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Deutsche Erstausgabe (ePub) Juli 2018

 

© 2018 by Raik Thorstad

 

Verlagsrechte © 2018 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk, Taufkirchen

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

 

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

 

ISBN-13: 978-3-95823-704-9

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de


 

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Klappentext:

 

Buchhalter Julian könnte mit seinem Leben eigentlich ganz zufrieden sein, wenn er nur nicht ständig von seinen Partnern verlassen werden würde. Dabei versteht er überhaupt nicht, warum er keine erfolgreiche Beziehung führen kann. Er würde alles für seinen Partner tun, aber offensichtlich ist es nie genug.

Eines Tages begegnet er auf der Arbeit Lasse, der Julians Welt im Handumdrehen auf den Kopf stellt. Lasse ist laut, direkt, punkig und kümmert sich gleichzeitig aufopferungsvoll um seine Familie, die im schlechtesten Viertel der Stadt wohnt und deren geringstes Problem ernsthafte Geldsorgen sind.

Anfangs noch überfordert, wird Julian schnell klar, dass er helfen muss, vor allem, da er sich zunehmend in Lasse verliebt. Womit er jedoch nicht gerechnet hat: Lasse ist genau der Richtige, um Julian zu zeigen, dass auch er Hilfe braucht. Während ihre Gefühle füreinander immer tiefer werden, wachsen ihnen Probleme über den Kopf, die sie nur gemeinsam bewältigen können.


 

 

Kapitel 1

 

 

»Und? Kommst du zurecht?«

Julian zuckte die Achseln, sodass das zwischen Schulter und Ohr eingeklemmte Telefon gefährlich ins Rutschen geriet. »Klar. Wieso auch nicht?«, erwiderte er, den Blick aus dem Fenster gerichtet, ohne etwas jenseits der streifenfreien Scheiben wahrzunehmen.

Mirko gab einen unbestimmbaren Laut von sich. »Du weißt, warum.«

Julian rieb sich mit den Fingerspitzen über die Nasenwurzel und unterdrückte ein Seufzen. Mirko hatte die letzten zehn Minuten damit verbracht, ihm mühsam die groben Fakten zu Kevins und seiner Trennung aus der Nase zu ziehen. Es gab kaum etwas, über das Julian weniger reden wollte. Aber er hatte sich ja verplappern müssen, als Mirko gefragt hatte, was es Neues gab.

»Mach die Sache nicht größer, als sie ist«, bat er. »Es ist schließlich nicht so, als hätte er sich schon häuslich in meinem Leben eingerichtet. Oder ich mich in seinem. Wir waren ja nur für ein paar Wochen zusammen.« Fünf Wochen und drei Tage. »Also zerbrich du dir nicht den Kopf, sonst bricht Britta mir den Hals.«

Mirko lachte auf – und ließ sich wie erhofft ablenken. »Das würde sie nie tun. Schöne Grüße übrigens. Sie lässt fragen, wann du mal wieder vorbeikommst. Sie hat ein Rezept für irgendeinen ultra-sündigen Nachtisch aufgetan. Angeblich ist da so viel Mascarpone drin, dass sie das Zeug nur dann guten Gewissens machen kann, wenn wir was zu feiern haben.«

Julian senkte den Blick und betrachtete seine Zehen in den weißen Tennissocken. Allein bei der Vorstellung, sich zeitnah in den Wagen zu setzen und vom Ruhrpott bis nach Stuttgart zu düsen, hatte er das Bedürfnis, die Autoschlüssel im Gully zu versenken, ganz aus Versehen natürlich.

Nicht, dass er Mirko und Britta nicht mochte oder etwas dagegen hatte, sie zu besuchen. Aber wie sollte er ihnen erklären, dass er im Augenblick allein sein wollte? Und dass er sich kaum etwas Unangenehmeres vorstellen konnte, als Zeit mit zwei Jungvermählten zu verbringen, die auch sechs Monate nach der Hochzeit noch nicht aus der Honeymoon-Phase raus waren?

»Das wird in nächster Zeit nicht drin sein«, behauptete er. »Wir haben Urlaubssperre in der Abteilung. Keine Ahnung, wann die wieder aufgehoben wird.«

Mirko stutzte nicht einmal. »Wieder Ärger mit der Steuererklärung vom letzten Jahr? Die große Jagd nach den verschwundenen Zahlen?«

Julian presste die Lippen aufeinander, verlegen und erleichtert zugleich. Es war so leicht, Mirko etwas vorzumachen. Es stimmte einfach nicht, dass Zwillinge sich automatisch näher waren als andere Menschen. Dass sie es spürten, wenn der andere in Nöten war oder sich schlecht fühlte. Zumindest Mirko und er hatten diese Art Verbindung nie geteilt, vielleicht, weil sie nicht eineiig waren.

Julian war kein kalter Schauer über den Rücken gelaufen, als Mirko sich vor vielen Jahren auf der Skateboardrampe die Nase gebrochen und das halbe Gesicht abgeschabt hatte. Und anders herum war Mirko von keiner mysteriösen Vorahnung zu den Toiletten gerufen worden, als Julians halbe Klasse versucht hatte, ihn im Schulklo zu ertränken.

Sie waren Brüder, nicht mehr und nicht weniger. Brüder, die sich jederzeit etwas vorspielen konnten.

»Nee, nur ein übler Personalengpass«, spann Julian die Lüge weiter. »Eine Kollegin hat kurzfristig gekündigt, eine andere hatte einen Unfall und wird erst in ein paar Monaten wiederkommen. Dazu noch einer, der mitten in der Chemo steckt«, wenigstens das entsprach der Wahrheit, »und jetzt stehen wir plötzlich mit heruntergelassenen Hosen da.«

»Woah, das klingt wirklich beschissen. Ist ja sowieso schon immer alles so knapp bei euch. Aber hey, die Einladung steht. Ruf einfach durch, sobald du was Näheres sagen kannst, ja? Wir würden uns freuen.«

Julian nickte. »Okay.«

»Und ruf auch an, wenn du was brauchst. Tag und Nacht.«

»Ja-ha.«

»Julian, ich mein's ernst.« Brüderlicher Nachdruck klang in Mirkos Stimme mit.

»Ich auch.« Aber auch das stimmte nicht.

Nachdem sie sich voneinander verabschiedet hatten, ließ Julian sich in den Sessel sinken und starrte blicklos zur Schräge seiner Dachwohnung. Durch das nach Westen gerichtete Fenster fiel ein Rest Abendlicht ins Wohnzimmer und färbte den Stoffbezug der Sitzgruppe gelb.

Er schämte sich. Mirko anzulügen war eins, den Kollegen Unfälle anzudichten und auch noch die Krebserkrankung eines anderen vorzuschieben, etwas ganz anderes. Am schlimmsten aber war, wie leicht es ihm inzwischen fiel, Märchen zu erzählen.

Julian wusste nicht, wann es angefangen hatte. Oder warum. Er wusste nur, dass es ihm zur zweiten Natur geworden war, zu lügen. Wenigstens konnte er guten Gewissens behaupten, dass er es nicht gern tat. Trotzdem konnte er es nicht lassen. Es war so viel leichter, zu einer Notlüge zu greifen, als dem Gegenüber sein kompliziertes, nicht massenkompatibles Innenleben zu erklären.

Wahrscheinlich war Kevin deshalb gegangen. Oder aus einem der anderen zahlreichen Gründe, die sich finden ließen, um Julian zu verlassen. Kevin war schließlich nicht der Erste gewesen und würde mit Sicherheit nicht der Letzte bleiben.

Julian zog die Beine ein und ließ sich zur Seite sinken, bis er halb im Sessel lag. Er verschränkte die Arme vor der Brust, während sich vor seinem inneren Auge die letzte Begegnung zwischen seinem Ex-Freund und ihm wiederholte.

Sie hatten im Flur gestanden, gleich hinter der Eingangstür. Kevin hatte noch seine Arbeitskleidung getragen und die Hände in den grünen Hosen versenkt, während er stockend erklärt hatte, dass er es für besser hielt, wenn sie sich nicht mehr sahen.

Julian hatte nur genickt und ihm alles Gute gewünscht. Mehr hatte er nicht über die Lippen gebracht, die Enttäuschung hatte ihm die Zunge gelähmt.

Vielleicht hätte er fragen sollen, was er falsch gemacht hatte und warum Kevin von einem Tag auf den anderen auf einmal meinte, dass sie nicht zusammenpassten. Aber er hatte sich nicht getraut.

Also war Kevin gegangen, mit einem letzten verlegenen Lächeln und mit einem »Danke für die gute Zeit«, das Julian irgendwie unpassend vorgekommen war. Aber er konnte sich kaum beschweren. Kevin hatte es immerhin geschafft, ein paar höfliche Worte herauszuquetschen, und das war mehr, als er von sich selbst sagen konnte.

Er rollte sich enger zusammen. In seiner Brust pochte ein dumpfer Schmerz, vibrierte an seinen Rippen entlang und verschwand schließlich in dem feurigen Loch, das sein übersäuerter Magen war. Manchmal hatte er das Gefühl, dass es mit jeder Trennung, mit jeder Enttäuschung ein bisschen mehr wehtat. Man sollte meinen, dass man sich an den Schmerz und die Zurückweisung gewöhnte. Dass in der Masse der schlechten Erfahrungen eine gewisse Immunität heranwuchs. Tat es aber nicht. Sein Herz blieb frei von Schwielen und jederzeit angreifbar.

Stattdessen wurden nur die Fragen immer lauter. Was mache ich falsch? Warum gehen alle meine Beziehungen in die Hose? Und wieso kann ich es nicht einfach bleiben lassen und akzeptieren, dass ich kein Beziehungstyp bin?

Nur ein einziges Mal – damals bei Simon, einem gutaussehenden BWL-Studenten, der gern tanzte und ein Faible fürs Kuscheln hatte – hatte er gewagt nachzufragen, warum er abserviert wurde. Die Antwort war ihm monatelang im Kopf herumgespukt. Im Grunde begleitete sie ihn immer noch, obwohl seit ihrer kurzen Affäre mehr als zwei Jahre ins Land gegangen waren.

»Ist das dein Ernst? Ich komm mir bei dir vor wie ein Möbelstück, für das du eigentlich gar keinen Platz hast«, hatte Simon traurig erklärt. »Sieh's ein, Julian. Du bist einfach nicht bereit für was Festes.«

Bis heute hatte Julian nicht herausgefunden, ob an Simons Worten etwas Wahres dran war. Sein erster Impuls war gewesen, den Vorwurf in Grund und Boden zu stampfen. Er sollte nicht bereit sein? Er, der sich bemüht hatte, Simon jeden Wunsch zu erfüllen? Er, der vor jedem Date vor Aufregung zitterte? Er, der es hasste, abends allein ins Bett zu gehen und morgens allein aufzuwachen und sich mit aller Gewalt davon abhalten musste, an seinen Liebhabern zu kleben wie eine Mücke im Ahornsirup?

Doch eines ließ sich nicht leugnen: Es waren nun einmal seine Beziehungen, die reihenweise zerbrachen. Das konnte er kaum Simon ankreiden, der vor ihm praktisch ewig mit seinem letzten Partner zusammen gewesen war. Und er war es auch, der kaum Freunde hatte. Ach, was hieß kaum? Gar keine. Bekannte, ja. Aber Freunde?

Wäre da nicht Mirko gewesen, der irgendwann in ihren frühen Zwanzigern plötzlich eine Art Beschützerinstinkt für Julian entwickelt hatte, hätte nicht einmal jemand gewusst, dass es einen Kevin in seinem Leben gegeben hatte. Oder einen Mehmet. Oder einen Frank. Oder einen Mischa. Oder einen Raphael.

So viele Namen. Und keiner war geblieben.

Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Julian hatte keine Ahnung, was es war. Er wusste nur, dass er seine rechte Hand dafür gegeben hätte, sich zu ändern. Um abends nicht länger in eine leere Wohnung zu kommen. Um jemanden zu haben, der blieb.

 

***

 

Eine Nacht lang traurig zu sein, reicht, erklärte Julian sich stumm, als er am nächsten Morgen den Rückspiegel missbrauchte, um sein Erscheinungsbild zu überprüfen.

Es war Teil seiner morgendlichen Routine, im Auto noch einmal nach Zahnpastaresten und Krümeln im Mundwinkel Ausschau zu halten. Als er noch in der Ausbildung gewesen war, hatte die Dame an der Rezeption ihn einmal auf einen Kaffeefleck auf seinem Hemd aufmerksam machen müssen. Er wäre vor Verlegenheit beinah gestorben. Seitdem machte er immer einen letzten Check-up, bevor er das Firmengebäude betrat.

Dazu passend hing ein sauberes Ersatzhemd auf dem Rücksitz seines Wagens. Julian hatte gerne einen Plan B in der Hinterhand. Für heiße Sommertage, an denen die Klimaanlage ausfiel, für Kollegen, denen die Kaffeetasse über seiner Schulter entglitt, für einen Joghurtbecher, aus dem es beim Öffnen des Deckels herausspritzte. Wenn man sich nur auf alles so gut vorbereiten könnte wie auf ein versautes Hemd.

Kopfschüttelnd spürte er noch einmal dem leisen Schmerz in seiner Herzgegend nach, dann machte er sich auf den Weg in sein Büro.

Die Stimmung im Eingangsbereich des modernen Komplexes war spürbar besser als an anderen Tagen. Die Tatsache, dass Freitag war, und das Nahen des Pfingstwochenendes hellte die Laune der Mitarbeiter auf. Begrüßungen und flapsige Bemerkungen strichen über Julian hinweg, und er fragte sich, ob man ihm ansah, dass er sich wahrscheinlich als Einziger wünschte, dass Montag wäre.

Montag hieße, dass eine ganze Woche schnurgerader Planung vor ihm lag. Früh ins Büro, konzentriert arbeiten, die Zahlen marschieren lassen und als Letzter nach ein bis zwei Überstunden Feierabend machen. Kurz einkaufen, die Hausarbeit erledigen, vielleicht laufen gehen, wenn das Wetter es hergab, duschen, schlafen, von vorn. Ein perfekter Kreislauf.

Wochenenden dagegen waren… unzuverlässig. Lang. Und einsam. Dieses ganz besonders.

Tu. Das. Nicht, ermahnte Julian sich streng, während er sich im Foyer an ein paar Auszubildenden aus dem Verkaufsbereich vorbeischob. Jedenfalls nicht hier. Und nicht jetzt.

Er strebte auf den Fahrstuhl zu, wich aber in letzter Sekunde auf das Treppenhaus aus, als er eine schrecklich vertraute Stimme durch die sich öffnenden Metalltüren trällern hörte. Judith aus der Werbung war schon an normalen Tagen anstrengend. Doch heute fühlte er sich ihr nicht gewachsen. Wenn sie ihm im Fahrstuhl zu nah rückte, wenn sie ihn allzu breit anlächelte und wie zufällig seinen Arm berührte, nur um glockenhell aufzulachen… Er wusste dann nicht, ob er sie für ein vertrauliches Gespräch beiseite nehmen oder wegschubsen sollte. Wahrscheinlich wäre Ersteres richtig gewesen, aber Julian hatte keine Ahnung, wie er es anfangen sollte.

»Entschuldige bitte, ich weiß deine Aufmerksamkeit zu schätzen, aber ich bin wirklich, wirklich sehr und absolut schwul. Und daher ist es auch nicht deine Schuld, wenn ich nicht interessiert bin. Es tut mir ehrlich leid, dass ich nicht hetero für dich sein kann. Denn du bist echt nett. Und eine ganz tolle Frau. Sagte ich schon, dass es mir leidtut? Und seit wann duzen wir uns eigentlich?«

Unmöglich. Vielleicht gab es Männer, die solche Gespräche auf freundlich-tröstende Weise führen konnten. Julian gehörte nicht zu ihnen. Also wich er Judith lieber aus und joggte die fünf Stockwerke nach oben.

Im Büro angekommen, stellte er fest, dass er der Erste war. Das war nicht ungewöhnlich, da die Kollegen, mit denen er den Raum teilte, oft erst einen Kaffee in der Kantine tranken, bevor sie hochkamen.

Julian machte die Runde um die Schreibtische, startete die Computer und verpasste dem Drucker einen warnenden Klaps für den Fall, dass er den Tag wieder einmal zickig beginnen wollte. Erst als alle vier Rechner beruhigend schnurrten, ließ er sich auf seinen Platz fallen und starrte wie jeden Morgen kopfschüttelnd einen Augenblick lang auf die lindgrün getünchte Wand vor seiner Nase. Er konnte nur hoffen, dass die Person, die entschieden hatte, sämtliche Büros der Buchhaltung in Krankenhaus-Pastelltönen zu streichen, niemals auch nur in die Nähe der Designabteilung kam. Sonst wäre die Firma innerhalb einer Kollektion pleite.

In seinem Eingangskorb stapelten sich die ersten Eingaben. Buchhalterische Nüsse, die andere Kollegen ihm zum Knacken vorbeigebracht hatten. Julian lächelte. Er mochte Zahlen. Wer hätte das gedacht, nachdem er im Matheunterricht jahrelang kein Land gesehen hatte? Er liebte es, Ordnung ins Chaos zu bringen. Er liebte sogar den Geruch von frisch ausgedrucktem Papier und das leise Rascheln beim Durchblättern von Aktenordnern.

Sein Ausbilder hatte von Anfang an behauptet, er wäre der geborene Buchhalter. Damals war ihm das nicht unbedingt wie ein Kompliment vorgekommen. Buchhalter waren langweilig. Bilanzen und Geschäftskonten und Buchungen und Belege noch langweiliger. Aber sie waren nachvollziehbar, friedlich und – wenn man sie einmal im Griff hatte – treuer und zuverlässiger als jeder Hund.

Julian loggte sich ins System ein und machte sich an die Arbeit. Er hörte kaum, wie die anderen eintrafen, und erwiderte ihren Morgengruß nur mit einem abwesenden Nicken. Dass ihm jemand einen Kaffee auf den Schreibtisch gestellt hatte, merkte er erst, als ihm der Geruch in die Nase stieg.

Überrascht sah er auf. »Oh, danke schön«, murmelte er in den Raum hinein. Patrick war hinter seinen Schreibtisch abgetaucht, um in seine Bürolatschen zu schlüpfen, aber Julian bemerkte, dass ihre beiden Zimmergenossinnen – Petra und Aische – einen schnellen Blick wechselten und die Augen verdrehten.

Unwillkürlich zog er die Schultern hoch und fragte sich, was er nun schon wieder falsch gemacht hatte. Es passierte ihm oft, dass er nicht recht wusste, wodurch er bestimmte Reaktionen ausgelöst hatte. Meistens waren es nur verstohlene Gesten und Blicke, die er nicht einsortieren konnte. Manchmal hörte er aber auch, wie man ihm auf dem Flur etwas nachzischelte. Es fühlte sich jedes Mal an, als hätte ihn ein giftiger Stachel getroffen. Nicht dick und lang genug, um eine ernsthafte Wunde zu reißen, aber doch eine kleine Stelle, die für den Rest des Tages brannte.

Erst als sich Petra und Aische an ihre Plätze gesetzt hatten, zog Julian den Kaffee zu sich heran. Er war schwarz und schmeckte nach einem halben Löffel Zucker, genau wie er ihn mochte.

 

Die Mittagszeit kam viel zu früh – sowohl gefühlt als auch tatsächlich. Wie jeden Freitag trat der eine oder andere Kollege das Wochenende vorzeitig an und nutzte die Gelegenheit, um ein paar Überstunden abzufeiern. Und als würden alle anderen dem Sog folgen, lag die Arbeitsmoral um zwölf Uhr am Boden. Heerscharen von redseligen Menschen pilgerten durch die Gänge, unfähig, auch nur eine Minute lang den Mund zu halten.

Julian war versucht, mit dem Tacker nach ihnen zu werfen. Aber er hatte nur einen, und es gab so viele verlockende Ziele, dass er sich nicht entscheiden konnte.

»Hey!« Manikürte Finger tauchten schnipsend vor ihm auf. Er sah auf und in Aisches rundes Puppengesicht. »Wir gehen schnell essen. Danach heißt es Endspurt.«

»Okay. Guten Hunger.«

Patrick zog die Nase kraus. »Na, wir werden sehen. Vorhin roch es da unten nach Dingen, die eigentlich in keinen Magen gehören. Nicht mal in den von einem Schwein.«

Julian rang sich ein Lächeln ab. Die Kantine war ein ewiger Kritikpunkt der Belegschaft. Es ging das Gerücht, dass das Essen mit Absicht so mies war. Denn wer nicht aufaß, wurde auch nicht kugelrund. Und wer nicht kugelrund wurde, passte wunderbar in die neue, für Normalsterbliche viel zu schmale Sommerkollektion. Zwar stand nirgendwo festgeschrieben, dass sich die Mitarbeiter im eigenen Haus einkleiden mussten, aber die hohen Personalrabatte verrieten die Absichten der Chefetage.

Julian wehrte sich dagegen, im eigenen Katalog einzukaufen. Der Gedanke, dass einer der Geschäftsführer ihn auf dem Gang darauf ansprach, wie gut ihm Artikel 246581 – Anzug Florentinischer Frühling – in Kombination mit Artikel 778314 – Seidenhemd, petrol – doch stünde, war zu verstörend. Außerdem war er nicht sicher, ob ihm diese Art Anbiederei gefiel. »Sehen Sie nur, Chef, ich habe einen Großteil meines Gehalts gleich wieder in die Firma investiert. Ich bin ein guter Junge.«

Nein, war er nicht. Und wer ein bisschen länger mit ihm zu tun hatte, merkte das auch recht schnell. Zumal er sich die Frage stellte, ob er mit siebenundzwanzig Jahren nicht ein bisschen zu alt war, um irgendjemandes Junge zu sein. Er hatte nichts gegen Kreativität im Bett, aber den Daddy-Kink verstand er beim besten Willen nicht.

Julian wartete, bis die anderen das Zimmer geräumt hatten und das Klicken der hohen Absätze der Frauen auf dem Flur verklungen war. Erst dann lehnte er sich zurück und schloss für einen Moment die Augen. Am liebsten hätte er die Mittagszeit ignoriert. Doch die buchhalterischen Rätsel, die man ihm zum Lösen überlassen hatte, würden noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Es war eine schlechte Idee, schon wieder nichts zu essen.

Nach Trennungen fiel es ihm jedes Mal schwer, etwas zu sich zu nehmen. Das Essen verlor dann auf dem Weg von der Hand – oder von der Gabel – auf seine Zunge jeden Geschmack und wurde im Mund zum reinsten Sägemehl. Nur die Vernunft trieb es am Ende doch rein.

Seitdem er es nach dem abrupten Ende seiner Beziehung zu Mehmet – oder war es Jens gewesen? – geschafft hatte, mehrere Tage lang zu hungern, bis ihm beim Autofahren der Kreislauf weggesackt war, achtete er besser auf sich. Egal, wie frustriert er war: Er wollte nicht am nächsten Laternenpfahl landen.

Julian gab dem Mülleimer unter dem Schreibtisch einen Tritt. Er hasste es. Jedes Mal, wenn etwas in seinem Privatleben schiefging, fielen ihm die ganzen alten Kamellen wieder ein. Dann trauerte er nicht nur um den verlorenen Freund, sondern auch um jeden seiner Vorgänger. Es war, als könnte er nicht einen von ihnen loslassen. Als wären sie noch in seinem Kopf, seinem Herzen oder schlicht in seinem Hormonspeicher vorhanden, wo immer sie sich auch breitgemacht hatten. Sie verfolgten ihn. Manchmal träumte er davon, dass sie ihn umzingelten und ihn alle der Reihe nach verließen, während er sich wie ein Brummkreisel um sich selbst drehte und versuchte, von wenigstens einem die Hand festzuhalten.

In solchen Nächten stand er auf und ging auf den Balkon, um zu rauchen. Wenn die Temperatur es zuließ, blieb er bis zum Morgen, weil sich sein Schlafzimmer zu eng und zu stickig anfühlte. Er war und blieb ein Jammerlappen, und das kotzte ihn an.

Julian zog die Oberlippe hoch und sprang kurzentschlossen auf. Er hatte genug von den finsteren Gedanken. Er würde jetzt etwas essen und dann an die Arbeit zurückkehren. Und heute Abend würde er sich überlegen, wie er das Wochenende herumbrachte, ohne sich das Gehirn zu zerdenken.

Von der Kantine hielt Julian sich trotzdem fern. Schon von Weitem stieg ihm ein unappetitlicher Geruch in die Nase. Er erinnerte vage an Kohl, den man in ausgelassenem Schweineschmalz aufgekocht und hinterher für eine Woche in den Keller gestellt hatte.

Schaudernd zog er sich an den Automaten vor dem Speisesaal eine Flasche Wasser und ein paar Snacks, dann machte er sich auf den Weg zu seinem privaten Rückzugsort. Dafür musste er das Hauptgebäude durch einen der Hinterausgänge verlassen und die Anlieferungsrampen für die LKWs und die Zufahrtsstraße passieren. Dahinter lag inmitten des Firmengeländes ein verlorenes Paradies.

Eine Laune der Bürokratie hatte dafür gesorgt, dass der kleine Flecken Grün inmitten von Asphalt und Stahlbeton bestehen blieb. Angeblich lebte in dem flachen Tümpel im Zentrum des Biotops eine seltene Krötenart, die um jeden Preis geschützt werden musste. Julian hatte bei seinen zahlreichen Besuchen noch nie auch nur einen Kaulquappenschwanz gesehen.

Als er sich durch die Büsche schob, die den schmalen Zugang in das Gehölz verbargen, dachte er, dass er es den Lurchen kaum verübeln konnte, dass sie sich aus dem Staub gemacht hatten. Das Biotop war eine Müllhalde. Immer wieder wurden Kunststoffabfälle aus dem Lager herangeweht. Lastwagenfahrer warfen achtlos ihre leeren Kaffeebecher aus dem Fenster, Plastikreste schwammen auf dem trüben Wasser und im Sommer drohte der Tümpel jedes Mal umzukippen.

Im Grunde war es kein sehr erstrebenswerter Ort, und genau das machte ihn für Julian attraktiv. Niemand verirrte sich hierher. Von der alten Bank unter den Ästen der Trauerweide wusste wahrscheinlich niemand außer ihm und dem Gärtner, der alle paar Monate gelangweilt die Haselsträucher und den wilden Flieder zurückschnitt.

Auf den letzten Metern beschleunigte Julian seine Schritte. Seine Nerven verlangten nach dem Zucker eines Erdnussriegels und einer Zigarette – und nach der Abgeschiedenheit, die ihm einzig eine zerkratzte Parkbank bieten konnte, deren einst rote Sitzfläche vor langer Zeit ausgeblichen war.

Und die heute zum ersten Mal, solange Julian hierherkam, besetzt war.

Er duckte sich gerade unter den Ästen der Trauerweide hindurch, als er den Fremden bemerkte. Durch die Blätter war nicht mehr von ihm zu erkennen als die Arme, die auf der Lehne ausgebreitet waren, und der in schwarzes Leder gekleidete Rücken.

Julian verharrte, einen der lianenartigen Zweige der Weide halb über dem Gesicht. Am liebsten hätte er geflucht. Da gab es einen einzigen Ort im Umkreis von hunderten von Metern, an dem es nicht wimmelte wie in einem Ameisenstaat, und ausgerechnet heute war er von einem anderen Ruhesuchenden entdeckt worden.

Nicht gestern, als Julian angesichts der Vorfreude auf einen Abend mit Kevin gut gelaunt gewesen war, nicht vor einer Woche, als nach tagelangen Regenfällen endlich die Sonne rausgekommen war und seine gute Laune wachgekitzelt hatte. Nein, heute.

Julian erwog, den Rückwärtsgang einzulegen. Aber wohin sollte er gehen? In die nach Kohl riechende Kantine, in der die Stimmung bestimmt nicht zum Besten stand? Wirklich, wenn die Geschäftsleitung sich nicht bald etwas einfallen ließ, würde es eine Meuterei unter der Belegschaft geben, gegen die die auf der Bounty eine Karnevalsveranstaltung gewesen war. Zurück ins Büro, um seine Tastatur vollzukrümeln? Oder sollte er an den Laderampen rumlungern, immer unter den Blicken der Lagerarbeiter, die sich fragten, was einer der Schlipse in ihrem Revier wollte?

Da kann ich mich ja gleich auf der Toilette einschließen und dort essen, dachte er brummig. Und bei aller inneren Unruhe und allem Unbehagen in der Nähe von anderen Menschen: So tief wollte er nicht sinken.

Sobald er unter den Ästen hervortrat, wandte der Fremde den Kopf. Seiner Miene war keine Überraschung zu entnehmen. Er beobachtete Julian, als der sich aufrichtete und an den Stamm der Weide trat, um seinen Aschenbecher aus einer der Astgabeln zu ziehen. Anschließend nahm er auf der Bank Platz, so weit von dem anderen Mann entfernt wie möglich.

Julians Blick war starr auf den Tümpel gerichtet, auf dessen Oberfläche grünlicher Schaum schwamm. Nur aus dem Augenwinkel erlaubte er sich schnell, den Eindringling zu mustern.

Was er sah, gefiel ihm nicht. Der Kerl war noch jung – fünf oder sechs Jahre jünger als er selbst vielleicht –, sah aber schäbig und verbraucht aus. Seine Augen waren rot gerändert und von Linien umrahmt, bei denen Julian nicht sicher war, ob es sich um Schmutz oder verschmierten Kajal handelte. Angesichts des abgewetzten Ledermantels und des Verkehrsunfalls von einem Haarschnitt – ein schwarzgrün gefärbter, hoch angesetzter Pinsel, darunter ein herauswachsender Undercut in Blond – war beides eine Option.

Ohne es zu wollen, sog Julian prüfend die Luft ein, ob ihm vielleicht der Geruch von schalem Bier oder Schweiß in die Nase stieg. Aber er nahm nur etwas Staubiges wahr, das ihn entfernt an den Dachboden seiner Eltern erinnerte, und natürlich den Gestank des Teichs.

Er zwang sich, sich zu entspannen. Auch wenn der Typ wie ein Junkie aussah, musste das nicht heißen, dass er ihm ans Leder wollte. Wahrscheinlich war er nur eine verlorene Seele, die sich auf ihrer Reise in den Abgrund einen Platz zum Ausruhen gesucht hatte. Kein Grund, nervös oder, noch schlimmer, unfreundlich zu sein.

Was hatte ihre Mutter ihnen immer eingebläut? »Man muss nicht jeden mögen, und man muss nicht jeden verstehen. Aber es gibt keinen einzigen guten Grund, von vornherein unfreundlich zu einem Fremden zu sein.«

Julian legte sein karges Mittagessen neben sich auf die Bank und stellte den Aschenbecher auf dem Schoß ab, bevor er nach seinen Zigaretten tastete. Er hatte den silbernen Metallspender schon in der Hand, als eine belustigte Stimme an sein Ohr drang.

»Kommst du zum Kiffen her oder sind das normale Kippen?«

Julian sah ruckartig auf. Der Fremde hatte sich ihm halb zugewandt, die Unterarme locker auf die Oberschenkel gelegt. Etwas schien ihn zu amüsieren. Er grinste so breit, dass man seine schief stehenden, unteren Schneidezähne erkennen konnte. Jeder Kieferchirurg hätte sich vor Freude die Hände gerieben, um diese Fehlstellung beseitigen zu dürfen.

»Kiffen?«, wiederholte Julian ungläubig. Ihm war schleierhaft, wie sein Gegenüber auf einen solchen Unsinn kam. Sah er etwa aus wie jemand, der während der Arbeitszeit stoned war? Oder war der Typ selbst so sehr an Drogen gewöhnt, dass er automatisch davon ausging, dass auch der Rest der Menschheit keine acht Stunden ohne Stoff auskam?

»Hätte ja sein können.« Der schwarzgrüne Pinsel wippte, als der Fremde die Schultern zuckte. »Warum sonst solltest du einen Aschenbecher hier verstecken und in deinem schicken Anzug durch dieses Schlammloch kriechen?«

»Vielleicht, damit ich nicht auf den Boden aschen muss?«, beantwortete Julian brüsk den ersten Teil der Frage.

Im Stillen gestand er sich ein, dass er die Überlegung nachvollziehen konnte – und sofort grübelte er, ob auch andere sich schon gefragt hatten, was er in der Mittagszeit trieb, wenn er auf einmal vom Erdboden verschwand. Oder was die Lagerarbeiter dachten, von denen sicher schon der eine oder andere gesehen hatte, wie er sich in den Busch schlug. War das vielleicht der Grund, warum er manchmal so komisch angeschaut wurde?

»Meinst du, das bringt noch viel?«

»Wie bitte?«

Julian wagte erneut einen Blick zur Seite, während er sich überlegte, ob er nicht besser wieder verschwinden sollte. Es hatte nicht gereicht, dass jemand seinen Geheimplatz entdeckt hatte, wenn er wirklich dringend allein sein musste. Nein, es musste auch noch jemand sein, der auf ihn einquatschte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Ob es sehr unhöflich wäre, um Ruhe zu bitten?

Eine schwielige Hand mit einer Reihe schmaler Silberringe deutete auf das Wasser. »Sieht nicht aus, als wäre bei dem Loch noch viel zu retten, oder?« Der ungesund blutleere Mund verzog sich. »Schon ein bisschen ekelig hier.«

Dann verschwinde doch, wollte Julian sagen. Aber das wäre dann doch zu viel des Guten gewesen.

Stattdessen schwieg er und widmete sich ganz dem Entzünden der Zigarette, als würde er ein immens wichtiges Ritual begehen. In Wirklichkeit wollte er beschäftigt wirken.

»Teilst du?«, fragte der Eindringling, kaum dass Julian den ersten Zug genommen hatte. Verwirrt starrte er auf die Zigarette zwischen seinen Fingern, dann zu der unerwünschten Gesellschaft und wieder zurück.

Erwartete der Kerl ernsthaft, dass er ihm den Glimmstängel rüberreichte? Zwar wirkte er auf den zweiten Blick nicht mehr ganz so schäbig wie noch am Anfang – bei den Rändern um seine Augen handelte es sich tatsächlich um verschmierten Kajal und nicht um Dreck –, aber das ging Julian eindeutig zu weit. Sie kannten sich immerhin gar nicht.

Die gierige Miene des anderen konnte er trotzdem nicht ignorieren. Stumm zog er die Packung wieder hervor und bot sie dem Fremden an, der erst überrascht wirkte, aber dann zugriff – mit einem Lächeln und einem herzlichen »Danke, Mann«.

Julian nickte wortlos, hielt ihm das Feuerzeug hin und fragte sich, ob er die verschenkte Kippe von seinem heutigen Kontingent abziehen sollte oder nicht. Er rauchte nie mehr als drei Zigaretten am Tag, allenfalls eine zusätzlich – die Notfallkippe –, wenn er nachts nicht schlafen konnte. Danach war Schluss. Keine Ausnahmen.

Julian kannte sich genau: Wenn er sich nicht am Riemen riss, würde er innerhalb kürzester Zeit wieder auf einer Packung pro Tag sein. Es brauchte keine abstoßenden Bilder auf den Schachteln, um ihm klarzumachen, wie schädlich die Qualmerei war. Gerade weil er sich darüber hinaus bemühte, nett zu seinem Körper zu sein.

»Arbeitest du hier in der Nähe?«, fragte der Fremde ihn, während er Rauch aus dem Mundwinkel stieß.

»Ja.«

»Autoteile, Chips oder Klamotten?«

Das Industriegebiet war in drei in sich geschlossene Firmenareale unterteilt, von denen der Autohersteller mit seiner Ersatzteilfabrik den größten Raum beanspruchte.

»Klamotten«, antwortete Julian knapp.

Das krampfhaft in Gang gehaltene Gespräch ging ihm mit jedem Augenblick mehr auf die Nerven. Er spürte, dass er beobachtet wurde, während er eine langsam im Wasser versinkende Plastiktüte anstarrte. Ob sie sich genauso erbärmlich in den Abgrund gezogen fühlte wie er?

»Bist du immer so gesprächig?«

Julian zerdrückte den Filter seiner Zigarette zwischen zwei Fingern. Ein Unterton lag in der Stimme des Punks oder was immer er darstellte, und er konnte ihn nicht zuordnen. Ärger? Herablassung?

»Nur in der Mittagspause und zu meinen Sprechzeiten. Seh ich aus wie ein Pausenclown?«, rutschte es ihm gereizt heraus.

Der bissige Klang seiner Stimme ließ Julians Ohren rot anlaufen. Wo war das denn hergekommen? Normalerweise hätte er sich eher auf die Zunge gebissen, als eine so pampige Antwort zu geben. Vielleicht war es doch nicht so schlecht, dass das Wochenende vor der Tür stand, wenn er nur wegen eines anstrengenden Jungen um sich schnappte.

Der dagegen schien sich nicht im Geringsten an seiner Antwort zu stören. Er lachte nur leise. »Da könnte ich mir Schlimmeres vorstellen.« Er stand auf und streckte sich ausgiebig, bevor er die Zigarette ordentlich im Aschenbecher ausdrückte – der immer noch auf Julians Bein stand. »Danke noch mal. Nächstes Mal bin ich dann dran.«

Nächstes Mal?, schoss es Julian durch den Kopf. Na, hoffentlich nicht!

Doch da entdeckte er die violette Weste, die unter dem zerschlissenen Ledermantel des Eindringlings hervorlugte; auf der linken Brust ein von Hand beschriebenes Namensschild unter dem Logo der Modekette, für die sie beide arbeiteten.

Julian unterdrückte ein Ächzen.

»Nun guck nicht so entsetzt, Casanova. Sonst könnte ich noch auf den Gedanken kommen, dass du mich nicht magst.«

Das Grinsen um die blutleeren Lippen war so breit, dass es schmerzen musste. Es hellte das verhärmte Gesicht auf und verschob Julians Fokus von den blutunterlaufenen Augen und dem verschmierten Kajal zu dem kräftigen, quadratischen Kiefer, auf dem dunkelblonde Stoppeln prangten.

Bevor er etwas erwidern oder sich fangen konnte, raschelten bereits die Blätter der Weide, als sie über den Ledermantel strichen. Dann war der Besucher verschwunden, als hätte er Julian nie heimgesucht.