Cover

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

Die E-Books des Reclam Verlags verwenden entsprechend der jeweiligen Buchausgabe Sperrungen zur Hervorhebung von Textpassagen. Diese Textauszeichnung wird nicht von allen Readern unterstützt.

Enthält das E-Book in eckigen Klammern beigefügte Seitenzählungen, so verweisen diese auf die Printausgabe des Werkes.

Was ist Langeweile?

Von einem Grauschleier, der sich über alles legt, zur Gefahr, an Langeweile zu sterben, über Pascals These vom Bewegungsdrang bis hin zum Bus, der uns erlöst

»Ist dir das nicht langweilig, den ganzen Tag im Bett liegen?«

Diese Frage wurde mir im vergangenen Sommer ziemlich häufig gestellt: Ich war krank, so krank, dass ich knapp zwei Wochen in einer Klinik verbringen musste. Elf Tage, um genau zu sein.

Ich war an Meningitis erkrankt. Mein Glück war, dass die Hirnhautentzündung durch eine Virusinfektion ausgelöst wurde und nicht durch Bakterien, so stand ich nicht unter Quarantäne. Alle acht Stunden erhielt ich eine Infusion mit einem Virostatikum (das ist so etwas wie ein Antibiotikum, ein Stoff, der verhindert, dass sich die Viren weiter ausbreiten) und diverse Schmerzmittel: Wie Sie vielleicht wissen, ist Meningitis mit schrecklichen Kopfschmerzen verbunden.

Nach rund zwei Tagen nahm ich meine Umgebung wieder wahr: Ich lag in einem Einzelzimmer – Glück gehabt! – und hatte Besuch. Eine Freundin brachte mir einen Stapel Krimis von Wolf Haas und den neuen Roman von Juli Zeh. »Damit es dir nicht langweilig wird«, sagte sie.

Mir wurde nicht langweilig – ich habe die Langeweile sehr genossen.

Langeweile, was ist das eigentlich?

Umgangssprachlich gesehen ist Langeweile so eine Art Auffangbecken für alles, was uns nicht gefällt, stresst, auf die Nerven geht: Eine »langweilige Frisur« ist ein Haarschnitt, den viele andere auch tragen, der nicht besonders ist und im ungünstigsten Fall ein »Dutzendgesicht« nicht positiv herausragen lässt aus der Masse. Ein »langweiliges Gespräch« ist ein Smalltalk über Wetter, Kinderkrankheiten oder Probleme mit dem öffentlichen Nahverkehr, dessen Inhalt uns ebenso wenig interessiert wie die Meinung der Person, mit der wir uns austauschen. Ein »langweiliger Film« kommt mit einer vorhersehbaren Handlung, sperrig formulierten Dialogen und Überlänge daher.

Mit dieser Aufzählung könnte ich Sie noch länger langweilen – doch ich bin sicher, Sie wissen jetzt schon, was ich meine: Langeweile kann alles betreffen, sie ist wie ein grauer Schleier, der sich über Menschen, Tätigkeiten, Situationen und Dinge legen kann. Sogar über eigentlich wichtige Dinge, wie hier in Grauschleier, einem Lied der Fehlfarben, veröffentlicht 1980:

Ich habe das alles schon tausendmal gesehen

Ich kenne das Leben, bin im Kino gewesen

Und doch jedes Mal, wenn ich sie seh

Weiß ich nicht, wie es geh’n soll

Ich find nicht den Dreh

 

Es liegt ein Grauschleier über der Stadt

Den meine Mutter noch nicht weggewaschen hat

 

Die Geschichte ist langweilig, immer dasselbe

Die Bücher zum Thema sind auch nicht das Gelbe

Und will ich ihr dann mal was sagen

Dann fällt mir nichts ein

Nur leere Phrasen

Sie legt sich wie ein Grauschleier über die Stadt, über die Welt, über Sie und mich, die Langeweile, sie kommt manchmal langsam und schleichend wie der Nebel in einem Horrorfilm, manchmal schnell wie eine Lawine.

Erscheint uns dieser Grauschleier zwar auf den ersten Blick rein von der Stofflichkeit her durchlässig, gar flüchtig, wird er durch den klebrigen Kern, den alles Langweilige hat, zu einem Gefängnis: Wir bleiben haften an einem »Das bringt mich nicht weiter!« Der Langeweile zu entfliehen, geht auch nicht so leicht: Das hat vor allem damit zu tun, dass ich sehr schwer sagen kann, »Jetzt fange ich an, mich zu langweilen.« Langeweile überkommt einen Menschen eher, als dass er sie ruft. Sie muss ertragen werden, gleicht einem Zwang, ist etwas, das durchgestanden werden muss.

In Form dieser Kästen werden Sie im Folgenden immer wieder wissenschaftliche Hintergründe erfahren: Berichte über Studien, Erkenntnisse aus Untersuchungen – zusätzliche Hintergrundinformationen über die Art und Weise, wie und wo über Langeweile geforscht wird. Um Menschen, die sich Forschungsteams zur Verfügung stellen, in die richtige Stimmung zu bringen, hat zum Beispiel die Psychologin Colleen Merrifield an der University of Waterloo einen kleinen Film produziert: ein Video, das die meisten zu Tode langweilen soll (natürlich nur im übertragenden Sinne gemeint). Man sieht zwei Männer in einem weißen, fensterlosen Raum, einen älteren mit Stirnglatze im schwarzen Shirt, einen jüngeren dunkelhaarigen im weißen Poloshirt. Sie nehmen Kleidung von einem Stapel, der sich auf einem Wäscheständer befindet, und hängen sie auf: ein Jäckchen, ein Hemd, einen Pullover, eine Socke. Die Männer unterhalten sich dabei ein wenig, der eine fragt etwa den anderen nach Wäscheklammern. Die Männer hängen die Wäsche ziemlich langsam und umständlich auf, schütteln einzelne Stücke, bevor sie sie aufhängen, oder drehen sie von links auf rechts. Als Colleen Merrifield dieses Video dann in einer Untersuchung einsetzte, stellte sie fest, dass beide Männer die Probanden zwar langweilten – aber im Vergleich zu sternartigen Mustern, deren Auftauchen und Verschwinden auf einem Bildschirm zu beobachten waren, doch noch relativ interessant erschienen.

Der Grauschleier der Langeweile, der Menschen, Situationen, Sachen überzieht, ist eine subjektive Empfindung: Sie langweilen sich möglicherweise beim Lesen eines Donald-Duck-Hefts, ein Neunjähriger aber zieht daraus womöglich nicht nur Freude und Unterhaltung, sondern auch Entspannung. Es ist erstaunlich, dass gerade entspannende Tätigkeiten wie Dösen oder Tagträumen von vielen Menschen als langweilig empfunden werden. Einem Kind, das einem Tiger im Käfig gleich auf und ab geht und nach einer neuen Aufgabe, einer Herausforderung, Unterhaltung, Beschäftigung sucht, den Ratschlag zu geben, »Tagträume doch ein bisschen!«, wird sicherlich die Antwort »Langweilig!!« provozieren. Den eigenen Gedanken ziellos nachhängen, wenn es gilt, einen Auftrag zu erfüllen, das funktioniert schlecht. Aber stellen Sie sich einen Erwachsenen vor, der alleine am Küchentisch vor einer mehr und mehr abkühlenden Tasse Instantkaffee sitzt und einfach vor sich hin denkt, ohne Plan, ohne System. Tagträumen gehört mit Sicherheit zur Langeweile-Familie, und wie Sie sehen, kann diese mal als angenehm und mal als unangenehm empfunden werden. Das ist typisch für die Langeweile: Die einen hassen sie, die anderen schöpfen aus ihr Kreativität.

Die Langeweile-Familie (Liste 1.1)

Fortsetzung folgt

 

Eine Zeit ohne Prüfungen bedeutet Stillstand. Ich würde ungern mein Abitur noch einmal schreiben und Fragen zur Genstruktur der Fruchtfliege beantworten müssen. Aber geprüft und herausgefordert werden möchte ich jeden Tag aufs Neue.

Das hat Robert Habeck, Politiker, Schriftsteller und seit 2018 Bundesvorsitzender der Grünen in einem Interview gesagt, und ich habe lange darüber nachgedacht. Stillstand, so wie er ihn hier versteht, entspricht genau diesem klebrigen »Das-bringt-mich-nicht-weiter!«-Kern der Langeweile, der viele abschreckt.

Einen solchen Stillstand können wir uns leicht ausmalen: Ein Lehrprofessor, der seit Jahren dieselbe Vorlesung hält, dazu dieselben Folien auf schimmlig gewordenen Leinwänden zeigt, weil er entweder nichts Neues zu seinem Thema hinzufügen will oder kann. Aber empfindet er tatsächlich Stillstand? Oder empfinden diesen eher die Studierenden, die lieber auf ihren Laptops herumdrücken, statt ihm zuzuhören, wenn sie überhaupt noch in den Hörsaal kommen? Möglicherweise ist sein »Nicht-Weiterkommen« nur ein scheinbarer Stillstand – es ist ja denkbar, dass der Lehrprofessor seine neuen Erkenntnisse eventuell bloß nicht mit den Studierenden teilen möchte, weil es ihn zu viel Zeit kostet, Folien und Skript in regelmäßigen Abständen zu aktualisieren. Er könnte zur Begründung auf die Humboldtsche Forderung nach einer Einheit von Forschung und Lehre pochen – es ist kein Geheimnis, dass die universitäre Karriere an der Anzahl der Veröffentlichungen und nicht an der Güte von Vorlesungen hängt.

Klammer auf:

Empfindet Mick Jagger Stillstand, wenn er schon wieder (I can’t get no) Satisfaction (der Song wurde bereits 1965 veröffentlicht!) auf der Riesenbühne eines Stadions singt? In einem Interview, das er 1995 dem US-amerikanischen Musikmagazin Rolling Stone gab, erklärte er, dass er sich anstrenge, die Strophe sanfter singe, melodisch, dem Ganzen Dynamik gebe. Damals war der Song 30 Jahre alt; Jagger fügte hinzu, dass die Rolling Stones den Song vielleicht nicht jede Nacht spielen sollten. Als die Band im Oktober 2017 drei Tage hintereinander in Nanterre in der U-Arena auftritt, hat sie jedes Mal eine etwas unterschiedliche Setlist, beginnt mal mit Jumpin’ Jack Flash, mal mit Sympathy for the Devil. Auf Platz 20 der Songliste steht aber immer (I can’t get no) Satisfaction.

Klammer zu.

Wie geht es der Friseurin, die schon wieder »nur die Spitzen« schneiden soll, zum sechsten Mal an diesem Tag, zum dreißigsten Mal in dieser Woche? Ich glaube, es ist gut, genau hinzusehen, ob überall dort, wo ein »Stillstand«-Stempel vor Langeweile warnt, nicht doch ein Körnchen Prüfung und Herausforderung stecken könnte.

Bei den meisten Erwachsenen gibt es keinen Platz für Langeweile, weil wir jedes Quantum Kraft und Zeit in ökonomisch messbare Werte umwandeln, die wir entweder auf die Karriere, die Haltbarkeit unserer Körper oder den Konsum, na gut, die Familie auch, einzahlen. Schließlich soll in unserer von Globalisierung und Digitalisierung angetriebenen Dienstleistungswirtschaft jede verbrauchte Sekunde lückenlos in einen Wert umgewandelt werden – und wo es keine Lücke mehr gibt, da gibt es auch keine Zeit für ein Verweilen, für Stillstand, für Nichtweitergebrachtwerden. Demnach wird gern all das als langweilig bezeichnet, was nicht in Geld, Besitz und Dividende umgewandelt werden kann.

Doch es geht noch schlimmer.

Vor ein paar Jahren wurde in einer britischen Studie die hässliche Fratze der Langeweile aufgedeckt: Für Erwerbstätige erhöht sich das Risiko eines Herzinfarkts, wenn bei der Arbeit Langeweile verspürt wird, so das Ergebnis der Forschungsgruppe.

Ein Team der Abteilung Epidemiology and Public Health des University College in London hat in einer Langzeitstudie 7524 Beamte zwischen 35 und 55 Jahren beobachtet. Erstmals wurden die Beamten Mitte der Achtzigerjahre nach verschiedenen Stufen der Langeweile während ihrer Arbeitszeit befragt. Die, die sich besonders häufig langweilten, waren jüngere und weibliche Erwerbstätige, Menschen, die ihren eigenen Gesundheitszustand als schwach einstuften und zu deren Alltagsleben wenig sportliche Betätigungen gehörten. 25 Jahre später waren einige der Befragten, die angaben, mindestens 40 Prozent ihrer Arbeitszeit gelangweilt zu sein, bereits an den Folgen von Herzerkrankungen verstorben. Prof. Annie Britton und Martin Shipley aus dem Forschungsteam haben in ihrem Bericht über die Studie, Bored to death – Zu Tode gelangweilt –, einen klaren Zusammenhang zwischen frühem Tod und Langeweile im Job hergestellt: Zwar sterben die Menschen nicht an der Langeweile selbst, aber an deren Folgen, die häufig schlechte Angewohnheiten wie exzessives Trinken, Rauchen oder Drogenkonsum sind.

Sollte meine Hausärztin mich vor allzu großer Langeweile warnen? Ist Langeweile in falscher Dosierung eine ähnliche Todesursache wie das legale opiumhaltige Schmerzmittel Oxycodon, das in den USA pro Tag rund 150 Personen ums Leben bringt? Oder ist Langeweile viel mehr ein Indikator für, sagen wir mal, Probleme? Schließlich waren die Menschen in dieser britischen Langzeitstudie bei ihrer Arbeit gelangweilt, etwa von den Aufgaben, die sie zu erledigen hatten. Unter Umständen waren sie unterfordert. Überqualifiziert. Oder überfordert. Unterqualifiziert. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist ihre Langeweile eine Folge dieser Unter-Über-Forderung gewesen. Ein Warnsignal. Ein Schuss vor den Bug, wenn Sie wollen.

Am dritten Tag im Krankenhaus bekam ich eine Zimmernachbarin: Wir lächelten uns ab und zu an, sprachen aber kaum miteinander: Ich konnte kein Russisch, meine Nachbarin kein Deutsch. Ich hatte den Roman von Juli Zeh gerade ausgelesen und lauschte dem Klassikprogramm im Radio. Ob Sergej Rachmaninoff beim Komponieren seines Prélude in cis-Moll gerne das Klavier zertrümmert hätte? Schon die ersten drei Töne klingen wirklich extrem gewaltbereit.

Mir war nicht langweilig. »Na klar«, sagen Sie jetzt, »Sie waren doch auch viel zu krank dafür! Meningitis, Hirnhautentzündung!«

Das stimmt natürlich.

Trotzdem: Mir wurde nicht langweilig – ich habe die Langeweile sehr genossen. Diesen Satz lesen Sie jetzt schon zum zweiten Mal, und vielleicht finden Sie ihn widersprüchlich, deswegen möchte ich ihn erklären: Ich will Sie nicht langweilen mit der Wiederholung desselben Satzes. Ich möchte Sie aber darauf hinweisen, dass es mehrere Arten von Langeweile gibt – willkommene und verhasste, weit verbreitete und ziemlich exklusive. Was ich damit meine? Kommt noch.

Wir verstehen Langeweile als ein »Bringt mich nicht weiter«. Stillstand. Unproduktivsein. Nichtstun. Faulenzen. Und das passt nicht zu unserem Grundverständnis von menschlichem Leben, als einem in Bewegung befindlichen.

»Unsere Natur ist Bewegung, völlige Ruhe ist der Tod.« Das schrieb Blaise Pascal Mitte des 17. Jahrhunderts in seinen Gedanken über die Religion und einige andere Gegenstände, den bekannten Pensées. Pascal war Mathematiker, Schriftsteller und Philosoph – seine Überlegungen zur Langeweile gehören zu den ersten überhaupt zu diesem Thema: Vorher gab es entweder keine Langeweile, oder man schrieb nicht darüber.

Wenn Bewegungslosigkeit – wie Pascal das wohl meinte – Langeweile erzeugt, dann gehört Langeweile immer mal wieder zu den Leiden von Erwerbstätigen (siehe hier); permanent aber bestimmt sie das Leben von Gefängnisinsassen, von Alten und Arbeitslosen: Denn die meisten von ihnen haben nichts zu tun, können eben nichts bewegen, was in unserer Gesellschaft von Wert ist (dieser Wert wird zumeist mit Geld angezeigt). Menschen, die nichts tun dürfen, denen die Freiheit entzogen wird, selbst eine Beschäftigung zu wählen, diese Menschen werden mit Stillstand bestraft – das ist wohl eine Intention unseres Rechtssystems: Sie sollen hübsch nachdenken und ihre Fehler einsehen, während sie eine »Auszeit« verpasst kriegen. Mit dem Gesicht zur Wand. Ach nein, das macht man ja heute nicht mehr. Dass der Weg zurück in die Gesellschaft über gelenkte Bewegung gleich Arbeit führt, wird in vielen Justizvollzugsanstalten praktiziert.

Im Konzept des offenen Vollzugs der Justizvollzugsanstalt (JVA) Bremen wird betont, dass »Versorgung und Sicherung« der Gefangenen eine hintergründige Rolle einnehmen verglichen mit einer »möglichst großen Außenorientierung« und einem »freien Beschäftigungsverhältnis bei einem externen Arbeitgeber«. Es besteht hier Arbeitspflicht, um »die Gefangenen an ein strukturiertes Arbeitsleben heranzuführen«. Wer keine externe Arbeit hat oder findet, wird beim offenen Werkhof der JVAJVA