vorteil, allzu simple lineare Gedankenführungen und reduktionistische Modelle als solche zu erkennen. »Aufgabe einer Anthropologie wird es sein, den Menschen in diesen verschiedenen Gestalten wiederzufinden und ihn in seiner Einheitlichkeit zu erfassen« (Groethuysen 1928, 207).

Der Mensch im Kosmos I (Antike)

Soweit die schriftlichen Quellen und Vermutungen über die Anfänge menschlicher Kulturentwicklung uns Sicherheit geben, ist davon auszugehen, dass sich der Mensch in der Frühzeit der Kulturgeschichte im Spiegel der Natur betrachtet. In [13]dieser anthropomorphen Phase vermutet er in allem Naturgeschehen absichtsvolles, wenn auch für ihn unergründliches Handeln. Götter schufen seiner Ansicht nach die Welt, so wie er selbst seine Welt mit Werkzeugen und durch Handeln erzeugt. Alles, was die Natur im Menschenleben bewirkt, vom Regen über den Wind und täglichen Sonnenaufgang bis zu außergewöhnlichen Ereignissen wie einem Erdbeben, scheint auf ihn, den Menschen, abzuzielen. Hinter allem Geschehen vermutet er eine Absicht, die, obwohl sie verborgen bleibt, ihn betrifft.

Erst ein allmählicher Abbau dieser »ursprünglichen Allvermenschlichung« (Landmann 1982, 15) hat die Voraussetzung dafür geschaffen, dass der Mensch sich seiner Sonderstellung bewusst wird. In dem Maße, in dem er aus der Natur heraustritt, verliert die Weltansicht des Menschen der kulturellen Frühzeit ihre Naivität. Und es entsteht die Notwendigkeit, ein Naturgeschehen, in das man sich hineingerissen sieht, mit Sinn zu erfüllen. Die Ambivalenz von Naturentfremdung und Bewusstwerdung einer übernatürlichen Wertschätzung des eigenen Selbst prägt die menschliche Kulturgeschichte bis heute. Nur die Suche nach den verborgenen Absichten hat sich zusehends verfeinert.

Auf die Phase der Allvermenschlichung, in welcher der Mensch sich mit seinen Bedürfnissen, Wünschen und Vorstellungen unmittelbar im Naturgeschehen spiegelt, folgt eine Zeit, die von kosmologischer Spekulation beherrscht wird. Ihr Grundgedanke ist, dass die Gesetzmäßigkeit des Gesamtkosmos auch im Menschen wirkmächtig ist. Also wird eine Entschlüsselung der kosmischen Kräfteverhältnisse auch einen Aufschluss über die Wirkmächte geben, die menschliches Denken und Handeln bestimmen. In den kosmologischen Theorien der Vorsokratiker (vgl. Diels 1903) geht es um die Suche nach einem einheitlichen Maß – was im Großen und [14]Ganzen gilt, das muss auch im Kleinen gelten. Heraklit von Ephesos (um 500 v. Chr.) spricht von einem gemeinsamen »Metron«, das sowohl den Lauf der Natur als auch das Handeln des Menschen bestimmt (Heraklit, Frag. 30). Gemäß dieser Vorstellung ist der Mensch ein Teil eines kosmischen Wirkungszusammenhangs. Ihm ist seine Stellung im Kosmos zugewiesen, und er hat sein Handeln nach dem Maß aller Dinge auszurichten.

Mit Protagoras (um 485 – 410 v. Chr.) bricht diese Ordnungsvorstellung auseinander. Sein berühmtes Diktum »Der Mensch ist das Maß der Dinge« (Platon, Theaitetos 151d–152a) verkehrt die Vorzeichen. Von nun an muss der Mensch sich zuerst selbst verstehen, bevor er die Ordnung der Dinge enträtseln kann. Allein in sich findet er sein Maß, er wird zum Maßgebenden der Natur. Die Philosophie der Vorsokratiker ist von den unterschiedlichen Ordnungsvorstellungen des Heraklit und des Protagoras gleichermaßen durchdrungen, und sie scheitert gleichsam in dem Versuch, ein »Metron« in der Natur zu finden, wie auch im anmaßenden Versuch, den Menschen selbst zum Maß der Dinge zu machen.

Im Resultat dieses doppelten Scheiterns weiß der Mensch nicht um seine definitive Position, sondern erfasst sich als ein Vergleichsmoment unter anderen. Platon (um 427 – ca. 347 v. Chr.) lässt Protagoras den später klassisch gewordenen Mensch-Tier-Vergleich formulieren (Platon, Protagoras 322a). Im Vergleich zum Tier ist der Mensch schlecht ausgestattet. Seine körperliche Schwäche und seine Instinktunsicherheit machen ihn zu einer riskanten Lebensform. Platon parodiert diese Denkfigur in der zoologischen Klassifizierung des Menschen als »zweibeiniges Lebewesen ohne Federn«. Viel entscheidender als die tatsächliche Unterlegenheit ist für Platon aber die potenzielle Überlegenheit des Menschen. Was den Menschen in scheinbare Nähe zum Tier rückt, ist das schlichte [15]Faktum, dass er von seinen Fähigkeiten allerdings nur selten Gebrauch macht. Platons Trick zeigt sich in der Einführung einer dualistischen Konzeption, die den Menschen in dieser Spannung zwischen seiner physischen Gestalt und seiner ideellen Form begreift. Der Möglichkeit nach ist der Mensch mehr, als er in den Grenzen seiner wirklichen Gestalt und Lebenspraxis zum Ausdruck bringt. Dementsprechend geht es Platon auch gar nicht darum, den Mensch-Tier-Vergleich festzuschreiben. Vielmehr dient er als Negativfolie, um die Gottähnlichkeit des Menschen herauszustreichen. Er ist seinem Wesen nach »kein Spross der Erde, sondern des Himmels« (Platon, Timaios 90a).

Eine Konsequenz der platonischen Konzeption ist es, dass der Mensch bei allen Fragen nach dem Maß der Dinge oder nach dem Vergleich mit anderem auf sich selbst zurückgeworfen wird. Sokrates, wie Platon ihn in seinen Schriften darstellt, versinnbildlicht diesen Weg der Selbsterkenntnis, der den Menschen zu sich selbst führt. »Ich bin eben lernbegierig, und Felsen und Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt« (Platon, Phaidros 230c–d). Hier vollzieht sich eine erste anthropologische Wende innerhalb der abendländischen Kulturgeschichte. Sokrates wendet sich dem »Menschen in der Stadt« zu und betrachtet dessen kulturelle Leistungen. Dieser Mensch erkennt sich nicht in seiner Natur und auch nicht im Horizont einer natürlichen Lebensordnung; er erkennt sich nur, insofern er seiner Rolle als Sinnstifter gerecht wird. Was gut, schön, gerecht und wahr ist, diese Fragen kann er nur sich selbst beantworten. Die Antworten, die ihn als Menschen betreffen, findet er allein unter seinesgleichen in der Polis.

Die Bestimmung des Menschen nach Maßgabe der politischen Ordnung hat allerdings auch eine Kehrseite. Denn sie setzt die Grenzen der Gleichheit, wenn diese nicht [16]naturgegeben sind, an den Grenzen der jeweiligen Polis fest. So ist es eine Eigenart frühkultureller Selbstdeutung und gleichsam bis in die Moderne eine archaische Erbschaft dieser Kulturstufe, dass Menschsein als abhängig von der Zugehörigkeit zu einer Ordnung der Herrschaft, der Sprache, der Sitte und des Volkes erscheint. Jenseits dieser Grenzen dominiert die Geringschätzung des Anderen, Nichtzugehörigen, Fremden. Bei Homer (um 700 v. Chr.) zum Beispiel gilt der Fremde als Barbar. Erst die Sophisten behaupten die grundlegende Gleichheit aller Menschen, und Demokrit (460371 v. Chr.) spricht diese neue Geisteshaltung prägnant aus: »Mensch ist, was allen bekannt ist« (Demokrit, Frag. 165). Damit ist aber, wie der Blick in die platonischen Dialoge zeigt, keine Lösung indiziert, sondern nur der Widerspruch zwischen einer allgemeinen Vorstellung des Menschseins und einer bestimmten Wirklichkeit des Menschen als Teil einer politischen und sittlichen Ordnung in aller Deutlichkeit hervorgetreten.

Platon sucht deshalb nach einer allgemeinen Idee des Menschen. Die platonische Anthropologie weist als ihren Kern die Ideenlehre aus und kennzeichnet den Menschen in seiner Allgemeinheit als dasjenige Wesen, das über die Begrenzung der phänomenalen Welt hinausfragt nach den ihr zugrunde liegenden Ideen (Platon, Politikos 262a ff.). Hier liegt nach Platons Auffassung die Gemeinsamkeit des Menschseins. Aber diese Identität prägt sich im Leben in einer Dualität von Idee und Phänomen und in Bezug auf den Menschen von Körper und Seele, vom Menschsein der Wirklichkeit und der Möglichkeit nach, aus. Platon gibt für diese Spannung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit des Menschseins keine prinzipielle Lösung, aber er bietet in Gestalt der idealen politischen Ordnung ein Modell zu ihrer Hegung an. Die Politeia weist jedem Menschen gemäß seinen Befähigungen einen Platz in der sozialen und sittlichen Ordnung zu. Das Maß des Menschseins [17]liegt bei Platon in einer künstlichen, von Menschen geschaffenen Ordnung.

Demgegenüber entwickelt die aristotelische Anthropologie ein einheitliches Bild vom Menschen, das durch seine natürliche Verfasstheit verbürgt wird. Aristoteles (384322 v. Chr.) geht von der natürlichen Gegebenheit menschlicher Selbsterfahrung aus, in der sich die Einheit von Seele und Körper artikuliert. Der Mensch ist sich selbst nicht problematisch. In der Wahrnehmung und im Tätigsein erfährt er sich als gattungsmäßig verschieden von anderen Lebewesen. »Es scheint jedes Lebewesen eine eigene Lust zu besitzen, wie es auch eine eigene Aufgabe hat. Denn diese richtet sich nach der Tätigkeit. Dies wird klar, wenn man das Einzelne betrachtet: die Lust des Pferdes, des Hundes und des Menschen ist verschieden« (Aristoteles, Nikomachische Ethik 1176a3–6). Der Mensch erlebt sich nach Aristoteles’ Ansicht als Teil eines Naturzusammenhangs. Die Tatsache, dass er aus einem geistigen (Seele) und einem materiellen (Körper) Teil besteht, erscheint ihm selbst als Konsequenz seiner Teilhabe am und nicht als Differenz gegenüber dem Naturgeschehen.

Aristoteles kommt es vor allem darauf an, diese Dualität von Seele und Körper im Modus einer Einheit zu betrachten. So entwickelt er seine Vorstellung in der Abhandlung Über die Seele, in deren zweitem Buch er die Seele als »erste Entelechie« eines natürlichen, mit Organen versehenen Körpers definiert. Es ist demnach in der Seele als Prinzip des Lebens angelegt, dass sie sich verkörpert und somit die physische Seite ihres Wirkens für ihre Vollendung notwendig ist. Die Verkörperung der Seele, das heißt die spannungsreiche Dualität von Seele und Körper, ist nach Aristoteles die Bedingung von Individuation. Aber sie ist wie diese nur eine Zwischenstufe einer Entwicklung der Seelenkräfte, die auf eine vollendete Entelechie der Seele abzielt.

[18]Aristoteles kann dies alles nur behaupten, weil er zusätzlich von einem allgemeinen Gattungszweck spricht, der sich im Tätigsein des jeweiligen Lebewesens erfüllt. Daher lautet der Grundsatz der aristotelischen Naturphilosophie, dass nichts in der Natur vergeblich, also zweckfrei, geschieht. Für den Menschen heißt das, dass sich in und mit ihm ein Zweck erfüllt, den wir in zweierlei Hinsicht erörtern können. Aus Sicht des individuellen Menschen ist die Einheit von Seele und Körper Prinzip seiner Individuation; aus Sicht des Gattungswesens Mensch vollendet sich im Menschen ein Gesamtzweck der Natur. Aus Sicht dieses Ganzen wiederum wirken alle Kräfte in der Natur auf eine Überwindung von Individuation, die gleichwohl an der Einlösung des Gesamtzwecks Anteil hat. Der aristotelische Mensch erlebt diesen Gesamtzusammenhang und kann ihn im Denken begreifen. Hier im Denken liegt denn auch die Möglichkeit, aus den Widersprüchen gelebten Lebens herauszutreten. Der nicht nur physisch oder psychisch motivierte, sondern geistig schöpferische Seelenteil verweist auf ein »denkendes Tätigsein«, das Glückseligkeit ermöglicht und nicht zuletzt die Liebe der Gottheit erweckt (Aristoteles, Nikomachische Ethik 1179a25 f.).

Die platonischen und aristotelischen Denkfiguren haben im antiken Kulturkreis auf vielfältige Weise gewirkt und sind schulbildend gewesen. Die römische Kultur hat, in republikanischer und vorchristlicher Zeit, vor allem den Aspekt einer natürlichen Verfasstheit des Menschen und Eingepasstheit in die soziale Ordnung hervorgehoben. Hier ist die stoische Moralphilosophie als eine Lehre der Lebensführung maßgebend. Nach Cicero (10643 v. Chr.) besteht der Mensch aus zwei Bewegungsmomenten (körperlich, seelisch), die einander zugeordnet sind. Im sozialen Kontext geht es um pflichtgemäßes Handeln, das im Wesentlichen darauf beruht, dass der Mensch der »Natur seiner Seele« gemäß lebt (Cicero, Vom [19]pflichtgemäßen Handeln 1,99 ff.). Die stoische Philosophie entwirft Regeln für den Menschen, die es ihm ermöglichen sollen, sich in der Natur gegen deren Triebkräfte zu behaupten. Sie spricht deshalb vom Ideal der »Beständigkeit des Lebens« (Cicero), der »Selbstmächtigkeit« (Seneca), der »Lebensform« (Marc Aurel) und vom Idealbild des »homo humanus« (Cicero). Letzteres meint eine Überwindung der Naturhaftigkeit, die nur dem einzelnen Menschen gelingen kann. Nur in ihm kommen daher die höchsten sittlichen und geistigen Anlagen des Menschlichen zur Entfaltung.

Was Platon der sozialen Ordnung überantwortet hat, das muten die Stoiker jedem Einzelnen zu. Wo Aristoteles von einem natürlichen Gattungszweck der Menschheit spricht, entwickelt Cicero das Bild einer »Humanitas«, die nur im je einzelnen Individuum realisiert werden kann. Ein gelingendes Leben, das heißt die Versöhnung der gegenläufigen Momente (Seele und Körper), ist dann nicht mehr als ein Ausdruck persönlicher Stärke. Die stoische Moralphilosophie entwirft beim Übergang von der römischen Republik zum Weltreich ein Modell der Lebensführung, das der neuen Dimension angemessen ist. Das Konzept der »Humanitas« ist die Konsequenz einer radikalen Entgrenzung aller Vorstellungen vom natürlichen, an Herkunft und Sitte gebundenen Menschen. Weder die Natur noch die politische Ordnung geben ein zureichendes Maß für die Selbstbestimmung des Menschen. Dieses Maß kann er nur in sich selbst finden und durch eigene Kraft in seiner Lebensführung zum Ausdruck bringen (Seneca).

Dem Misstrauen in die integrierende Struktur des politischen Verbandes korrespondiert in der stoischen Lehre das Vertrauen in die Kräfte des Individuums. Die stoische Anthropologie ist so gesehen im Kern eine radikale Individualethik. Von mindestens ebenso großem Misstrauen gegenüber natürlichen Strukturen des Handelns und Denkens gekennzeichnet [20]ist die Lehre Plotins (204/205270), der einer der wirkmächtigsten Philosophen der Spätantike ist. In einer Geschichte des anthropologischen Denkens allerdings spielt der Neuplatonismus keine nennenswerte Rolle. In metaphysischer Spekulation und mystischer Praxis ist er über die Gegensätze, Widersprüche und Paradoxien, die an der Frage nach dem Menschen hängen, immer schon hinaus. Erst in der Renaissance wird unter veränderten Vorzeichen eine neuplatonische Anthropologie entstehen.

Der Mensch vor Gott I (Antike und Mittelalter)

Die antike Welt wird nicht nur in ihren Zentren Athen und Rom, sondern auch an ihren Peripherien geprägt. Eine neue Lehre vom Menschen entfaltet sich aus dem jüdisch-christlichen Kulturkreis heraus mit einer Verzögerung, die sie aus dem Zusammenhang der bisher dargestellten Denkansätze heraushebt, in den sie doch zeitlich gesehen gehört. Die mythischen Ursprünge des biblischen Menschenbilds und die Betrachtungen in Altisrael über das Verhältnis von Mensch und Gott, wie sie in der Psalmenliteratur, den Prophetenbüchern und dem Buch Hiob enthalten sind, haben unseren Kulturkreis nachhaltig geprägt. Hervorzuheben ist, dass hier ein universaler Begriff vom Menschen entworfen wird, der aufgrund seiner Korrelation mit der entstehenden Vorstellung vom einen Gott die Grenzen des griechisch geprägten antiken Kulturkreises sprengen wird. Adam ist »der Mensch«, und seine Nachfahren stehen als Geschöpfe des einen Gottes wesentlich über allen sprachlichen und kulturellen Differenzen. In der Frage des achten Psalms – »Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst« – wird die Menschheitsfrage schlechthin gestellt. Wirkmächtig über die Grenzen des Vorderen Orients hinaus ist der Gedanke [21]vom einen Gott und der einen Menschheit allerdings erst in dem Moment, als die heilsgeschichtliche Erwartung von der Zugehörigkeit zum Volk Israels abgekoppelt und auf die gesamte Menschheit übertragen wird.

Dies geschieht bei Paulus (gest. 60/622416722