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Kurzgeschichten

 

 

Sechs poetische Stimmen

Nach einer Themenidee von Monika Helfer

Herausgegeben von Rafik Schami

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage Februar 2018)

 

© 2018 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Dr. Felicitas Igel

Umschlaggestaltung: Philipp Starke, Hamburg unter Verwendung eines Fotos von © plainpicture/Heidi

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-852-7

 

Inhalt

 

Monika Helfer – 7 Sehnsuchtsgeschichten

Michael Köhlmeier – Nachtschatten – Reiter in der Nacht – Die Stunde ist da

Root Leeb – Die Farben der Sehnsucht

Franz Hohler – Das weiße Spitzchen

Nataša Dragnić – Nah am Wasser

Rafik Schami – Syrisches Klassentreffen – Die merkwürdige Sehnsucht des Herrn Hamid

Nachwort des Herausgebers – Die letzte Burg

Die Autorinnen und Autoren

 

Monika Helfer – 7 Sehnsuchtsgeschichten

 

Liebe am falschen Platz

Ein Lastwagenfahrer, ein haariger Mann mit freundlichen Augen, fuhr und träumte auf der Landstraße. Er war gerade in einem Wohngebiet angekommen, da streikte sein Fahrzeug. Der Mann hielt an und kroch unter das schwere Gefährt, um den Fehler zu finden. Öl tropfte auf den Asphalt. Eine junge Frau mit zwei Kindern ging an ihm vorbei, er sah gerade ihre Beine, die Schnürstiefel der Frau und die Sandalen der Kinder. Die Kinder zerrten an der Mutter. Sie wollten sehen, wer darunter liegt. Die Mutter mahnte die Kinder, sie habe keine Zeit. Der Lastwagenfahrer dachte: Ihre Stimme klingt zwar genervt, aber das Rauchige darin gefällt mir. Er kroch unter dem Lastwagen hervor, um zu sehen, zu wem die Stimme gehörte. Er stand aufrecht, rieb sich die Hände an der Brust und grüßte, erst die Frau, dann die Kinder. Sein Hemd war ölverschmiert. Die Frau musterte ihn. Er fand sie ziemlich süß, fast ein Mädchen, mit toupierten Haaren und kurzem Rock.

Sie schaute ihn an und fand, dass er gemütlich aussehe, und Hintergedanken bedrängten sie. Sie fragte, ob er bei ihr einen Kaffee trinken wolle, sie habe nämlich Lust auf einen Kaffee. Der Lastwagenfahrer dachte sich: Wird wohl hoffentlich nicht nur an mir liegen, dass das, was sie sagt, zweideutig klingt, und er sagte: »Ich komme gern auf einen Kaffee, wenn Ihnen meine Aufmachung nicht zu schmutzig ist.« »Ist ja nur Öl«, sagte sie leichtfertig, »Dreck von der Arbeit kann gar nicht schlecht sein.«

Der Lastwagenfahrer, ermutigt durch ihre Reden, ging schwungvoll neben ihr her, er achtete darauf, dass sie seinen kleinen Gehfehler nicht bemerkte. Er schleifte ein wenig das rechte Bein, das kam von einem Unfall. Die junge Frau aber, ganz in Gedanken, sah zu ihm auf, denn er war um einiges größer als sie, und dachte: Er wirkt vertrauenswürdig.

Die Kinder saßen bereits auf seinem Schoß, er hatte den Kaffee getrunken, und ihm fiel auf, dass die Frau ständig auf ihre Uhr schaute. Das gefiel ihm nicht. Den Kindern gefiel es aber sehr, auf seinem Schoß zu schaukeln, er brummte wie ein Lastwagen, bremste wie ein Lastwagen, beschleunigte und überholte. Dabei hob er seine Stimme, und sie klang wie eine Sirene.

Da sagte die Frau: »Wenn ich jetzt zwei, drei Stündchen weggehe, könnte ich die Kinder bei Ihnen lassen?« Aha, dachte der Mann, so läuft der Hase, und er war enttäuscht, hatte er ihre Zweideutigkeit doch völlig falsch eingeschätzt. Sie ist ein Luder, dachte er sich, und hat zwei so liebe Kinder, aber ich werde auf sie aufpassen.

Die Frau wiederum dachte sich, während sie sich schminkte, nämlich vor den Augen des Lastwagenfahrers sich puderte, sich die Lippen grell anstrich, an den Augen herummalte, dieser Mann, dem kann ich trauen, irgendwie erinnert er mich an den Pfarrer, den ich als Kind in Religion hatte.

Der Lastwagenfahrer, obwohl er überhaupt keine Zeit hatte, verschenkte sich an die Kinder, spielte mit ihnen und tat, was ein guter Vater tut. Er suchte nach Gegenständen, die auf einen Ehemann schließen lassen könnten, fand aber keine. Er sagte fragend zu den Kindern: »Wo ist euer Papa?« Aber sie schauten nur ungläubig. Anzunehmen, dass ihnen keiner in Erinnerung war.

Der Lastwagenfahrer, ein sentimentaler Mensch mit gescheiterten Beziehungen und einer verpfuschten Ehe, malte sich aus, wie es sein könnte, käme die Frau nach Hause und würde anstelle der Kinder auf seinem Schoß sitzen. Er kochte Milchreis, weil ihn das an seine eigene Kindheit erinnerte, auf dem Bauernhof, als seine Mama in ihrer weißen Schürze am Herd gestanden war und alles nach Zimt roch, wie im Morgenland. Außerdem waren es die einzigen Zutaten, die er fand, die nach Mahlzeit aussahen, Geld war da nicht viel in diesem Haus. Das Mädchen fand auf dem hintersten Regal noch ein Glas Brombeermarmelade. Hoffentlich nicht schimmlig.

In diesen Stunden lag die junge Frau mit einem Mann im Bett. Für den war sie nur ein Abenteuer, ihre kleinen Brüste gefielen ihm, und dass sie wie ein Knabe aussah. Es war nur ein Abenteuer für ihn, und er dachte bei sich, ausprobieren, bis ich endlich weiß, wohin ich gehöre. Er war in Wirklichkeit verklemmt und erlaubte sich nicht, an junge Männer zu denken. Wenn er die Augen schloss und über die Hüften der jungen Frau strich, fühlte es sich an, als sei sie ein Kerl. Was dem Liebhaber gar nicht gefiel, war, dass sie viel von ihren beiden Kindern sprach und ihn offensichtlich als Vater aufreißen wollte. Nicht mit mir, dachte er sich. Als er dann ihren BH, obwohl sie ja wirklich keinen gebraucht hätte – bei ihren Knospen –, an der Stuhllehne hängen sah, wurde ihm flau im Magen, und er rollte sich aus dem Bett. Er wollte ihr sagen, dass es aus sei, ihr Liebesverhältnis nicht mehr weiter bestehen könne, weil, ja weil, was sollte er für einen Grund nennen.

Die Frau sagte, »bleib, ich hab noch eine halbe Stunde.«

»Für uns«, stammelte er, »kann es keine Zukunft geben, ich kann nicht zwei fremde Kinder aufziehen und will das auch nicht, verstehst du. Ich brauche einen klaren Schnitt. Ich möchte überhaupt nie Kinder haben, auch keine eigenen. Mein Leben ist ohne Struktur, und jetzt will ich das ändern. Ich habe mich in der Abendschule eingeschrieben und will alles abbrechen, was mich an mein altes Leben erinnert. Verstehst du?«

»Nein«, sagte sie, »das verstehe ich nicht, ich kann nicht verstehen, dass man etwas Schönes nicht mehr will, und unsere Beziehung ist doch etwas Schönes. Du musst mich nicht heiraten, und meine Kinder sind meine Sache, ganz allein meine Sache.« Sie wusste, dass sie unglaubwürdig klang.

»Du sollst mich nicht mehr besuchen, mich nicht anrufen, mir keine SMS mehr schreiben, kapiert, denn das alles belastet mich und macht mich unfähig für Neues.«

Die Frau versuchte, nicht zu weinen, trotz alledem schossen ihr die Tränen in die Augen, und sie wischte sie mit dem Handrücken weg. »Versager«, sagte sie, als sie ihr federleichtes Kleid über den Kopf zog, in ihre Schnürstiefel schlüpfte, die Schuhbändel offen ließ, fast darüber stolperte, sich die Haare nach hinten strich und sich verbot, auch nur einen Blick zurückzuwerfen.

Sie sah zu Hause den Lastwagenfahrer und erwog, ob er für sie infrage käme, fand ihn aber zu alt, er hätte ja ihr Vater sein können. Deshalb bedankte sie sich nur bei dem Fremden, sie fand, seine Augen wirkten so traurig, und deshalb gab sie ihm einen Kuss mitten auf den trockenen Mund, der nach Brombeermarmelade schmeckte. Die Zunge ihres Liebhabers kam ihr in den Sinn, die so weich und eilig gewesen war, aber sie wollte es sich verbieten, an diesen Versager zu denken, er hatte für sie keinen Namen mehr, aber vergessen konnte sie ihn trotz allem nicht.

Die Kinder jammerten, als sie sahen, dass der Lastwagenfahrer weggehen wollte, sie sagten: »Aber Mama, dein Bett ist so breit, da hat er doch leicht Platz.« Sie wussten noch nichts vom Leben, waren noch so unschuldig, der Bub fünf, das Mädchen gerade drei Jahre alt.

Der Lastwagenfahrer stieg in sein Gefährt und brauste davon, er nahm sich vor wiederzukommen, vielleicht in einem Monat, wenn er von seiner Tour zurück war, er könnte in Italien eine Puppe für das Mädchen kaufen, in so einem Seidenkleid, und für den Bub ein Löschfahrzeug, denn davon hatte er die ganze Zeit gesprochen. Die Frau würde er nicht beschenken, sie hatte es nicht verdient. Er würde die Sachen einfach nur abgeben und wegfahren, im besten Fall Sehnsucht zurücklassen.

Die Frau dachte bei sich, als sie den Lastwagen wegfahren sah: Ich habe vielleicht etwas falsch gemacht; sollte er wiederkommen, will ich ihn ausprobieren.

Noch aber war die Geschichte mit ihrem Liebhaber nicht zu Ende, Sehnsucht plagte die Frau, und sie dachte, sie könnte ihn gewiss umstimmen. Sie schickte ihm SMS, eine nach der anderen, bis zu zwanzig am Tag. Sie ließ die Kinder allein und stellte sich hinter einen Baum, sodass sie auf seine Haustür sehen konnte, er kam und ging. In einer Anwandlung schlechten Gewissens rannte sie nach Hause, fand ihre Kinder spielend auf dem Teppich. Weiter schrieb sie SMS, und dann erreichte sie ihn nicht mehr. Garantiert hatte er sich ein neues Handy angeschafft. Wieder versteckte sie sich nahe bei seinem Haus, und einmal tat sie so, als treffe sie ihn zufällig. Er war gerade mit einem anderen Mann im Gespräch, und sie sagte: »Was für ein schöner Zufall« und ging auf ihn zu.

Er sagte: »Ich kenne Sie nicht, Sie verwechseln mich« und ging weiter. Sie war so fassungslos, dass ihr nichts einfiel. Wieder lief sie nach Hause. Das kleine Mädchen saß in der vollen Badewanne, und der Bub spielte mit einem Schiffchen. Er hatte seiner Schwester ein Bad einlaufen lassen, aber das Wasser war schon kalt, und die Kleine zitterte.

Für die Frau wurde es zu einer fixen Idee, ihren ehemaligen Liebhaber zu sehen. Immer öfter ließ sie ihre Kinder allein, manchmal bis in die Nacht. Einmal hatte sie ihm ein Kellerfenster eingeschlagen und sich versteckt.

Es war das Haus seiner Eltern, in dem er wohnte.

Sie hörte ihn kommen und verschwand.

Einmal erwischte er sie im Heizungskeller, und er holte die Polizei. Sie fuhren in ihre Wohnung und fanden die Kinder in der Küche. Das Radio lief laut, und der Junge stand am Herd, und Eier waren in einem Topf ohne Wasser, es stank fürchterlich.

»Man wird Ihnen die Kinder wegnehmen«, sagte ein Polizist. Die Frau flehte ihn an, es würde nie wieder vorkommen, und lange kam es auch nicht wieder vor. Sie kümmerte sich in ihrer fahrigen Art um die Kinder, spielte mit ihnen unter dem Tisch, als wär sie selber noch ein Kind. Jeden Monat wurde ihr die Sozialhilfe überwiesen, es war nicht viel, aber sie kam damit zurecht. Sie hatte eine Nähmaschine und schrieb auf ihre Tür, dass sie Änderungsschneiderin sei. Sie nähte fremde Reißverschlüsse in fremde Hosen und verbot es sich, zum Haus ihres ehemaligen Liebhabers zu gehen.

Lange hielt sie das nicht durch. Wieder ließ sie die Kinder allein, versorgte sie mit Süßigkeiten und Saft, und versprach, bald wiederzukommen. Erneut schlich sie sich in das Haus, das kaputte Fenster war nicht repariert worden, und es fiel ihr leicht einzusteigen. Sie ging in sein Schlafzimmer, nahm seinen Pyjama unter dem Kopfkissen mit und verschwand. Zu Hause dann roch sie viel am Pyjama, bis er nicht mehr nach ihm roch.

Sie war ungeduldig mit den Kindern.

Da kam wie gerufen der Lastwagenfahrer mit seinen Geschenken. Der Junge öffnete die Tür. Gleich waren die Kinder wieder mit ihm vertraut, sie öffneten ihre Päckchen und sprangen an ihm hoch wie Kätzchen. Er wollte auf die Frau warten. Lange kam sie nicht, und sie fand den Mann mitsamt den Kindern im Lehnstuhl, alle eingeschlafen.

Der Lastwagenfahrer machte ihr einen Antrag, er wollte sie heiraten, und, bis sie etwas Besseres gefunden hätten, zu ihr ziehen, vorausgesetzt, es wäre ihr recht.

Der Frau war das recht, denn sie dachte nur, wie günstig es wäre, ihre Kinder versorgt zu wissen, dann könnte sie jederzeit in das Haus ihres ehemaligen Liebhabers einsteigen. Es war ihre fixe Idee.

Der Lastwagenfahrer und die Frau heirateten, er ließ sich frühpensionieren, hatte er doch beruflich bedingte Bandscheibenbeschwerden. Seine Rente war nicht schlecht, und er hatte einiges an Erspartem. Er wollte Geduld haben mit seiner neuen Frau, die sich ihm entzog, gerade ein Mal hatte sie mit ihm geschlafen, einen Tag nach der Hochzeitsnacht, in der Küche, im Stehen. Ihre Obsession verschlimmerte sich. Einmal fand sie ihren ehemaligen Liebhaber im Haus mit seinem Freund, sie saßen auf der Treppe und küssten sich. Die Männer führten sie aus dem Haus und drohten mit der Polizei.

 

Am Ende der Geschichte brandschatzt die Frau im Haus ihres ehemaligen Liebhabers, sie tränkt Lumpen mit Benzin und zündet sie an. Das Haus brennt ab. Die Frau wird überführt und eingesperrt.

 

Der Lastwagenfahrer war Mann und Frau in einem, Vater und Mutter, die Kinder liebten ihn. Und die Frau? Sie wollte weder ihn noch die Kinder sehen.

 

Der Bergkristall

Zum Zeichen seiner Liebe schenkte er ihr den Bergkristall, er werde sie vor schädlichen Strahlen bewahren, ihre Migräne lindern und ihre Leber reinigen. Sie hielt nichts von Steinen, aber seine Bekundung machte sie glücklich, weil sie den Mann liebte. Sie zog in sein Elternhaus, von Kindern wurde gesprochen und einer Zukunft. Die Eltern des Mannes waren esoterisch erleuchtet, überall lagen Steine in der Wohnung herum, solche, die Heil bringen sollten, das befremdete die Frau, sie ließ sich aber nichts anmerken. Sie hielt sich auch zurück, als ihre zukünftigen Schwiegereltern ihren neuen Mercedes der Klasse A verschrotteten, weil sie überzeugt waren, dass sich darin böse Geister aufhielten. Das hatte der Meister behauptet. Der Guru, bei dem sich die gesamte Familie Ratschläge holte, gab ihnen viele und verlangte viel dafür.

Sie tat alles für ihren Partner, später sagte sie dazu, sie sei devot gewesen, und sie verachte sich dafür. Weil er arbeitslos war, schrieb sie seine Bewerbungen, sie war klüger als er, sie lernte mit ihm Englisch und versuchte, ihn von seiner Alkoholsucht zu befreien.

Nach drei Jahren sagte der Mann zu ihr, es sei jetzt Schluss, er habe eine neue Frau kennengelernt, der er gleich einen Bergkristall schenkte.

Die Frau konnte es nicht verkraften, dass der Mann sie durch eine andere ersetzt hatte. Sie zog wieder zu ihren Eltern und weinte die Nacht durch, bis in den Morgen hinein. Da war ihr Gesicht angeschwollen, und so konnte sie schlecht zur Arbeit gehen. Nie hat ein Mensch um einen anderen so geweint, dachte sie sich, als sie ihr Kopfkissen nass fand. Nie mehr würde sie jemandem so nahe sein. Sie hatte ihm so gern beim Schlafen zugesehen, hatte seinen schönen Kopf angeschaut und war stolz gewesen, dass das ihr Mann war.

Ihre Freunde sagten, sei froh, dass du ihn los bist, vergaßen, dass sie sich einmal nichts Besseres für sie vorstellen konnten. Das war vorbei. Sie sagten, stell dir nur einmal vor, wie viele Bergkristalle er verschenkt hat seit seinem fünfzehnten Lebensjahr, denn ab diesem Zeitpunkt war er nie mehr ohne Freundin gewesen.

Kann man eine Verzweifelte trösten? Man kann ihr raten, sich zu besinnen, keinen Alkohol zum Vergessen mehr zu trinken, die Arbeiten zu erledigen, sich die Haare zu waschen, sich wieder hübsch herzurichten – denn sie war hübsch.

Jeder hatte sich gedacht, dass die Frau selbstbewusst sei, das Gegenteil war jetzt der Fall. Sie erzählte, einmal, als ein attraktiver Mann mit ihr schlafen wollte, ließ sie es nicht zu, nicht, weil sie so schüchtern war, wie er es auslegte, sondern weil sie Angst hatte, er könnte ihre unrasierten Beine sehen. Sie brauchte dringend eine Pyjamahose.

 

Sehnsucht 1

Lieber Max,

Du wunderst Dich sicher, dass ich Dir einen Brief schreibe. Mailen war mir zu gewöhnlich. Du bist ein viriler Mann, und das ist es, was ich an Dir liebe. Ich weiß, Du würdest Dich nie von Deiner Frau trennen. Mir genügt meine Hälfte von Dir. Gestern sah ich Dich mit einer Frau, die ich nicht kenne und die jünger war als ich. Es hat mich erschüttert zu sehen, wie Du ihre beiden Hände gehalten hast, so als wäre das eine Beschwörung. Wer ist diese Frau? Ich kann mit einem Drittel Max beim besten Willen nicht leben. Da bin ich lieber wieder allein. Oder könnte ich es doch? Verdammt. Was will ich? Ich darf jetzt keinen Fehler machen. Ich würde unsere Gespräche vermissen und unseren gemütlichen Sex.

Franzi

 

Liebe Franzi,

eine Mail auf die Schnelle. Du glaubst doch nicht, dass ich mich so einfach aus dem Staub mache. Du wirst mich nicht los. Diese junge Frau ist eine Kollegin mit mächtigem Liebeskummer, und ich war am Donnerstag ihr Zuhörer. Diese Frau verkümmert. Der Mann, den sie liebt, ist verheiratet. Sie hofft, er würde sich trennen. Sie sagt, sie habe ein Ablaufdatum, weil sie unbedingt ein Kind will. Das ist die denkbar unglücklichste Konstellation. Sie schreibt diesem Mann an einem Tag über hundert SMS. So, sagte ich zu ihr, wirst Du das Ende dieser Beziehung herbeiführen.

Dein hungriger Max

 

Sehr geehrte Franziska,

ich darf Sie doch so ansprechen? Max hat mir von Ihnen erzählt und dass Sie von meinem Unglück wissen. Da Sie in ähnlicher Situation sind wie ich, erhoffe ich mir Rat von Ihnen. Wie soll ich mich verhalten? Ich bin so verzweifelt, und wenn mir meine Liebe zurückgeschleudert wird, will ich nicht mehr leben.

Ihre Renate

 

Liebe Renate,

sich ein Ablaufdatum zu geben, ist eine Sünde. Menschen haben kein Ablaufdatum, Frauen schon gar nicht. Jede Frau ist in ihrem Lebensalter eine Wucht. Was uns unterscheidet, ist im Groben die Tatsache, dass ich von Max nie ein Kind wollte (ich habe zwei Kinder von meinem ersten Mann – Max hat zwei Kinder mit seiner Frau). Diese, das Ablaufdatum betreffende Sorge war also nicht die meine.

Glauben Sie mir, das Bombardieren mit Telefonanrufen, SMSen ist ein Fluch. Allerdings könnte sich auf diese Art die Beziehung ganz von selbst auflösen. Versuchen Sie doch, sich diesen Mann abzugewöhnen. Am besten, Sie ersetzen ihn durch einen anderen.

Ihre Franziska

 

Liebe Franziska,

Ihre Mail fand ich grausam. Sie müssen doch am besten wissen, wie man leidet, wenn man einen Mann nie ganz haben kann. Sie teilen Ihren Max mit seiner Frau, und wie geht es Ihnen damit?

Renate

 

Sehr geehrte Franziska,

es ist an der Zeit, Ihnen zu sagen, dass ich natürlich längst über Ihre Beziehung zu meinem Mann informiert bin, auch über seine Abmachung mit Ihnen, dass er sich nicht von mir trennen wird. Das ist aus wirtschaftlichen Gründen notwendig. Ich habe mich damit abgefunden (was eine quälende Zeit beansprucht hat). Mittlerweile verbringe ich viel Zeit in einer Gebetsgruppe und konzentriere mich auf das Wesentliche. Ich habe meinen Frieden gefunden. Das sei Ihnen auch zu wünschen.

Ursula Voss

 

Liebe Franzi,

es gibt in Neuseeland eine Brückenechse – TUATARA – ein prähistorisches Reptil, das sich seit der Zeit der Dinosaurier vor Jahrmillionen nicht mehr verändert hat.

Das werden wir nicht schaffen. Aber Tuatara lebt auch nicht so intensiv wie wir zwei.

Dein Max

 

Lieber Max,

mein Freund hat mit mir Schluss gemacht. Und weißt Du, was verrückt ist? Er trennt sich von seiner Frau. Weil er das alles nicht mehr aushält. Ich muss unbedingt mit Dir reden. Nur Du kannst mir helfen.

Renate

 

Sehnsucht 2

Sie ist älter geworden, dachte er, aber ich werde mir nichts anmerken lassen, die Figur ist noch fest.

Nur hatte sie sofort bemerkt, dass er ihre Falten um den Mund registriert hatte. Ich werde so tun, dachte sie, als wäre alles so wie damals, als wir uns verabschiedet haben. Vor elf Jahren. Sie drückte ihren Rücken durch und warf den Kopf zurück und lächelte die Falten weg.

Er ist derselbe geblieben, ein bisschen schief geworden vielleicht, sein Gesicht, ein bisschen trockener vielleicht. »Erinnerst du dich an den Fluss«, sagte sie, »er war wild und reißend, jetzt ist er fast ausgetrocknet.«

»Das ändert sich garantiert, wenn das Schmelzwasser kommt«, sagte er, und sie dachte: Nur mein Herz schmilzt hier, nur mein Herz.

Sie war die ganze Zeit über in diesem Haus, dachte er, beim Saubermachen, beim Verschönern, während ich Affären hatte – Affären mit einer Chinesin, einer Perserin und einem Schweden. Er griff in die Hosentasche und klappte sein Messer auf, spürte die scharfe Klinge.

»Die Rosen«, sagte sie, »hast du meine Rosen gesehen? Sie duften wie vor elf Jahren.«

»Und sonst?«, fragte er. Für nichts weniger als für Rosen interessierte er sich. »Hast du meine Briefe erhalten?«, fragte er.

»Den einen mit dem Brieföffner aus Elfenbein. Der Kopfschmuck des Häuptlings ist abgebrochen. Ich wollte ihn kleben, aber dann gefiel er mir so besser, und außerdem passte er ohne Kopfschmuck besser zu mir.«

»Hast du damit schon Briefe geöffnet?«, fragte er.

»Nur deine fünf Briefe habe ich damit geöffnet«, sagte sie. »Alle sind gut verwahrt.«

Sie dachte, immer hat er die Gewohnheit gehabt, in seiner Hosentasche mit seinem Messer zu spielen. Am liebsten hätte sie geschrien: Hör augenblicklich auf, mit deinem Messer zu spielen! Er ist fünf Jahre älter als ich, dachte sie weiter, und sicher ist er verliebt, nur nicht mehr in mich, sicher in ein Mädchen, das seine Tochter sein könnte.

Sie nahm sich zusammen und fragte: »Du bist doch nicht etwa verliebt?«

»Sehr verliebt, es wird verschwinden, je weiter ich von ihr entfernt bin.«

Zorn kam in ihr hoch. Nur ja keine Tränen!

»Was wirst du tun?«, fragte sie mit fester Stimme, ein wenig zu laut vielleicht. »Was wirst du hier tun? Wo wirst du zum Beispiel wohnen?«

»Ich dachte«, sagte er, »ich dachte, ich könnte vielleicht bei dir ...« – Pause – »bis ich etwas Geeignetes gefunden habe.«

»Ich habe kein Gästezimmer«, sagte sie. »Wenn du mit dem Sofa im Wohnzimmer zufrieden bist?«

»Wunderbar«, sagte er. »Ganz, ganz wunderbar!« Er hatte gewusst, dass sie Platz für ihn haben würde. Jetzt wollte er nur noch schnell sein Gepäck aus dem Schließfach holen.

Sie atmete tief durch und nahm sich vor, am Wochenanfang die Haare schneiden zu lassen. Sie wollte sich als neue Frau präsentieren, vielleicht ein rotes Kleid kaufen und Schuhe. Was für Schuhe? Exotische Schuhe? Schlangenlederschuhe. Wo kriegt man die bei uns? Ich bin noch nicht alt, sagte sie sich und schaute aus dem Fenster einer Wolke zu, die sich über die Sonne zog.

Er lief aus dem Haus. Empfänglich, wie er war, nahm er bald Blickkontakt zu einem Mädchen auf. Er fasste nach der Messerklinge und folgte ihr. Bliebe sie stehen, würde er ihr ein Kompliment machen. Irgendetwas an ihr war garantiert außerordentlich. Sie bog in eine Nebenstraße ein, drückte auf eine Türglocke, die Tür öffnete sich, und sie verschwand.

Gut, sagte er sich, habe ich eben bescheiden Spaß gehabt. Er machte kehrt und schlenderte in Richtung Bahnhof zum Schließfach Nummer 23.

 

Sehnsucht 3

Am letzten Tag im Jahr saß die Frau in ihrem Lehnstuhl, Unruhe war in ihr, und sie dachte, ich muss unbedingt den Deckel zu meinem Lebensglas finden.

Die Wochentage ödeten sie an. Ich kann mich nicht freuen, dachte die Frau. Ich fühle nichts. Ich stecke in einer tiefen Depression. Mein Mann hätte mich herausholen sollen. Ich will keine Tabletten schlucken. Ich will mich spüren und mich schön finden.

Der Mann hatte gehofft, dass ein Kind sie aufheitern könnte. So ein süßes Geschöpf. Er hatte Freude mit dem Kind. Seine Frau war unzufrieden. Sie beobachtete ihr Kind, und wenn das Kind etwas dazugelernt hatte, schrieb sie in ein Heft (das sie »Entwicklungsheft« nannte):

Karin hat sich am Tischbein hochgezogen und ist gleich wieder hingefallen.

Karin geht an der Hand.

Erstes Wort gesagt: Brille. So ein schwieriges Wort. Jedes andere Kind sagt zuerst Mama.

Die Frau trug keine Brille. Das Kind zog dem Papa die Brille vom Gesicht und sagte: »Brille.«

So lange wollte sie noch bleiben, bis die Tochter ein eigenes Leben hatte. Im Stiegenhaus roch es nach Kohl und Waschpulver. Der Mann reichte die Scheidung ein. Niemals hätte sie das für möglich gehalten. Zu einer Bekannten sagte sie: »So viel Fantasie hätte ich ihm gar nicht zugetraut.«

Die Frau hatte Angst vor ihrer Bosheit, und sie betete, dass der Himmel sie davon befreien möge. »Lass mich keine bösen Gedanken haben«, betete sie und wurde älter.

Sie schenkte sich Wein ein, um ruhiger zu werden. Immer wieder, immer mehr. Sie ging kaum unter die Leute. Großeinkauf für eine Person, einmal in zwei Wochen. Haltbare Milch. Haferflocken, zwölf Flaschen Wein. An der Kassa fragte sie ein Nachbar, ob es ein Fest gebe. Sie wechselte den Supermarkt, fuhr mit dem Auto in die nächste Gemeinde, in die übernächste Gemeinde.

Ihre Tochter klingelte an der Tür. »Mama, ich weiß, dass du da bist, mach auf, wenn du nicht aufmachst, schlag ich das Fenster ein.«

Sie machte nicht auf. Sie schämte sich. Sie setzte sich auf den Küchenboden in die Nische zwischen Spülmaschine und Herd.

Die Tochter hatte Angst um ihre Mutter und schlug das Fenster mit einem Stein ein. Es war alles so kompliziert. Sie schrie durch das Fensterloch: »Mama, bitte, sei vernünftig, ich hol sonst die Polizei, Mama, mach einfach auf, niemand wird etwas erfahren. Ich bleib jetzt bei dir, bis es dir besser geht.«

Ab sofort wollte sie keinen Alkohol mehr trinken. Sie versprach es, sonst wäre Karin nicht abgereist. Sie musste ja abreisen, sie musste schließlich Geld verdienen.

Das kann doch nicht schon alles gewesen sein, dachte die Frau. Ich bin nicht nur die bügelnde Hausfrau, die immer für Statistiken herhalten muss. Ich habe Wünsche. Hilfe! Hört mich denn keiner!

Und dann sah sie sich eine Kirche von innen an.

 

Sehnsucht 4

In München auf dem »Platzl« sah ich ein Liebespaar sitzen. Ich sah die beiden nur von hinten – sie mit Afrolook und einer geblümten Sommerbluse, er mit Haarkranz, in ein gestreiftes Hemd gezwängt. Er hatte seinen Arm an ihrem Rücken, seine Hand an ihrem Hosenbund, seinen Daumen in ihrem Hosenbund. Sie neigte den Kopf an seine Schulter. Dem Profil nach schätzte ich sie auf um die fünfzig.