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Maximilien de Robespierre

Erinnerungen

Impressum

ISBN 978-3-940621-94-8 (epub)

ISBN 978-3-940621-95-5 (pdf)

Digitalisat basiert auf der auf der Ausgabe von ca. 1924/25 aus der Bibliothek des Vergangenheitsverlags; bibliografische Angaben:

Robespierre, Maximilien de, Erinnerungen. Von ihm selbst, Berlin o. J. (ca. 1924/25)

Bearbeitung: Mireya Hütsch / Ranka Zgonjanin

Die Marke „100% - vollständig, kommentiert, relevant“ steht für den hohen Anspruch, mehrfach kontrollierte Digitalisate klassischer Literatur anzubieten, die – anders als auf den Gegenleseportalen unterschiedlicher Digitalisierungsprojekte – exakt der Vorlage entsprechen. Antrieb für unser Digitalisierungsprojekt war die Erfahrung, dass die im Internet verfügbaren Klassiker meist unvollständig und sehr fehlerhaft sind.

© Vergangenheitsverlag, 2011 – www.vergangenheitsverlag.de

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Inhalt

EINLEITENDES ESSAY: „Morgenröte einer besseren Zeit“ - Die Französische Revolution in Robespierres „Erinnerungen“

Quellenteil: Maximilien de Robespierre - „Erinnerungen“

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SECHSTES KAPITEL

SIEBENTES KAPITEL

ACHTES KAPITEL

NEUNTES KAPITEL

ZEHNTES KAPITEL

ELFTES KAPITEL

ZWÖLFTES KAPITEL

DREIZEHNTES KAPITEL

VIERZEHNTES KAPITEL

FÜNFZEHNTES KAPITEL

SECHZEHNTES KAPITEL

SIEBZEHNTES KAPITEL

Laponneraye: Robespierres letzte Lebensjahre

Robespierres Reden

AN DIE VERBÜNDETEN

DAS BUNDESFEST VON 1792

ÜBER DIE ANKUNFT DER MARSEILLER IN PARIS

ÜBER DIE EREIGNISSE DES 10. AUGUST 1792

INTERESSANTE EINZELHEITEN AUS DEN EREIGNISSEN DES 10. AUGUST UND DER FOLGENDEN TAGE

ANTWORT MAXIMILIAN ROBESPIERRES AUF DIE ANKLAGE LOUVETS VOR DEM NATIONALKONVENT

ANTWORT ROBESPIERRES AN JEROME PÉTION

EINLEITENDES ESSAY: „Morgenröte einer besseren Zeit“ – Die Französische Revolution in Robespierres „Erinnerungen“

Maximilien de Robespierre ist ein berühmt-berüchtigter Name der Französischen Revolution. Sein Drang nach radikaler Demokratisierung der französischen Ständegesellschaft beeinflusste den Verlauf des revolutionären Aufbruchs im Ancien Régime nachhaltig. Als Vorsitzender des Jakobinerklubs forderte er das allgemeine, direkte Wahlrecht und beseitigte die Privilegien des Adels und des Klerus. Sein Ziel, die herrschende soziale Ordnung umzuwälzen, war eng an Jean Jacques Rousseaus Prinzipien geknüpft und forderte erhebliche Maßnahmen: Nach dem Sturz des französischen Monarchen Ludwigs XVI. und dessen Hinrichtung ging Robespierre als Mitglied des Nationalkonvents scharf gegen Republiksgegner vor und begründete damit die Zeit der „Schreckensherrschaft“. In dieser Epoche der „Grande Terreur“ organisierte Robespierre das gewaltsame Vorgehen gegen die Feinde der Revolution, das unzählige Menschen das Leben kostete. Tausende starben unter der Guillotine. Ein Schicksal, das ihn später schließlich selbst traf.

Die „Erinnerungen“ von Robespierre sind mehr als eine schlichte Autobiografie. Sie sind eher als ein historisches Dokument zu betrachten, das Einblick in eines der bedeutendsten Ereignisse der Menschheit, der Französischen Revolution, gibt. Robespierre erkannte, dass er „unter den größten Begebenheiten, welche je die Welt bewegt haben“, eine Rolle spielte und entschloss sich dazu diese in seinen „Erinnerungen“ festzuhalten. Das Buch beschreibt das Leben und Wirken Robespierres von seiner Kindheit bis zur Französischen Revolution, als er Vertreter des dritten Standes in der Nationalversammlung war. Seine eigenen Aufzeichnungen enden im Jahr 1791. Diesen schließt sich eine Darstellung über Robespierres letzte Lebensjahre des französischen Historikers Albert Dulin de Laponneraye an. Laponneraye sammelte zudem bedeutende Reden des Revolutionsführers, die in dieser Edition ebenfalls zusammengefasst werden.

Die autobiografische Schrift Robespierres bietet eine eindrucksvolle Einsicht in die Gefühls- und Gedankenwelt eines der „glühendste[n] Freund[e] der Menschheit“, wie Laponneraye ihn bezeichnete. Seine Gutwilligkeit gegenüber dem französischen Volk ging jedoch daran zu Bruch, dass er den Menschen eine Republik aufzwingen wollte, statt die Republik dem Volk anzupassen.

Wer war Robespierre?

Am 6. Mai 1758 wurde Maximilien Marie Isidore de Robespierre in Arras, einer Stadt im Norden Frankreichs, geboren. Als Kind eines Advokaten am Obergericht von Artois genoss er das Ansehen seiner Familie in der Heimatstadt. Noch in seiner Kindheit starben die Eltern Robespierres. Die frühe Konfrontation mit dem Tod prägte den Charakter des Heran- wachsenden. Er reifte unter diesen Umständen schnell heran und war entschlossen, sich seine Unabhängigkeit durch ein juristisches Studium zu sichern. Mit zwölf Jahren kam der junge Robespierre nach Paris an das Kollegium „Ludwig der Große“. Hier erfuhr er eine starke Prägung durch seinen Lehrer, einem enthusiastischen Republikaner, der ihn in die Ideen und Theorien der römischen Republik einführte. Die Lobeshymnen seines Lehrers auf die republikanischen Werte eröffneten Robespierre eine neue Welt und veränderten seine Gedanken. Nach seinen herausragenden Leistungen am Kollegium widmete sich Robespierre schließlich einem juristischen Studium. In seiner Zeit als Student machte er eine bedeutsame Begegnung mit seinem größten Vorbild, dem Philosophen Jean Jacques Rousseau. Sein Spaziergang mit dem Verfasser des „Gesellschaftsvertrages“ wurde für Robespierre zu einem einschlägigen Ereignis, dass den jungen Studenten Zeit seines Lebens nicht verließ, war er doch stets voller Bewunderung für Rousseaus Schriften und dessen Genie. Nach Beendigung seines Studiums ging Robespierre vorerst der Arbeit eines Advokaten in seiner Heimatstadt Arras nach. Seine kurze Karriere bei Gericht wurde bald von seiner zunehmenden politischen Tätigkeit überschattet. In der Zeit, als sich das aufklärerische Gedankengut in Frankreich verbreitete und der allgemeine Wunsch laut wurde, die Lage im Land zu verändern, bekannte sich auch Robespierre zum Kampf mit allen Mitteln für die Demokratisierung der Gesellschaft. Die starke Staatsverschuldung im Ancien Régime führte kurz bevor es zum Bankrott kam im Mai 1789 zur Einberufung der Generalstände, die seit über eineinhalb Jahrhunderten nicht mehr zusammengekommen waren.

Dieser Befehl des Königs löste im Land eine große Euphoriewelle aus, die auch Robespierre teilte. Er verfasste politisch-theologische Abhandlungen, in denen er entschieden demokratische Ideen vertrat. Robespierres letzter Prozess als gerichtlicher Verteidiger, markierte den Übergang seiner Karriere zur Politik. Neben der Klärung des eigentlichen Falls seines Mandaten, setzte sich Robespierre hier in seiner „heftigen Schlußrede“ – wie er sie selbst betitelte – für die politischen Belange seiner Nation ein. Er rühmte die Einberufung der Generalstände als „die Morgenröte eines neuen Tages“ und forderte von keinem geringeren als dem Monarchen selbst, den Anschluss an die Mitgestaltung der neuen Zukunft Frankreichs. Der Prozess wurde gewonnen und Robespierre erreichte dadurch hohes Ansehen. Dies begünstigte seine Wahl zum Abgeordneten des dritten Standes in die Generalstände.

In Versailles erlebte Robespierre die revolutionären Unruhen und betrachtete die Entwicklungen mit großer Freude, sah er doch bereits „[d]ie Aristokratie […] in den letzten Zügen“ und den „Hof […] in Todesangst“. Sein Vorhaben nach Freiheit und Gleichheit für das französische Volk zu kämpfen, machte Robespierre auch weiterhin in der Nationalversammlung öffentlich. Mit seinen linksradikalen Forderungen fand er sich bald auf Seiten der Jakobiner wider, einem politischen Club, der sich während der Französischen Revolution als Gegenpol zu den Girondisten etablierte. Der Jakobinerklub, dessen Präsident Robespierre 1790 wurde, war stark gefärbt vom rousseauschen Gedankengut und verfolgte eine Politik für das einfache Volk.

1792 wurde gegen den König unter Führung Robespierres Anklage wegen Hochverrats erhoben. Mit der anschließenden Hinrichtung des Monarchen, entbrannte die Zeit der Terreur, der Schreckensherrschaft, in der sowohl gegen die äußere Bedrohung des revolutionären Frankreichs als auch gegen potentielle Revolutionsfeinde gewaltsam vorgegangen wurde. Für Robespierre, der Mitglied des Nationalkonvents war, bedeutete der Terror eine Reinigung des Staates von jeglichen Gegnern, die zur Durchsetzung der republikanischen Tugenden unabdingbar war. Während der Zeit der Terreur wurde Robespierre am 27. Juli 1793 zum Mitglied des Wohlfahrtsausschusses, dem Exekutivorgan des Nationalkonvents, gewählt. Er baute die Macht des Wohlfahrtsausschusses soweit aus, dass dieser bald über uneingeschränkte Vollmachten verfügte. In den folgenden Monaten wurden dadurch unzählige Menschen auf Grund ihrer konterrevolutionären Meinungen zum Tode verurteilt, um den Aufbau der „Herrschaft der Tugend“, wie es Robespierres Ziel war, voranzutreiben. Doch der Widerstand gegen den Terror spitzte sich zu. Das beständige Verlangen Robespierres, den Staat weiter zu säubern und die Schreckensherrschaft nicht zu beenden, führten dazu, dass sich der Wohlfahrtsausschuss gegen Robespierre selbst richtete. Am 27. Juli 1794 wurde der Schreckensherrscher verhaftet und einen Tag später ohne Gerichtsverhandlung, ganz nach ehemaligem Vorgehen gegen die Revolutionsfeinde, hingerichtet. Der noch heute berühmte Ausspruch seiner girondistischen Gegner symbolisiert damit auch Robespierres eigenes Ende: „Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder.“

Die Rezeption Robespierres ist bis heute groß. Vor allem in der Literatur finden sich häufig Anknüpfungspunkte an sein Leben. Das Drama „Dantons Tod“ von Georg Büchner aus dem Jahr 1835 ist wohl das berühmteste Werk, das den historischen Stoff verarbeitet und Robespierre als Gegenspieler zu Danton zeigt.

Quellenteil:

Maximilien de Robespierre – „Erinnerungen“

ERSTES KAPITEL

Euch widme ich diese Schrift, ihr Manen des Bürgers von Genf, damit sie, wenn ihr das Licht der Öffentlichkeit bestimmt ist, unter dem Schutz des beredtsten und tugendhaftesten der Menschen stehe. Mehr als je bedürfen wir heute der Beredsamkeit und der Tugend. Göttlicher Mann, dir danke ich es, daß ich mich selbst erkannt habe. Daß ich in früher Jugend schon lernte, meine Menschenwürde hochzuhalten, über die großen Gesetze der sozialen Ordnung nachzudenken. Das alte Gebäude ist zerfallen. Die Pfeiler eines neuen Baus haben sich auf seinen Trümmern erhoben, und dank dir habe auch ich ihnen meinen Baustein eingefügt. Nimm meine Huldigung! So arm sie ist, darf sie dir gefallen: nie habe ich den Lebenden Weihrauch gestreut.

Ich habe dich am Ende deiner Tage gesehen, diese Erinnerung ist mir der Quell einer stolzen Freude; ich habe deine erhabenen Züge betrachtet, ich habe die Furchen des bitten Kummers gesehen, zu dem die Ungerechtigkeit der Menschen dich verdammt hat. Seitdem erkannte ich die Sorgen eines edlen Lebens, das sich dem Streben nach Wahrheit weiht. Sie haben mich nicht erschreckt. Das Bewußtsein, das Wohl seines Nächsten bezweckt zu haben, ist der Lohn des Tugendhaften; später erst folgt die Dankbarkeit der Volker, die seinem Andenken die Ehre gönnen, welche seine Zeitgenossen ihm versagt haben.

Wie du, möchte ich dieses Glück um den Preis eines mühevollen Lebens, selbst um den Preis eines frühzeitigen Todes erkaufen.

Bestimmt, mitten unter den größten Begebenheiten, welche je die Welt bewegt haben, eine Rolle zu spielen; im Begriff, die Gewitter losbrechen zu sehen, welche von allen Seiten sich zusammenballen, deren Wirkung kein menschlicher Verstand erraten kann, bin ich mir selbst, bin ich es bald auch meinen Mitbürgern schuldig, Rechenschaft von meinen Gedanken, meinen Handlungen abzulegen. Dein Beispiel ist da. ist vor meinen Augen; deine bewunderungswürdigen „Bekenntnisse“, freimütige Offenbarung der reinsten Seele, werden der Nachwelt ein Vorbild der Kunst, mehr noch ein Wunder der Tugend sein. Ich will deiner Spur folgen; sollte ich auch keinen Namen hinterlassen, nach dem künftige Jahrhunderte forschen werden; wohl mir, wenn ich in der gefährlichen Laufbahn, die eine unerhörte Umwälzung vor uns auftut, den Eingebungen treu bleibe, die ich aus deinen Schriften geschöpft habe.

Ich bin in Arras1) geboren; meine Familie stand daselbst in einem bedeutenden Ansehen: das Glück hatte sie nicht begünstigt, nur ihren Tugenden dankte sie die Achtung, deren sie genoß. Der Ahnherr meines Vaters war ein Irländer: der Sache der Stuarts ergeben, begleitete er den letzten Sprößling dieses königlichen Hauses nach Frankreich, und ließ sich, nachdem er die Pflicht erfüllt, die ihm sein politischer und religiöser Glaube auferlegt, im Artois2) nieder. Sein Grabmal ist noch in der Kirche von Carvin, einem Flecken bei Béthune.

Seine Kinder hatten die ehrenvolle Laufbahn der Rechte eingeschlagen; auch mein Vater war Advokat bei dem Obergericht von Artois. Seine Talente und seine Rechtlichkeit hatten ihm zahlreiche Klienten und ein unabhängiges Auskommen verschafft; seinem Glücke fehlte nichts als eine Gattin seiner Wahl, er suchte danach, nicht in den Reihen der Aristokratie, wozu seine Geburt ihn berechtigt hätte, sondern in den bescheideneren, tugendhafteren der arbeitsamen Bürger. Die Tochter eines Brauers, Marie Josephine Carreau, fesselte sein Herz; er trug ihr seine Hand an. Mein Großvater, den diese unstandesgemäße Verbindung verdroß, bemühte sich umsonst, sie zu hintertreiben. Die Liebe meines Vaters siegte über seinen Widerstand; die Tugend seiner jungen Gattin vollendete das Werk; bald gewann sie das Herz des Greises, der ihren Wert erkannte, seine Vorurteile vergaß, und nur noch die geliebte Tochter in ihr sah.

Ich war die erste Frucht dieser glücklichen Ehe, ein zweiter Sohn und noch zwei Töchter befestigten sie noch mehr. Ach! Wir sollten früh mit dem Unglück vertraut werden; unsre vortreffliche Mutter starb; nur ich kann von diesem traurigen Ereignis sprechen, dessen Erinnerung tief in mein Herz gegraben bleibt. Neun Jahre war ich alt, aber mein kindischer Verstand hatte bereits die ganze Liebe begriffen, die sie uns gewidmet hatte, die ihr schwaches Leben verzehrte. Ich weinte heftig; ich erriet, was der Tod sei, und war über meinen jüngern Bruder empört, der, mit aller Sorglosigkeit eines Kindes, neben dem Gemache spielte, in dem die teure Leiche ruhte.

Diesem ersten Schlage folgten andre nach; der Schmerz meines Vaters hatte keine Grenzen, seine Vernunft wurde irre, man war genötigt, ihn aus seiner Heimat zu entfernen, um seine Geisteskräfte und seine Gesundheit wiederherzustellen. Er durchreiste nach und nach Deutschland, England und Amerika, blieb einige Zeit in Köln und versuchte, als die dringenden Bitten der Familie ihn nach Arras zurückriefen, seinen alten Beruf wieder zu ergreifen; aber die traurigen Erinnerungen, welche seine Geburtsstadt in ihm erweckte, die tiefe Melancholie, welche seit seinem Wittum ihn beherrschte, machten ihm den Aufenthalt in Arras immer unerträglicher; er verließ die Stadt, um nie wieder zurückzukehren. Später erfuhr ich, daß er nach einem in Schmerz auf Reisen verbrachten Leben in München gestorben sei. —

Seit meiner frühsten Kindheit verwaist, empfand ich das Gewicht des Lebens, die lastende Knechtschaft der Wohltaten. Das Unglück hatte mir eine zeitige Reife gegeben; es trieb mich, mir meine Unabhängigkeit zu sichern, mit Eifer gab ich mich dem Studium hin, welches allein mir eine Aussicht darauf eröffnete. Mein Großvater hatte uns bei sich aufgenommen und die rührendste Sorgfalt an uns verschwendet; aber bald verloren wir auch diese letzte Stütze. Der Bischof von Arras, Herr von Conzié, der Freund meiner Familie, wurde mein Beschützer; er wachte über die Jahre meiner Kindheit und stellte mich zunächst als Chorknabe in der Kathedrale an: so erhielt ich die erste Grundlage des Unterrichtes. — Da ich glückliche Anlagen verriet, wollte Herr von Conzié sein Werk vollenden. Er stand in enger Verbindung mit dem Titular-Prälaten der Abtei von St. Vast, der, als solcher, über eine Freistelle im Kollegium „Ludwig der Große“ zu verfügen hatte. Herr von Conzié erbat und erhielt sie für mich.

Es war das Jahr 1770. Ich verließ zum ersten Male Arras, das so reich an herben Erinnerungen für mich war. Ich kam in Paris an, ich trat in das Kollegium ein, nicht mit der Traurigkeit des verzärtelten Kindes, das die Abwesenheit seiner Mutter, die Märchen seiner Amme und das Spielzeug beweint, womit es sich bis jetzt gefreut hat, sondern mit der Entschlossenheit des Mannes, den weder die Trauer der Vergangenheit, noch die Furcht vor der Zukunft verstört. Was hatte ich denn auch zu betrauern: ich, der arme, vom Mitleid Fremder abhängige Waisenknabe, der mitten unter Kinder kam, die, hier wenigstens, trotz der Reichtümer, der Auszeichnungen, der Ämter, welche ihrer warteten, noch meinesgleichen waren? Was hatte ich zu fürchten, ich, der ich von der Zukunft nur die Erziehung erwartete, die ich erhalten sollte? Unter andern Umständen hätten die Gitter meines neuen Aufenthaltes mir vielleicht den Atem beengt, die strenge Zucht, der ich mich unterwarf, wäre mir wie Tyrannei erschienen. Aber es handelte sich hier um mein ganzes Leben; überdies waren diese Gitter für jedermann geschlossen, diese Zucht lastete rücksichtslos auf uns allen; auch das war schon Gleichheit.

In Paris fand ich einen alten Oheim, Kanonikus in Notre-Dame; es war der Abbé3) de la Roche. Dieser wackre Mann nahm mich freundschaftlich auf; er war entzückt über das Gute, das man mir nachsagte, munterte mich zu Beharrlichkeit auf, und verschaffte mir von Zeit zu Zeit einige Zerstreuungen. Aber ich war bestimmt, alle meine natürlichen Beschützer zu verlieren, und lernte diesen fast nur kennen, um ihn zu beweinen. Er starb zwei Jahre nach meinem Eintritt in das Kollegium.

Von den Mitschülern, welche der Zufall mir beigesellt hat, haben einige sich einen Namen in der Welt erworben; mehrere habe ich in meinem politischen Leben wieder angetroffen, zum Teil als standhafte Verteidiger der Volksrechte, teils als furchtsame Stützen einer gemäßigten Meinung, oder als wütende Kämpen des Despotismus. Ich will ihrer kurz erwähnen.

Camille Desmoulins4) ist einige Jahre jünger als ich; er stammt von dem gelehrten Sachwalter Karl Desmoulins; dieser Adel ist mehr wert als der der Männer vom 4. August.5) Ein glühender Durst nach Ruhm verzehrt ihn; wäre er zu einer andern Zeit gekommen, hätte er, seines Großvaters gedenkend, wahrscheinlich seinen Namen durch einige glänzende juristische Arbeiten verherrlicht, und wäre ein höchst gewichtiger Mann geworden. Die Ereignisse, die eingetroffen sind, haben ihm eine andere Laufbahn eröffnet, für die er vorherbestimmt zu sein schien. Er hat sich mit seiner Feuerseele, mit der Begeisterung seiner Feder hineingestürzt — er wird es weit bringen. Dem Kapitel von Laon sind wir eigentlich die Erziehung schuldig, welche Camille erhalten hat; seine Familie war ohne Vermögen, die Kanoniker hatten ihm eine Freistelle im Kollegium „Ludwig der Große“ verschafft. Vielleicht werden sie es jetzt nicht bereuen, sich seiner angenommen zu haben. Camille ist häßlich im vollen Sinne des Wortes; sein dunkles, intelligentes Gesicht hat einen unedlen Ausdruck; er spricht mit Mühe, er stottert; doch bringt er es dahin, daß man ihn anhört, er fesselt, er bewegt das Volk: denn in seiner Rede ist die hinreißende Kraft natürlicher Überzeugung, welche weder Berechnung noch Schonung kennt. In seinen Schriften schmückt er diese volkstümliche Freimütigkeit mit aller Anmut eines sorgfältigen Stiles. Er ist ein furchtbarer Gegner, ein unbesonnener, verwegener, aber mächtiger Freund; sein Leben im Kollegium war, wie jetzt das des Mannes: heftig, unüberlegt, willkürlich. Sobald der erste leichte Funke der Empörung in die Herzen seiner Mitschüler fiel, konnte man sich darauf verlassen, daß er das Feuer anfachen und sich an die Spitze der Rebellen setzen würde. Ohne die Schwäche, der sich der Abbé Proyart in Hinsicht seiner nicht erwehren konnte, und welche die Kenntnisse, die Fortschritte, das gute Herz Camilles rechtfertigten, wäre er tausendmal fortgeschickt worden. Ich hängte mich an ihn: mein Alter, mein ernster, kalter Charakter gab mir ein Übergewicht über sein Gemüt, das nicht geschwächt worden ist. Damals, wie jetzt, brauchte er den Rat eines einsichtsvollen Führers, der die Verwirrungen seiner wilden Einbildungskraft regelte, die Schätze seines Geistes zu einem nützlichen Ziel leitete; er fühlte es, er fühlt es noch. Der gute Camille! Er liebte mich mit der Wärme der Schulfreundschaft: müßte ich ihn jemals auf die Probe stellen, ich bin gewiß, er würde sich bewähren.

Unter meinen Mitschülern habe ich, nach Camille, die engste Verbindung mit Fréron6), dem Redner des Volkes, erhalten. Ich hatte ihn seit der Zeit der Nationalversammlung7) kaum gesehen und mich ihm erst durch sein Journal wieder genähert. Als ich ihn im Kollegium kennenlernte, führte sein Vater noch das Zepter des Zeitungswesens: er setzte Voltaires8) beißenden Witzen eine unbeirrbare Kaltblütigkeit und erneute Angriffe entgegen, welche die Eigenliebe des reizbaren Dichters aufs höchste verwundeten. Dieser Kampf blieb uns nicht ganz unbekannt; der Geist der Unabhängigkeit und des Unglaubens, der bereits in unsem jugendlichen Gemütern schlummerte, riß uns mehr zu dem Banner des zweifelsüchtigen, spottenden Weisen hin. Fréron mußte es manchmal empfinden, daß seine Kameraden so wenig Geschmack für die rückschreitenden Lehren seines Vaters besaßen. Das Ansteckende des Beispiels, einige schlechte Scherze, deren Ziel er war, genügten, ihn aus der Bahn zu schleudern, auf die seine Geburt ihn hinzuweisen schien, und vereitelten die Lehren seines Vaters und die Ermahnungen seines Oheims, des Abbé Proyart. Fréron war nach seinem Austritt aus dem Kollegium lange Zeit gebunden und verhindert, die Lehren, welche er daselbst geschöpft hatte, frei zu entwickeln. Er begnügte sich, dem Vergnügen zu leben, etwas, was in den Augen der Aristokraten leicht zu dulden ist: Royou, Proyart und andere besorgten ohne ihn sein „Literarisches Jahrbuch“. Als Patenkind Königs Stanislaus, Schützling der Prinzeß Adelaide, unter der Aufsicht seiner frömmelnden Familie, lauter kriechenden Hofbedienten, konnte er sich erst durch die Revolution von 1789 losmachen. Jetzt schreitet er den eifrigsten Verbesserern voran und ist, wie ich glaube, der Sache der Freiheit aufrichtig ergeben. Sein Talent reicht nicht weit; ich habe keinen Grund, sein Herz für schlecht zu halten, doch hätte er mir nie die Teilnahme eingeflößt, welche ich für Camille hege.

Die glänzendste, aber auch die gefährlichste Rolle hat unter allen meinen Mitschülern Duport-Dutertre gespielt. Er ist einige Jahre älter als ich; als Kind habe ich nur in geringer Beziehung zu ihm gestanden. Erst als er gegen das Ende des Jahres 90 in das Justizministerium berufen wurde, erinnerte er sich, daß der für die Nationalversammlung gewählte Deputierte von Arras, dem seine Arbeiten einige Volkstümlichkeit verschafft hatten, wohl derselbe kleine Schüler sein könne, der mehr als einmal bei den Preisbewerbungen der Universität gekrönt worden war und mit ihm auf den Bänken des Kollegiums „Ludwig der Große“ gesessen hatte. Ich hatte, dank dieser Erinnerung, einigemal Gelegenheit, ihn in einigen schwierigen Verhältnissen zu sehen, die ich später berühren werde. Duport ist ein durchaus rechtlicher Mann, umgänglich, bescheiden und talentvoll. Sein Ruf als Advokat war groß, wohl verdient; er hatte unrecht, einen andern zu begehren. Nicht jedem ist es gegeben, ohne Vorbereitung ein geschickter Staatsmann zu werden; es gehört mehr dazu als Wissenschaft und Rechtlichkeit, und das war alles, was Duport hatte.

Noch ein Wort über zwei Männer, die heutigen Tages in verschiedener Hinsicht Aufsehen machen, deren Namen selbst ich ohne die widerhallenden Revolutionstribünen vergessen hätte. Den ersten, den ich zu meinem Erstaunen unter dem Namen Lebrun9) wiedertraf, kannten wir im Kollegium als Abbé Tondu. Obschon er damals das Bäffchen trug, war sein Leben doch durchaus abenteuerlich. Camille, den sein Alter mehr zu ihm führte, hat mich tausendmal mit der Beschreibung desselben zum Lachen gebracht; aber ich muß Verzicht darauf leisten, es mit allen Einzelheiten wiederzuerzählen, mit denen eine tolle Phantasie die Geschichte ausschmückte. Tondu wurde zuerst Geistlicher, warf dann die Kutte weg, wurde nacheinander Drucker, Soldat, Zeitungsschreiber und revolutionierte zuletzt das Lütticher Land. Als dessen Abgeordneten hörte ich ihn vor den Schranken der Nationalversammlung eine sehr patriotische Rede halten, die mir lieber gewesen wäre, wenn sie aus dem Munde eines guten Lüttichers gekommen wäre. Tondu-Lebrun ist gegenwärtig in den auswärtigen Angelegenheiten beschäftigt. Er ist ein durchaus hirnloses Subjekt, dem man, ich weiß nicht warum, diplomatische Kenntnisse zugeschrieben hat, und das höchstens zu einem Kabinettkurier fähig ist.

Der andere ist der politische Feind seiner ehemaligen Mitschüler geworden. Suleau nämlich, ein hitziger Kopf, der, weil er die Hoffnung aufgab, unter den Neuerern den ersten Platz einzunehmen, sich blindlings unter die Aristokraten geworfen hat. Sein Prozeß, die Giftigkeit seiner Blätter, seine Wut zu scherzen, haben ihn zur Genüge bekannt gemacht. Es würde mir übel stehen, ihm in einem Werke, das er nicht zu Gesicht bekommen wird, die Angriffe zurückzugeben, mit denen er mich beehrt hat. Handelte er aus Überzeugung, so verdient er noch den Haß der Patrioten, nicht ihre Verachtung. Aus den Reihen des Volkes hervorgegangen, verlassener Kämpfer der alten Herrschaft, arbeitet er umsonst für eine Partei, die nur wenige Tage noch mit dem Tode ringen und ihn in ihren Sturz hineinziehen wird. Sein gegenrevolutionäres Treiben, das niemandem mehr ein Geheimnis ist, hat ihn bereits dem Hasse des Volkes preisgegeben, welches nichts vergißt und früh oder spät Zeit findet, seine Feinde zu tüchtigen.

Ich habe mich bei diesen Namen aufgehalten, da sie sich an die Erinnerungen meiner Kindheit knüpfen, die durch die gewichtigen Ereignisse, mit denen sie sich seither vermischt haben, täglich erweckt und verdunkelt werden. Ich rufe sie mir gern ohne diese traurige Umgebung in das Gedächtnis zurück. Es gibt Pflichten, die mit Gewalt befehlen, die der tugendhafte Mann nicht vergessen kann, sollte er auch über dem Versuch umkommen. Aber die Seele bedarf auch der Ruhe, und in den noch frischen Eindrücken der Vergangenheit suche ich sie am liebsten. Nicht ohne lebhaften Genuß erinnere ich mich jener Zeit friedlichen Andenkens, wo ich keine Sorge hatte als die eines stets gespornten Wetteifers; keine Freude, als wenn mir ein Vers, der mir schwer geworden war, der wahre Sinn einer dunkeln Stelle, eine lateinische, des Tacitus würdige Wendung, eine heftige Rede im Stile Bossuets einfiel, mit der ich meine rhetorischen Ausarbeitungen schmückte; wo ich keinen andern Triumph kannte als einen Kranz, keine Belohnung als ein Buch. Nichts fehlte meinem Glücke, nichts als die Tränen, die Umarmungen einer Mutter, wenn ich als Sieger aus unsern gelehrten Kämpfen zurückkehrte.

Diese Vereinzelung hat mir frühzeitig eine Melancholie und Traurigkeit eingeflößt, die meine Kameraden falsch auslegten. So jung ich noch war, fühlte ich doch das Peinliche meiner Lage und floh ihrer Gesellschaft, die mich jeden Augenblick an das Glück mahnte, das ich auf immer verloren hatte. Sie warfen mir Menschenhaß, Eifersucht, und was weiß ich, vor: einer von ihnen, Fréron glaube ich, sagte es mir ins Gesicht. Ich gebe zu, daß sie mich nicht umgänglich finden konnten, aber ich war für die Gründe keine Rechenschaft schuldig, die mir den Wunsch einflößten, allein zu bleiben. Aber eifersüchtig? Gegen wen? Wen hatte ich denn seiner Fortschritte wegen zu beneiden? Wer fühlte eine größere Zukunft in sich?

Meine Lehrer würdigten mich richtiger; der eine besonders, Herr Hérivaux, hatte einen Geist, der mit dem meinen wunderbar übereinstimmte; dadurch, daß er seinen Schülern die schönen Taten der römischen Republik, Spartas strenge Sitten, die staunenswerten Werke der Künste und Beredsamkeit erklärte, welche die Freiheit unter den leichtlebigen, geistreichen Bewohnern Attikas geschaffen, lebte er zuletzt selbst nur in diesem Ideenkreise; als enthusiastischer Republikaner predigte er uns die Wohltätigkeit und die Wunder der Regierung, welche er sich gebildet hatte. Die Vorsteher des Kollegiums duldeten seine heftigen Lobeserhebungen, sie scherzten darüber wie über eine Verkehrtheit, die keine Folgen habe; aber wir, die wir eher als sie die scherzhafte Seite herausheben sollten, begingen die Verkehrtheit, die Sache sehr ernst zu nehmen. Bis jetzt hatte ich wenig Fähigkeit, mich zu regen, gezeigt : Ciceros fließende Reden waren für mich nicht ohne Reiz, aber der Teilnahme beraubt, die sich an die Wirklichkeit knüpft, ausgetrocknet durch pedantische Erläuterungen, ohne das Leben, das ihnen die Würdigung der Zeiten verleiht, erweckten sie nur eine unfruchtbare Bewunderung in mir. Die Worte des Herrn Hérivaux öffneten mir die Augen, er rief die alten Schatten der Gracchen herauf, stellte mitten im Forum die Rednerbühne oder den kurulischen Sessel wieder her, füllte den Senat, den Markt mit ehrwürdigen, im Dienste des Vaterlandes grau gewordenen Greisen oder mit einer unzähligen Menge, mit einem ganzen Volke an, welches über die Wahl seiner Abgeordneten ratschlagte, anklagte, richtete und strafte und dann, seine Obern an der Spitze, den Göttern seinen Dank abstattete und zum Pfluge zurückkehrte. Ich sah den Aventinischen Berg und beneidete das Los der mutigen Tribunen, welche die Eingriffe der Patrizier zügeln, die Rechte des Volkes schützen mußten.

Ich gestehe, diese neue Welt, in welche mein Lehrer mich einführte, bewirkte eine Umwälzung in allen meinen Ideen, aber bald brach das Licht hervor, kleine Unsicherheit schwand. Dieser ersten Unterweisung welche eigenes Studium hernach berichtigt hat, danke ich den Samen zu meinen unwandelbaren Ansichten. Herr Hérivaux bemerkte den tiefen Eindruck, den sein Enthusiasmus in meinem Geiste zurückgelassen hatte; er freute sich darüber und gab mir im Scherze den Beinamen des Römers.

Später mußte ich mich herabstimmen; mein Lehrer in der Philosophie verstand keinen Spaß bei diesen Gegenständen, ich mußte meine republikanischen Ideen in mich verschließen. Dieser Lehrer war der berüchtigte Abbé Royou, der kürzlich (im Juni 1792) in dem Verstecke gestorben ist, in welchem er sich vor dem Haftbefehl verborgen hielt, den die Versammlung gegen ihn erlassen hatte. Royou, der frömmelnde Abbé, der Schwiegersohn Frérons, Professor der Philosophie, war der Mann nicht, meine Ausfälle gegen den Despotismus, meine Verehrung der Freiheit zu dulden. Royou hatte sich, mit bedeutenden schriftstellerischen Talenten begabt, zum Kämpen einer Idee aufgeworfen, die gegenwärtig nur noch bei Narren oder unredlichen Leuten in Ansehen stehen kann. Zuerst mit Fréron für die Redaktion des literarischen Jahrbuches verbunden, gründete er später das Journal de Monsieur und durfte es ohne große Unannehmlichkeit versuchen, die Literatur zum Rückwärtsgehen zu zwingen; das Unnütze seines Versuches hätte ihm wenigstens über das Vorschreiten des menschlichen Geistes die Augen Öffnen sollen, aber die Erfahrung trägt denen, die nicht sehen wollen, keine Früchte! Royou hat sich auf die Politik geworfen, und sein „Freund des Königs“ wird ein unwiderleglicher Beweis für die Armseligkeit unserer Natur, für die Verirrungen sein, zu denen sie sich hinreißen lassen kann.

Der Abbé Proyart, Untervorsteher des Kollegiums, war mein Landsmann; als solcher wurde ich mit Liebe von ihm behandelt; denn im Grunde ist es ein vortrefflicher Mensch, den nur die Vorurteile seines Rockes und ein für kräftige Entschlüsse nicht sehr empfänglicher Charakter zur Hofpartei geworfen haben.

Auch in meinem Professor der Rhetorik, Herrn von Fousseux, hatte ich einen Landsmann und Freund gefunden. Ich habe ihn später in einem andern Kreise wieder angetroffen und erst dann die Vaterlandsliebe erkannt, die in seinem Herzen lebte.

ZWEITES KAPITEL

Ich werde mich hier nicht über die Fortschritte auslassen, die ich während meiner Studien machte; das Gedächtnis meiner Mitschüler und Lehrer, die Akten der Preisbewerbungen bezeugen sie zur Genüge. Mit einer leichten Fassungsgabe, besonders mit einer Ausdauer bei der Arbeit ausgestattet, wie man sie nur sehen bei der Jugend antrifft, wußte ich mir den ersten Platz in meiner Klasse zu erringen und mich darauf zu behaupten. Welch süße Genugtuung war es für mich, vor einer riesigen Versammlung von Gelehrten, Schriftstellern und Hofleuten den Siegespreis zu erringen, nicht nur über meine Mitschüler, sondern über die besten Zöglinge aller Pariser Kollegien. Lange erfüllte die Erinnerung jenes Triumphs mich mit Stolz, und selbst jetzt noch denke ich freudig daran zurück, weil ich durch sie an Selbstvertrauen gewonnen, mich zu würdigen gelernt habe und in das Leben wie ein Mann eingegangen bin, der seines Weges gewiß ist, dem es nie fehlen würde. Im Grunde jedoch sind diese Bewerbungen eine regelrechte Irreführung, und auf einen Schüler, der wie ich die Hoffnungen rechtfertigt, die seine frühen Erfolge zeitigten, kommen wer weiß wie viele, die unproduktiv bleiben und zu deren Mittelmäßigkeit sich nur der ganze Hochmut und törichte Ehrgeiz gesellt, den die Lobpreisungen ihrer Lehrer in ihnen erweckt haben; wie viele, die vortreffliche Finanzmänner und ertragliche Sachwalter geworden wären, verlegen sich dadurch auf Schöngeisterei und halten sich für einen neuen Montesquieu10) oder Voltaire, weil sie die Anrede des Regulus an seine Krieger ziemlich artig übertragen haben.

Ich habe mich ausgenommen; es wäre Torheit, falsche Bescheidenheit gewesen, wenn ich es nicht getan hätte; gewiß, der von zwei Akademien Preisgekrönte, der Advokat, der sich die Achtung, den Beifall seiner Mitbürger erworben, der Abgeordnete des Volkes, dessen Stimme nicht immer machtlos war, der öffentliche Ankläger des Tribunals der Seine, der Redner, der Schriftsteller, der Journalist, der sich die allgemeine Gunst errungen hat, ist dem gekrönten Zögling des Kollegiums von 1775 nichts schuldig geblieben, und wenn dieser etwas versprach, sind die Versprechungen gehalten worden.

In den letzten Augenblicken meines Aufenthaltes im Kollegium wurde ich noch bei einem ziemlich bemerkenswerten Ereignis ausgezeichnet. Es war im Monat Juni 1775, als Ludwig XVI. in Reims gesalbt worden war und bei seiner Rückkehr seinen Einzug in Paris feiern sollte. Alle gesetzlichen Behörden hielten eine Anrede an ihn. Auch die Universität gehörte dazu. Es war der Gebrauch, daß außer der gewöhnlichen Rede des Rektors, welcher den Lehrkörper repräsentierte, auch die Studenten sich vorstellen ließen, und daß einer derselben, der von allen seinen Kameraden gewählt worden war, zum Könige sprach. Ich wurde dazu bestimmt und führte das Wort. Ich habe durchaus nichts von der Rede behalten, die ich gesprochen habe; ich erinnere mich nur, daß die, welche ich entworfen hatte, dem Abbé Proyart vorgelegt wurde, der bei jeder Zeile, die er las, ununterbrochen ausrief: Da seh einer! Der kleine Tollkopf! Es ist unglaublich! Darauf strich er, verbesserte, strich wieder; alles mußte über die Klinge springen, und dabei zankte der Abbé! Als er fertig war, gab er mir mein unglückliches, von einem Ende zum andern durchstrichenes Manuskript zurück und sagte: „Das ist recht schön, mein Herr Römer, recht schön für den Tribun Tiberius Gracchus11), der den zum Konsul ernannten Nascia anredet. Oh! Oh! Junger Mann, was für ein Republikaner würden Sie sein! Aber Sie hätten Ihre Zeit besser wählen sollen: warten Sie es ab. Diesmal werde ich die Rede selbst machen!“ Ich folgte dem Rate des Abbés, ich wartete.

Seine Rede wurde vom Könige beifällig aufgenommen; mit der Freundlichkeit, welche ihn charakterisiert, sagte er uns einiges Schmeichelhafte; der Pater Proyart brüstete sich damit und nahm den größten Teil der Lobeserhebung ohne Umstände für sich in Beschlag. Ich hätte sie ihm gern samt und sonders abgetreten. Damals begriff ich, wie es den Menschen demütigt und verächtlich macht, wenn er mit gekrümmtem Rücken herablassenden Worten lauscht, die ihm zugeworfen werden wie Almosen. Für den guten Abbé freilich war es höfisches Weihwasser.

Bald darauf verließ ich das Kollegium: mein Bruder Augustin kam von Arras an und nahm die Freistelle ein, die durch mich ledig wurde. Um ihm diese Begünstigung zu verschaffen, stellte ich mich dem Kardinal von Rohan12) vor, der als Abbé von St. Vast darüber verfügte. Der Prälat empfing mich freundlich. Der glückliche Erfolg, der meine Studien gekrönt hatte, schmeichelte seiner Eigenliebe; „er schätze sich glücklich“ sagte er, „Ludwig dem Großen ein neues Geschenk machen zu können.“ Er fragte nach meinen Plänen, ich teilte ihm den Wunsch meiner Familie mit, daß ich mich den Rechten widmen möge. Er versicherte mich seines Schutzes und lud mich ein, ihn wieder zu besuchen. Ich habe ihn in der Tat öfters gesehen und werde Gelegenheit haben, dies zu berühren. Er ist ein Mann von schönem Wüchse und angenehmen Zügen; großmütig aus Prahlerei; vergnügungssüchtig; Sklave der Gunst; stets bereit, alles zu opfern, um einen Blick vom Throne zu erhaschen. Man weiß, daß er in dieser Beziehung unglücklich gespielt hat; übrigens ist er ein Mann von Geist und Welt und mehr dazu geschaffen, ein Schwert umzugürten, als seinen jetzigen Rock zu tragen.

Endlich ward ich Mann; Herr meiner selbst, konnte ich mich in meiner bescheidenen Studierstube frei den Arbeiten hingeben, die mir einen Rang in der Welt verleihen und die Keime entwickeln sollten, die ich in dem Unterrichte des Kollegiums und in meinen eigenen Betrachtungen geschöpft hatte. Ich hatte einen entschiedenen Sinn für die Wissenschaften und besonders liebte ich ernste, gewichtige Gegenstände, welche die ersten Interessen des Menschen und ihre Beziehung auf die Gottheit und auf diejenigen berühren, welche herrschen. Die Aufmerksamkeit war wieder auf diese wichtigen Fragen gerichtet; dank dem philosophischen Geiste, es hatte sich in Frankreich eine öffentliche Meinung gebildet. Die armen Bürger, welche unter Ludwig XIV. kaum den Intendanten ihrer Provinz bei Namen kannten, und von der Macht nichts kannten als den Unterbeamten, der sie aussog, machten nach und nach die Beobachtung, daß sie für den Staat von Bedeutung wären; sie lasen Montesquieu und J. J. Rousseau13), besprachen sich über die öffentlichen Angelegenheiten, beunruhigten sich über die Wahl der Minister und bezeichneten die, welche ihnen die Würdigsten schienen. Der Hof stellte sich taub; überdies sprach man noch so leise, daß man nicht klagen konnte, er vernachlässige und übergehe die Warnungen; allein man sprach doch, und auch das war schon ein Fortschritt.

Bei meiner geistigen Eigenart war es mir unmöglich, dieser Bewegung nicht zu folgen, ja ihr nicht vorauszueilen. Gierig verschlang ich alle philosophischen und politischen Werke. Bald konnte ich mir von dem Eindrucke Rechenschaft ablegen, den diese Bücher auf mich machten; ich hielt dafür, daß, wenn die politischen Arbeiten unserer Enzyklopädisten, Verbesserer der Staatswirtschaft und anderer, mit Ausnahme Rousseaus, der für sich allein dasteht, sehr schwach, sehr matt, sehr weit vom Wahren entfernt sind, ihre philosophischen Schriften dagegen (auch hier mit Ausnahme jenes großen Mannes) über das Ziel hinausgegangen wären, das Wahre mit dem Falschen niedergerissen und dem Bewußtsein des Menschen nichts als eine traurige Absonderung und der Gesellschaft nichts gelassen hätten als den schlechtesten Führer: die Vernunft ohne Religion und Glauben.

Meine Zeit teilte sich in diese Studien und meine juristischen Arbeiten ein. Mit Eifer ergab ich mich dieser trocknen Wissenschaft; ich wollte mein Leben vor Not und fremder Unterstützung sichern. Dieser Grund hätte hingereicht, meinen Mut aufrechtzuerhalten, aber ich hatte einen noch wichtigeren: das Krachen unserer alten Regierungsmaschine kündigte eine nahe Auflösung an; schon sprach man unter gebildeteren Leuten das Wort: Generalstaaten aus. Ich hatte es zuerst von Gerbier gehört, als dieser sich eines Tages mit Ferrieré in dem Kabinett dieses letztern unterhielt; plötzlich flammte in meinem Geiste eine Idee auf. Der feste Wille, an diesen großen Volksversammlungen teilzunehmen, bemächtigte sich meiner; um dahin zu gelangen, mußte ich mich unter meinen Mitbürgern bemerklich machen: in einem Lande, das der Pressefreiheit beraubt ist, blieb aber nur ein Rednerstuhl — die Schranken des Gerichtshofes. Ich begriff sogleich, daß man von dem Augenblicke an, wo die Nation mit denen, die am Ruder saßen, Abrechnung halten werde, alles durch eine neue Gesetzgebung umgestalten würde; um aber würdig bei diesem großen Werke mitwirken zu können, war es nötig, mit vollendeten Studien, mit zuverlässiger Kenntnis der Lage der Dinge, die man umstoßen mußte, in die Versammlung zu treten. In der Laufbahn aber, der ich mich gewidmet hatte, mußte ich das Mittel finden, den höchsten Beweis von Zutrauen zu erhalten, der einem Bürger nur erteilt werden kann, und das Mittel, mich auch dessen würdig zu machen. Man glaube nicht, daß ich auf diese Schlüsse erst hinterher gekommen bin. Man fasse eine bessere Meinung: mein ganzes Leben bezeugt meine Voraussicht; erstaune wer will: Robespierre konnte in seinem achtzehnten Jahre erraten, wovon sich der alte Maurepas14) nichts träumen ließ.

Von meinen vielen Beschäftigungen eingenommen, hatte ich weder Zeit noch Lust, meine Jugend durch Zerstreuungen und Vergnügungen zu zersplittern, wie sie das Leben in Paris den jungen Leuten bietet. Die mäßige Unterstützung die ich von meiner Familie erhielt, genügte meinen eingeschränkten Wünschen; mein Stäbchen im fünften Stock der Straße St. Jaques verließ ich nur, wenn ich zu Ferrieré ging, dem ich empfohlen war, oder wenn ich der Sitzung des Gerichts beiwohnte. Einmal wöchentlich nahm ich an den Verhandlungen teil, welche zu dieser Zeit der Abbé Rattier, geistlicher Rat im Parlament, eingeführt hatte. Mit derselben Sorge, womit andere danach streben, vermied ich jedes nähere Verhältnis mit Frauen. Die Verführungen, welche Gattinnen von ihrer Pflicht abziehen, habe ich immer für verbrecherisch, eines rechtlichen Mannes unwürdig gehalten; weniger streng urteile ich über Verhältnisse, die sich zwischen Personen, welche frei von allen Verbindlichkeiten sind, anknüpfen; aber kaum aus dem Kollegium geschlüpft, ohne Vermögen, ohne wirkliches Auskommen, hätte ich keine Frau an mein Schicksal fesseln mögen. Von den jungen Leuten meines Alters sah ich nur wenige, und diese selten; bis zur Zeit, wo Camille das Kollegium verließ, schloß ich mich an keinen meiner Kameraden an.

Ich war häufig in den Gerichtssälen und suchte dort Vorbilder, die ich einst vor Augen haben wollte, wenn auch mir sich die Schranken öffnen würden. Ferriére war ein vortrefflicher Jurist, von geradem Verstand und gelehrt; aber er hatte sich, wie sein Oheim beratenden Andenkens, auf seine Stubenarbeit beschränkt und nie öffentlich vor Gericht gesprochen. Zwei Männer machten sich damals in Paris den ersten Rang als Sachwalter streitig; ich spreche von Gerbier und Linguet. Beide haben Aufsehen gemacht, und wenn ich nicht irre, in umgekehrtem Verhältnisse zu ihren Verdiensten; der unruhige, streitsüchtige, aufhetzerische Linguet, dessen groben Verstoß gegen die Volksvertreter wir später gesehen haben, hat abwechselnd bald boshafte Pamphlets, bald gerichtliche Verteidigungen geliefert, die eines Pamphletschreibers würdig waren. Dieser Mensch hat nie etwas mit der Würde und der Haltung, die der Toga ziemt, weder tun noch reden können; und hat es dahin gebracht, daß er, von seinen Kollegen mehr noch verabscheut als gefürchtet, von der Liste ausgestrichen wurde. Als ich ihn zuerst sah, war er in offenem Kriege mit Gerbier und schob ihm die ärgsten Plackereien zu. Das Parlament, das bis jetzt Gerbier geliebt und bewundert hatte, war gerade gegen ihn gestimmt und bot dem eifersüchtigen Hasse Linguets die Hand. Der Grund dieser Veränderung war schon einige Jahre alt: als der Kanzler Maupeou das Parlament verbannt hatte, ernannte er eine Kommission, die Gerichtspflege zu verwalten; der größte Teil der Advokaten weigerte sich, vor diesem aus dem Stegreif eingerichteten Hofe zu plädieren; aber Gerbier, der vom Kanzler gewonnen war und ohne Zweifel glaubte, daß sein würdiger Stand ihm jederzeit die Pflicht auflege, mit seinem schönen Talente Mitbürgern beizustehen, führte seine Prozesse vor diesen eingedrungenen Richtern und zog sich dadurch die Feindschaft der alten Parlamentsglieder zu. Gerbier war ein wahrhaft bewunderungswürdiger Mann! Niemals hat die Macht der Rede so gewaltig auf mich gewirkt! Er starb für seinen, für Frankreichs Ruhm einige Jahre zu früh. Unsere beratende Beredsamkeit hätte einen Meister mehr gehabt. Es war nicht dieser heftige, plötzliche Schwung, den wir bei Mirabeau15) bewunderten; es war mehr der Attizismus, die Feinheit des gebildeten Vortrages, der Reichtum an Bildern und Abwechslung, wie er sich in den unvorbereiteten Reden des jungen Advokaten von Bordeaux Vergniaud widerspiegelt; aber es war außerdem noch eine würdevolle, eindringliche Sprache, eine edle, sich mitteilende Wärme in seiner Darstellung und ein Gebärdenspiel, wie es nie ein Redner besessen hat. Hätte ich jemals wünschen können, etwas anderes zu sein als ich selbst, so war Gerbier der Mann, dem ich am liebsten gleichen mochte: er war rechtlich, uneigennützig, voller Ehrgefühl; die Eigenschaften des Herzens vereinigten sich in ihm mit allen Gaben der Natur. Linguet ist weit entfernt, dies Lob zu verdienen, und wenn man dem Genius im Gefolge der Tugend Altäre errichten muß, so soll man das Talent, das Genie selbst mit heilsamem Tadel strafen, wenn es nicht in der Tugend wurzelt.

Diese juristischen Kapazitäten, denen der künftige Advokat hohe Wichtigkeit beimaß, waren beim Publikum weniger angesehen. Hier wandten sich aller Blicke auf zwei Männer, die den größten Glanz auf die Wissenschaften geworfen, ihren Namen an das Jahrhundert geknüpft haben. Voltaire und Rousseau waren damals ihrem Ende nah; der Neid und der Haß, der sie im Leben verfolgt hatte, verschonte auch ihre letzten Stunden nicht. Aber ein allgemeiner Ruf des Lobes und der Bewunderung erstickten das unziemliche Geschrei ihrer Feinde. Es war ihnen vergönnt, noch lebend ihres Ruhmes zu genießen: der eine in der Zurückgezogenheit, im Frieden des Landlebens; der andere im Geräusch, in Festen, unter Akademikern, großen Herrn, Schauspielern und Hofdamen. Beide genossen, mit einem Fuße fast schon im Grabe, zum letzten Male noch die Freuden, die sie während ihrer ruhmvollen Laufbahn am meisten berauscht hatten. Der Eigenliebe Voltaires blieb nichts mehr zu wünschen, Rousseaus Seele war befriedigt. Beide schienen sich nach einem wechselreichen, irrenden Leben, das sich durch Achtungen und Triumphe, durch mächtigen Haß und erhabene Freundschaften auszeichnet, verabredet zu haben, den letzten Atemzug an dem Orte auszuhauchen, der die Fackel ihrer Unsterblichkeit entzündet hatte.

Ganz Paris beschäftigte sich mit diesen beiden berühmten Männern; besonders war Voltaire der Gegenstand der staunenden Bewunderung der Bürger geworden. Seit 27 Jahren durch ein Gutdünken des Königs aus der Hauptstadt verbannt, kam er nicht wie ein großer Mann zurück, gegen den man sein Unrecht wieder gutmacht, sondern bloß geduldet, wie ein Schuldiger, zu dessen Gegenwart man ein Auge zudrückt. Der Hof sah in ihm nur den achtzigjährigen Greis, dessen Kräfte zu erlöschen begannen, und darum schien sein Aufenthalt nicht gefährlich mehr: als ob die Menge eines neuen Trauerspiels, wie Mahomet, nötig gehabt hatte, um den Fanatismus zu hassen, eines neuen Versuches über die Sitten, um die von der Macht geheiligten Mißbräuche zu bemerken. Voltaire brauchte sich nur zu zeigen, um elektrisierend auf die Masse zu wirken; sein Name war ein Banner, um welches sich freiwillig die Anhänger der neuen Philosophie scharten. Atheisten, Deisten, Protestanten, politische Neuerer und Verbesserer der Staatswirtschaft, alles, was sich regte, alles, was dem freigewordenen Denken einen Schwung gab, erkannte in ihm den Führer; denn bei der unversiegbaren Fruchtbarkeit seiner Feder, bei der Mannigfaltigkeit seiner Kenntnisse, der Biegsamkeit seines Geistes dürfte schwerlich ein Streitsatz zu prüfen sein, der nicht in dem Arsenal seiner Werke mehr oder minder gestählte Waffen fände.