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Elke Pupke

Schatten überm

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Achterland

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Dieses Buch ist den Usedomern gewidmet,

die sich das Motto »Wir lieben unsere Gäste«

auf die Fahnen geschrieben haben,

was diese ihnen aber nicht immer leicht machen.

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Epilog

Prolog

Ich bin ein Mörder!

Gut, dann ist das so. Ich kann damit leben – du nicht.

Eigentlich fühle ich mich eher wie ein Ordnungshüter. Ich habe nur getan, was nötig war. Etwas in Ordnung gebracht.

Schön hast du hier in Ententeich gelebt. So eine Ruhe, so viel Natur ringsherum, so wenig Zivilisation. Gut, dass du hier nicht mehr störst.

Hier ist der Tod etwas Natürliches, er gehört zum Leben. Der freundliche alte Mann fängt Fische und tötet sie. Der Kater fängt einen Vogel und tötet ihn. Die niedlichen Lämmer, die tollpatschigen Kälber – sie werden den Winter nicht erleben. Ein Lebewesen muss sterben, damit ein anderes leben kann.

Es war deine eigene Schuld, dass du in diesen Kreislauf geraten bist. Du hast mein Leben zerstört, aus reiner Bosheit, aus Egoismus, aus Gedankenlosigkeit. Deshalb habe ich deines beendet. Niemandem fehlst du. Die Welt ist besser ohne dich.

Dieses Idyll am Achterwasser ist noch genauso schön wie vorher. Das Wasser glitzert zwischen den Bäumen warm und freundlich. Es ist flach und harmlos. Als es dein Leben genommen hat, war es dunkel und kalt.

Das Haus deiner Schwester, dein Elternhaus, passt besser in die Landschaft, mit seinem tief herabgezogenen, etwas schadhaften Rohrdach. Deines wirkt noch immer wie ein Fremdkörper. Das Dach ist zu rot. Die Fenster sind zu groß und zu sauber. Ich habe es nie gemocht. Seit du aber nicht mehr darin wohnst, gefällt es mir etwas besser.

Warum habt ihr eigentlich eine Mauer über das Grundstück gezogen? Ihr seid doch eine Familie. Ihr wart eine. Du gehörst nun nicht mehr dazu. Das ist gut so. Für alle.

Es ist jetzt so still und friedlich hier. Die Vögel zwitschern, die Frösche quaken, manchmal hört man eine Kuh oder das Wiehern eines Pferdes aus der Ferne.

1

Olga Bradhering hasst Touristen von ganzem Herzen. Der Anblick von sandfarbenen Jacken und Hosen zwischen frischfrisierten Köpfen und Gesundheitslatschen ist ihr zutiefst zuwider und sie verabscheut jede Form der deutschen Sprache, die vom klaren pommerschen Hochdeutsch abweicht. An sie gerichtete Fragen empfindet sie als Belästigung und ignoriert sie weitgehend. Sie spricht überhaupt nicht gern, und wenn dann nur in kurzen Sätzen, um zu informieren, nicht um zu reden.

Das alles wäre völlig in Ordnung und könnte leicht als pommersche Introvertiertheit durchgehen, wenn sie nicht gerade Gästeführerin auf Usedom wäre.

Eine Gruppe größtenteils älterer Urlauber hat sich an der Haltestelle vor dem Ahlbecker Rathaus zusammengefunden und betrachtet den Bus, in dessen Frontscheibe ein Schild mit der Aufschrift Usedomrundfahrt steht. Hin und wieder sieht jemand auf die Uhr. Es ist fünf Minuten nach neun, womit schon mal klar ist, dass die für neun Uhr angekündigte Busfahrt nicht pünktlich beginnt.

Vom Café gegenüber beobachtet Olga ihre Gäste. »Preußen«, murmelt sie verächtlich und hofft, dass sich die besonders Unsympathischen, die schon jetzt am Meckern sind, verziehen, um sich irgendwo zu beschweren. Tun sie nicht, also steht sie nach weiteren fünf Minuten widerwillig auf, brummt »Komm Wladimir, wir müssen, die Affen werden ungeduldig« und geht langsam über die Straße.

Die potenziellen Fahrgäste unterbrechen ihre Diskussion, ob die Fahrt denn nun stattfindet. Sie blicken einer Dame entgegen, die auf sie zusteuert und nicht so aussieht, als wolle sie an einer Gruppenfahrt teilnehmen. Sie würde eher auf eine englische Teaparty passen, und bei näherer Betrachtung ähnelt sie sogar verblüffend stark einer englischen Lady, so wie die vor etwa fünfzig Jahren ausgesehen haben mag. Nur etwas voller scheint sie zu sein. Das Tweedkostüm, das sie trotz der Hitze trägt, spannt über der Brust und zwischen dem wadenlangen Rock und den derben braunen Halbschuhen sind kräftige Beine zu erkennen. Ein kecker kleiner Hut auf der steifen grauen Dauerwelle vervollständigt das Erscheinungsbild. Der Hund, der hinter ihr her trottet, enttäuscht allerdings. Es ist nicht etwa ein gepflegter, munterer Corgi, sondern ein äußerst missmutig aussehender Mischling, mittelgroß, mit zottigem, schmutziggrauem Fell, einer spitzen Schnauze und deutlichem Übergewicht. Außerdem scheint er zu schielen, was ihm ein angriffslustiges Aussehen verleiht.

Das ungleiche Paar bleibt direkt vor dem Bus stehen. »Wollen Sie auch mitfahren?«, bricht ein älterer Herr das Schweigen.

»Ja. Haben Sie was dagegen?«

»Nein, natürlich nicht. Ich glaube nur nicht, dass der Hund mitdarf«, unkt der Mann und tritt vorsichtshalber einen Schritt zur Seite, als dieser an seiner Hose schnüffelt.

»Der darf«, versichert die Dame und öffnet ihr Handtäschchen, um die Fahrzeugschlüssel herauszunehmen.

Das Einsteigen verläuft weitgehend ruhig. Die Gäste zeigen ihre Fahrscheine vor, die sie in der Kurverwaltung erworben haben, Olga wirft einen finsteren Blick darauf und nickt hin und wieder schweigend.

»Die Fahrt sollte aber schon um neun beginnen«, beschwert sich ein elegant gekleideter Mann, »es ist jetzt neun Uhr einundzwanzig.«

›Lehrer‹, denkt Olga und sieht ihn erstaunt an. »Tatsächlich? Mir wurde gesagt, 9.30 Uhr geht es los. Na ja, in der Kurverwaltung sitzen eben lauter Beamte, die bringen immer alles durcheinander.«

»Ähm«, eine Frau deutet mit dem Finger auf den Hund, der in der ersten Sitzreihe direkt hinter der Fahrerin thront, »könnten Sie das Tier dort bitte wegnehmen. Ich kann nur in der ersten Reihe sitzen, sonst wird mir übel.«

»Geht ihm genauso«, erwidert Olga freundlich. »Der kotzt mir den ganzen Bus voll, wenn der woanders sitzt. Sie könnten sich ja vielleicht neben ihn … nein? Auch gut, auf Wiedersehen!«

Sie schließt die Türen, startet den Motor, steht dann aber doch noch einmal auf, mustert die Insassen mit strengem Blick, zählt sie und vergisst die Zahl gleich wieder. Das passiert ihr jedes Mal, und trotzdem sind die Gäste, soviel sie weiß, immer wieder alle mit zurückgekommen. Wenn nicht, ist es ihr auch egal.

Sie biegt sich das Mikrofon vor den Mund, sagt ihren Namen hinein und gleich noch ein paar Daten hinterher, die die Ahlbecker Geschichte betreffen. Während der Bus in südlicher Richtung bergauf fährt, träumt Olga mal wieder von einer Tätigkeit, bei der sie nichts mit Menschen zu tun hat. Schäferin zum Beispiel, das wäre ein Traumjob.

Als sie den Wolgastsee im Rückspiegel sieht, fällt ihr ein, dass sie zu dem eigentlich was hätte sagen sollen. Ach was, zu spät.

»Das ist das Thurbruch«, erklärt sie fünf Minuten später, fügt erneut ein paar Zahlen hinzu und verfällt sofort wieder in Schweigen, als sie eine Stimme aus dem hinteren Teil des Busses hört. Sollen die sich doch unterhalten, sie ist schließlich ein höflicher Mensch und wird nicht dazwischenreden.

Nach einer Weile biegt sie ohne weitere Erklärungen von der Bundesstraße ab. »Zweiradmuseum«, liest sie von einem Schild ab und fügt hinzu, »sind aber auch Autos da, und Busse und so. Alles aus der DDR. Auch der Honecker-Bus.«

Nach dieser ausführlichen Erläuterung hat sie sich etwas Ruhe verdient. Bemerkungen zum Wisentgehege erspart sie sich, weiß schließlich jeder, wie die Viecher aussehen, sind auch sowieso nicht typisch für Usedom. Dafür: »Links ist das Oderhaff, darin verläuft die deutsch-polnische Grenze.«

So, das muss erst einmal reichen. In Stolpe steht ein Schloss, das ist frisch restauriert, enthält Museumsräume wie beispielsweise das Schlafzimmer der Gräfin Freda samt erstaunlich modernem Bad, ein paar alte Bilder, Möbel und Landkarten. Das verschafft Olga eine Pause.

»Eine Stunde Aufenthalt«, verkündet sie, »um elf geht es weiter.«

Als die Gäste den Bus verlassen haben, seufzt sie erleichtert, holt einen Krimi aus der Handtasche und verzieht sich damit auf eine hintere Sitzbank, wo sie von außen nicht gesehen werden kann.

Fünf Minuten nach elf öffnet sie die Türen wieder, teilt dem Mann, den sie der Lehrertätigkeit verdächtigt, mit, dass seine Uhr vorgeht und fährt weiter. Zählen erspart sie sich, da sie sowieso nicht mehr weiß, wie viele Gäste sie mit hierhergebracht hat. ›Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben‹, denkt sie. ›Es wird ja wohl auch irgendwann ein Linienbus fahren.‹

Die Leute sind noch damit beschäftigt, ihre Eindrücke über das Schloss auszutauschen, und so fühlt Olga sich wieder zum Schweigen verurteilt. Aber hier gibt es sowieso nicht viel zu sehen. Felder, Wiesen, dann die Mellenthiner Heide.

›Försterin‹, denkt Olga, ›Försterin wäre auch ein schöner Beruf‹. Sie blickt auf den Wald links und rechts der Straße und träumt sich in die Stille zwischen hohen Kiefern und frischem Buchengrün.

»Ach ja, wir sind jetzt in der Stadt Usedom«, fällt ihr gerade noch ein, als sie vor dem Stadttor hält. »Sie haben eine Stunde Zeit, um sich die Stadt anzusehen. Die Kirche und so.« Was »und so« ist, weiß Olga auch nicht, aber das werden die schon merken. Als die Fahrgäste zurückkommen, hat sie den Krimi fast durch.

Inzwischen ist es Zeit für eine Mittagspause. »Wir fahren jetzt in den Lieper Winkel. Das ruhigste Gebiet der Insel, dünn besiedelt, wenig Tourismus, dafür viel Natur. Direkt am Achterwasser gibt es eine kleine Gaststätte, ganz frischer Fisch, sehr preiswert. Da machen wir Mittag.«

»Kenn ich«, verkündet eine Stimme aus dem Hintergrund. »Frisch geräucherte Forelle gibt es da und Zander, da legst du dich rein. Und die Fischbrötchen – einfach super. Gute Idee, dahin zu fahren.«

›Du ahnst noch gar nicht, wie gut meine Ideen sind‹, freut sich Olga und lächelt freundlich, was aber niemand sonst sehen kann.

»Hey! Wir sind gerade an der Fischräucherei vorbeigefahren!« Jetzt klingt die Stimme empört.

»Ach, die meinen Sie! Nein, hier ist es viel zu überlaufen. Zu dieser Jahreszeit kriegen wir hier doch niemals Platz. Außerdem ist es teuer. Touristenhochburg eben, jeder Usedom-Urlauber fährt hierher zum Fischessen. Nein, wir fahren direkt zu einem Fischer, ganz abgelegen, da kommen Fremde überhaupt nicht hin. Ist ein echter Geheimtipp!«

Nach dieser für Olgas Verhältnisse wortreichen Ansage geht es weiter: durch ein Dorf, dann zwischen Wiesen und Feldern, wieder ein Dorf. Danach ist die Straße zu Ende, es gibt nur noch einen Feldweg. Die Landschaft strahlt eine wunderbare Ruhe aus. Der Raps ist schon verblüht, aber die Kornfelder sind geradezu verschwenderisch mit Mohn- und Kornblumen durchsetzt. Ein Storch schreitet über die Wiese, an einem Graben stehen Fischreiher.

»Kraniche«, behauptet ein Gast, aber Olga hat keine Lust, ihn zu korrigieren. Wenn jemand die zwei Rehe am Waldrand als Elefanten bezeichnet hätte – sie hätte zustimmend genickt. ›Der Gast ist König, sollen sie doch denken, was sie wollen, ich bin schließlich keine Lehrerin.‹

Sie fährt unwillkürlich etwas langsamer, als dicht neben dem Bus ein Seeadler aufsteigt. Am hellen Kopf und dem weißen Schwanz erkennt sie, dass der Vogel älter als fünf Jahre ist, er muss eine Flügelspannweite von über zwei Metern haben. Ein atemberaubend schöner, majestätischer Anblick, sie denkt gar nicht daran, diesen mit ihren ignoranten Gästen zu teilen.

Die sind außerdem beschäftigt, sie beobachten einen kleinen Schwarm Vögel, die sie für Kormorane halten, und streiten sich, ob diese unter Naturschutz stehen.

Jetzt belästigen sie Olga auch noch mit ihrer penetranten Besserwisserei. »Werden die hier abgeschossen?«

»Nein. Warum?«

»Weil die doch den ganzen Fisch wegfressen! Jedes von diesen Dingern frisst mindestens ein Kilo pro Tag!«

Olga könnte ihnen erklären, dass selbst Kormorane höchstens die Hälfte schaffen und die Krähen, die über ihnen fliegen, überhaupt keinen Fisch fressen, aber sie lässt es.

»Sollen sie doch«, bemerkt sie stattdessen friedlich, »gibt ja genug.«

An einer Weggabelung hält sie den Bus an. »Hoppla, was ist das denn?«, zeigt sie sich erstaunt und lässt den Insassen Zeit, sich das Schild mit der etwas dilettantischen Aufschrift Umleitung genau anzusehen.

»Ja, das weiß ich nun auch nicht, was das ist. Der gesperrte Weg führt genau zu dem Fischer, zu dem wir wollen. Da müssen wir wohl einen Umweg fahren. Na hoffentlich komme ich da mit dem Bus überhaupt durch, ich bin da noch nie gewesen. Aber was bleibt uns weiter übrig – umkehren kann ich mit dem Bus hier ja nicht.«

Das sehen die Gäste ein, rechts ist ein Graben und links ein Kornfeld, außerdem muss die Umleitung ja irgendwohin führen.

Wohin, das könnte Olga ihnen genau sagen, wenn sie das wollte, sie ist diesen Weg schon mehr als tausendmal entlanggefahren, mit dem Fahrrad, dann einem Moped, später einem Auto und schließlich mit diesem Bus. In dem Dorf Ententeich, das noch nicht zu sehen ist, aber hinter der nächsten Kurve auftauchen wird, hat sie ihre Kindheit und Jugend verbracht.

Olga ist also nicht sehr überrascht, als zwischen den blühenden Feldern und Wiesen plötzlich ein Dorf auftaucht. »Na, so was«, staunt sie dennoch in das Mikrofon, »hier bin ich ja noch nie gewesen. Das ist aber mal richtig idyllisch.«

Langsam fährt der Bus an den niedrigen, rohrgedeckten Häusern vorbei. Die üppige Blumenpracht in den Vorgärten verdeckt fast die kleinen Fenster, kein Mensch ist zu sehen. Das Dorf hat nur rund einhundert Einwohner und die Hälfte davon sind Kühe. Als das Kopfsteinpflaster endet, fährt Olga in einen Feldweg und stellt den Motor ab.

»Ich muss jetzt erst mal jemanden suchen, der mir sagt, wo es weiter geht«, erklärt sie. »Sie können sich ja inzwischen ein bisschen umgucken. Sehen Sie, da vorn ist das Achterwasser.«

Sie öffnet die Türen und lässt die Meute hinaus, die sich zunächst etwas unsicher umsieht und nicht mehr als drei Schritte vom Bus entfernt.

Der Weg endet hier an einem Koppelzaun, der eine Wiese begrenzt. Große braune Kühe und ein paar Kälber grasen friedlich, ohne sich um die Eindringlinge zu kümmern. Nur eines der Tiere hebt kurz den Kopf, schüttelt ihn missbilligend und muht dumpf. Die Pferde auf der Weide daneben tänzeln nervös, entfernen sich etwas vom Zaun, blicken aber herüber, als wollten sie abwarten, was von dem Besuch zu erwarten ist. Auf einem sanften Hügel, etwas vom Örtchen entfernt, sieht man eine Schafherde.

Auf der anderen Seite des Weges stehen zwei Häuser. Das Grundstück, das sie umgibt, ist weitläufig und sieht vernachlässigt aus. Das Gras zwischen zahlreichen Büschen und Obstbäumen steht hoch, eine windschiefe Pforte führt in einen verwilderten Gemüsegarten. Der Zaun ringsherum, soweit er zwischen dem Dornengestrüpp zu erkennen ist, besteht aus rostigem Maschendraht. Eine niedrige Feldsteinmauer teilt das Ganze in zwei Hälften, auf jeder steht ein Haus. Das linke ist etwas breiter, aber niedriger, es scheint das ältere zu sein. Das große Rohrdach ist stellenweise bemoost und sieht schadhaft aus. Das rechte Haus ist ein typischer Bau aus den Sechzigerjahren mit rotem Ziegeldach und großen Fenstern. An der Rückseite wird das Grundstück durch Schilfrohr und kleinen Bäumen begrenzt, ein Holzsteg führt in das Achterwasser, das in der Sonne glitzert.

»Die Rohrdächer sind typisch für diese Region«, beginnt Olga, wird aber sofort von einem streng blickenden Herrn unterbrochen: »Das heißt ›Reetdächer‹ und die sind typisch für den ganzen Norden, auf Sylt gibt es genau die gleichen!«

Olga atmet tief ein und strafft die Schultern, aber dann überlegt sie es sich, grummelt nur »Na dann …« und wendet sich ab. Es ist kein guter Zeitpunkt, mit den Gästen einen Streit anzufangen.

Zufällig kommt eine alte Frau aus der niedrigen Tür des linken Hauses. Sie trägt trotz der Wärme ein Kopftuch, einen langärmligen Pullover unter der Kittelschürze und Wollsocken in Holzpantoffeln. Nur die große Sonnenbrille, die das halbe Gesicht verdeckt, passt nicht so ganz zum Gesamtbild. Auf einen Stock gestützt, humpelt sie mühsam zum Gartentor.

Olga spricht kurz mit der Frau, dann dreht sie sich zu ihren Gästen um, die langsam nähergekommen sind.

»Das ist Alma, sie wohnt hier. Sie sagt, zu dem Fischer kommen wir heute nicht, die Straße ist gesperrt. Und hier geht es auch nicht weiter, jedenfalls nicht mit dem Bus. Ich schlage vor, wir legen eine kleine Pause ein. Kaffee habe ich im Bus, außerdem mache ich ein Drei-Gänge-Menü: Bockwurst, Senf und Brot. Ist doch mal was anderes, viel schöner als in einer Gaststätte, und billiger.«

Die alte Frau sagt etwas und Olga zeigt sich begeistert. »Na, das ist doch mal ein Angebot! Alma hat selbst gemachten Saft und sogar Wein, den bietet sie uns an. Kostenlos, aus reiner Gastfreundschaft.«

Als Alma wieder im Haus verschwindet, fügt Olga hinzu: »Aber ich glaube, das können wir nicht annehmen. Sehen Sie sich doch mal das Haus an, das fällt ja fast zusammen. Die Frau freut sich sicher über jeden Euro.«

Das sehen die Gäste ebenso. Ihre Gastgeberin muss mehrmals ins Haus humpeln, um Nachschub zu holen und ihre Kittelschürzentasche auszuleeren.

Die Fremden haben sich inzwischen etwas verteilt, einige stehen vor dem Nachbarhaus um einen alten Gartentisch herum, auf dem ebenfalls Saft und Marmelade, außerdem Kirschen, Erdbeeren, frische Eier und eine Geldkassette stehen.

»Wer kauft das denn?«, fragt jemand. »Ich denke, hier kommt nie jemand her, weil es keine Straße gibt.«

»Ja, ja«, bestätigt Alma mit zittriger Altweiberstimme, die auf einmal hinter der Gruppe steht, »nur Wanderer und Radfahrer kommen manchmal. Nicht viele. Meistens kommt auch gar keiner, dann räumt meine Nachbarin abends alles wieder rein. Aber was soll sie machen? Ist ein ganz armes Luder. Sie hat ja nur eine ganz kleine Rente. Zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Ihr Mann war Fischer hier auf dem Achterwasser. Viel hat er sowieso nicht mehr gefangen in den letzten Jahren. Gerade so, dass sie immer Fisch zu essen hatten. Und ich habe ihr auch manchmal einen abgekauft, obwohl ich ja selbst nichts habe. Na ja, man hilft sich eben gegenseitig so gut es geht. Ja, aber nun ist er letzten Winter ertrunken. Hätte nicht rausfahren sollen, bei dem Sturm. Aber sie hatten wohl gar nichts mehr zu essen. Arme Frau!« Sie seufzt tief. »Und sie hat auch noch ihre Schwiegermutter, die sie pflegen muss. Die braucht immer so teure Medikamente. Das ist ein Elend, das sage ich Ihnen!«

Eine Frau hat Tränen in den Augen, als sie zum Haus hinübersieht, eine andere räuspert sich ergriffen, ansonsten herrscht tiefes Schweigen. Im Garten sieht man eine Person in einem alten Korbstuhl sitzen und auf das Wasser blicken. Sie ist ganz in eine Decke gehüllt, nur ein Schopf grauer Haare ist zu erkennen. Im Erdgeschoss des Hauses wird ein Fenster geöffnet, man sieht kurz eine weibliche Gestalt, dann wird die Gardine zugezogen. Verblüfft kneift Olga die Augen zusammen und versucht, die Person im Korbsessel zu erkennen.

Alma ist zwischen den Gästen verschwunden, sie preist ihren Schlehenwein an. »Sie können sich auch gern eine Flasche mitnehmen, aber viel habe ich nicht mehr. – Nein, das ist doch nicht nötig, so viel ist der Wein ja gar nicht wert. Ist doch alles nur Natur. Das wächst mir ja direkt ins Haus. – Ach, was für gute Menschen ihr doch seid, da kann ich mir diesen Winter ja neue Stiefel kaufen. – Danke, danke, vielen Dank!«

»So, das reicht jetzt«, sagt Olga leise und fügt laut hinzu, »wir wollen dann auch weiter. Ich helfe Ihnen noch, die leeren Flaschen ins Haus zu bringen.«

»Aber das ist doch nicht nötig, junge Frau, ich habe doch Zeit …«

»Rein!«, zischt Olga und gibt der Alten unauffällig einen Stoß in die Seite.

Im Haus reißt die Frau sich das Tuch vom Kopf. »Das hat sich ja gelohnt heute. Aber du hättest ruhig noch ein bisschen warten können, ich hab noch ein paar Flaschen Wein da.«

»Sag mal«, unterbricht Olga ihre Tante Alexa, »wer ist denn da drüben bei Eileen? Ich dachte erst, sie gluckt da im Sessel, aber sie war am Fenster.«

»Ja du, frag mich was Leichteres! Die ist am Sonntag hier aufgetaucht. Eileen kennt sie wohl von früher von der Arbeit und hat sie aufgenommen, hat ja Platz genug. Allerdings quatscht die den ganzen Tag, es ist nicht auszuhalten. Die hat einen Dialekt, dafür kannst du Schmerzensgeld verlangen. Ich bin mir sicher, wenn die da sitzt, brabbelt sie auch vor sich hin. Wir sollten die Leute nicht so nah an sie heranlassen. Sie redet übrigens auch mit der Katze, die ist schon ganz verwirrt von dem Gemautsche.«

»Was ist dabei? Ich rede auch mit Wladimir.«

»Solange der nicht mit dir redet, ist das in Ordnung. Ich rede auch mit den Hunden. Sind ja mehr so Selbstgespräche, aber wenn ein Tier dabei ist, merken die Leute nicht gleich, dass du einen an der Waffel hast. So, hier hast du zwanzig Euro, ist das in Ordnung?«

»Ja, klar«, Olga dreht sich an der Tür noch einmal um, »aber wenn du schon den Apfelsaft aus dem Aldi holst, nimm nächstes Mal den naturtrüben, der sieht mehr nach selbst gemacht aus.«

2

Olgas Lebensgefährte Tammes könnte der Bruder von Wladimir sein. Er ist ebenfalls stark übergewichtig, hat genauso struppige, graue Haare, schielt manchmal und er ist fast genauso faul. Nur die spitze Schnauze fehlt.

Er sitzt den ganzen Tag auf Olgas Couch, vor ihrem Fernseher, verpestet die Wohnung mit billigen polnischen Zigaretten und isst ihren Kühlschrank leer. Das Einzige, was er selbst zum Haushalt beisteuert, sind die Miete und alkoholische Getränke.

Olga kann es sich nicht leisten, ihn hinauszuwerfen, aber sie spart darauf. Das ist ihr Antrieb, sich mit den Fahrten herumzuärgern. Wenn sie mal wieder so richtig die Nase voll hat von ihren Fahrgästen und frustriert nach Hause kommt, muss sie nur Tammes auf der Couch ansehen, dann ist sie wieder voll motiviert.

Er selbst merkt nichts davon, oder, was noch wahrscheinlicher ist, es ist ihm egal. Auch heute grinst er sie freundlich an, als sie hereinkommt. Er nimmt noch einen Schluck Bier aus der Flasche und streichelt Wladimir, der sich so offensichtlich erschöpft neben ihn auf die Couch schmeißt, als wäre er den ganzen Tag hindurch hinter dem Bus hergelaufen, anstatt in der ersten Reihe mitzufahren.

»Olga, mein Stern, du siehst so bescheuert aus! – Was soll diese Kostümierung eigentlich?«

Sie hat ihm nie erzählt, dass sie vor allem in ihrem Heimatdorf nicht erkannt werden will.

»Ich trenne eben Dienst und Privatleben, ganz einfach.«

»Ich glaub ja eher, dich soll keiner erkennen, wenn du im Bus sitzt oder mit den Leuten durch die Gegend rennst und dummes Zeug redest.«

»Dummes Zeug hast du geredet. Was ich sage, ist zwar nicht viel, aber es stimmt wenigstens – meistens.«

»Ob es stimmt oder nicht, ist doch egal. Es muss den Leuten Spaß machen, was du erzählst. Du musst sie unterhalten, dafür bezahlen sie.«

»Wenn du so schlau bist, dann mach es doch selbst!«

»Du weißt, mein Liebling, wie gern ich das würde, aber ich darf ja leider nicht.«

»Du darfst nicht fahren, reden darfst du schon.«

»Aber ich kann doch nicht neben dir sitzen und dir beim Fahren zusehen. Das ertrage ich nicht. Irgendwann stoße ich dich beiseite und sitze wieder selbst am Lenkrad. Und was dann passiert, weißt du ja.«

Tammes trinkt zufrieden einen weiteren Schluck Bier, steckt sich eine Zigarette an und wendet sich wieder dem Fernseher zu. Wladimir ist eingeschlafen.

Olga nimmt die Perücke ab und schüttelt den Kopf. Dann wirft sie ihrem Lebensgefährten einen verächtlichen Blick zu, bevor sie duschen geht. Nachdem sie die Schminke entfernt hat, wirkt sie zehn Jahre jünger. Passend zu den kurzen rotblonden Haaren zieren ein paar Sommersprossen die Stupsnase. Wimpern und Augenbrauen sind beinahe farblos, was die hellblauen Augen betont. Sie trocknet die Haare mit einem Handtuch ab und zieht Jeans und T-Shirt an. Keiner der Touristen, die in ihrem Bus saßen, würde sie jetzt erkennen.

Olga überlegt, wie sie nur in diese Situation geraten konnte. Begonnen hat es an dem unseligen Tag, als sie zum Ahlbecker Karneval ging und Tammes begegnete. Er war als Pirat verkleidet und sah viel besser aus als ohne Kostüm. Durch die Augenklappe merkte man nicht, dass er auf dem linken Auge schielt und die Haare hielt Olga zunächst für eine Perücke.

Sie arbeitete damals als Kassiererin in einem Supermarkt, wo sie wegen Unfreundlichkeit den Kunden gegenüber kurz vor der Entlassung stand, was sie aber nicht weiter störte, sie hasste diesen Job.

Tammes machte damals genau das, was Olga jetzt tut. Er fuhr mit seinem eigenen Bus die Gäste über die Insel. Das Erzählen lag ihm, allerdings konnte er sich keine Zahlen merken, weswegen er sich ein Buch vor das Lenkrad legte und draus vorlas, was ihn und seine Fahrgäste in einige gefährliche Situationen brachte und dann von der Polizei ausdrücklich verboten wurde.

Es gelang ihm, mithilfe von reichlich Alkohol, Olga zu überreden, als Reiseleiterin bei ihm mitzufahren. Dann könnte er das richtig professionell machen und würde auch Aufträge von der Kurverwaltung bekommen. Lernen brauche sie nicht viel, er habe ja sein Buch, da steht alles drin, was die Gäste wissen wollen, daraus könne sie einfach vorlesen. Olga erkannte sofort den Vorteil, dass die Leute, mit denen sie zu tun bekam, die meiste Zeit hinter ihr sitzen würden. Sie musste sie also nicht ansehen und sie konnten auch nicht viele Fragen stellen.

Das ging zwei Jahre lang recht gut. Da Tammes dazu neigte, betrunken Auto zu fahren, musste er zeitweise den Führerschein abgeben und Olga erwarb den nötigen Nachweis, um im Notfall selbst den Bus zu fahren.

Dieser trat ein, als ihr Freund mal wieder volltrunken von der Polizei angehalten wurde. Er ist ein freundlicher Mensch, und auch sehr optimistisch. Deshalb befand er sich in dem Glauben, die würden schon nicht merken, dass er drei Tage beim Karneval durchgesoffen hatte. Er wollte sich also nett mit den Uniformierten unterhalten und um Verständnis für die kleine Bierfahne werben – es ist schließlich Karneval – und es sind ja auch nur Menschen, man kann doch mit denen reden.

Zu dem Zweck machte er den Fehler, aus dem Auto zu steigen, denn sie standen an einem Berg und er hatte die Handbremse nicht angezogen. Es rumste ziemlich, als sein großer, alter Wagen auf das Polizeiauto hinter ihm traf.

»Seid ihr mir jetzt hinten rauf gefahren?«, fragte er verdutzt, aber durchaus bereit, ihnen diesen kleinen Unfall zu verzeihen. Diesmal wurde sein Führerschein für sehr lange Zeit eingezogen.

Seitdem ist für ihn der anstrengendste Teil des Tages beendet, wenn er morgens angezogen auf dem Sofa sitzt. In regelmäßigen Abständen gerät Olga in Wut, wenn sie frustriert nach Hause kommt und ihn grinsend dort vorfindet. Dann versucht sie, ihn hinauszuwerfen, was aber daran scheitert, dass die Wohnung ihm gehört und das Sozialamt für ihn die Miete bezahlt. Sie tröstet sich damit, dass sie eines Tages genug gespart hat, um ihm den blöden Bus abzukaufen oder einen anderen Job findet, in dem sie ebenso viel Geld verdient. Dann wird sie ihn umgehend verlassen.

»Und den Hund nehme ich mit«, murmelt sie rachsüchtig, während sie mit einem Kaffee ins Wohnzimmer geht.

»Was hast du gesagt?«

»Ich hab gesagt, du sollst mit dem Hund Gassi gehen.«

Tammes sieht kurz vom Bildschirm auf Wladimir und stellt fest: »Der will nicht.«

»Der muss. Der ist den ganzen Tag noch nicht draußen gewesen.«

Natürlich erzählt Olga nicht, dass sie fast zwei Stunden in Ententeich gestanden hat, wo der Hund ausreichend Gelegenheit gehabt hätte, alle nötigen Geschäfte zu erledigen. Allerdings hat er sich dort auch nur zwei Meter vom Bus entfernt ins Gras gelegt und darauf gewartet, dass sein Frauchen die Türen öffnet, damit er wieder auf seine bequeme Sitzbank kommt. Er liebt das Busfahren, dabei kann er herrlich schlafen und niemand verlangt von ihm, dass er laufen soll. Nach einer unschönen Operation hat er nämlich festgestellt, dass Fressen die zweitschönste Beschäftigung im Leben eines Hundes ist. Laufen steht bei ihm ganz weit hinten.

Jetzt öffnet er ein Auge, denn er bemerkt, dass sein Herrchen unruhig wird, und er kennt Olgas gereizten Ton. Das hat nichts Gutes zu bedeuten. Und tatsächlich findet er sich zwei Minuten später mit einer Leine am Hals vor der Haustür wieder. Die Leine braucht sein Begleiter nicht, um den Hund am Weglaufen zu hindern, sondern um ihn hinter sich her zu ziehen. Er zerrt ihn bis zum nächsten Kiosk, wo sie sich beide nach dem kräftezehrenden Marsch von fast hundert Metern auf, beziehungsweise unter, einer Bank niederlassen. Tammes gönnt sich ein Bier, Wladimir bekommt ein Eis und schläft ein.

Ein Urlauber bleibt stehen, betrachtet die beiden und fotografiert sie dann mit seinem Smartphone. Vielleicht als Beweis dafür, wie ähnlich sich Hund und Besitzer im Laufe der Zeit werden. Dabei hat er die erstaunlichste Gemeinsamkeit gar nicht bemerkt, da beide die Augen geschlossen haben.

3

Olga schaltet den Fernseher aus, legt die Füße auf den Tisch und schließt ebenfalls die Augen. Von der Straße her hört sie die Autos vorbeirauschen, ein Motorrad knattert, die Sirene eines Krankenwagens heult. Eine Frau schimpft lautstark, dann heult ein Kind. Richtig Ruhe hat man hier nie, es sei denn, man schließt die Fenster. Sie hätte Tammes gar nicht wegschicken müssen, er macht noch am wenigsten Lärm. Eigentlich wird er nie laut, Olga kann tun und sagen, was sie will, er grinst nur freundlich. Sie kann sich einfach nicht mit ihm streiten, auch wenn sie seine innere Ruhe und Ausgeglichenheit zur Weißglut treiben.

›So geht das nicht weiter‹, denkt sie mal wieder, ›das ist doch alles nicht das, was ich will. Tammes nicht und der Job auch nicht. Ich bin jetzt über vierzig, da sollte man eigentlich seinen Platz im Leben gefunden haben. Ich will einfach meine Ruhe haben. Aussteigen sozusagen. Vielleicht sollte ich ins Kloster gehen‹, überlegt sie und muss grinsen, als sie sich selbst in einer Tracht vorstellt. ›Aber da sind eine Menge anderer Nonnen, die mich auch wieder vollquatschen und mir Vorschriften machen. Nein, wenn es schon nicht für eine eigene Insel reicht, sollte es wenigstens ein eigenes kleines Häuschen sein, mit einer hohen Hecke ringsherum. In zehn Jahren‹, nimmt sie sich vor, ›muss ich das geschafft haben! Und bis dahin muss ich eben noch durchhalten – mit Tammes und mit diesen nervigen Touristen.‹

Sie rappelt sich auf, geht ins Schlafzimmer und leert die Taschen ihrer Kostümjacke. Außer dem Zwanziger von Alexa findet sie erstaunlicherweise sogar einiges an Trinkgeld. Dazu kommt der Erlös vom Bockwurstverkauf. Zufrieden wirft sie das Hartgeld in einen Pappbecher, dann kommen die Scheine in einen Briefumschlag, den sie in einen Roman von Günter Grass legt. Das Buch stellt sie wieder ins Regal. Früher hat sie das Geld zwischen ihrer Unterwäsche versteckt, aber da könnte Tammes mal seine große Nase reinstecken, befürchtet sie. Jedenfalls eher als in ein Buch. Nicht, dass sie annimmt, ihr Lebensgefährte könnte sie bestehlen, aber er muss nicht alles wissen. Olga hat gern ihre Geheimnisse.

Außerdem rechnet sie ständig mit einem Einbruch. Im Frühjahr waren sie und Tammes für ein paar Tage in Ententeich, um ihren Tanten zu helfen. Eileen war so stark erkältet, dass sie im Bett bleiben musste, und Alexa hatte sich natürlich angesteckt und brauchte selbst Pflege.

Als sie in ihre Wohnung zurückkamen, stellte Olga fest, dass dort eingebrochen wurde. Seltsamerweise fehlte nichts, es war auf den ersten Blick nicht einmal unordentlicher als sonst, aber Olga war sich ganz sicher, dass alle Schränke durchwühlt und sogar die Bücher aus dem Regal genommen und in falscher Reihenfolge wieder hineingestellt wurden. Tammes schüttelte nur zweifelnd den Kopf und nuschelte etwas von »seltsamen Einbrechern, die vergessen, zu klauen«.

4

In Ententeich hat Alexa ebenfalls ihr Geld gezählt und auch sie ist zufrieden. Allmählich füllt sich das Sparschwein für die Dacherneuerung. Sie summt vergnügt vor sich hin und stellt das Radio lauter, während sie leere Saft- und Obstweinflaschen in einen Müllbeutel wirft. Dann kontrolliert sie ihre Bestände. Der Apfelsaft ist schon wieder fast alle. Sie könnte ihn natürlich auch von den Frauen im Dorf kaufen, oder sogar selbst herstellen, Äpfel gibt es hier mehr als genug. Aber der Saft aus dem Aldi ist nun mal billiger und macht keine Arbeit.

Neue Flaschen und Gläser benötigt sie auch, sie kann das Zeug ja schlecht in den Originalflaschen verkaufen. Die Glasware ist sogar meist teurer als der Inhalt.

Alexa trägt inzwischen löchrige Jeans und ein weißes T-Shirt, hat die immer noch schwarzen, wenn auch inzwischen von einigen grauen Fäden durchzogenen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und sieht damit nicht nur viel jünger als ihr Alter Ego Alma aus, sondern auch jünger, als sie wirklich ist, nämlich 52 Jahre.

Jetzt schleppt sie den blauen Müllsack mit den klappernden Flaschen zum Auto, das wohlweißlich in einem baufälligen Bretterschuppen hinter dem Haus versteckt ist. Dabei wirft sie einen Blick hinüber auf das Nachbargrundstück.

Eileen tritt gerade aus dem Haus und kommt auf die niedrige Mauer zu. Die Frauen haben die für Zwillinge typische Ähnlichkeit. Beide sind klein und zierlich, beide haben blaue Augen, beide waren mal dunkelhaarig. Eileen ist zurzeit blond gefärbt. Auch im Charakter gibt es kaum Unterschiede. Während ihre Nichte Olga eher introvertiert und beinahe menschenscheu ist, sind Alexa und Eileen äußerst lebhaft, lieben Geselligkeit, dröhnende Musik und lautstarken Streit.

Die Idee, die Gäste während der Inselrundfahrt nach Ententeich zu bringen, hatten die Schwestern. Im vergangenen Jahr hatten beide endgültig keine Lust mehr, jeden Tag weit zu fahren, um wenig Geld zu verdienen. Also überlegten sie, wie sie aus der Abgeschiedenheit ihres Dorfes einen Vorteil ziehen könnten. Urlauber aufzunehmen, schien ihnen zu anstrengend, die stellen zu viele Ansprüche und gehen einem auf die Nerven. Aber alle paar Tage würden sie die schon ertragen. Das fiel ihnen ein, als Olga wieder einmal abfällig von ihren Gästen auf den Rundfahrten erzählte. »Die geraten in Ekstase, wenn sie einen Storch sehen. Und die Dörfer finden sie so idyllisch. Sie können nur nicht verstehen, wovon die Menschen hier leben.«

»Und was sagst du?«

»Dass sie alle Sozialhilfe kriegen«, gab Olga zu. »Dann ärgern die sich und sagen ›Alles unser Geld!‹.«

»Schön. Aber du könntest ja auch behaupten, dass wir von den Früchten unserer Arbeit leben. Ackerbau und Viehzucht. Und Fischfang.«

»Richtig«, stimmte Eileen ihrer Schwester zu. »Die halten uns doch sowieso für Steinzeitmenschen.«

»Meinetwegen. Aber was habt ihr davon?«

»Du könntest die hierherbringen, dann können sie sich das ansehen. Ein Freilichtmuseum sozusagen.«

»Und ihr wollt Eintritt nehmen?«

»Na ja, nicht so direkt.«

Eine Flasche Wodka weiter war die Geschäftsidee ausgereift. Wenn das Dorf nicht gerade eingeschneit ist, wird einbis dreimal wöchentlich das Programm durchgezogen, vom Umleitungsschild am Wegrand bis zum Storchennest auf dem Dach, in dem ein Plastikstorch sitzt, den Alexa vom Dachboden aus bewegen kann. Die Ausführung variiert, je nach Stimmung der Zwillinge. Wenn sie in Hochform sind, lassen sich beide sehen, so verkleidet, dass selbst Olga sie erst auf den zweiten Blick erkennt, und sie erzählen den Gästen die tollsten Geschichten. Aber oft hat Eileen keine Lust, dann stellt sie nur ihren Obst- und Gemüsestand hin und bleibt im Haus hinter der Gardine.

Die Idee mit den Namen hatte Olga. Sie fand Alexa und Eileen unpassend für alte Bauersfrauen. Deshalb wurde aus Alexa Alma und aus Eileen unter viel Gekicher Else.

Sie haben alle drei ihren Spaß an dem Bauerntheater, besonders Alexa, die sich ansonsten auf dem Dorf langweilt, und es ist eine schöne Nebeneinnahme.

Die anderen Dorfbewohner beobachten das Geschehen misstrauisch, bisher ist aber noch niemand dahintergekommen, dass Olga Bradhering hinter der Maskerade der englischen Lady steckt.

»Na, hat sich wohl gelohnt heute?«, ruft Eileen jetzt hinüber.

»Ja, und bei dir? Haben sie was gekauft?«

»Na ja, ging so. Was sagt Olga? Kommt sie morgen wieder?«

»Wusste sie noch nicht. Sie ruft dann vorher an.«

Eileen ist inzwischen an die Gartenmauer herangetreten und betrachtet missmutig die struppigen Hunde, die scheinbar arglos in der Einfahrt liegen. Sie erkennt genau, dass die drei nur so tun, als würden sie gelangweilt in die Sonne blinzeln, während ihre listigen Blicke das Nachbargrundstück absuchen.

»Sag deinen Mistviechern, sie sollen meine Katzen in Ruhe lassen!«, rät sie ihrer Schwester. »Hansjürgen sitzt schon seit heute Morgen auf dem Birnbaum und traut sich nicht runter.«