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Mein Song

Texte zum Soundtrack des Lebens

 

 

Herausgegeben von Steffen Radlmaier

 

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage Oktober 2017)

 

© 2017 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Die vorliegende Ausgabe basiert in Teilen auf Mein Song aus dem Jahr 2007.

© der Einzelbeiträge bei den Autoren

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Umschlaggestaltung: Philipp Starke, Hamburg

unter Verwendung eines Fotos von © plainpicture/

Westend61/Dirk Wüstenhagen

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-889-3

 

Die Musik drückt aus,

was nicht gesagt werden kann

und worüber zu schweigen

unmöglich ist.

Victor Hugo

 

 

Music was my first love

And it will be my last.

John Miles

 

 

Ohne Musik wäre das

Leben ein Irrtum.

Friedrich Nietzsche

 

Inhalt

Vorwort

Achim Amme : Das Schweigen der Väter

Friedrich Ani: Dieser Augenblick jetzt

Ewald Arenz: Der Traum vom richtigen Leben

Michael Augustin: Fast ein Weltrekord

Zsuzsa Bánk: Siegen und leben

Thommie Bayer: Himmel und Hölle

Bernd Begemann: Todesurteil erhalten

Esther Bejarano: Wir spielten um unser Leben

Anne Borel: Der Schatten der Liebe

Marcel Brell: Der Seelentröster

Arno Camenisch: Zu Hause

Georg Danzer: Tell me – das Besondere

John von Düffel: Von einem anderen Stern

Ludwig Fels: Yes It Is – not more so

Sabine Friedrich: Island in the Sun

Nina George: Sunny Side

Nora Gomringer: Persona obsessiva

Frank Goosen: Aus der Traum

Joshua Groß: Ich war schon fast verliebt

Helmut Haberkamm: Liebe minus null und einfach kein Limit

Josef Haslinger: Kinder und Krieg

Elke Heidenreich: Richtig wichtig

Sonny Hennig: Frauenfreundlich

Alexa Hennig von Lange: Rock ’n’ Roll

Gerhard Henschel: Eine Liebe fürs Leben

Franz Hohler: Vater und Sohn

Ralf Huwendiek: Aktiv, global, romantisch

Martin Jankowski: Nur für mich

Michael Kleeberg: Das Glück der Verzweiflung

Georg Klein: Klugheit der Jugend

Michael Kumpfmüller: Du hast keine Chance, aber nutze sie

Heinz Rudolf Kunze: Die beste Band der Welt

Fitzgerald Kusz: Auflehnung gegen alles

Bernhard Lassahn: Weißer als weiß – die etwas andere Jugendsünde

Root Leeb: Nichts zu verlieren

Udo Lindenberg: Aufgeweckt

Tom Liwa: Schore mit Holgi

Annett Louisan: Unter der Decke

Stefan Maelck: Sound der Sehnsucht

Manfred Maurenbrecher: Deutschland im Winter

Reinhard Mey: Eine mysteriöse Geschichte

Klaus Modick: Der Untergang des Abendlandes

Rainer Moritz: Die emanzipatorische Einschlafballade

Christiane Neudecker: Herr Kreisler und ich

Wolfgang Niedecken: Eine ganz neue Welt

Selim Özdogan: Laufwärts Klang sein

Matthias Penzel: Fluch der späten Geburt

Thomas Pigor: Vive l’anarchie!

Georg Ringsgwandl: Verrückte Idee

Kathrin Röggla: anti-pferdwerdung

Rafik Schami: Der blinde Seher mit der Laute

Wolf Peter Schnetz: Der Ruf nach Frieden

Ernst Schultz: Wilde Scheibe

Frank Schulz: Gut Kirschen essen

Burkhard Spinnen: 19 + 31 = 22

Stefan Stoppok: Ein Kyrie dem Rhythmus

Elmar Tannert: Die Liebe aus dem Radio in der ­Pension Jasmín

Lutz »Lüül« Ulbrich: Initialzündung

Herman van Veen: Im Bauch meiner Mutter

Regula Venske: Küsse in der Endlosschleife

Timur Vermes: Zu Hause angekommen

Konstantin Wecker: Jeder weint auf seine Weise

Sabine Weigand: Im grünen Wald, da wo das Rehlein springt …

Wim Wenders: Reise ins Ungewisse

Hans-Eckardt Wenzel: Wilde Pferde im Kalten Krieg

Pe Werner: Paul is et Schuld

Joseph von Westphalen: Ohne dich kann ich nicht länger leben

Roger Willemsen: Do not disturb!

Willi Winkler: Ohuuua!

Juli Zeh: Don Camisi

Renée Zucker: Ein Zimmer voller Geheimnisse

Die Autoren

Der Herausgeber

Die Songs

 

Vorwort

Am Anfang war das Lied: Die australischen Ureinwohner zum Beispiel orientieren sich an Songlines, unsichtbaren Traumpfaden, die den Kontinent durchziehen. Die Aborigines kennen diese Pfade, weil nur sie die Lieder und Geschichten ihrer Ahnen hören können. Der britische Schriftsteller Bruce Chatwin hat in seinem Reiseroman Traumpfade diesen Songlines ein literarisches Denkmal gesetzt: Die Aborigines schaffen und erhalten die Welt, indem sie ihre Wege beschreiten und die damit verknüpften Mythen in den Liedern weitererzählen.

Ein unsichtbares Netz aus Songs überzieht auch den Rest der Welt. Ihre Sänger liefern die Mythen der Moderne, die sich seit den alten Zeiten gar nicht so sehr verändert haben. Dank der modernen Technik und Kommunikationsmittel kommen die Lieder vom Leben, von der Liebe und vom Tod heute frei Haus. Das Angebot hat sich in den vergangenen Jahrzehnten explosionsartig ausgeweitet. Für jeden Seelenzustand, für jedes Alter, für jeden Geschmack gibt es den passenden Soundtrack. Oft ist es auch nur eine Geräuschkulisse, Musik zum Weghören, akustischer Müll.

Doch in dem Überangebot, das von der Musik­industrie auf CDs gebrannt und vom weltweiten Dudelfunk sowie TV-Musikkanälen pausenlos durch den Äther gesandt wird, tauchen immer wieder Songs auf, die uns rühren, berühren und manchmal auch aufwühlen, die neue Horizonte öffnen oder Schmerzen lindern, die unsere Stimmung heben oder Erinnerungen wecken, die Gefühle auf den Punkt und die Verhältnisse zum Tanzen bringen. Neben der Melodie spielt dabei der Songtext eine wichtige Rolle. »Kein Roman kann sich mit einem populären Song messen. Wenn wir uns natürlich benehmen würden, sprächen wir in Liedzeilen«, sagt der französische Regisseur Alain Resnais, der zu diesem Thema den passenden Film gedreht hat: Das Leben ist ein Chanson.

Jeder von uns hat wohl einen Song, der eine ganz besondere Rolle in seinem Leben spielt. Manchmal werden es im Laufe der Jahre auch ein paar mehr. Eine Jugendliebe, ein Urlaubsabenteuer, ein Abschied, Liebeskummer, Weltschmerz – zu allen möglichen Gelegenheiten gibt es ein musikalisches Schlüsselerlebnis. Und immer wenn man diese bestimmten Lieder wieder hört, werden die entsprechenden Erinnerungen, schöne ebenso wie schmerzhafte, wie auf Knopfdruck wieder lebendig. Man könnte es auch so ausdrücken: Wo die Sprache aufhört, fängt die Musik an.

Längst wird all das auch wissenschaftlich erforscht: Musik ist im Alltag der allermeisten Menschen ein wichtiger Stimmungsmacher. Was passiert, wenn wir Musik hören? Wer hört was und wann am liebsten? Kann man vom Musikgeschmack auf die Persönlichkeit eines Menschen schließen? Warum lieben wir in der Musik besonders Motive, die wir wiedererkennen? Drücken sich Individualität oder Gruppenzugehörigkeit auch in Hörgewohnheiten aus? Mit solchen Fragestellungen beschäftigen sich nicht nur Musikwissenschaftler, sondern auch Psychologen, Soziologen, Volkskundler und Hirnforscher.

Mit einem Song kann man sicherlich nicht die Welt verändern, auch wenn sich das so mancher in der Euphorie der Sixties, zu Beginn der Rock ’n’ Roll-Ära, erhofft hat. Was aber wäre, wenn ein Song unser Leben verändern könnte? Würde sich alles zum Besseren wenden? Lösten sich all unsere Probleme in Wohlgefallen auf? Oder wären sie zumindest erträglicher? Kann Musik etwa sogar Leben retten, wie es der Disco-Hit Last Night a DJ Saved My Life glaubhaft versichert?

Um solche Fragen dreht sich die vorliegende Anthologie, die alles andere als eine musikalisch korrekte, ­wissenschaftlich fundierte Popgeschichte sein will. Es geht hier nicht um die angeblich besten Songs und wichtigsten Interpreten, sondern um ganz persönliche Geschichten und Geständnisse, um prägende Hörerfahrungen, wie sie jeder auf seine Weise macht. Es geht um nichts Geringeres als um den Soundtrack des Lebens in all seiner Vielfalt.

Die Texte – mit einer Ausnahme allesamt Originalbeiträge von mehr oder minder bekannten Musikern und Autoren aus den letzten zehn, zwölf Jahren – haben nur eines gemeinsam: Sie sind autobiografisch und in dem Sinn nicht »erfunden«, zumindest nicht völlig. Also persönliche Bekenntnisse.

Deswegen steht der Beitrag von Esther Bejarano, der die Musik buchstäblich das Leben gerettet hat, neben Konstantin Weckers Liebeserklärung an die Oper, Elke Heidenreichs Italien-Souvenir oder Udo Lindenbergs Rock-Urerlebnis. Ob sich Reinhard Mey an einen alten Schlager erinnert, Juli Zeh von ihren Teenager-Tagen erzählt oder Wim Wenders über eine brenzlige Fahrt in den Süden schreibt, immer spielt ein Lied dabei die entscheidende Rolle. Wahrscheinlich ist es kein Wunder, dass in diesem Zusammenhang der Name »Bob Dylan« häufiger als alle anderen auftaucht. Oft sind es aber auch ganz obskure Songs, die mit besonderen Erinnerungen verbunden sind.

Diese persönlichen Bekenntnisse sind zum Teil sehr überraschend. Sie verraten aber nicht nur einiges über die Autoren und Autorinnen, sondern liefern quasi nebenbei auch Hinweise zur deutschen Befindlichkeit der letzten fünfzig Jahre. Auch die unterschiedlichen Hörgewohnheiten zwischen Ost und West im geteilten Nachkriegsdeutschland kommen darin zum Vorschein.

Viele Geschichten erzählen von Initiationserlebnissen in der Pubertät. Im Mittelpunkt steht fast immer die populäre Musik, die eine ganze Generation geprägt hat: Rock ’n’ Roll in vielen Variationen, der Sound der ­60er- und 70er-Jahre, die Zeit, in der die Musik revolutionäre Kraft entwickelte und eine ganze Generation nachhaltig prägte. In Einzelfällen können es aber auch Opernarien, Chansons oder Volkslieder sein, die zu Lebensbegleitern geworden sind.

Dieses Song-Book dokumentiert auch den technischen Wandel der vergangenen Jahrzehnte: Von der Vinyl-Single über Langspielplatten und Musikkassetten bis hin zur CD (und weiter) reichen die persönlichen Erinnerungen. Doch selbst wenn jetzt MP3-Player, Internet und Computer ganze Schallplattensammlungen überflüssig machen, auch wenn viele aktuelle Hits das Verfallsdatum immer schneller erreichen, wird sich an der Magie der Musik nichts ändern. Immer wird es Songs, Lieder, Chansons geben, die dem Leben einen neuen Sinn oder zumindest einen unverwechselbaren Sound geben. Die Wiederentdeckung der guten, alten Vinyl-LP mag dafür ebenso als Beleg gelten wie der Erfolg von YouTube und moderner Streamingdienste.

So ergibt sich aus vielen individuellen Musik-Geschichten am Ende doch so etwas wie eine allgemeine Musik-Geschichte: die Song-Lines der modernen Zeiten, Traumpfade des kollektiven Bewusstseins. Jeder Leser, jede Leserin kann sie mit eigenen Hörerfahrungen vergleichen und ergänzen.

An dieser Stelle möchte ich mich ganz herzlich bei allen Autorinnen und Autoren bedanken, ohne deren Entgegenkommen und Begeisterung dieses Hör-Lese-Buch nicht entstanden wäre.

 

Steffen Radlmaier

 

Achim Amme : Das Schweigen der Väter

»Hello darkness my old friend …« Schöner Anfang! Schön düster. Und ganz schön mutig, die dunkle Seite des Lebens nicht nur anzusprechen, sondern wie einen alten Freund zu begrüßen. Erinnert an Hamlet, der dem Geist des Vaters begegnet, im unheilschwangeren ersten Akt, spielend auf jenem nebelverhangenen Schloss, in einem Staate, in dem etwas faul ist.

Mein eigener Vater lebte noch, als ich das Lied zum ersten Mal hörte. Lebte er wirklich? War er nicht auch ein stummer Wiedergänger aus dem Totenreich, so wie Hamlets Geist?

Mit siebzehn wurde er eingezogen, um in Hitlers Krieg Soldat zu spielen. Man nahm ihm die Jugend ab, zusammen mit dem Fahneneid. Eide verpflichten. Entschuldigen sie alles? Während der Invasion in Frankreich geriet er in amerikanische Gefangenschaft. Was war in den Jahren dazwischen geschehen? Kein Wort darüber. Anders als bei meinem Großvater, der seine Anekdoten aus dem Ersten Weltkrieg so oft wiederholte, dass ich sie auswendig kannte. Mein Vater schwieg, wie die meisten Väter seiner Generation.

Er hatte im Kriegsgefangenenlager Theater gespielt. Das war alles, was ich wusste. Nun war er ein schwer kranker Mann, Asthmatiker wie vermutlich der erste Hamlet-Darsteller, wie auch ich in meiner Kindheit. Nachts trafen wir uns am elterlichen Waschbecken, mein Vater und ich, beide krampfhaft nach Luft ringend. Das Rasseln in der Brust. Dies kehlige Pfeifen beim Einatmen. Dies Japsen. Ja, das war das Wort. Dazu der Auswurf von Blut und gelbweißem Schleim. Nacht für Nacht. Kein Gedanke zu Ende gedacht. Keine Geschichte zu Ende erzählt. Der Druck der wirklichen Geschichte. Die Last auf den Schultern. Die unerträgliche Schuld, angesichts der Bilder ausgemergelter Körper. Was hatte er gewusst, in seinem Ausbildungslager? Weimar und Buchenwald. Wie nah lagen Geist und Ungeist beisammen? Über allen Wipfeln Ruh. Gespräch über Bäume. Den finsteren Zeiten entronnen, und doch … Kein Ende.

Während er mich mit Medikamenten versorgte, deren Wirkung für ihn längst zu schwach war, stellte sich eine Art Nähe ein, so etwas wie Verständnis und Freundschaft zwischen Vater und Sohn, etwas, was es tagsüber kaum gab. All die unverarbeiteten Kriegserlebnisse! Wie sonst sollte ich mir sein Schweigen erklären?

Ramponierte Feldjacke mit verblichenem »P.O.W.« auf dem Rücken, ein Mitbringsel, zeugte davon. Als ich die Jacke trug, war das nicht nur ein stummer Akt der Identifikation, sondern auch eine symbolische Geste. Gefangener der Geschichte. Suche nach Identität.

»And the people bowed and prayed, to the neon god they made …« Sprachlos im Gefühlsstau. Die Unfähigkeit zu handeln. Stille Wut und Rachegedanken. Feigheit vor dem Feind in der eigenen Brust. Widerstand gegen den Staatskörper. Rebellion, die zu nichts führte. Terror, der sich selbst zerstörte. Das Ende vor Augen, das Scheitern im Blick. Schweigen als Resteverwertung: »Ach, hättest du geschwiegen, dann wärst du Philosoph geblieben.« – »Was du ererbt von deinen Vätern …« – »… bis ins dritte und vierte Glied.«

Es ist etwas faul, mein Sohn! Und du bist es auch.

Genauso, wie sich Hamlets Geist zweimal auf der Bühne zeigte, benötigte Paul Simons Song, nachdem er 1966 die Hitparaden stürmte, einen zweiten Anlauf, um ihn endgültig zum festen Bestandteil nicht nur meines, sondern eines kollektiven Unbewussten werden zu lassen. Als Soundtrack zum Film Die Reifeprüfung verband sich der Song mit den zahlreichen Metaphern für »die ­Unfähigkeit der Menschen, miteinander zu kommunizieren … Es gibt kein wirkliches Verständnis, weil es kein wirkliches Gespräch gibt – ›people talking without speaking, people hearing without listening‹«. Die Angst des Schauspielers vor den Worten. Töne, ohne gehört zu werden.

»The words of the prophets are written on the subway walls …«

Nichts als Ahnungen – Wissen der Ahnen. Der Geist des Widerstands.

Das Versagen. Die Sprache des Scheiterns. Der schlechte Atem der Geschichte. Nichts zu sagen haben. Absolut nichts.

 

 

»The Sound of Silence«

Simon & Garfunkel

Album: »Wednesday Morning, 3 A.M.«, 1964

Text und Musik: Paul Simon

Label: Columbia

 

Friedrich Ani: Dieser Augenblick jetzt

»But you who philosophize disgrace and criticize all fears,

Take the rag away from your face.

Now ain’t the time for your tears.«

 

Als das Feuerwerk begann, nachts gegen elf, am 1. Juli 1978, da waren Ensslin, Baader und Raspe längst tot. Und wo einst die Nazis marschierten, auf dem Zeppelinfeld in Nürnberg, sangen Dylan, Clapton und die anderen davon, dass sich die Zeiten ändern und die Verlierer siegen werden, und ich dachte: Das Gesicht dieses Landes bleibt immer dasselbe.

 

»William Zanzinger, who at twenty-four years

Owns a tobacco farm of six hundred acres

With rich wealthy parents who provide and protect him …«

 

Und der Himmel explodierte, tausend Funken sprühten, als würde die Finsternis ihre Wut auf mich spucken, mich, den Feigling, der nicht verhindert hat, dass der Staat drei Menschen ermordet mit der Begründung, sie seien Terroristen, ein bösartiges Karzinom auf der reinen Haut der Gesellschaft.

 

»… And high office relations in the politics of Maryland,

Reacted to his deed with a shrug of his shoulders

And swear words and sneering, and his tongue it was snarling …«

 

Dann verstummte der letzte Ton, der letzte Gedanke, Jubel erfüllte das Feld, und erstaunt und ernüchtert hielt ich Ausschau nach dem Mädchen, dem ich hatte zeigen wollen, was ich immer meinte, wenn ich sagte: »Ich kann darüber nicht sprechen.«

Dem Mädchen gefiel das Konzert, sie war kein Fan von Eric Clapton, Muddy Waters, der Band Lake und den Musikern, die sonst noch auftraten. Aber sie mochte die Songs von Bob Dylan, einige zumindest. Auf dem Weg zum Bus lächelte sie und fragte: »Bist du zufrieden? Hast du bekommen, was du erwartet hast?« Und ich sagte: »Ich kann darüber nicht sprechen.«

Denn ich war neunzehn und ein anderer als der, für den die meisten mich hielten. Der ich wirklich war, den gab es all die Jahre nur im Geheimen, an den Rändern der Songs, die mein Universum bildeten, die wahre Heimat meiner Sinne. Chaos herrschte dort, Wut und Liebe über Kreuz, Kampf der herrschenden Klasse, Erlösung der Verlorenen, Glaube an elementare Veränderung und Sehnsucht nach der großen Umarmung.

Und da war einer, der Politik in pure Poesie verwandelte und den Schmerz über jedweden Abschied in wunderbaren Mut. Ohne Bob Dylan wäre ich ein anderer geworden. Und heute kann ich – allem Scheitern zum Trotz – behaupten: Dieser andere hätte ich niemals sein mögen.

 

»… She was fifty-one years old and gave birth to ten children

Who carried the dishes and took out the garbage

And never sat once at the head of the table …«

 

Und ich hörte ihn nölen – Jahre nach der Zeppelinfeld-Epiphanie – und dachte: »Jesus, was für ein Quark, dieses biblische Getue!« Und, in einem anderen Konzert: »Dann bleib doch zu Hause, wenn du keine Lust hast aufzutreten!« Und einmal, im Münchner Olympiastadion: »Jetzt schau sie (Joan Baez) doch wenigstens einmal an, wenn sie schon nach so langer Zeit wieder neben dir auf der Bühne steht!« Und dann, zu Beginn des 21. Jahrhunderts – Kriegswahn, Aidskatastrophe, arktische Kälte in den Köpfen von Staatsmännern und -frauen – zieht der zauselige dünne Mann noch immer durchs Land. Und mit seiner sechzig Jahre alten Wut, seinem sechzig Jahre alten Furor, seiner sechzig Jahre alten Unbeugsamkeit hämmert er den Zuhörern in die Herzen:

 

»… And he spoke through his cloak, most deep and distinguished,

And handed out strongly, for penalty and repentance,

William Zanzinger with a six-month sentence.«

 

Der Zimmerman, der ein Schuh-Macher wurde, beschenkt uns, was wahre Dichter tun, noch immer in lichtlosen Wintern. »I’ve made shoes for everyone, even you, while I still go barefoot.« Rührende Vorstellung: Der Poet meint mich allein. In den neuen Versionen seiner Songs gibt es eine Sanftmut, die nichts Versöhnliches hat, einen zeitgemäßen Beat, der nichts Anbiederndes, einen Übermut, der nichts Peinliches hat. Und wenn die Gassenhauer an der Reihe sind, bleibt die Zeit für mich stehen und weitet sich zugleich, öffnet sich in eine tatsächlich vorstellbare, erträgliche Zukunft.

 

»… But you who philosophize disgrace and criticize all fears,

Bury the rag deep in your face

For now’s the time for your tears.«

 

Und sollte ich eines Morgens feststellen, dass ich mein Leben lang doch nichts anderes getan habe als einen Wald zu fegen, dieser Augenblick – das Zimmer erfüllt von der alten, unerhörten Ballade über eine kaltblütig getötete Küchenmagd und deren 24-jährigen hämischen Mörder, The Lonesome Death of Hattie Carroll –, dieser Augenblick jetzt ist eine offene Tür wie jener 1. Juli, als ich für immer die enge Kammer meiner Kindheit verließ.

Ein unbedingtes Gefühl, gemeinhin Glück genannt.

 

 

»The Lonesome Death of Hattie Carroll«

Bob Dylan

Album: »The Times They Are A-Changin’«, 1964

Text und Musik: Bob Dylan

Label: Columbia

 

Ewald Arenz: Der Traum vom richtigen Leben

Als ich fünfzehn war, gab es den Begriff der Political Correctness in der Musik noch nicht. Trotzdem wusste jeder von uns, dass im Kampf gegen ein Establishment, das aus Sozialpädagogen und linksliberalen Lehrern bestand, die alle immer auf unserer Seite waren und immer alles verstanden, keine normale Musik eingesetzt werden konnte. Für diesen Kampf brauchte man Musik, die gleichzeitig eine Waffe war. Die falsche Musik zu hören, war gleichbedeutend mit dem Überlaufen zum Feind.

Deshalb überlegte man sehr genau, welche Platten man auflegte, wenn die Freunde kamen. Franz Josef Degenhardt oder Bob Dylan gingen gerade noch, aber leider auch nur so lange, bis einer der Schafwoll­pädagogen eins seiner Lieder im Englisch- oder Deutsch­unterricht einsetzte. Ab diesem Augenblick war Väterchen Franz ebenso unwiderruflich tot wie Hurricane, das einem immerhin schon mal Schauer über den Rücken gejagt hatte, und die Platten verschwanden ganz hinten im Schrank. AC/DCs Highway to Hell allerdings oder etwa der wahnwitzige Einstiegsschrei von Motörhead wurden in den beginnenden 80ern doch eher selten zur Erschließung englischer Vokabeln verwendet. So konnten sie also ohne mitleidige oder verachtende Blicke der Kameraden jederzeit, manchmal sogar unter Beifall, gehört werden.

Auch die Straßenjungs, deren Texte zwar deutsch, aber dafür so ausgesprochen obszön waren, dass keiner unserer Lehrer gewagt hätte, sich daran die Finger zu verbrennen, wurden begeistert aufgenommen. Die Platten der Ton Steine Scherben oder Cochise waren dagegen schon an der Grenze und man spielte sie nur dem besten Freund vor, und das auch erst nach einer Nacht, in der man zum ersten Mal den väterlichen Whiskey probiert und sich dabei gegenseitig feierliche Eide geschworen hatte, den anderen eines Tages aus dem bürgerlichen Sumpf zu retten. (Natürlich war es immer der andere.) Aber am nächsten Tag – ausgenüchtert – fragte ich doch lieber nicht nach der Platte, obwohl mir das Lied vom Gnadental gut gefallen hatte, denn es war einfach nicht hart genug.

Und hart wollten wir sein, um jeden Preis. Auf jeden Fall härter als die Typen vorne am Pult, die alle gegen Atomkraft und Nuklearwaffen und Amerika waren, aber Joan Baez hörten und Woodstock nachjammerten. »Pulloverschweine« nannten wir sie verächtlich. Wir dagegen zogen auch an den heißesten Tagen lange Mäntel aus schwarzem Leder oder Trenchcoats an und trugen manchmal provozierend schwarze Reitstiefel. Wir kamen in bürgerlichen Anzügen aus den 60ern in die Schule, lasen Sartre, Goebbels, Böll und Marx wild durcheinander und bedauerten Andreas Baaders Gefangennahme.

Natürlich hörten wir auch die Beatles. Nicht aus Spaß. Aber sonntagmorgens. Wir waren zu sechst, hatten von Samstag die Nacht durchgemacht und dabei auf einem weiß rauschenden Fernseher Rockpalast angesehen. Am frühen Morgen hatten wir Kabel auf den Dachboden verlegt, Boxen nach oben geschafft und waren durch die Luke aufs Dach des Pfarrhauses geklettert. Den Plattenspieler stellten wir auf den Kamin. Wir dagegen lagen auf dem First und hatten die Lautsprecher meines Bruders in die Schneefanggitter geklemmt. Der Verstärker stand noch auf dem Dachboden. Und dann dröhnte Maxwell’s Silver Hammer hinüber zur Kirche, fast so laut wie die Glocken, und die Gemeinde auf dem Weg drehte verstört den Kopf. Musik war Kampf, und Waffen mussten nicht schön sein, sondern effektiv. Blumen steckte man allenfalls in den Gewehrlauf, wenn man marschierte. Darüber herrschte Einigkeit unter uns, und der Katalog möglicher Musik war genau geregelt.

Deshalb geschah es, als ich mich zum ersten Mal in ein Lied verliebte, völlig unerwartet. Es war im Sommer, und wie bei jeder echten Verliebtheit redete ich mit niemandem darüber. Mit meinem besten Freund schon gar nicht – der wollte Rockgitarrist werden. Es war ein Nachmittag, an dem die Luft über den Gehsteigen flimmerte, ich lag faul im offenen Fenster, das Radio lief im Hintergrund und dann kamen die ersten Takte von The Girl from Ipanema. Diese mühelos gleitenden Töne – so etwas hatte ich vorher noch nie gehört – schnippten ein paarmal im Bossa-Nova-Rhythmus an mein Jungenherz und plötzlich ging mein Fenster nicht mehr auf einen langweiligen Garten und die Fernstraße, sondern auf einen farnbestandenen Boulevard irgendwo in Südamerika. Und als Astrud Gilberto dann anfing zu singen, mit einer Stimme, klar und frisch und gelassen wie eine Brise vom Meer: »Olha que coisa mas linda mas cheia de graca e ela menina que vem passa …«, da war ich schon verloren. In diesem Lied war alles, wovon ich träumte, wenn ich an den Sommerabenden nach Hause ging: Brasilien und Mädchen, deren Haut kühl war, und Städte, in denen richtig gelebt wurde, nicht so wie bei uns … und ich wusste ja nicht, dass es allen so ging. Ich glaubte, ich hätte mich als Einziger verliebt.

Es dauerte eine Zeit lang, bis ich an das Lied kam. Zunächst hatte ich mir ja nur ein paar Bruchstücke Text gemerkt und außerdem hatte ich vorher noch nicht sehr viele Platten gekauft. Ich hatte keine Übung. So stand ich im Plattenladen und summte, mit rotem Kopf und kaum verständlich, die Melodie. Es hätte mich stutzig machen sollen, dass der Verkäufer das Lied trotzdem erkannte und mir die Platte brachte. Aber für mich war das damals noch Fügung. Die Platte kam aus dem berühmten Hause Verve, die Hülle war ringsum silbern und ebenfalls in Silber, nur in Kontur, konnte man die schlanke, schöne Astrud Gilberto erkennen. Da verliebte ich mich noch einmal. Ich trug die Platte nach Hause wie einen Schatz, schloss mich ein und legte sie auf. Von da an hörte ich sie so oft, dass ich sie irgendwann nachkaufen musste. Jahrelang begann jede Kassette, die ich aufnahm, mit dem Mädchen aus Ipanema, das, hoch aufgerichtet, braun und stolz, hinunter zum Strand geht und niemanden ansieht, vor allem nicht den, der sie liebt.

Gleichzeitig begann ich, meine Freunde zu verraten. Statt Alice Cooper oder Deep Purple kaufte ich andere Platten vom Verve-Label und stolperte so unversehens in die Welt des Jazz. Ich entdeckte, dass ich Heavy Metal gar nicht so besonders mochte und schämte mich. Aber ich entdeckte auch, dass es langweilig wurde, mit Musik zu provozieren. Weil ich außerdem kein Instrument außer der Geige spielte, die, neben der Blockflöte, wohl das für Kampfzwecke ungeeignetste aller Instrumente ist, begann ich, wütende Gedichte hinzuwerfen und kam mir vor wie Erich Mühsam oder Ernst Toller im München der Revolutionszeit. Nur nachts, wenn ich allein war, versuchte ich ab und zu, mich nach Brasilien zu schreiben. An den Strand von Ipanema. Und so bin ich zum Schriftsteller geworden. Wegen Astrud Gilberto. Ab und zu glaube ich, dass ich vielleicht heute noch ein wenig verliebt bin, auch wenn das Lied heute im Fahrstuhl als Hintergrundmusik läuft. Denn wenn ich alleine mit dem Girl from Ipanema im Lift bin, werde ich immer noch ein bisschen rot und fahre manchmal weiter als bis zu meinem Stockwerk.

 

 

»The Girl from Ipanema«

Astrud Gilberto, João Gilberto, Stan Getz

Single, 1963/64

Text: Vinícius de Moraes

Musik: Antônio Carlos Jobim

Label: Verve

 

Michael Augustin: Fast ein Weltrekord

Ob es wirklich ein Weltrekord gewesen wäre, weiß ich nicht. Ist ja eigentlich ganz egal. Immerhin haben wir’s versucht, wenn auch vergeblich. Ob man aber deshalb aus Frust gleich eine ganze Flasche Rum auf ex trinken muss, wage ich immer noch zu bezweifeln. Der Notarzt jedenfalls meinte, dass der fette Feuer dabei durchaus hätte draufgehen können. »Bei einem normalen 14-Jährigen hätte das ex und hopp bedeutet!«, sagte er. »Ihr habt Glück, dass euer Mitschüler recht korpulent ist.«

Den fetten Feuer hatten sie gleich ins Kreiskrankenhaus gekarrt, und von den beiden Dorfbullen waren wir erst mal mit auf die Wache genommen worden, wo uns eine Stunde später Katters Vater mit seinem Lieferwagen abholte. Den ganzen Weg zurück nach Lübeck war er am Rumzetern und hatte Katter zur Begrüßung gleich eine gelangt. »Du bist wohl völlig bescheuert!« Dabei ist ja eigentlich Berni auf die Idee gekommen. Wegen des verdammten Dauerregens waren wir kurzerhand vom Zeltplatz am See in die nächste Dorfkneipe übergesiedelt, denn da gab es immerhin eine Musikbox. Fast nur der letzte Dreck drin: Rex Gildo, Manuela, Freddy. Ekelhaftes Zeug eben. Bis auf diese eine Scheibe von den Kinks.

»Los, Leute!«, quietschte Bernie, »Wir stellen ein’ Weltrekord auf! Hundertmal hintereinander Dedicated Follower of Fashion. Auf die Plätze, fertig, los!« Und schon waren seine zwei Groschen in der Box verschwunden. Die Platte senkte sich auf den Teller, und es war gleich Leben in der Bude. Nach dem fünften, sechsten Mal fingen die drei alten Opas am Tresen an rumzumaulen. Aber wir fütterten immer fleißig nach. »Ey, wisst ihr was? Wir schreiben an die Kinks und erzählen denen das von unserm Weltrekord. Vielleicht laden die uns ja ein!« Wir waren begeistert. »Genau!«, brüllte Müller, »ich hab zu Hause die Adresse von den Kinks. Die stand in der Bravo!«

Die olle Wirtin, die uns erst kein Bier zapfen wollte, ließ sich endlich breitschlagen, wahrscheinlich, weil sie gesehen hatte, dass Katter einen 50-Mark-Schein bei sich trug. »Aber glaubt ja nicht, dass ihr euch hier die Hucke voll saufen könnt. Für Minderjährige gibt’s hier eigentlich keinen Alkohol …« Uneigentlich gab’s ihn aber doch, und die Kinks wurden irgendwie immer lauter und besser. »Sag mal, Katter, du kannst doch so gut Englisch. Was heißt das denn auf Deutsch: dedi-ca-ted fol-low-er of fa-shion?« Wusste er auch nicht. Was uns nicht weiter störte, denn die Hauptsache war ja sowieso die Musik. Und die war richtig gut. Auch beim sechsundzwanzigsten Mal noch. »Cause he’s a dedicated follower of fashion! Oh yes, he is, oh yes, he is!« Den drei Alten war es längst zu viel geworden und sie hatten sich verdrückt. So richtig gut gefiel das der ollen Wirtin nicht, das konnte man merken, aber viel getrunken hatten die sowieso kaum. Da waren wir doch irgendwie die besseren Kunden. Sie wechselte willig unser Taschengeld in kleine Münzen, und die Kinks machten immer weiter. Achim trank nur Cola und hatte das Zählen übernommen, den »Weltrekord-Count­down«, wie er sagte. »Achtundvierzig!«, verkündete er wie ein Sportreporter, und ich war mit dem Bezahlen dran, als wir die Fünfzigergrenze überschritten. »They seek him here, they seek him there …«

»Wir sind jetzt eine halbe Stunde vom Weltrekord entfernt!«, erklärte Katter gut zwanzig Minuten vor Mitternacht. »Woher willst du das denn wissen?«, quäkte Müller. »Na ist doch klar! Das Stück ist drei Minuten lang, wir sind gleich bei Runde ­neunzig … Wie viel bleibt da also?« Katter, der Schlaumeier. »Jetzt ist aber langsam mal wieder der fette Feuer dran!«, bemerkte Berni etwas gereizt. »Nicht so geizig, fetter Feuer! Oder ist dir das Taschengeld ausgegangen?« Der fette Feuer war dran, ob er nun wollte oder nicht. »Dreiundneunzig!«, rief Achim, und der fette Feuer steckte seine Münzen in den Schlitz. Die Platte senkte sich, und das Unglück nahm seinen Lauf. So kurz vor dem Weltrekord. (Wenn es denn einer gewesen wäre.) Obwohl Musik den Raum erfüllte, fühlte es sich für einen Moment an, als wäre die ganze Welt zu einem halltoten Raum geworden, als wären tonnenschwere Watteballen vom Kneipenhimmel gestürzt. Was da tönte, das waren nicht die Kinks. Oh no! Rex Gildo sang. Ausgerechnet Rex Gildo. Der fette Feuer, diese blöde Sau, diese hirnrissige Schweinebacke, hatte sich verwählt. Er hatte die falsche Kombination eingegeben. Rex Gildo! Das muss man sich mal vorstellen! »Du Idiot! Du verdammter Mistkäfer! Du bist doch das größte Arschloch auf der Welt! Hau bloß ab!«

In völliger Erstarrung warteten wir das Ende der Platte ab. Katter sprang sofort an die Box und wählte gleich wieder die Kinks. Aber das war jetzt natürlich nur noch aus hygienischen Gründen, um den Rex Gildo aus der Luft zu kriegen. Für den Weltrekord zählte das nicht mehr. Entsetzt hatten wir alle auf die Musikbox geglotzt und keine Augen mehr gehabt für den fetten Feuer. Und das wird wohl genau der Moment gewesen sein, als er beim Rausgehen eben kurz hinter den Tresen griff und die Flasche Rum verschwinden ließ. Wir saßen immer noch völlig erledigt vor der Musikbox, als urplötzlich die Kneipentür aufging und der fette Feuer der Länge nach in den Schankraum stürzte, die offenbar in störtebekerartiger Geschwindigkeit geleerte Rumflasche fest in der Hand.

Erst wollten wir das ja nicht, dass die Wirtin den Notarzt rief. Und sie selber wahrscheinlich auch nicht, weil sie ja Bier an uns ausgeschenkt hatte. Aber als der fette Feuer sich überhaupt nicht mehr bewegte und wir schon dachten, dass er abgenibbelt sei, hat sie’s dann doch getan. Und die Polizei war auch gleich da und hat uns mit zur Wache genommen. Ich war der Letzte, der die Kneipe verließ. »Sag mal, Junge«, rief die olle Wirtin, »wie hieß das Musikstück eigentlich?«

Ich drehte mich um. »Dedicated Follower of Fashion!« – »Wie bitte?«, fragte die olle Wirtin. Doch ich sagte nur: »Drücken Sie einfach Taste B4!«

 

 

»Dedicated Follower of Fashion«

The Kinks

Single, 1966

Text: Ray Davies

Labels: Pye (UK), Reprise (USA)

 

Zsuzsa Bánk: Siegen und leben

Die Lieblingspopsongs wechseln, jährlich gibt es einen neuen, die alten verblassen und verschwinden, taugen nicht länger, da gehört wenig in die eine Schachtel, die für die Ewigkeit sammelt und aufbewahrt. Was bleibt, ist die Oper, verrückterweise ist sie endlos, zeitlos, wie auch immer sie das anstellt, wie auch immer sie das macht. In meine Ewigkeits-Schachtel lege ich die Walküre, nach dem Rheingold der erste Tag im Opernzyklus Der Ring des Nibelungen. Seit ich das erste Mal Brünnhilde gesehen und gehört habe, habe ich sie dort hineingelegt und dort liegt sie seither gut verschlossen, es ist nicht denkbar, dass sie jemals von dort verjagt oder durch etwas anderes abgelöst wird. Wer oder was sollte das sein?

Bei vielen stößt Richard Wagner auf Ablehnung, löst eine Art Igitt-Reflex aus, eine Bloß-nicht-Abwehrhaltung, da wird einiges durcheinandergeworfen, es könnte mit dem Verwendungs- und Verwurstungsschicksal des »Walkürenritts« zu tun haben, unzählige Male geschunden für jede drittklassige Filmdokumentation über den Zweiten Weltkrieg – da gehen zerstörte Welt, zerstörtes Deutschland musikalisch mit dem »Walkürenritt« so unglückselig Hand in Hand. Bei mir hat das nichts angerichtet, mein liebstes Stück ist und bleibt eines aus der Walküre, es ist im zweiten Aufzug die vierte Szene, natürlich, die Todesverkündung.

Der Wälsung Siegmund begegnet seinem Todesengel Brünnhilde. Mit seiner Schwester und Geliebten Sieglinde ist er auf der Flucht vor Hunding und seinen Männern. Sie hören schon von fern deren Hunde, Stimmen, Rufe, Sieglinde ist vor Erschöpfung eingeschlafen, Albträume plagen sie, höllenrote Traumgebilde. Wenige Stunden zuvor hat sie Hunding einen Schlaftrunk gemischt, um mit Siegmund ungestört allein zu sein. Jetzt droht ihnen das Schlimmste. Siegmund sitzt neben ihr und bewacht ihren Schlaf. Da ändert die Musik ihr Tempo, wird langsam, scheint stillzustehen und aufzuhören: Wie aus dem Nichts taucht die Walküre auf, die Bläser lassen Brünnhilde in die Szene einschweben, dann wird die Zeit ausgesetzt, die Uhren bleiben stehen in diesem nicht vermessbaren, in diesem unermesslichen, durch die Streicher abhebenden, schwerelosen Raum. Wir sind Zeugen einer Begegnung der anderen Art, einer Dimension, die sich ein Mensch nicht denken, die er sich kaum ausmalen kann. Als Todesbotin ist Brünnhilde gekommen, um Siegmund mitzunehmen. Siegmund soll sterben. Im Kampf gegen Hunding soll er unterliegen.

In wenigen Takten legt sich alles in diese Musik, was Mensch, Halbgott und Gott grundsätzlich aushalten, ertragen und entscheiden müssen, und was sie insbesondere in dieser knappen Stunde zwischen Nacht und Tag, die soeben angebrochen ist, aushalten, ertragen und entscheiden müssen. Das gewaltige Spektrum aus Tod und Leben wird in wenigen Zügen aufs Äußerste, aufs Bedrängendste in die tastend flirrende Musik gelegt und besungen. Das Unerklärliche, das Unheimliche erklingt in ihr, das Unheilvolle und Unentrinnbare, das diesen Anmutigsten aller Todesengel umgibt und trägt. Durch diese Musik gelangen wir mit Siegmund in den Vorraum des Todes, durch eine Klangschleuse ins Vorzimmer zu einer anderen Stufe des Seins oder eben Nicht-Seins. Das Überirdische aus Gottesnähe, Engelsnähe, Todesnähe, wie immer wir es nennen wollen, in dieser Musik ist es festgehalten und hörbar, in dieser Verquickung der Leitmotive, in ihrem Zusammenspiel aus todesdüster und leichthimmlisch. Sofort spüren wir die eigentümliche Mischung aus Bedrohung und Schutz, denn eigentlich geht dies doch nicht zusammen: Bedrohung und Schutz, aber hier verschmilzt es, hier wird es eins, sobald Brünnhilde ausspricht, warum sie da ist, zu dieser Stunde, an diesem Ort des Kampfes, an dem Siegmund den Tod finden soll. Sobald sie erklärt, »nur Todgeweihten taugt mein Anblick«, wissen wir, es gibt nichts zu verhandeln, es ist entschieden, wer Brünnhilde »erschaut, der scheidet vom Lebenslicht«. Durch Brünnhilde wird der Tod sogar süß und anziehend, durch sie hat er nichts Fürchterliches. Ja, wenn der Tod so aussieht, wenn er sich so anfühlt und anhört, dann gehen wir gerne mit.

Siegmund aber setzt das Götterurteil aus, er überredet, nein, er überzeugt die Walküre davon, dass seine Liebe zu Sieglinde schwerer wiegt, gewichtiger ist als ein Wotanbefehl. Wenn Sieglinde nicht mitkommen kann, dann geht auch er nicht in den Tod. Nein, dann vergiss die ganze Sache, Brünnhilde, so verlockend du dein Walhall auch beschreibst. Dieser Zwist zwischen Entschluss und Aufbegehren, zwischen Befehl und ­Weigerung – wie sich dieser Wandel in wenigen Schwüngen und Spiralen mit Tenor und Sopran hochdreht und steigert, nimmt mir die Luft zum Atmen und die Spucke zum Schlucken, lässt meinen Herzschlag aussetzen, zu hören sind allein die zurückgenommen wirbelnden Pauken und was sonst so in diesem zeitenlosen Raum mitsurrt, wenn Siegmund und die Walküre für Sekunden schweigen, bevor die Musik aufs Neue einsetzt. Das Unvorhersehbare, das Unfassliche geschieht: Brünnhilde wechselt die Seiten, ihre Todesnachricht wiederholt sie nicht, ihren Gehorsam vergisst sie für den Wälsung, den Sterbebefehl Wotans ignoriert sie nun, das Todesurteil hatte sie zwar ausgesprochen, nimmt es jetzt aber zurück. Nein, Siegmund soll nicht sterben, Siegmund darf nicht sterben, er soll Hunding im Kampf besiegen und dann – leben.

Mir ist völlig unklar, wie sich jemand diesem Bild und dieser Musik entziehen kann, wie jemand in der Walküre sitzen und nicht weinen kann, diesem Zwie­gespräch über Liebe und Tod, über Leben und Lebensende folgen kann und nicht losweinen muss, wenn Brünnhilde erklärt, wer sie angesehen habe, sei des Todes, wenn sie anhebt zu ihrem »du sahest der Walküre sehrenden Blick, mit ihr musst du nun ziehen«. Wie jemand seine Jacke nehmen und hinausgehen kann in die Pause, seinen Sekt bestellen und dann reden kann über andere Dinge wie Wetter oder Geschäfte, so unendlich dumme andere Dinge wie Wetter und Geschäfte, wo hier soeben das Dringlichste aus Tod, Liebe und Leben verhandelt wurde und die Musik uns hochgetragen hat, ja, doch, schon, in Walhallnähe, auf Walhallhöhe, dorthin, wo Siegmund hätte einziehen sollen. Wie kann man ein Wort zu Wetter und Geschäften herauskriegen, wie kann man in seinem Gehirn nach so etwas buddeln und es auch finden, nachdem Brünnhilde sich vor wenigen Sekunden hat umstimmen lassen und sie Siegmund gestanden hat, »ich sehe die Not, die das Herz dir zernagt«? Als hätte Siegmund nicht gerade dem Tod ein Versprechen abgerungen, den Tod überzeugt, noch einmal zu pausieren, sich bitte zu verspäten, sein Vorhaben, sein eigentliches Anliegen auszusetzen, als hätte er nicht gute Gründe vorgebracht, die Todesnachricht in diesem Moment zu vergessen, um es vielleicht in Jahren, jedenfalls zu einem ganz und gar anderen Zeitpunkt, noch einmal zu versuchen, aber nicht jetzt, nein, jetzt nicht.

Das ist etwas, das ich noch nie verstanden habe. Wie kann ein Mensch aus Herz und Blut nach dem zweiten Aufzug in die Pause gehen und kein Taschentuch brauchen? Wie ist das möglich?

 

 

»Die Walküre« (aus: »Der Ring des Nibelungen«)

Zweiter Aufzug, vierte Szene, Todesverkündung

Libretto und Komposition: Richard Wagner

Uraufführung 1870, Königliches Hof- und Nationaltheater München

 

Thommie Bayer: Himmel und Hölle

Hätte man die Ohren einer Elfe und stünde neben einem scheißenden Huhn: Das Auftreffen des Fäkalienkleckses klänge wie die Bassdrum einer Linn. Und die Snare klingt wie eine Anstaltspackung Nudelsuppe, die man mit einem toten Hamster drischt. Oder wie einer dieser 60er-Jahre-Sitzsäcke beim Auftreffen unten auf der Straße.

Die Linn war der erste massenhaft eingesetzte Drumcomputer, sie ließ ungezählte Produzenten- und Musikerherzen höherschlagen, weil man endlich dem renitenten Drummer mit kaltem Lächeln die Tür weisen und sagen konnte: »Wenn du’s nicht machst, dann macht’s die Linn.« Und sie machte es. Bei Udo Lindenbergs Sonderzug nach Pankow oder Howard Jones’ Wouldn’t It Be Good zum Beispiel, aber auch bei einem der schönsten Songs der Popgeschichte, Don Henleys The Boys of Summer, wie beim wohl grässlichsten der letzten dreißig Jahre: I Just Called to Say I Love You von Stevie Wonder.

Und zu diesem Song passt sie. So sackig, matschig und mies wie der Drumsound ist der ganze Song. Eine dümmliche, lahme Melodie leiert sich durch geist- und grätenfreie Harmonien über einem Playback der allerstumpfsinnigsten Machart, die noch dem drögsten Heim­orgelpiloten ein herablassendes Hohnlächeln zu entlocken vermöchte.

Der geübte Kulturpessimist wundert sich natürlich nicht, dass ausgerechnet solch kalorienfreier Junk zu einem der größten Welthits wird. Ein Evergreen. Jeder Hotelbar-Atmosphärenvernichter hat ihn drauf. Zwischen Killing Me Softly und Tie a Yellow Ribbon wird er einem unvermeidlich ins Gehör und auf den Geist geschmiert, und wenn ein Song erst mal dort angelangt ist, im Sola­riumteint-, Blouson- und Toupetbereich, dann ist man auf keinem Fleck der Erde mehr sicher vor ihm. Aufzug, Supermarkt, Raststätte, Flugzeug, Strandbar, Marmorklo, Casino, Boutique, Ausflugsdampfer, Omnibus – es gibt kein Entrinnen. Stevie ruft an, nur um zu sagen, dass er mich liebt, dass er cared und das, logisch, vom bottom seines hearts.

Aber warum regt er sich eigentlich so auf, der geübte Kulturpessimist? Gibt es nicht noch massenhaft mehr scheußliche Musik? Die ihn ebenfalls auf Schritt und Tritt belästigt? Haben nicht Modern Talking, Peter Maffay, die Communards und Myriaden von Musikverbrechern mehr ihre klebrigen Tentakel nach ihm ausgestreckt, sodass er gar nicht genug um sich schlagen kann, sich all der Sinnesqualen zu erwehren? Wär es nicht viel gescheiter, er schaffte sich ein dickes Fell an? Die anderen haben das doch auch. Niemand außer ihm hat Schweißperlen auf der Stirn, wenn Dreck aus den Boxen rieselt. Wieso er? Und die anderen überfeinerten Dandies? Und die Prinzessinnen auf der Erbse?

Es gibt eine Antwort auf diese Frage: Alles hat seine zwei Seiten. Man kann nicht A sagen, ohne B zu sagen. Und nicht A hören, ohne B zu hören. Die A-Seite, den Genuss an wundervoller Musik, die Freude, das Glück, den Gefühlsaufruhr, das Erlebnis, gibt es nicht ohne B-Seite. Kackende Hühner, carende Stevies, herz-, geist- und liebloser Akustikmüll sind der Preis für den Zauber der guten Musik. So ist das. Die Buddhisten wissen das vermutlich schon lange.

 

 

»I Just Called to Say I Love You«

Stevie Wonder

Single, 1984

Text und Musik: Stevie Wonder

Label: Motown

 

Bernd Begemann: Todesurteil erhalten

»Das ist ein blödes Lied.«

Lisa ist sich sicher.

Ich mag Lisa.

Hab sie immer respektiert.

Höre ihr zu usw.

Aber diesmal triumphiert ihre emotionale Verkrüppelung und verkrüppelt das betreffende Lied gleich mit.

Vielleicht hat der Anfang sie auf dem falschen Fuß erwischt, wie schon einige vor ihr.

Sanft säuselndes Saxofon und dann:

 

»A chair is still a chair«

 

»Ein Stuhl ist immer noch ein Stuhl – na toll, Gertrude Stein für Neandertaler oder was …«

 

»Even when there’s no one sitting there

But a chair is not a house

And a house is not a home

When there’s no one there

To hold you tight

And no one there

You can kiss goodnight«

 

– Das ist EIN Gedanke.

Der über sechs Zeilen geht.

Und jede Zeile klingt auch für sich gut, könnte alleine stehen.

Dionne Warwick entwickelt diesen Gedanken.

Schüchtern, zögernd, aber sobald sie die Zeilen zusammengefügt hat, sind sie ein Todesurteil.

Ihr Todesurteil.

Sie hat es erhalten und nicht gezuckt.

 

»A room is still a room

Even when there’s nothing there but gloom

But a room is not a house

And a house is not a home

When the two of us

Are far apart

And one of us

Has a broken heart«

 

Ach, Dionne.

Ab und zu taucht sie heutzutage nachteilig in Klatschspalten auf, weil sie mit O. J. Simpson auf einem Ball tanzt oder weil sie Leute bittet, für ihre Nichte Whitney Houston zu beten.

Nie so sexy wie Diana, nie so mitreißend wie Aretha.

Burt Bacharach, der Komponist, traf sie in einem Studio, wo sie Backgrounds einsang.