Liebeshungrige Anhalterinnen

Roman

Wanda Wojtarski

1. Kapitel

„Das ist doch wohl die Höhe!“ Mit hochrotem Kopf stand plötzlich die Mutter in der Tür, hatte die Arme in die Seiten gestemmt und funkelte Susanne wütend an. Susanne zog die Bettdecke hoch, um ihre Nacktheit zu bedecken, während Jochen verlegen zu Boden blickte und nach seiner Unterhose suchte.

„Ich… ich …“, stammelte Susanne, aber sie brachte kein Wort heraus.

„Wir sprechen uns noch“, fauchte die Mutter. „Und Sie, junger Mann, verschwinden am besten sofort aus unserem Haus und lassen sich nie wieder hier blicken.“

„Ja“, sagte Jochen leise. „Verzeihen Sie, dass …“ Er brauchte den Satz nicht zu beenden, denn Frau Neuber hatte bereits krachend die Tür ins Schloss geworfen. „Du“, sagte er zu Susanne, während er sich rasch anzog, „du hast mir nicht gesagt, dass deine Mutter zu Hause ist. Du hast mich reingelegt. Ich glaube, es ist wirklich besser, wenn wir uns eine Weile nicht sehen.“

„Jochen!“ Susannes Gesicht war ein einziger enttäuschter Aufschrei. In ihren weit aufgerissenen Augen standen plötzlich Tränen.

„Ich meine… ich wollte ohnehin mit dir Schluss machen.“

Da war es heraus. Susanne wusste nicht, ob sie nun aus Enttäuschung, Wut oder Schmerz zu weinen begann. Vielleicht war es von allem etwas, und sie steckte das Gesicht in ihr Kopfkissen und ließ die Tränen hemmungslos laufen.

„Mit Heulen kommst du bei mir nicht an.“ Das waren Jochens letzte Worte an sie. Das Kissen, das Susanne mit einem Aufschrei der Wut nach ihm warf, landete vor der Zimmertür, die er bereits hinter sich geschlossen hatte.

Jochen! Susanne konnte es nicht begreifen, dass er sich so verhielt. Und dieses feige Schwein hatte sie geliebt! Sie dachte daran, wie sie beide gemeinsam immer von der Schule nach Hause gefahren waren — erst im Bus, Seite an Seite, und später auf Jochens Moped. Ganz eng hatte sie sich immer an ihn geklammert, hatte den Kopf an seinen Rücken gelegt… und jetzt? Sie konnte es einfach nicht fassen. Vor fünf Minuten noch waren sie so zärtlich miteinander gewesen, er hatte ihre Brüste gestreichelt und geküsst, seinen Kopf zwischen ihre langen, blonden Haare gekuschelt, hatte ihr herrliche Lustgefühle geschenkt… und in dem Augenblick, als er über ihrem Gesicht gehockt hatte, damit sie zärtlich mit der Zunge über sein Glied fahren konnte — sie wusste, er mochte das besonders gern —, da war ihre Mutter hereingeplatzt. Und er, er hatte nichts Besseres zu tun, als zu verschwinden. Reingelegt haben soll ich ihn, dachte Susanne. Pah! Woher soll ich wissen, dass Mutter heute früher aus dem Geschäft kommt! Ich konnte gar nicht mit ihr rechnen!

Wenn sie überlegte, was Jochen da gesagt hatte, wurde ihr ganz schlecht. Und er hatte ohnehin mit ihr Schluss machen wollen. Aber erst noch einmal mit ihr schlafen! Erst das Vergnügen, und dann adieu, Susanne! Nachträglich fiel ihr ein, dass Jochen in letzter Zeit ziemlich oft mit dieser Rothaarigen aus der Parallelklasse sprach, der er angeblich Nachhilfestunden in Englisch gab. Sie hätte sich ja gleich denken können, dass da etwas nicht stimmte. Aber sie hatte Jochen ganz und gar vertraut und war sich seiner Liebe sicher gewesen.

Langsam zog Susanne sich an. Sie hatte es gar nicht eilig, in die Küche zu kommen. Hoffentlich machte die Mutter nicht solch ein Theater. Vielleicht könnte sie mit ihr reden, wenn sie sich abgeregt hatte. Auch wenn das Reden nicht in der Familie lag. Plötzlich wünschte sich Susanne verständnisvolle Eltern, mit denen sie über alles, besonders über ihren Kummer, offen sprechen konnte.

„Susi!“ ertönte da die schneidende Stimme ihrer Mutter, und dieses „Susi“ klang überhaupt nicht freundlich. „Wo bleibst du? Deck mal den Abendbrottisch!“

„Hab keinen Hunger“, brummte sie zurück, doch sie gehorchte und verließ mit einem letzten hasserfüllten Blick auf das zerwühlte Bett ihr Zimmer.

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Draußen pfiff jemand auf dem Hof. Das konnte nur Susi sein. Rasch ließ Doro den erotischen Roman, den sie gerade las, während ihre Finger sanft in ihrem Slip spielten, unter einem Stapel Zeitschriften verschwinden. Ihre Freundin brauchte das Buch nicht unbedingt zu sehen, obwohl… eigentlich schämte Doro sich nicht richtig, dass sie so etwas las. Diese Romane waren doch viel realistischer als diese versponnenen Weltraum-Romane ihres Bruders oder Susannes Micky-Maus-Sammlung.

Doro öffnete das Fenster. „Ist was los?“ begrüßte sie ihre Freundin, von der sie in der Dunkelheit nur das Gesicht sehen konnte. „Mitten in der Nacht? Warte, ich mache dir leise die Hoftür auf. Meine Eltern und Klaus schlafen schon.“

Schnell zog sie sich etwas über und eilte in den Keller des Einfamilienhauses, um für Susanne die Hintertür zu öffnen. Schluchzend fiel ihre Freundin ihr entgegen. „Susi! Was ist denn mit dir? Und was willst du mit der Reisetasche?“ Sie zog Susanne herein, und leise schlichen sie auf Doros Zimmer.

„Nun setz‘ dich erst einmal, und dann erzähl“, sagte sie. „Ich bin abgehauen“, gab Susanne mit tränenerstickter Stimme zurück.

„Und nun?“

„Ich geh‘ weg. Ich kann mich da nicht mehr blicken lassen. Ich hasse diese scheinheilige, spießbürgerliche Brut.“

Doro rückte dicht an sie heran. „Abhauen?“ fragte sie ungläubig. „Und was ist mit dem Abi? Und Jochen?“

In Susannes Augen flammte der Zorn auf. „Geh‘ mir weg mit Jochen. Der hat mir das alles eingebrockt. Ich hätte ihn vorhin erschlagen können, und ich bin immer noch so wütend auf ihn.“

Doro sah ihre Freundin interessiert an. Sie wusste zwar nicht, was passiert war, aber Susanne schien ganz aufgelöst zu sein. Anscheinend hatte ihr Freund mit ihr Schluss gemacht. Was soll‘s, dachte sie. Susanne würde schon wieder jemanden finden. Sie sah wirklich gut aus mit ihren langen, blonden Haaren und ihrer erstklassigen Figur. Ja, Doro beneidete Susanne, denn sie selbst kam sich ein wenig pummelig vor, und da sie eine Brille hatte, rechnete sie sich schon fast zu den Körperbehin-derten. Ja, hätte Doro so einen Freund wie Jochen haben können, sie hätte ihn schon mit viel Liebe und Zärt-lichkeit gehalten. Aber leider, leider standen die Jungen heutzutage nicht auf pummelige Brillenschlangen, sondern eher auf so knackige Disco-Mädchen wie Susi. Doro seufzte.

„Erzähl“, forderte sie auf.

Stockend begann Susanne. „Ich bin nicht mehr mit Jochen zusammen. Ich will ihn nie wiedersehen. Weißt du, es war so schön heute Nachmittag… wir haben mit-einander geschlafen, und ich dachte, ich wäre ungeheuer glücklich… und dann kam plötzlich meine Mutter, und alles war aus. Jochen hat sich wie ein feiges Schwein verhalten und ist abgedampft. Hat mich einfach sitzen-lassen, und ich durfte den ganzen Ärger alleine ausbaden! Meine Mutter hat hinterher geschimpft wie noch nie. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was sie alles zu mir gesagt hat… Und mein Alter. Ich dachte, der hält sich da raus. Er hat den ganzen Abend auch keinen Ton gesagt, hat sich nur mit ‚ner Flasche Bier vor den Fernseher geflegelt und seinen Löwenthal angeglotzt. Und als er dann rausging, hat er nur ein Wort gesagt: Nutte. Da hätte ich ihm am liebsten eine geknallt.“… Wieder brach Susanne in Tränen aus.

„Komm, komm“, sagte Doro mütterlich und drückte Susannes Kopf an ihre Schulter. „Du weißt doch, was du von den Eltern zu halten hast. Die können doch nicht anders, so wie die erzogen sind.“

„Aber Kinder haben die auch gekriegt“, schluchzte Susanne trotzig und sah Doro in die Augen. „Weißt du, was das Gemeinste ist?“ fuhr sie fort. „Dieser blöde Jochen hat die Gelegenheit benutzt, um mir den Laufpass zu geben. Er wollte ohnehin mit mir Schluss machen, hat er gesagt. Einfach so, und das nach zwei Jahren. Nur, weil er jetzt diese Rothaarige hat.“

„Die Birgit?“

„Ach, du wusstest davon?“ Susanne fuhr hoch.

„Beruhige dich“, sagte Doro, „aber ich wusste natürlich nichts. Ich hätte dir doch etwas gesagt, weil du meine einzige Freundin bist, und ich würde dir so etwas wirklich nicht verschweigen. Aber Augen hat schließlich jeder im Kopf, nur du hattest deine geschlossen. Ich hätte sie dir schon mit der Zeit geöffnet, wenn ich ganz sicher gewesen wäre. So, wie es jetzt gekommen ist, ist es natürlich am schlimmsten, aber das geht auch vorbei.“ „Vielleicht haben Sie recht, Schwester Oberin“, sagte Susanne sarkastisch und musste plötzlich lachen. „Vielleicht hast du wirklich recht. Aber trotzdem haue ich ab. Ich habe die Nase voll. Ich will Jochen nicht mehr sehen. Meinst du, ich könnte ihn auf dem Schulhof noch anschauen? Und meinst du, ich könnte den Stunk zu Hause noch ertragen? Nein, die sehen mich nie wieder.“ „Und das Abitur?“ wandte Doro ein.

Susanne blickte sie strafend an. „Du redest wie mein Alter. Dabei hast du selber doch immer vom Abhauen geschwärmt, von Schweden und so.“

„Na klar. Deshalb komme ich ja auch mit.“

Einen Augenblick lang war Susanne sprachlos. „Im Ernst?“ fragte sie dann. „Du willst einfach so mitkommen?“

„Na klar doch“, sagte Doro. „Wenn wir nach Schweden gehen. Wollte ich immer schon hin. Und schließlich habe ich keine Freundin außer dir. Was hält mich hier? Meine Eltern etwa? Mein kleiner Bruder? Einen Freund habe ich nie gehabt.“

„Und was ist mit Jan?“ wandte Susanne ein.

„Ach der …,“ stockte Doro. „Der war eigentlich nur ein Tagtraum. Der existierte immer nur in meinem Kopf. Du hast immer so von deinem Jochen geschwärmt, und ich hatte nichts, was ich dir erzählen konnte. Da habe ich dir meinen Wunschtraum vorgesponnen.“

Susanne wusste nicht, ob sie darüber lachen oder weinen sollte. „Dann bist du also noch …“

„Jungfrau? Nee, glaube ich nicht. Weißt du was?“ Sie holte den versteckten Roman hervor. „Ich lese hin und wieder solche Bücher wie dieses hier und streichle mich dabei selbst. Einmal bin ich mit meiner Hand ausgerutscht …“

Plötzlich lachten beide.

„Psst!“ machte Doro. „Es ist doch schon halb zwölf! Mein Alter macht mich kalt, wenn wir ihn wecken.“ „Also pack‘ deine Klamotten, und dann — auf nach Schweden“, flüsterte Susanne verschwörerisch.

„Langsam, langsam“, wehrte Doro ab. „Es ist halb zwölf in der Nacht. Da kommen wir nicht weit. Am besten, wir hauen morgen Vormittag ab, dann sind wir ausgeruht. Mein Vater geht schon um fünf zur Schicht, und meine Mutter verlässt das Haus um sieben. Klaus geht gleich mit ihr, da er früh zur Schule muss. Niemand wird also um die Zeit in mein Zimmer schauen. Ich habe die erste Schulstunde frei.“

„Hätte“, korrigierte Susanne und stieß sie in die Seite.

„Sag‘ mal, wieviel Geld nimmst du mit?“ erkundigte Doro sich.

„Ich habe fünfzig Euro in bar und ein Postsparbuch mit fast achthundert Euro. Wir können ja in Hamburg Station machen und uns einen Job suchen. Vielleicht als Zeitschriftenwerber oder Prospektverteiler.“

Doro zog die Nase kraus. „Da verdient man doch nichts. Und das mit dem Postsparbuch schlag dir aus dem Kopf. Wenn du unterwegs Geld abhebst, hat die Polizei gleich deine Spur. Am besten, du holst das Geld gleich morgen hier in Essen ab. Ich selbst habe fünfhundert Euro auf meinem Sparkonto. Wir kommen also auf jeden Fall bis Schweden, und da können wir uns ja Geld als Au-pair-Mädchen im Haushalt verdienen, oder Deutschunterricht geben. Ich habe schon oft darüber nachgedacht. Aber jetzt schlafen wir erst einmal, damit wir morgen ausgeruht sind, wenn wir uns an die Autobahn stellen.“ „Wo soll ich denn heute Nacht hin?“ fragte Susanne. Doro schaute sie verwundert an. „Mein Bett ist groß genug für uns beide. Wenn du nicht gerade schnarchst.“ „Du kannst mich dann ja immer noch rauswerfen“, stimmte Susanne zu und begann sich auszuziehen. Ein wenig genierte sie sich vor ihrer Freundin, aber als diese sich ebenfalls entkleidete und sich nicht einmal umdrehte, als ihre vollen Brüste sichtbar wurden, vergaß auch Susanne ihre Scham.

„Ich lese vor dem Einschlafen immer ein wenig“, erklärte Doro. „Soll ich dir vorlesen?“

Susanne nickte. Beide krochen unter die Bettdecke. Doro lehnte sich ins Kissen, während Susanne sich an ihre weichen, rundlichen Hüften behaglich kuschelte.

Doro nahm ihr Buch in die Hand. „Das ist aber ein erotischer Roman“, erklärte sie noch einmal. „Eine französische Gräfin ist in einen jungen Baron verliebt, der sie vergöttert, und sie wollte gerade mit ihm ins Bett gehen, als du auf dem Hof gepfiffen hast.“

„Lies schon“, drängte Susanne. Doro wartete einen Augenblick, als wolle sie die volle Aufmerksamkeit Susannes gewinnen, und begann.“ „Gräfin Mignon schloss die Augen und streichelte den Kopf ihres Liebhabers, der vor ihr auf dem Boden kniete. Zärtlich küsste Baron de Louviers ihre Füße, seine Lippen wanderten forschend an ihren Fesseln, ihren schlanken Beinen empor. ‚Mehr, mehr — alles!‘ rief die Gräfin und öffnete ihre Schenkel, damit sein liebendes Haupt zum Zentrum ihrer Leidenschaften vordringen konnte. Genüsslich lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück, schwelgte in ihren Lustgefühlen. Es war, als wolle der Baron sie aussaugen, sie verzehren, sie gänzlich verschlingen. `Ja! Ja!‘ schrie sie und bäumte sich auf… He, Susanne! Hörst du überhaupt zu?“

Aber Susanne war eingeschlafen — die Ereignisse des Tages hatten sie völlig erschöpft, ohne dass sie sich dessen bewusst gewesen war.

2. Kapitel

Es war schon fast Mittag, und die Frühlingssonne wärmte sie behaglich, als die beiden an der Autobahn im Essener Norden standen. Ihre Reisetaschen hatten sie an den staubigen Straßenrand gestellt, und abwechselnd winkten sie mit dem Daumen, wenn sich ein Wagen näherte.

Susanne kam alles wie ein Traum vor. Heute früh hatte sie große Mühe gehabt, Doro davon abzuhalten, einen riesigen Reisekoffer zu packen. Schließlich hatte sie auch keine rechte Lust gehabt, sich mit einem regelrechten Umzugskoffer abzuschleppen. Dann waren sie vorsichtig aus dem Einfamilienhaus in Heisingen geschlichen, hatten sich umgeschaut, ob sie von den neugierigen Nachbarsfrauen beobachtet würden, und hatten den Bus zum Hauptbahnhof genommen. Susanne hatte gegenüber an der Post ihr Geld abgehoben, und auch Doro hatte ihr Sparbuch aufgelöst. Jetzt standen sie schon zwanzig Minuten an der Autobahn, und es hatte noch niemand gehalten. Susanne wurde ein wenig mulmig zumute, wenn sie daran dachte, was ihnen alles zustoßen konnte. Man las ja so viel in den Zeitungen. Durch ihren Kopf spukten vergewaltigte und zerstückelte Frauenleichen.

„Niemand nimmt uns mit“, unterbrach Doro ihre trüben Gedanken.

„Doch“, rief Susanne, denn gerade in diesem Augenblick hupte ein Lastwagen. ‚Ernst Babka, Kohlenhandel. Bottrop und Unna‘ stand an der hinteren Klappe.

Während die beiden liefen, um den Wagen einzuholen, der ein Stück weiter am Straßenrand gehalten hatte, rief Susanne: „Ein Opa sitzt am Steuer. Da kann uns nichts passieren.“

Doro rief etwas Unverständliches zurück, und dann hatten sie die offene Beifahrertür des Wagens erreicht. „Hopp, hopp! Ich darf hier eigentlich nicht halten“, rief der Fahrer, ein etwa sechzigjähriger Mann mit zerfurchtem Gesicht, auf dem die Bartstoppeln kaum vom Kohlenstaub zu unterscheiden waren. Sie hatten sich auf den breiten Beifahrersitz gehievt, und der Wagen fuhr an.

„Ihr seid noch ziemlich unerfahren“, brummte der Fahrer. „Was stellt ihr euch dahin, wo niemand halten darf. Habt ihr lange warten müssen?“

„Ja — nein“, sagten Doro und Susanne fast gleichzeitig. „Wohin soll‘s denn gehen?“ erkundigte sich der Fahrer, und Susanne erklärte, dass sie nach Hamburg wollten. „Wohl ausgerissen, was?“ Beide schüttelten den Kopf, und Doro sagte: „Wir besuchen unsere Tante.“

Der Fahrer lachte. „Die Tante kenne ich.“ Susanne errötete leicht, und der Mann fuhr fort: „Aber ich verpfeife euch nicht. Ich habe schon oft Leute mitgenommen, die abgehauen waren. Wenn ich mir jedes Mal den ganzen Trabbel bei der Polizei aufhalsen würde.“ Er ging scharf in die Bremsen, denn gerade hatte ihn ein Porsche beim Einscheren geschnitten. „Am besten, ich setze euch an einem Parkplatz direkt vor dem Kamener Kreuz raus, da kommt ihr gut weg. Sprecht die Fahrer an, die da Pause machen. Die können dann meistens nicht nein sagen. Ich will nur bis Unna, das nützt euch nicht viel.“ Die beiden Mädchen nickten wortlos. Während der restlichen Fahrt blieben sie stumm. Der Fahrer pfiff hin und wieder ein Lied, konzentrierte sich auf die Straße und blickte nur manchmal zu ihnen herüber.

Schließlich fuhr er auf einen kleinen, von Bäumen umstandenen Parkplatz.

„So“, sagte er. „Da wären wir. Wie steht‘s jetzt mit der Bezahlung?“

Susanne und Doro starrten sich entgeistert an. „Aber… aber wir haben gar kein Geld bei uns“, log Doro.

„Wer redet denn von Geld, Mäuschen“, grinste der Fahrer. „Ihr wisst schon, was ich meine.“ Er fummelte an seiner Hose, öffnete den Schlitz. Entsetzt wich Susanne, die ihm am nächsten saß, zurück. „Na, wer hat denn von euch beiden den geschicktesten Mund?“ fuhr der Fahrer unbeirrt fort. „Nun mach schon, ich habe meine Zeit nicht gestohlen.“

Angewidert öffnete Doro die Beifahrertür. „Das kannst du mit uns nicht machen, Opa!“ rief sie frech und schwang sich hinaus.

Eilig folgte Susanne ihr, und als sie von draußen nach den beiden Reisetaschen greifen wollte, fuhr der Wagen plötzlich an. Beinahe hätte die zuklappende Wagentür sie erwischt. Benommen stand sie da und hörte ihre Freundin nur „He! Unsere Taschen!“ rufen. Doro wollte ein Stück hinter dem Wagen herlaufen, weil sie den Firmennamen vergessen hatte, aber in einem waghalsigen Manöver hatte der sich vor einem Tankwagen eingereiht und war nicht mehr zu sehen.

Atemlos kam Doro zu Susanne zurück, die immer noch entsetzt geradeaus starrte. „Dieses Schwein“, murmelte sie nur. „Dieses miese, elende Schwein!“

Plötzlich begann Susanne zu weinen. „Heul‘ doch nicht bei jeder Gelegenheit“, sagte Doro. „Immerhin haben wir ja unsere Handtaschen mit dem Geld und den Ausweisen gerettet. Auf die Taschen müssen wir, so schlimm es ist, verzichten. Du hast mich ja ohnehin heute früh nur das Nötigste einpacken lassen. Zur Polizei können wir nicht. Die schicken uns glatt nach Hause.“

Susanne wischte sich mit einem Tempotuch die Tränen ab. „Und nun?“ fragte sie.

Doro, die die Praktischere von beiden war, sagte: „Erst mal weg hier aus dem Ruhrgebiet. Vielleicht schaffen wir es noch bis Münster. Da nehmen wir uns ein Zimmer an der Autobahnraststätte, und dann sehen wir weiter.“

„Es ist alles so schlimm“, begann Susanne von neuem und vergrub ihr Gesicht auf Doros Schulter.

„Stimmt etwas nicht?“ fragte plötzlich hinter ihr eine Männerstimme. „Kann ich vielleicht helfen?“

Ein fast weißblonder junger Mann mit braungebranntem Gesicht und einem ins Rötliche gehenden Vollbart stand neben ihnen, ohne dass sie ihn hatten kommen sehen. Seine geschmackvolle, dezente Kleidung ließ vermuten, dass er nur in den teuersten Herrenboutiquen kaufte.

„Bestimmt kann ich helfen“, fuhr er fort, als er keine Antwort bekam. „Aber zunächst einmal müssen Sie mich entschuldigen, ich habe nämlich wegen eines dringenden Bedürfnisses angehalten.“ Er lächelte verschmitzt und verschwand in einem wenig vertrauenerweckenden Toilettenhäuschen.

Doro knuffte Susanne in die Seite. „Na, was ist“, meinte sie. „Es geht schon weiter.“

Susanne nickte. „Er scheint ganz höflich zu sein. Zumindest hat er uns nicht sofort geduzt.“

„Und toll sieht er aus“, schwärmte Doro. „Der hat es bestimmt nicht nötig, sich von uns auf solche Weise bezahlen zu lassen. Der hat bestimmt eine Superfreundin.“ Da kam er zurück. „Ich heiße Jan Valkevisser“, stellte er sich artig vor. Bei dem Vornamen Jan grinste Susanne ihre Freundin unverschämt an.

Die beiden stellten sich ebenfalls vor und erzählten ihr Missgeschick. Was genau der Fahrer von ihnen verlangt hatte, wagten sie allerdings nicht weiter auszuführen, da es zu beschämend war.

„Na, dann will ich Sie mal ein Stückchen mitnehmen — selbstverständlich ohne irgendwelche Gegenleistung“, sagte Jan Valkevisser freundlich. „Vielleicht kann ich Ihnen noch ein wenig mehr helfen.“

Er führte sie zu einem uralten, aber wie neu aussehenden riesigen Jaguar, der silbergrau gespritzt war und weinrote, tief abgesteppte Sitze besaß.

„Mensch, das ist ja ‚ne Luxuskutsche“, staunte Susanne. „Sie scheinen ja ein reicher Mann zu sein. Oh, Verzeihung, ich wollte natürlich nicht …“

„Macht nichts“, erwiderte der junge Mann. „Das ist mein Reiseauto. Für die Stadt ist es natürlich zu groß. Da nehme ich meinen kleinen Alfa, um besser in die Parklücken zu kommen. Aber steigen Sie erst einmal ein. Sollen wir uns nicht lieber duzen?“

„Na klar!“ stimmten Susanne und Doro wie aus einem Munde zu.

Doro setzte sich auf den bequemen, breiten Rücksitz, und Susanne nahm neben Jan auf dem Beifahrersitz Platz. Kaum merklich, sanft wie ein Intercity-Zug, rollte der große Wagen an. Geschickt und sicher fädelte der Fahrer ihn in den stärker gewordenen Verkehr ein.

„Man sitzt hier wie auf einem Plüschsofa“, bemerkte Doro.

„Ja“, lachte Jan. „Deshalb habe ich den Wagen gekauft. Die Sitze erinnern mich an die gute Stube meines Großvaters, der sich vom Schiffszimmermann bis zum Reeder emporgearbeitet hat.“

„Sind Sie — bist du auch Reeder?“ fragte Susanne staunend.

„Nein, nicht direkt“, erwiderte Jan belustigt. „Ich habe zwar ein paar Schiffe, aber die Arbeit damit überlasse ich meiner Mutter. Die hat das bessere Händchen für solche Geschäfte. Ich verdiene mein Geld auf etwas leichtere Art. Ich bin Filmemacher.“

Susanne drehte sich zu Doro um, und beide blickten sich staunend an. Das war ja ein toller Typ, der sie da aufgegabelt hatte. Und so jung und gutaussehend dazu. Fünfundzwanzig, höchstens siebenundzwanzig mochte er sein. Sein ruhiger, gelassener Fahrstil hatte nichts Angeberisches an sich, sondern verlieh den beiden Mädchen ein angenehmes Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit.

Eintönig zog das flache Münsterland draußen vorüber. Doro gähnte. Der Himmel hatte sich eingetrübt, und es würde bald Regen geben. Die Heizung des Wagens schuf eine trockene, ermüdende Atmosphäre.

„Ich glaube, ihr braucht ein wenig frische Luft“, sagte Jan, der Doros Gähnen im Rückspiegel bemerkt hatte. „Meine Güte, es ist ja gleich fünf Uhr, und ich habe euch nicht einmal gefragt, ob ihr heute schon etwas gegessen habt.“

Doro zögerte. „Kaum“, warf Susanne ein. „Gefrühstückt, aber sonst nichts.“

Jan fuhr an der nächsten Ausfahrt von der Autobahn ab. „Ascheberg“ stand auf dem Wegweiser. Er steuerte den Wagen auf einen kleinen, von einem hohen Kirchturm beherrschten Ort zu.

„Ich kenne hier ein nettes Restaurant“, erklärte er. „Es wird euch bestimmt gefallen. Natürlich seid ihr meine Gäste.“

„Das können wir nicht annehmen“, meinte Susanne. „Aber ja doch“, gab Jan zurück. „Erstens bin ich euch dankbar, weil ihr mich auf der Fahrt so lieb unterhalten habt — ich wäre sonst vielleicht eingeschlafen. Und zweitens kann ich die Rechnung von der Steuer absetzen.“ Susanne sah ihn von der Seite an. Sie hatte schon gehört, dass manche Leute ihr Essen im Restaurant von der Steuer absetzen konnten, und sie stellte sich diese Leute ungeheuer reich vor. Nun sah sie zum ersten Mal einen davon bewusst.

Jan lenkte seinen Wagen auf den kleinen Parkplatz des Restaurants „Drei Linden“. Als sie die Gaststube betraten, war niemand darin.

„Es ist noch geschlossen!“ rief der Wirt von irgendwo und tauchte hinter dem Buffet auf. „Ach, Sie sind‘s, Herr Valkevisser! Das ist aber eine Freude! Für Sie ist natürlich schon offen. Und was für nette Begleitung Sie diesmal haben!“ Er kam an den Tisch und begrüßte die drei Gäste. „Leider ist der Koch noch nicht bereit, aber in einer halben Stunde wird er für Sie da sein. Darf ich inzwischen etwas zu trinken bringen?“

„Für die Mädchen vielleicht ein Glas Wein“, antwortete Jan und fand Zustimmung in Susannes und Doros Augen. „Ich selbst trinke meinen Tomatensaft.“

Der Wirt verschwand. Die Mädchen blickten sich stumm im Raum um, der wie ein Jagdzimmer aufgemacht war. Überall hingen Reh- und Hirschgeweihe und Gemälde mit Jagdszenen, aber die Gaststube wirkte nicht überladen.

„Du bist wohl oft hier“, meinte Susanne.

„Gelegentlich“, erklärte Jan. „Im Herbst, wenn es Wildspezialitäten gibt, komme ich manchmal extra von Amsterdam hierher. Sonst bin ich fast ständig in ganz Deutschland unterwegs, obwohl ich in Holland wohne, und ich habe überall meine Stammlokale abseits der Autobahnen.“

Der Wirt brachte eine Flasche Wein und öffnete sie am Tisch. „Eine neue Rebsorte, der Kerner“, erklärte er. „Ganz vorzüglich. Wir haben diese Auslese erst vor sechs Wochen direkt von der Mosel bekommen.“

Er ließ die Mädchen einen Schluck probieren. Der Wein war gut, stellten sie fest, obwohl sie eigentlich nichts von Wein verstanden. Richtig würzig war er. Später brachte der Wirt auf einem Messingtablett Jans Tomatensaft, warm, mit einem sich langsam auflösenden Stückchen Butter darin.

„Mein Lieblingsgetränk“, bemerkte Jan. „Ich trinke nie Alkohol.“ Die beiden Mädchen blickten ihn voller Bewunderung an.

Während sie auf das Essen warten mussten, das Jan für sie ausgesucht hatte, ohne dafür auf die Speisekarte zu schauen, erzählte er von seiner interessanten Filmarbeit, von den Eigenheiten der Kameraleute, der Starlets und anderer Leute, mit denen er dadurch zusammenkam. Dabei blieb er immer bescheiden, und es schien ihnen fast, als wäre es ihm peinlich, sich als einflussreichen oder zumindest erfolgreichen Jungregisseur darzustellen. Er besaß die Zurückhaltung eines erfahrenen Menschen, und das machte ihn den beiden sympathisch und erweckte Vertrauen in ihnen. So stimmten sie begeistert zu, als er vorschlug, sie nicht bis Münster, sondern noch ein Stückchen weiter mitzunehmen.

„Die Autobahnraststätte Münsterland ist immer so überfüllt“, erklärte er. „Kurz vor Osnabrück liegt in einer wunderschönen Gegend am Hang des Teutoburger Waldes die Raststätte ‚Tecklenburger Land‘. Sie ist fast noch ein Geheimtipp unter Autofahrern, und deshalb ist dort alles recht nett und sauber. Ich übernachte dort, und ich schlage vor, ihr kommt bis dahin mit. Dann können wir uns noch ein wenig unterhalten — in der Gaststube.“ Die beiden nickten begeistert, und so war es beschlossene Sache. In diesem Augenblick wurde das herrliche Essen gebracht.

3. Kapitel