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Max Nettlau

Gesammelte Aufsätze

Mit einem Vorwort von Peter Mercer

Impressum

ISBN 978-3-940621-84-9 (epub)

ISBN 978-3-940621-85-6 (pdf)

Digitalisat basiert auf: Nettlau, Max, Gesammelte Aufsätze, Band 1. 1. Auflage. Hannover: Die freie Gesellschaft, 1980.

Bearbeitung und Vorwort von Peter Mercer

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Inhalt

Vorwort zur Edition

Verantwortlichkeit und Solidarität im Klassenkampf (1899)

Einige Worte über konstruktiven Sozialismus (1930)

Klassensozialismus und Menschheitssozialismus (1931)

Die nächste Ausbreitungssphäre des freiheitlichen Sozialismus (1930)

Autoritärer und freiheitlicher Sozialismus (1930)

Quantitätskrise und schwindender Kulturboden erfordern neue Mittel der Abwehr (1932)

Über die Möglichkeiten freiheitlich revolutionären Fortschritts (1929)

Von der Organisation zur Assoziation (1930)

Die heutigen Aufgaben der freiheitlichsozialistischen Organisationen (1930)

Nachwort (1922)

Zwischen Autorität und Freiheit (1932)

Rußland und der Sozialismus (1930)

Nationalismus und Internationalismus (1932)

Kurzbiografie von Max Nettlau

Vorwort zur Edition

Anarchismus scheint ein amorphes Gebilde zu sein, nicht wirklich zu fassen, nicht wirklich mit den Regeln des Wissenschaftsbetriebs zu definieren. So begegnet man dem Anarchismus auf den unterschiedlichsten Feldern, die – besieht man sie genauer – vor allem dazu verleiten zu verneinen, dass es überhaupt eine verbindliche Lehre des Anarchischen geben kann. Zu unterschiedlich sind die Ansätze verschiedener Schulen und Vertreter dessen, was man leichtfertig unter dem Begriff des Anarchismus zusammenfasst.

Anarchisten und die, die sich damit beschäftigten, gab es wahrscheinlich schon immer. Aus der Idee der ‚Gesellschaft ohne Herrschaft‘ wurde jedoch erst im 19. Jahrhundert so etwas wie eine Lehre – mit vielen Gesichtern und einer bewegten Geschichte, mit Phasen der Popularität und Jahren der Bedeutungslosigkeit, er zog Intellektuelle an, aber hatte nie die Bindungskraft und Faszination, die der Sozialismus oder Faschismus auf die Massen ausübte. Als soziale Bewegung geriet er fast in Vergessenheit. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigten sich im englischsprachigen Raum wieder vermehrt Intellektuelle wie Noam Chomsky und Murray Bookchin mit den Ideen des Anarchismus. Auch auf Künstler und Literaten übte die Utopie der Herrschaftslosigkeit schon immer eine starke Anziehung aus. Die Protestbewegungen der 1960er Jahre grub die anarchistischen Klassiker aus und bis heute zeigen sich Freiheits-Aktivisten auf der ganzen Welt von den Grundideen des Anarchismus geprägt.

Was ist aber Gegenstand des Anarchismus? Es ist die Forderung nach der Abschaffung der Herrschaft von Menschen über Menschen. Es ist die Bekämpfung sozialer Ungerechtigkeit und das Streben nach einer möglichst freien Gesellschaft, in der „soviel Kollektivität wie nötig und soviel Individualität wie möglich nebeneinander bestehen“, wie der Schriftsteller Horst Stowasser es formulierte. Einer, der sich intensiv damit auseinandersetzte, wieviel Kollektivität nötig und wie viel Freiheit möglich sein mochte, war Max Nettlau (1865-1944), von dem diese Edition eine Auswahl seiner wichtigsten Schriften präsentiert. Nettlau war ein Sprachforscher und einer der bedeutendsten Historiker des Anarchismus in Deutschland. Die hier vorliegenden Aufsätze sind vor allem ein wertvolles Zeitdokument zur Rekonstruktion der Kontroversen innerhalb der anarchistischen Bewegung der 1920er und frühen 1930er Jahre. Allerdings – liest man die Texte heute – sind sie nicht einfach nur Dokumente der Hauptschaffenszeit von Nettlau. Die darin behandelten Themen haben bis heute ihre Aktualität behalten. Es sind zentrale Fragen, die Nettlau verhandelt: Wie kann man freiheitliche Ambitionen im Alltag umsetzen, in der das Zusammenleben von wirtschaftlichen Sachzwängen geprägt ist? Wie lassen sich technischer Fortschritt und Ökologie miteinander vereinbaren? Wie kann man für seine Ideen werben, ohne einem intoleranten Dogmatismus zu verfallen? Nettlau war nicht nur bloßer Theoretiker des Anarchismus, der solche Fragen und etwa eine in sich geschlossene Lehre des Anarchismus zu erarbeiten versuchte. Seine Beiträge waren vielmehr der Versuch, der anarchistischen Bewegung praktische Impulse zu geben, und die sozialistischen Ideen mit dem Alltagsleben der Menschen zu verbinden.

Die hier in einer kompakten Edition zusammengefassten Texte Nettlaus erschienen in der zweiten Folge der anarchosyndikalistischen Zeitschrift ‚Die Internationale‘, die von der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) herausgegeben wurde. Die FAUD war eine im Dezember 1919 gegründete anarchosyndikalistische Gewerkschaft, die aus der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften (FVDG) hervorgegangen war. Nettlau schrieb regelmäßig für diese Zeitschrift. In seinen Artikeln formulierte er seine grundlegendsten Gedanken in kompakter Form, weshalb diese Edition einen guten Überblick vermittelt und als Einstieg in Nettlaus Gedankenwelt zu verstehen ist. Eine Ausnahme bildet der erste Text, der die Niederschrift eines im November 1899 gehaltenen Vortrags in der Londoner Freedom Discussion Group ist.

Ein Schwerpunkt der hier versammelten Aufsätze ist die Auseinandersetzung mit dem autoritären Sozialismus, einem zentralen Thema von Nettlau. Darunter sind nicht nur der Kommunismus russischer Prägung, sondern auch alle anderen marxistischen Strömungen in Europa zu verstehen. Die Spannung zwischen den beiden sozialistischen Ideologien war so alt wie die Bewegung selbst. Doch unter dem Eindruck des bolschewistischen Kommunismus seit 1917 hatten sich die alten Konfliktlinien konkretisiert und verhärtet, wie Nettlau argumentiert: „Diese schamlose Diktatur im Sozialismus ist ein Verbrechen am Sozialismus und an der ganzen Menschheit, deren Traum und Hoffnung zu allen Zeiten nicht Zwang, Ungleichheit und gegenseitige Feindseligkeit, sondern Freiheit, Gleichheit und Solidarität oder mindestens friedliches Zusammenleben waren und sind.“ Die Sozialdemokratie wurde nicht weniger kritisiert. Nettlau verglich den Führungsanspruch der Sozialdemokraten mit dem der Priesterkaste in alten Zeiten: Die Unentbehrlichkeit der Politiker sei deren eigene Fiktion, die zu einem Selbstzweck geworden sei. Außerdem würde die Sozialdemokratie von den Kapitalisten nur noch als zähmbares Haustier gesehen, die dadurch unfähig geworden sei, ihre humanitären Zielsetzungen von Gleichheit und Gerechtigkeit zu erfüllen. Solch grundlegende Kritiken kennzeichnen die Werke Nettlaus in weiten Teilen. Kritik übte er auch am Anarchismus, dem er selbst am meisten abgewinnen konnte, und dessen begrenzter Wirkungsgrad er bedauerte. So forderte er wiederholt einen Schulterschluss oder zumindest eine Verständigung mit allen Elementen der Gesellschaft, die freiheitliche Ziele verfolgten. Sein Streben galt stets der Pluralität und richtete sich trotz eigener deutlicher Positionen gegen starren Dogmatismus. Auch wenn Nettlau angesichts des Nationalismus und Faschismus des frühen 20. Jahrhunderts keine Hoffnung hatte, zu Lebzeiten die sozialistische Revolution im anarchistischen Sinne zu erleben, veröffentlichte er wiederholt Beiträge mit konkreten Vorschlägen zur Verbesserung des Status quo. Nettlau blieb Idealist mit einer gut gemeinten Botschaft: „Das wirkliche Ziel ist das freie Leben, das heißt die freie soziale Betätigung eines jeden, und dieses Ziel kann von keiner autoritären Richtung erreicht werden.“ Die extreme Bestätigung dafür erlebte er ab 1933.

Die Zeit des Nationalsozialismus erlebte Nettlau in Wien, wo er – nachdem die Inflation nach dem Ersten Weltkrieg sein geerbtes Vermögen aufgebraucht hatte – lebte. In ärmlichsten Verhältnissen ging er dort seiner Tätigkeit nach, den Anarchismus zu dokumentieren, alles über ihn zu sammeln, darüber zu schreiben. Ergebnis dieser Tätigkeit, die er über Jahrzehnte betrieb, war nicht nur die auf 7 Bände konzipierte und ab 1925 veröffentlichte „Geschichte der Anarchie“ (wovon die beiden letzten Bände nicht mehr verlegt wurden). Ein umfängliches Archiv über den Anarchismus war das zweite „opus magnum“. Das Archiv musste er 1935 wegen seiner Geldnöte an das Internationale Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam (ILSG) verkaufen. Als die Nationalsozialisten 1938 Österreich „anschlossen“, ging Nettlau nach Amsterdam, seiner letzten Lebensstation, wo er bis zu seinem Tod, 1944, unbehelligt an der Katalogisierung seines Archivs arbeitete.

Verantwortlichkeit und Solidarität im Klassenkampf (1899)

Niederschrift eines im November 1899 gehaltenen Vortrags in der Londoner Freedom Discussion Group)

Die folgenden Bemerkungen, die auf einen Artikel aufgebaut sind, der im November 1897 in “Freedom” veröffentlicht wurde, dürfen nicht aufgefaßt werden als ein Wunsch, direkte anarchistische Propaganda durch irgendein Hilfsmittel oder “Steckenpferd” zu ersetzen; sie werfen einfach die allgemeine Frage auf, die, soviel ich weiß und soweit mir gesagt worden, bis zum heutigen Tage vernachlässigt worden ist: Die Möglichkeit einer neuen Form und Kombination des Klassenkampfes. Ich bin begierig auf anarchistische Kritik, die, ganz abgesehen von der allgemeinen Möglichkeit, zu untersuchen hat, ob die hier vorgeschlagenen Mittel zur Freiheit führen oder nicht, also ob sie die Ziele der Anarchisten unterstützen.

Der Fortschritt in der Arbeiterbewegung scheint sich verzweifelt langsam zu entwickeln. Ideen, die uns so klar, so selbstverständlich und annehmbar erscheinen, stoßen oft auf eine so ungeheure Menge von Vorurteilen und Gleichgültigkeit, daß es zweifelhaft erscheint, ob die großen Massen sie jemals bewußt und ernsthaft sich zu eigen machen werden, wenn sie nicht tatsächliche Veränderungen oder Versuche in größtem Maßstab vor sich sehen. Und selbst, wo derartig eindringliche Versuche schon in gewissem Maße bestehen, wo z.B. die Solidarität auf wirtschaftlichem Gebiete nicht nur durch Propagierung freier Ideen, sondern durch direkte materielle Vorteile, wie klein sie auch immer sein mögen - wie in dem Falle der Gewerkschaft und Genossenschaft - demonstriert werden, werden die wirklichen Massen nicht in eine enge Berührung mit ihnen kommen, selbst nicht nach einem Jahrhundert der Agitation und Propaganda.

Ob diese pessimistische Ansicht berechtigt ist oder nicht, so wird doch die Notwendigkeit und Möglichkeit, neue Mittel zu finden, die die Position der Arbeiterklasse stärken, nicht bestritten werden; und viele dauernde oder zeitweilige Aktionsmittel sind vorgeschlagen und sogar ausprobiert worden während der letzten Jahre: Der Generalstreik, der Militärstreik, der internationale Grubenarbeiterstreik, der Aufmarsch der Arbeitslosen oder Streikenden in den Hauptstädten (in Amerika und neuerdings in Frankreich) Sabotage usw. Auch sind Versuche gemacht worden, die organisierte Arbeit der Arbeiterklassen als Produzenten und Konsumenten für die direkte ökonomische Aktion verwenden und zwar in einer Verbindung von Gewerkschaften und Konsumgenossenschaften, kooperativen Siedlungen, Arbeitsaustausch (der amerikanische Ausdruck für den direkten Austausch der Arbeitsprodukte) usw. Und auf jener Linie liegen auch die Mittel, die ich hier vorschlagen will. Die Anarchisten können sich diesen gegenüber nur verhalten wie zu den soeben erwähnten, nämlich wenn möglich, sie praktisch unterstützen, jedoch ohne Abweichung von der Propaganda unserer vollen und letzten Ziele des freien Menschen in freier Gesellschaft.

Was außer dieser direkten geistigen Propagierung anarchistischer Ideen und außer der wirklichen revolutionären Aktion, die unabhängig von allen vorhergehenden Diskussionen ist, notwendig erscheint, ist große und immer größer werdende Volksmassen zur Erkenntnis der Prinzipien menschlicher Würde, Freiheit und Solidarität zu bringen und zu versuchen, zu diesen Prinzipien sich emporzuheben; weiter ist es notwendig, daß die untrennbare Verbindung dieser beiden Prinzipien anerkannt wird. Denn Anerkennung und oberflächliche Auslegung nur des ersten Grundsatzes führt sehr leicht zu individualistischer Selbstsucht, zu rücksichtslosem Emporsteigen über die Schultern der Mitmenschen hinweg, wohingegen Solidarität ohne persönliche Würde und Freiheit gerade das ist, was wir tagtäglich um uns herum sehen, was uns in jeder Minute verletzt: — die Solidarität der kompakten Majorität mit den häßlichsten Zügen der bestehenden Ordnung: Konkurrenz, Patriotismus, Religion, politische Parteien usw. Folglicherweise ist eine Vereinigung und Verschmelzung der Gefühle der Freiheit und Solidarität notwendig, und Menschen, die soweit vorgeschritten sind, werden geneigter sein, unsere Ideen zu empfangen oder besser gesagt, sie werden sie leichter verstehen, als es heute breite Schichten der Bevölkerung können, darum denke ich, die Anerkennung und Verschmelzung dieser Forderungen als Kriterium fixieren zu können, als einen Prüfstein für alle möglichen Aktionsmittel. Und Aktionsmittel, die diesen Standard nicht erreichen, sollten zu ihm emporgearbeitet werden.

Noch ehe ich weiter auf den Gegenstand meiner Untersuchung eingehe, muß ich meine Anschauung bezüglich zweier Punkte niederlegen, in denen ich, wie ich glaube, einen ketzerischen Standpunkt hinsichtlich des üblichen wirtschaftlichen Glaubensbekenntnisses einnehme, ganz gewiß aber tue ich das hinsichtlich der in der Agitation üblichen Argumente. Meine späteren Schlußfolgerungen werden auf diese beiden Punkte aufgebaut werden.

Einer beschäftigt sich mit dem, was “Öffentlichkeit” und “öffentliche Meinung” genannt wird, und meine Meinung ist, daß dieser Faktor in Arbeitskämpfen bisher zu wenig in Betracht gezogen worden ist. Die organisierten Arbeiter eines Industriezweiges oder Gewerbes kämpfen für die Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage. Die Unternehmer wehren den Streik durch eine organisierte Aktion ab und können durch erfolgreiche Streiks oder durch die Macht einer starken Gewerkschaft gezwungen werden, den Arbeitern Konzessionen zu machen. Aber die Konsumenten der Produkte dieses Industriezweiges oder Gewerbes, die in der Regel überhaupt nicht organisiert sind, tun nichts, das ihre Interessen wahrnehmen könnte und ihnen Produkte zu dem möglichst niedrigen Preise beschaffen könnte, und so ist dann nur natürlich, daß die Kapitalisten die Lasten jener Konzessionen, die sie den Arbeitern machen müssen, auf das kaufende Publikum abwälzen. Soweit ich weiß, nehmen die Arbeiter an dieser letzten Auswirkung ihres Kampfes kein Interesse. So schnellen denn die Preise empor, die Öffentlichkeit, als der schwächste Teil, trägt die Kosten der Konzessionen, die die Arbeiter dem Kapital abgerungen haben.

Nun, was ist “Öffentlichkeit”, wer ist das? Alle Verbraucher selbstverständlich, aber für den hier behandelten Zweck kann ich sie in zwei Klassen teilen, in jene, die ein großes Einkommen haben und für die die Preisschwankungen der Produkte keine ernsthaften Schwierigkeiten bilden (und diese dürfen wir hier ganz außer Betracht lassen) und in die ungeheure Masse jener Menschen mit kleinem Einkommen, denen die geringste Preissteigerung ein ernsthaftes Hemmnis ihrer Lebensführung bedeutet. Gewiss, eine beträchtliche Anzahl dieser Konsumenten mögen als überzeugte Sozialisten oder Anarchisten oder aus instinktivem Gefühl der Solidarität und Liebe zu Gerechtigkeit, die sie zur Basis unserer Hoffnung auf eine heller und schönere Zukunft macht, diese neue Last, das Endresultat der Kämpfe, ihrer Mitarbeiter, mit leichtem Herzen ertragen; aber ich weiß, ich würde mich selbst betrügen, wollte ich meine Augen der Tatsache verschließen, daß die große Masse, die unberührt ist von fortschrittlichen Ideen und edlen Gefühlen (wenn das nicht der Fall wäre, wie könnte sie denn die bestehende Gesellschaftsordnung ertragen?) keine Sympathie für die organisierte Arbeiterschaft in solchen Fällen fühlt und sich indifferent, teilnahmslos, wenn nicht voreingenommen oder sogar feindlich benimmt. Wenn beispielsweise während eines Kohlenarbeiterstreikes der Mann mit den Streikenden sympathisiert, ihrem Streikfonds ein paar von seinen Pfennigen abgibt usw., so wird jedoch in vielen Fällen seine Frau - die wie vorher mit demselben niedrigen Lohn ihres Mannes alle Bedürfnisse befriedigen soll, trotz der infolge der Kohlennot höheren Preise - weit entfernt davon sein, seine Sympathie zu teilen, und sie wird ihm diese Tatsache nicht verhehlen. Das Resultat ist, daß im besten Falle sich die Gefühle von beiden Seiten neutralisieren.

Streiks solcher Art lassen die Verhältnisse sowohl im wirtschaftlichen wie im moralischen Sinne unverändert, selbst dann, wenn die Streiker siegreich sind, denn die abgezwungenen Konzessionen werden von den Kapitalisten auf die Schultern des kaufenden Publikums abgewälzt, und je ärmer die Konsumenten sind, um so bitterer fühlen sie die Folgen. Die moralische Erhebung und die Begeisterung der Streiker und der sympathisierenden Kreise werden ausgeglichen durch dumpfe Feindschaft der Massen - die tatsächlich die Rechnung bezahlen müssen.

Darum wäre es nützlich, wenn Mittel gefunden würden, durch welche die gesamte Öffentlichkeit (die Massen der Arbeitenden) nicht nur gefühlsmäßig, sondern materiell an jedem Streik interessiert wäre wie die Streikenden selbst. Wenn die Öffentlichkeit einmal ernsthaft am Streik interessiert ist, dürfte ihre Hilfe ganz enorm sein; ganz abgesehen von der Sympathie und Unterstützung kann sie jene mächtige Waffen führen: ich meine den Boykott.

Das ist der erste der zwei Punkte.

Der zweite Punkt meiner ketzerischen Meinung betrifft die Verantwortlichkeit der Arbeiter für die Arbeit, die sie leisten. Diese Verantwortlichkeit wird gegenwärtig überhaupt nicht anerkannt. Es ist üblich, einen Mann als ehrlichen Arbeiter zu betrachten, wenn er für Lohn arbeitet, ganz abgesehen davon, was er tut. Es gibt kaum irgendeine Beschäftigung, die in tatsächlicher Weise vermieden und verabscheut würde und so Menschen, die sie ausüben, ernsthaft beschämte - gemein und infam, wie die Beschäftigung auch immer sei.

Abgesehen von dem drastischen Beispiel der vielen Anwärter für einen Henkerposten (wir lesen manchmal, daß Personen aller Beschäftigungszweige, aus dem Arbeiterstande und der Mittelklasse sich darum bewerben), ist es nicht für viele die Höhe ihres Ehrgeizes, Schutzmann zu sein? Und werden sowohl Schutzleute wie Soldaten nicht in gewisser Ausdehnung von unwissenden Weibern, vom Volke, armen Dienstmädchen und Köchinnen unterhalten? Soldaten, die in England sich freiwillig stellen, wissen genau, daß ihre gewöhnliche Beschäftigung nicht die Verteidigung ihres Landes ist, das ja von niemand angegriffen wird, sondern die Unterdrückung von Aufständen armer, schlechtbewaffneter Eingeborener, und sie wissen, daß es ihre Aufgabe ist, solches so erbarmungslos wie möglich zu tun, um Aufstände und Rebellionen im Keime zu ersticken. Junge Männer schämen sich nicht, sich einer unaufhörlichen Polizei- und Henkersarbeit hinzugeben, noch schämen die Mengen des Volkes sich, in Freundschaft zu leben mit Soldaten. Auch besteht niemals Mangel an Gerichtsboten, Pfändungsvollstreckern, Zolleinziehern, Güterschlächtern usw. Die sogenannte öffentliche Meinung, die so viel von Menschlichkeit und Zivilisation redet, scheint diese Feinde und ihre Werkzeuge in unserer Mitte ganz zu übersehen, und wenn sie sie sieht, ist es nur, um sie zu bemitleiden, um zu sagen, es ist nicht ihre Schuld.

Mehr noch! Während dieser Abschaum der Menschheit sich bei den meisten Menschen einer geringen Beliebtheit erfreut, gibt es geradezu schändliche Gewerbe und Beschäftigungen, die von viel größeren Körperschaften ausgeführt werden, gegen die niemand Einwendungen zu erheben scheint. Ich meine die ungeheuren Massen von Arbeitern, die durch ihrer Hände Arbeit minderwertige Häuser aufbauen, minderwertige Kleider erzeugen, minderwertige Nahrung herstellen und vieles andere mehr produzieren, das das Leben degradiert, den Geist und Körper ihrer Mitmenschen bedrückt und herunterbringt. Wer hat die Mietskasernen, die scheußlichen Höhlen in den großen Städten aufgebaut, und - was noch schlechter ist - wer erhält sie durch Scheinausbesserungen und Reparaturen in einem Zustand, der ihre unaufhörliche Ausbeutung ermöglicht? Wer produziert Schundkleidung, die abscheulichen Nahrungsmittel und Getränke, die nur die Armen kaufen? Wer preist sie dem Publikum, den Armen an, nachdem andere sie äußerlich glänzend übertüncht haben (soweit man sich diese Mühe überhaupt noch macht), wer preist sie durch Überredung, falsche Angaben und Lügen an? Alles dies tun (wenn auch unzweifelhaft inspiriert durch Kapitalisten, die einzig und allein Vorteile daraus ziehen) große Zweige hart arbeitender, angesehener und gut organisierter Bauberufe, Textilgewerbe und Handelsformationen. Das ist abstoßend und empörend, und wir können keine Entschuldigung dafür finden, wenn wir nirgends Bemühungen sehen, diese Tatsachen anzuerkennen, und noch weniger, sie zu beseitigen. Überall begegnen wir der indifferenten Antwort: Ich muß es tun! Ich kann mir meine Arbeit nicht aussuchen! Wenn ich sie nicht mache, macht sie sonst jemand. Ich verdiene nichts daran. Ich würde lieber eine wirklich nützliche Arbeit verrichten. Aber ich bin nicht verantwortlich dafür: die Verantwortlichkeit trägt der Unternehmer, der mich solche Arbeit tun heißt!

Unsere Meinung ist, so lange wie diese ausweichende, feile Entschuldigung allgemein anerkannt wird, so lange wird uns keine hellere Zukunft erstehen. Auf Grund dieser Ansicht wird es den Kapitalisten immer möglich sein, die eine Hälfte der Arbeitenden zu kaufen, um die andere Hälfte zu unterdrücken. Sie werden fortfahren, die Massen der Arbeiter in geistiger und körperlicher Herabwürdigung zu erhalten, dumpf und stumpf, geschwächt, kraftlos, die endlosen Freuden des Lebens übersehend infolge der bedrückenden Umgebung, in der sie leben, und der Erbärmlichkeit der Nahrungsmittel, die ihren Körper und Geist aufbauen. Und die praktische körperliche Arbeit, die diese üblen Folgen zeitigt, wird von den Arbeitern selbst verrichtet, von ihnen, die, wie alle andern, selbst darunter leiden. Direkter Mord (Soldaten, die Streikende erschießen) und dieser indirekte Mord durch Erschaffung dieser schrecklichen Umgebung, Nahrung und vieles andere mehr, das die Mitmenschen ruiniert, beides ist gleich schädlich in seinen Folgen, und als solches muß es erkannt werden, ehe wir an eine Besserung denken dürfen.

Das ist es, was ich die Verantwortlichkeit des Arbeiters für das, was er schafft, nennen will. Und was wir weiter sagen, ist, daß der Mangel dieses Verantwortlichkeitsgefühles sowohl die Arbeiter wie auch ihre Opfer degradiert. Niemand wird ableugnen, daß Polizisten und Soldaten durch ihre berufsmäßige Menschenjagd, durch Verrat und Mord, den sie begehen, verrohen und versinken. Und ich zögere nicht, zu behaupten, daß dasselbe mit jenen Arbeitern geschieht, die Handwerke und Gewerbe ausüben, die auf Betrug basiert sind. Man betrachte beispielsweise den Arbeiter, der angeblich Röhren und Entwässerungen repariert und in Wirklichkeit doch niemals derartiges tut, oder den Verkäufer, der seine Tage damit zubringt, Leuten Dinge aufzureden, die sie gar nicht haben wollen, die der Ladeninhaber los sein will, weil sie ihm den höchsten Profit bringen, oder weil sie dem Verderben ausgesetzt sind. Ich glaube nicht, daß der Charakter dieser Männer - ehrlich, arbeitsfreudig und gutherzig, wie sie am Anfang auch sein mögen - sich im Laufe der Zeit verbessert. Eher ist anzunehmen, daß er verhärtet und gleichgültig wird als frei und begeisterungsfähig. In gleicher Weise können die Massen von Produzenten minderwertiger und indifferenter Waren kaum Interesse an ihrer Hände Arbeit haben. Aber niemand kann ohne Interesse an seiner Arbeit leben, ohne daß seine Fähigkeiten abstumpfen, sein Intellekt sich vermindert und er letzten Endes unfähig wird, die Ideen von Freiheit und Empörung zu erfassen. Wieviel weniger wird er danach handeln können! Man vergleiche diese Männer mit jenen, die gezeichnet sind von William Morris in “Wiederbelebung der Handarbeit” oder in “Kunde von Nirgendwo”, und es wird klar werden, was ich meine.

So muß jedermann ein Opfer dieses Übels werden, denn die Verüber unsozialer Handlungen werden immer selbst die Opfer. Alle Arbeiter verabscheuen Spione und Spitzel; die meisten von ihnen verabscheuen Streikbrecher; bis dieses Gefühl der Abneigung nicht ausgedehnt worden ist auf alle, die unsoziale Arbeit, Arbeit, die schädlich für die Mitmenschen ist, verrichten, bis zu der Zeit sehe ich keine Hoffnung für die Zukunft. Das ist der zweite Punkt meiner einleitenden Bemerkungen, und so sind wir denn bei dem eigentlichen Thema angelangt, das ich umso kürzer behandeln kann, da die Begriffe durch obige Bemerkungen geklärt sind.

Ich habe die Form einer Aktion finden wollen, die große Massen des Volkes zu einem Begriff und einer Erkenntnis von wirklicher und ernsthafter Vereinigung der untrennbaren Gefühle menschlicher Würde, Freiheit und Solidarität führen würde.

Und ich glaube, eine derartige Aktionsform ist erreichbar, wenn die soeben besprochenen Elemente in gehöriger Weise vereinigt und angewendet würden. Nämlich: Die Notwendigkeit, die gesamte Öffentlichkeit (die Massen der Arbeiter) ökonomisch in gleicher Weise am Streik zu interessieren wie die Streiker selbst - und die Notwendigkeit des Verantwortlichkeitsgefühles der Arbeiter für das, was sie produzieren!

Eine solche Aktion würde einen mächtigen Anstoß für Gefühle der Selbstachtung und Solidarität bedeuten und würde große Massen auf den Weg zur Freiheit führen und sie weiterer Propaganda aufschließen. Die Lehren der Propaganda würden dann nicht mehr in dem gleich großen Maße zu ihrem und unserem Leben in Widerspruch stehen, wie es gegenwärtig der Fall ist. Die Umrisse derartiger Mittel liegen nach meiner Meinung für die Arbeiter in der Verweigerung jener Arbeit, die dem gesamten Volke schädlich ist; stärken könnten sie ihre Position dadurch, daß sie den Betrug, der an den Massen des Volkes geübt wird, klar und einfach bloßstellen. Und für die Öffentlichkeit liegen sie in der Unterstützung solcher Bewegungen, in aktiver Sympathie mit den Streiks, die auf solcher Basis geführt werden - und dem Boykott. Solche Streiks dürften mit einem Gewinn sowohl für die betreffenden Arbeiter wie auch für die Öffentlichkeit enden. Und die Kosten solcher Streiks hätten tatsächlich die Kapitalisten zu tragen; sie würden ihren Profit reduzieren. Gewiß werden derartige Streiks nicht die Grundfesten der bestehenden Ordnung zerstören können; kein Streik kann das, wenn er nicht die entschlossene Ablehnung der Arbeit für andere ist: der Generalstreik, die soziale Revolution. Aber Streiks solcher Art können die Arbeiterklassen fester aneinander gliedern, als sie es heute sind. Die Streiks werden ihren individualistischen Charakter verlieren und zu einer Angelegenheit der Allgemeinheit werden, was sie heute nur durch Gefühlsmomente und das persönliche Empfinden von einigen, nicht aber durch ihre ökonomische Basis sind.

Im praktischen Leben mag jene Taktik selbstverständlich mannigfaltige Formen annehmen; sie sollte Leib und Seele des Bewußtseins der Gewerkschaften, vor allem der Sozialisten werden, dann werden praktische Wege und Formen gewiß nicht fehlen.

Wenn beispielsweise die organisierten Bauarbeiter sich entschließen würden, keine Mietskasernen mehr anzurühren, weder welche aufzubauen noch zu reparieren und sie gleichzeitig der Öffentlichkeit den hoffnungslos ungesunden Charakter aller Flickarbeit in dieser Richtung klarmachen würden, so bekäme die gesamte Wohnungsfrage einen viel weiteren Sinn, als sie früher trotz aller Versammlungen, Zeitungskampagnen und Komitees gehabt hat. Es ist nicht verwunderlich, daß die breiten Massen des Volkes sich dieser Agitation gegenüber teilnahmslos verhalten haben, sahen sie doch, daß in Wirklichkeit alles seinen alten Gang ging. Ihre Nachbarn machten - soweit sie im Baugewerbe beschäftigt waren - durch ihre lächerlichen Ausbesserungen das Wohnungselend zu einem Dauerzustand, während sie selbst vielleicht im Ernährungsgewerbe beschäftigt waren und sie ihrerseits den Maurern, Bauarbeitern usw. giftige Stoffe zum Essen und Trinken lieferten. Einer schneidet dem anderen die Kehle durch, und die Kapitalisten geben die Direktive hierzu. Wenn Hausruinen zuletzt doch verdammt werden, so wird das weder getan von den Leuten, die die Häuser bewohnen, noch von den Arbeitern, die sie ausbessern, sondern von Autoritäten der Gesundheitspflege, die in Solidarität mit den reichen Klassen handeln, um sie durch Vernichtung der Krankheitsherde vor Ansteckung zu bewahren. Eigene Initiative und Selbstachtung sind wenig bekannt unter den Opfern des bestehenden Gesellschaftssystems, und keine Bemühung sollte unterbleiben, die sie hervorrufen könnten. Das Verantwortungsgefühl ist eines der Mittel, das zu diesem Ziele führen könnte.

Wenn die Baugewerbe von London sich entschließen würden, keine Hand mehr an die ungeheuren Gebiete der Armenviertel im Osten und Süden Londons zu legen, so würden mit einem Schlage nicht nur die Fragen der Wohnungsnot, sondern auch die des Grundbesitzes an der Tagesordnung stehen. Die Antwort der Öffentlichkeit würde der Schrei: “Keine Miete!” sein. Und die Handlungsangestellten ihrerseits könnten dadurch helfen, daß sie sich weigern, jene abscheulichen Nahrungsmittel, die sie heute ausbieten, weiter zu verkaufen. Das könnte manch einem Bewohner aus dem Ostende die Idee geben, die komfortablen Wohnungsmöglichkeiten im Westen Londons etwas näher zu studieren, ebenso die Nahrungsmittelbelieferung auf den Docks eingehender zu betrachten. Auf jeden Fall wäre eine gewisse Möglichkeit vorhanden, einige der schlechtesten Züge im Ostend zu beseitigen - das ist immerhin etwas - und die Menge neuer und sauberer Arbeit, die die Baugewerbe in schönerer Umgebung zu tun bekämen, würden ihnen reichlich die Opfer wieder aufwiegen, die sie für einen solchen Streik bringen müßten.

Die Textilgewerbe sollten die Minderwertigkeit der Shoddybekleidung dem Publikum vor Augen führen und sich weigern, derartiges weiter herzustellen. Selbst kleinere Abteilungen, die beispielsweise damit beschäftigt sind, die Gegenstände äußerlich glänzend und verlockend zu machen, selbst solche kleineren Abteilungen könnten den Anstoß nach solcher Richtung hin geben.

Wiederum in chemischen Werken, Bleiweißhöllen und dergleichen mehr, in denen die Arbeiter selbst, nicht aber die Produkte ruinierend auf die Gesundheit wirken und genug zu sein scheinen, um solche Plätze zu veröden. - Scham sollte auf jene gehäuft werden, die solche Betriebe in Gang halten und sich in ihnen ermorden lassen. Sie sollten für geringer als Streikbrecher betrachtet werden, was sie tatsächlich auch sind, denn sie halten diese Betriebe in Gang, und solange sie in Gang sind, werden immer neue Opfer - unwissend manchmal beim Arbeitsantritt - herangezogen; Tag um Tag kommen neue, um die Reihen wieder aufzufüllen, die gelichtet worden sind durch den Zusammenbruch unvermeidlicher Opfer.