Die Sorglosen

Pinneberg erfährt etwas Neues über Lämmchen und fasst einen großen Entschluss

Es ist fünf Minuten nach vier. Pinneberg hat das eben festgestellt. Er steht, ein nett aussehender, blonder junger Mann, vor dem Hause Rothenbaumstraße 24 und wartet.

Es ist also fünf Minuten nach vier und auf drei viertel vier ist Pinneberg mit Lämmchen verabredet. Pinneberg hat die Uhr wieder eingesteckt und sieht erst auf ein Schild, das am Eingang des Hauses Rothenbaumstraße 24 angemacht ist. Er liest:

DR. SESAM

Frauenarzt

Sprechstunden 912 und 46

»Ebend! Und nun ist es doch wieder fünf Minuten nach vier. Wenn ich mir noch eine Zigarette anbrenne, kommt Lämmchen natürlich sofort um die Ecke. Lass ich es also. Heute wird es schon wieder teuer genug.«

Er sieht von dem Schild fort. Die Rothenbaumstraße hat nur eine Häuserreihe, jenseits des Fahrdamms, jenseits eines Grünstreifens, jenseits des Kais fließt die Strela, hier schon hübsch breit kurz vor ihrer Einmündung in die Ostsee. Ein frischer Wind weht herüber, die Büsche nicken mit ihren Zweigen, die Bäume rauschen ein wenig.

Pinneberg greift in die Tasche, holt aus dem Etui eine Zigarette und brennt sie an.

Um die Ecke weht Lämmchen, im plissierten weißen Rock, der Rohseidenbluse, ohne Hut, die blonden Haare verweht. »Tag, Junge. Es ging wirklich nicht eher. Böse?«

»Keine Spur. Nur, wir werden endlos sitzen müssen. Es sind mindestens dreißig Leute reingegangen, seit ich warte.«

»Sie werden ja nicht alle zum Doktor gegangen sein. Und dann sind wir ja angemeldet.«

»Siehst du, dass es richtig war, dass wir uns angemeldet haben!«

»Natürlich war es richtig. Du hast ja immer recht, Junge!« Und auf der Treppe nimmt sie seinen Kopf zwischen die Hände und küsst ihn stürmisch. »O Gott, ich bin glücklich, dass ich dich mal wieder habe, Junge. Denke doch, beinahe vierzehn Tage!«

»Ja, Lämmchen«, antwortet er. »Ich bin auch nicht mehr brummig.«

Die Tür geht auf und im halbdunklen Flur steht ein weißer Schemen vor ihnen, bellt: »Die Krankenscheine!«

»Lassen Sie einen doch erst mal rein«, sagt Pinneberg und schiebt Lämmchen vor sich her. »Übrigens sind wir privat. Ich bin angemeldet. Pinneberg ist mein Name.«

Auf das Wort »Privat« hin hebt der Schemen die Hand und schaltet das Licht auf dem Flur ein. »Herr Doktor kommt sofort. Einen Augenblick, bitte. Bitte, dort hinein.«

Sie gehen auf die Tür zu und kommen an einer andern, halb offen stehenden vorbei. Das ist wohl das gewöhnliche

»So was gibt’s nicht!«

»Wir warten schon länger!«

»Wozu zahlen wir unsere Kassenbeiträge?!«

»Die feinen Pinkels sind auch nicht mehr wie wir.«

Die Schwester tritt in die Tür: »Seien Sie man bloß ruhig! Herr Doktor wird ja gestört! Was Sie denken, ist nicht. Das ist der Schwiegersohn von Herrn Doktor mit seiner Frau. Nicht wahr?«

Pinneberg lächelt geschmeichelt, Lämmchen strebt der andern Tür zu. Einen Augenblick ist Stille.

»Nu bloß schnell!«, flüstert die Schwester und schiebt Pinneberg vor sich her. »Diese Kassenpatienten sind zu gewöhnlich. Was die Leute sich einbilden für das bisschen Geld, das die Kasse zahlt …«

Die Tür fällt zu, der Junge und Lämmchen sind im roten Plüsch.

»Das ist sicher sein Privatsalon«, sagt Pinneberg. »Wie gefällt dir das? Schrecklich altmodisch finde ich.«

»Mir war es grässlich«, sagt Lämmchen. »Wir sind doch sonst auch Kassenpatienten. Da hört man mal, wie die beim Arzt über uns reden.«

»Warum regst du dich auf?«, fragte er. »Das ist doch so. Mit uns kleinen Leuten machen sie, was sie wollen …«

»Es regt mich aber auf …«

Die Tür öffnet sich, eine andere Schwester kommt: »Herr und Frau Pinneberg, bitte? Herr Doktor lässt um einen Augenblick Geduld bitten. Wenn ich unterdes die Personalien aufnehmen dürfte?«

»Bitte«, sagt Pinneberg und wird gleich gefragt: »Wie alt?«

»Vorname: Johannes.«

Nach einem Stocken: »Buchhalter.«

Und glatter: »Immer gesund gewesen. Die üblichen Kinderkrankheiten, sonst nichts. – Soviel ich weiß, beide gesund.«

Wieder stockend: »Ja, die Mutter lebt noch. Der Vater nicht mehr, nein. Kann ich nicht sagen, woran er gestorben ist.« Und Lämmchen …: »Zweiundzwanzig. – Emma.«

Jetzt zögert sie: »Geborene Mörschel. – Stets gesund. Beide Eltern am Leben. Beide gesund.«

»Also einen Augenblick noch. Herr Doktor ist sofort frei.«

»Wozu das alles nötig ist«, brummt er, nachdem die Tür wieder zufiel. »Wo wir doch nur …«

»Gerne hast du es nicht gesagt: Buchhalter.«

»Und du nicht das mit der geborenen Mörschel!« Er lacht. »Emma Pinneberg, genannt Lämmchen, geborene Mörschel. Emma Pinne…«

»Bist du stille! O Gott, Junge, ich müsste noch einmal ganz unbedingt. Hast du eine Ahnung, wo das hier ist?«

»Also das ist doch immer dieselbe Geschichte mit dir …! Statt, dass du vorher …«

»Aber ich bin, Junge. Ich bin wirklich. Noch auf dem Rathausmarkt. Für einen ganzen Groschen. Aber wenn ich aufgeregt bin …«

»Also Lämmchen, nimm dich doch einen Augenblick zusammen. Wenn du wirklich eben erst …«

»Junge, ich muss …«

»Ich bitte«, sagt eine Stimme. In der Tür steht Doktor Sesam, der berühmte Doktor Sesam, von dem die halbe Stadt und die viertel Provinz flüstern, dass er ein weites Herz hat, manche sagen auch, ein gutes Herz. Jedenfalls hat

Dieser Doktor Sesam steht also in der Tür und sagt: »Ich bitte.«

Doktor Sesam sucht auf seinem Schreibtisch nach dem Brief. »Sie haben mir geschrieben, Herr Pinneberg. Sie können noch keine Kinder brauchen, weil das Geld nicht reicht.«

»Ja«, sagt Pinneberg und ist schrecklich verlegen.

»Machen Sie sich immer schon ein bisschen frei«, sagt der Arzt zu Lämmchen und fährt dann fort: »Und nun möchten Sie einen ganz sicheren Schutz wissen. Ja, einen ganz sicheren …« Er lächelt skeptisch hinter seiner goldenen Brille.

»Ich habe in Ihrem Buch gelesen«, sagt Pinneberg, »diese Pessoirs …«

»Diese Pessare«, sagt der Arzt, »ja, aber sie passen nicht für jede Frau. Und dann ist es immer etwas umständlich. Ob Ihre Frau das Geschick hat …«

Er sieht zu ihr hoch. Sie hat sich ein bisschen ausgezogen, nur so angefangen, die Bluse und den Rock. Mit ihren schlanken Beinen steht sie sehr groß da.

»Nun, gehen wir einmal rüber«, sagt der Arzt. »Die Bluse hätten wir nun dazu nicht auszuziehen brauchen, kleine junge Frau.«

Lämmchen wird ganz rot.

»Jetzt lassen Sie sie schon liegen. Kommen Sie. Einen Augenblick, Herr Pinneberg.«

Die beiden gehen in das Nebenzimmer. Pinneberg sieht ihnen nach. Der ganze Doktor Sesam reicht der »kleinen jungen Frau« nicht bis an die Schultern. Pinneberg findet wieder, sie sieht herrlich aus, das beste Mädchen von der

Nebenan hört er den Arzt ab und zu halblaut etwas fragen, gegen einen Schalenrand klappert ein Instrument, das Geräusch kennt er vom Zahnarzt, es ist kein angenehmes Geräusch.

Nun fährt er zusammen, diese Stimme von Lämmchen kennt er noch nicht – sie sagt ganz laut, fast schreiend, sehr hell: »Nein, nein, nein!« Und noch einmal: »Nein!« Und dann ganz leise, aber er hört es doch: »O Gott!«

Pinneberg macht drei Schritte gegen die Tür – was ist das? Was kann da sein? Man hat schon gehört, dass solche Ärzte schreckliche Wüstlinge sind … Aber nun spricht Doktor Sesam wieder, nichts zu verstehen, und nun klappert wieder das Instrument.

Und dann lange Stille.

Es ist ein Hochsommertag, etwa Mitte Juli, herrlichster Sonnenschein. Der Himmel draußen ist dunkelblau, ins Fenster reichen ein paar Zweige, sie bewegen sich im Seewind. Da ist ein altes Lied aus Pinnebergs Kinderzeit, es fällt ihm eben ein:

Wehe-Wind, Puste-Wind,

Nimm den Hut nicht meinem Kind!

Sei gelind zu meinem Kind,

Wehe-Wind, Puste-Wind!

Die im Wartezimmer reden. Denen wird die Zeit auch lang. Eure Sorgen möcht ich haben. Eure Sorgen …

Die beiden kommen wieder. Pinneberg wirft einen ängstlichen Blick auf Lämmchen, sie hat so große Augen, wie

Pinneberg ist ohne Atem. Das war wie ein Schlag. Dann sagt er hastig: »Herr Doktor, es ist doch unmöglich! Wir haben so aufgepasst! Ganz unmöglich ist das. Sag doch selbst, Lämmchen …«

»Junge!«, sagt sie. »Junge …«

»Es ist so«, sagte der Arzt. »Irrtum ausgeschlossen. Und glauben Sie mir, Herr Pinneberg, ein Kind ist für jede Ehe gut.«

»Herr Doktor«, sagt Pinneberg und seine Lippe zittert. »Herr Doktor, ich verdiene im Monat hundertachtzig Mark! Ich bitte Sie, Herr Doktor!«

Doktor Sesam sieht schrecklich müde aus. Was jetzt kommt, das kennt er, das hört er an jedem Tage dreißig Mal.

»Nein«, sagt er. »Nein. Bitten Sie mich gar nicht erst darum. Kommt überhaupt nicht in Frage. Sie sind beide gesund. Und Ihr Einkommen ist gar nicht schlecht. Gar – nicht – schlecht.«

»Herr Doktor!«, sagt Pinneberg fieberhaft.

Hinter ihm steht Lämmchen und streicht ihm über die Haare: »Lass, Junge, lass! Es wird schon gehen.«

»Aber es ist ganz unmöglich …«, bricht Pinneberg aus – und wird still. Die Schwester ist hereingekommen.

»Herr Doktor werden am Apparat verlangt.«

»Sie sehen«, sagt der Arzt. »Passen Sie auf, Sie freuen sich noch. Und wenn das Kind da ist, kommen Sie sofort zu mir.

Er schüttelt Lämmchen die Hand.

»Ich möchte gleich …«, sagt Pinneberg und zieht sein Portemonnaie.

»Ach ja«, sagt der Arzt, schon in der Tür, und sieht die beiden noch einmal an, schätzend. »Na, fünfzehn Mark, Schwester.«

»Fünfzehn …«, sagt Pinneberg gedehnt und sieht die Tür an. Doktor Sesam ist schon fort. Er holt umständlich einen Zwanzigmarkschein hervor, schaut mit gerunzelter Stirn zu, wie die Quittung ausgeschrieben wird, und nimmt sie in Empfang.

Seine Stirn hellt sich etwas auf: »Ich bekomme das von der Krankenkasse wieder, nicht wahr?«

Die Schwester sieht ihn an, dann Lämmchen. »Schwangerschaftsdiagnose, nicht wahr?« Sie wartet gar nicht erst auf die Antwort. »Doch nicht. Das ersetzen die Kassen nicht.«

»Komm, Lämmchen!«, sagt er.

Sie steigen langsam die Treppe hinunter. Auf einem Absatz bleibt Lämmchen stehen und nimmt seine Hand zwischen die ihren. »Sei nicht so traurig! Bitte nicht! Es wird schon gehen.«

»Ja, ja«, sagt er, tief in Gedanken.

Sie gehen ein Stück Rothenbaumstraße, dann biegen sie in die Mainzer Straße ein. Hier sind hohe Häuser und viele Menschen, Autos fahren in Rudeln, die Abendzeitungen sind schon da, niemand achtet auf die beiden.

»Gar kein schlechtes Einkommen, sagt der, und nimmt mir fünfzehn Mark ab von meinen hundertachtzig, solch Räuber!«

»Ich schaffe es schon«, sagt Lämmchen. »Ich schaffe es schon.«

Von der Mainzer Straße kommen sie in den Krümperweg, still ist das plötzlich hier.

Lämmchen sagt: »Jetzt versteh ich manches.«

»Wieso?«, fragt er.

»Ach nichts, nur dass mir morgens immer schlecht ist. Und es war überhaupt so komisch …«

»Aber du musst es doch gemerkt haben?«

»Ich hab doch immer gedacht, es kommt noch. Wer denkt denn gleich an so was?«

»Vielleicht hat er sich geirrt!«

»Nein. Das glaube ich nicht. Es stimmt schon.«

»Aber möglich ist es doch, dass er sich geirrt hat?«

»Nein, ich glaube …«

»Bitte! Höre doch einmal zu, was ich sage! Möglich ist es doch!?«

»Möglich –? Möglich ist alles!«

»Also vielleicht kommt morgen schon die Regel. Dann schreib ich dem aber einen Brief –!« Er versinkt in Gedanken, er schreibt einen Brief.

Auf den Krümperweg folgt die Hebbelstraße, die beiden gehen fein bedachtsam durch den Sommernachmittag, in dieser Straße stehen schöne Ulmen.

»Meine fünfzehn Mark verlange ich dann aber auch zurück«, sagt Pinneberg plötzlich.

Lämmchen antwortet nicht. Sie tritt vorsichtig auf mit der ganzen Breite des Schuhs und sie sieht genau, wohin sie tritt, es ist alles so anders.

»Wohin gehen wir eigentlich?«, fragt er plötzlich.

»Ich muss noch mal nach Haus«, sagt Lämmchen. »Ich habe Mutter nichts gesagt, dass ich wegbleibe.«

»Auch das noch!«, sagt er.

»Schimpf nicht, Junge«, bittet sie. »Aber ich will sehen,

»Um halb zehn.«

»Dann bring ich dich zur Bahn.«

»Und sonst nichts«, sagt er. »Sonst wieder mal nichts. Ein Leben ist das.«

Die Lütjenstraße ist eine richtige Arbeiterstraße, immer wimmelt es von Kindern da, man kann keinen richtigen Abschied nehmen.

»Nimm es nicht so schwer, Junge«, sagt sie und gibt ihm die Hand. »Ich schaff es schon.«

»Ja, ja«, sagt er und versucht zu lächeln. »Du bist Trumpf-Ass, Lämmchen, und stichst alles.«

»Und um halb neun bin ich unten. Bestimmt.«

»Und keinen Kuss jetzt?«

»Es geht wirklich nicht, es wird gleich weitergetratscht. Tapfer, tapfer!«

»Also gut, Lämmchen«, sagt er. »Nimm du es auch nicht so schwer. Irgendwie wird es ja werden.«

»Natürlich«, sagt sie. »Ich verlier den Mut schon nicht. Tjüs derweile.«

Sie huscht schnell die dunkle Treppe hinauf, ihr Stadtköfferchen schlägt gegen das Geländer: klapp – klapp – klapp.

Pinneberg sieht den hellen Beinen nach. Hunderttausendmal ist ihm Lämmchen schon diese gottverdammte Treppe hinauf entschwunden.

»Lämmchen!«, brüllt er. »Lämmchen!«

»Ja?«, fragt sie von oben und sieht über das Geländer.

»Einen Augenblick!«, ruft er. Er stürmt die Treppe hinauf, er steht atemlos vor ihr, er fasst sie bei den Schultern. »Lämmchen!«, sagt er und keucht vor Aufregung und Atemnot. »Emma Mörschel! Wie wär’s, wenn wir uns heiraten würden –?«

Lämmchen Mörschel sagte nichts. Sie machte sich von Pinneberg los und setzte sich sachte auf eine Treppenstufe. Plötzlich waren ihre Beine weg. Nun saß sie da und sah zu ihrem Jungen hoch. »O Gott!«, sagte sie. »Junge, wenn du das tätest!«

Ihre Augen wurden ganz hell. Es waren dunkelblaue Augen mit einer Schattierung ins Grünliche; jetzt strömten sie geradezu über von strahlendem Licht.

›Wie wenn alle Weihnachtsbäume ihres Lebens auf einmal in ihr brennten‹, dachte Pinneberg und wurde ganz verlegen vor Rührung.

»Also geht in Ordnung, Lämmchen«, sagte er. »Machen wir. Und möglichst bald, was?«

»Junge, du brauchst es aber nicht. Ich komme auch so zurecht. Nur, da hast du recht, besser ist es schon, wenn der Murkel einen Vater hat.«

»Der Murkel«, sagte Johannes Pinneberg. »Richtig, der Murkel.«

Er war einen Augenblick still. Er kämpfte mit sich, ob er Lämmchen nicht sagen sollte, dass er bei seinem Heiratsantrag gar nicht an diesen Murkel gedacht hatte, sondern nur daran, dass es sehr gemein war, an diesem Sommerabend drei Stunden auf sein Mädchen in der Straße zu warten. Aber er sagte es nicht. Stattdessen bat er: »Steh doch auf, Lämmchen. Die Treppe ist sicher ganz dreckig. Dein guter weißer Rock …«

»Lass den Rock, lass ihn sausen! Was kümmern uns alle Röcke von der Welt. Bin ich glücklich! Hannes! Junge!« Nun war sie wirklich auf ihren Beinen und fiel ihm wieder um den Hals. Und das Haus war gütig: Von den zwanzig

Bis Pinneberg sich frei machte und sagte: »Aber das können wir doch sicher auch oben – als Brautpaar. Gehen wir rauf.«

Lämmchen fragte bedenklich: »Gleich willst du mit? Ist es nicht besser, ich bereite Vater und Mutter vor, wo sie doch gar nichts von dir wissen –?«

»Was doch sein muss, tut man am besten gleich«, erklärte Pinneberg und wollte noch immer nicht auf die Straße. »Übrigens werden sie sich doch bestimmt freuen?«

»Na ja«, meinte Lämmchen nachdenklich. »Mutter sehr. Vater, weißt du, da darfst du dich nicht dran stoßen. Vater flachst gerne, der meint das nicht so.«

»Ich werd’s schon richtig verstehen«, sagte Pinneberg.

Lämmchen schloss die Tür auf: ein kleiner Vorplatz. Hinter einer angelehnten Tür klang eine Stimme: »Emma! Komm gleich mal her!«

»Einen Augenblick, Mutter«, rief Emma Mörschel. »Ich zieh nur meine Schuh aus.«

Sie nahm Pinneberg bei der Hand und führte ihn auf Zehenspitzen in ein kleines Hofzimmer, wo zwei Betten standen.

»Leg deine Sachen dahin. Ja, das ist mein Bett, da schlaf ich drin. Im andern Bett schläft Mutter. Vater und Karl schlafen drüben in der Kammer. Nun komm. Halt, dein Haar!« Sie fuhr ihm schnell mit dem Kamm durch die Wirrnis.

Beiden klopfte das Herz. Sie nahm ihn bei der Hand, sie gingen über den Vorplatz, sie stießen die Tür zur Küche auf. Am Herde stand mit rundem, krummem Rücken eine Frau

Die Frau sah nicht hoch. »Lauf schnell mal in den Keller, Emma, und hol Presskohlen. Ich kann das dem Karl hundertmal sagen …«

»Mutter«, sagte Emma, »das ist mein Freund Johannes Pinneberg aus Ducherow. Wir wollen uns heiraten.«

Die Frau am Herd sah hoch. Es war ein braunes Gesicht mit einem starken Mund, einem scharfen gefährlichen Mund, ein Gesicht mit sehr hellen, scharfen Augen und mit zehntausend Falten. Eine alte Arbeiterfrau.

Die Frau sah Pinneberg an, einen Augenblick, scharf, böse. Dann wandte sie sich wieder ihren Kartoffelpuffern zu. »Dumm Tügs«, sagte sie. »Schleppst du mir jetzt deine Kerle ins Haus?! Geh und hol Kohlen, ich hab keine Glut.«

»Mutter«, sagte Lämmchen und versuchte zu lachen, »er will mich wirklich heiraten.«

»Hol Kohlen, sag ich, Deern«, rief die Frau und fuhrwerkte mit der Gabel.

»Mutter –!«

Die Frau sah hoch. Sie sagte langsam: »Bist du noch nicht unten? Willst du einen Backs?!«

Ganz rasch drückte Lämmchen ihrem Pinneberg die Hand. Dann nahm sie einen Korb, rief, so fröhlich es ging: »Gleich bin ich wieder da!« – und die Flurtür klappte.

Pinneberg stand verlassen in der Küche. Er sah vorsichtig gegen Frau Mörschel hin, als könnte sein Hinsehen sie schon reizen, dann gegen das Fenster. Man sah nur einen blauen Sommerhimmel und ein paar Schornsteine.

Frau Mörschel schob die Pfanne beiseite und hantierte mit den Herdringen. Es klapperte und klirrte sehr. Sie stocherte mit dem Feuerhaken in der Glut, dabei murrte sie vor sich hin. Höflich fragte Pinneberg: »Wie bitte –?«

Er hätte nichts sagen sollen, denn wie ein Geier schoss die Frau auf ihn nieder. In der einen Hand hielt sie den Haken, in der andern noch die Gabel vom Pufferwenden, aber das war nicht so schlimm, trotzdem sie damit fuchtelte. Schlimm war ihr Gesicht, in dem alle Falten zuckten und sprangen, schlimmer waren ihre grausamen und bösen Augen.

»Wenn Sie mir mein Mädchen in Schande bringen!«, schrie sie außer sich.

Pinneberg trat einen Schritt zurück. »Ich will Emma ja heiraten, Frau Mörschel!«, sagte er ängstlich.

»Sie denken wohl, ich weiß nicht, was ist«, sagte die Frau unbeirrt. »Seit zwei Wochen stehe ich hier und warte. Ich denke, sie sagt mir was, ich denke, sie bringt mir den Kerl bald an, ich sitze hier und warte.« Sie holte Atem. »Das ist ein gutes Mädchen. Sie Mann Sie, meine Emma, das ist kein Dreck für Sie. Die ist immer fröhlich gewesen. Die hat mir nie ein böses Wort gegeben – wollen Sie sie in Schande bringen?«

»Nein, nein«, flüstert Pinneberg angstvoll.

»Doch! Doch!«, schreit Frau Mörschel. »Doch! Doch! Zwei Wochen stehe ich hier und warte, dass sie ihre Binden zum Waschen gibt – nichts! Wie haben Sie das gemacht, Sie?« Pinneberg kann es nicht sagen.

»Wir sind junge Leute«, sagt er sanft.

»Ach Sie«, sagt sie noch böse, »dass Sie mein Mädchen dazu gekriegt haben.« Plötzlich grollt sie wieder: »Schweine seid ihr Männer, alles Schweine, pfui!«

»Wir heiraten, sobald es mit den Papieren geht«, erklärt Pinneberg.

Frau Mörschel steht wieder am Herd. Das Fett brutzelt, sie fragt: »Was sind Sie denn? Können Sie denn überhaupt heiraten?«

»Ich bin Buchhalter. In einem Getreidegeschäft.«

»Ja.«

»Arbeiter wäre mir lieber. – Was verdienen Sie denn?«

»Hundertachtzig Mark.«

»Mit Abzügen?«

»Nein, die gehen noch ab.«

»Das ist gut«, sagt die Frau, »das ist nicht so viel. Mein Mädchen soll einfach bleiben.« Und plötzlich wieder ganz böse: »Denken Sie nicht, dass sie was mitbekommt. Wir sind Proletarier. Bei uns gibt es das nicht. Nur das bisschen Wäsche, was sie sich selbst gekauft hat.«

»Das ist alles nicht nötig«, sagt Pinneberg.

Plötzlich ist die Frau wieder böse: »Sie haben doch auch nichts. Sie sehen doch auch nicht nach Sparen aus. Wenn man mit solchem Anzug rumläuft, bleibt nichts übrig.«

Pinneberg braucht nicht zu gestehen, dass sie ziemlich das Richtige getroffen hat, denn Lämmchen kommt mit den Kohlen. Sie ist bester Stimmung: »Hat sie dich gefressen, armer Junge?«, fragt sie. »Mutter ist ein richtiger Teekessel, der kocht immer gleich über.«

»Sei nicht so frech, Ütz«, schilt die Alte. »Sonst kriegst du doch noch deinen Backs. – Geht in die Schlafstube und schleckt euch ab. Ich will mit Vater zuerst allein reden.«

»Na also«, sagt Lämmchen. »Hast du meinen Bräutigam auch schon gefragt, ob er Kartoffelpuffer mag? Heute ist unser Verlobungstag.«

»Weg mit euch!«, sagt Frau Mörschel. »Und dass ihr mir nicht die Tür abschließt, ich sehe ein paarmal nach, dass ihr keine Dummheiten macht.«

Sie sitzen sich an dem kleinen Tisch auf den weißen Stühlen gegenüber.

»Mutter ist ’ne einfache Arbeiterin«, sagt Lämmchen. »Die ist so derb, sie denkt sich nichts dabei.«

»Natürlich weiß sie das. Mutter weiß immer alles. Ich glaub, du hast ihr gut gefallen.«

»Na, hör mal, so sah es aber nicht aus.«

»Mutter ist so. Mutter muss immer schimpfen. Ich hör’s schon gar nicht mehr.«

Einen Augenblick ist Stille, beide sitzen sich brav gegenüber, die Hände liegen auf dem Tischchen.

»Ringe müssen wir uns auch kaufen«, sagt Pinneberg gedankenvoll.

»O Gott, ja«, sagt Lämmchen rasch. »Sag schnell, welche magst du lieber, glänzend oder matt?«

»Matt!«, sagt er.

»Ich auch! Ich auch!«, ruft sie. »Ich glaube, wir haben in allem den gleichen Geschmack, das ist fein. – Was werden die kosten?«

»Ich weiß auch nicht. Dreißig Mark?«

»So viel?«

»Wenn wir goldene nehmen?«

»Natürlich nehmen wir goldene. Lass sehen, wir wollen Maß nehmen.«

Er rückt zu ihr. Sie nehmen einen Faden von einer Garnrolle. Es ist schwierig. Einmal schneidet das Garn ein, und einmal sitzt es zu lose.

»Hände besehen bringt Streit«, sagt Lämmchen.

»Aber ich besehe sie ja gar nicht«, sagt er. »Ich küsse sie ja. Ich küsse ja deine Hände, Lämmchen.« –

Es klopft mit sehr hartem Knöchel gegen die Tür. »Rüberkommen! Vater ist da!«

»Gleich«, sagt Lämmchen und löst sich aus seinem Arm.

»Schnell uns ein bisschen zurechtmachen. Vater flachst ewig.«

»Gott, du wirst ja gleich sehen. Ist ja auch egal. Du heiratest mich, mich, mich, ohne Vater und Mutter.«

»Aber mit dem Murkel.«

»Mit dem Murkel, ja. Nette unvernünftige Eltern bekommt er. Nicht eine Viertelstunde können sie vernünftig sitzen …« Am Küchentisch sitzt ein langer Mann in grauen Hosen, grauer Weste und einem weißen Trikothemd ohne Jacke, ohne Kragen. An den Füßen hat er Pantoffeln. Ein gelbes faltiges Gesicht, kleine scharfe Augen hinter einem hängenden Zwicker, ein grauer Schnurrbart, ein fast weißer Kinnbart.

Der Mann liest die »Volksstimme«, aber nun, da Pinneberg und Emma hereinkommen, lässt er das Blatt sinken und betrachtet den jungen Mann.

»Sie sind also der Jüngling, der meine Tochter heiraten will? Sehr erfreut, setzen Sie sich hin. Übrigens werden Sie es sich noch überlegen.«

»Was?«, fragt Pinneberg.

Lämmchen hat sich auch eine Schürze umgebunden und hilft der Mutter. Frau Mörschel sagt ärgerlich: »Wo der Bengel nur wieder bleibt. Die ganzen Puffer werden zäh.«

»Überstunden«, sagt Herr Mörschel lakonisch. Und zu Pinneberg zwinkernd: »Sie machen auch manchmal Überstunden, nicht wahr?«

»Ja«, sagt Pinneberg. »Ziemlich oft.«

»Aber ohne Bezahlung –?«

»Leider. Der Chef sagt …«

Herrn Mörschel interessiert nicht, was der Chef sagt. »Sehen Sie, darum wär mir ein Arbeiter für meine Tochter lieber: Wenn mein Karl Überstunden macht, kriegt er sie bezahlt.«

»Herr Kleinholz sagt …«, beginnt Pinneberg von Neuem.

»Ich glaube«, sagt Pinneberg.

»Glaube ist Religionssache, damit hat’n Arbeiter nischt zu tun. Bestimmt gibt es ihn. Und da steht drin, dass Überstunden bezahlt werden müssen. Warum krieg ich ’nen Schwiegersohn, dem sie nicht bezahlt werden?«

Pinneberg zuckt die Achseln.

»Weil ihr nicht organisiert seid, ihr Angestellten«, erklärt ihm den Fall Herr Mörschel. »Weil kein Zusammenhang ist bei euch, keine Solidarität. Darum machen sie mit euch, was sie wollen.«

»Ich bin organisiert«, sagt Pinneberg mürrisch. »Ich bin in ’ner Gewerkschaft.«

»Emma! Mutter! Unser junger Mann ist in ’ner Gewerkschaft? Wer hätte das gedacht! So schnieke und Gewerkschaft!« Der lange Mörschel hat den Kopf ganz auf die Seite gelegt und besieht seinen künftigen Schwiegersohn mit eingekniffenen Augen. »Und wie nennt sich Ihre Gewerkschaft, mein Junge? Nur raus damit!«

»Deutsche Angestellten-Gewerkschaft«, sagt Pinneberg und ärgert sich immer mehr.

Der lange Mann krümmt sich völlig zusammen, so stark überkommt es ihn. »Die Dag! Mutter, Emma, haltet mich fest, unser Jüngling ist ein Dackel, das nennt er ’ne Gewerkschaft! Ein gelber Verband, zwischen zwei Stühlen. O Gott, Kinder, so ein Witz …«

»Na, erlauben Sie mal«, sagt Pinneberg wütend. »Wir sind kein gelber Verband! Wir werden nicht von den Arbeitgebern finanziert. Wir zahlen unsern Bundesbeitrag selber.«

Pinneberg sieht hilfesuchend zu Lämmchen, aber Lämmchen sieht nicht her. Vielleicht ist sie es gewohnt, aber wenn sie es gewohnt ist, für ihn ist es doch schlimm.

»Angestellter, wenn ich so was höre«, sagt Mörschel. »Ihr denkt, ihr seid was Besseres als wir Arbeiter.«

»Denk ich nicht.«

»Denken Sie doch. Und warum denken Sie das? Weil Sie Ihrem Arbeitgeber nicht ’ne Woche den Lohn stunden, sondern den ganzen Monat. Weil Sie unbezahlte Überstunden machen, weil Sie sich unter Tarif bezahlen lassen, weil Sie nie ’nen Streik machen, weil Sie immer die Streikbrecher sind …«

»Es geht doch nicht nur ums Geld«, sagt Pinneberg. »Wir denken doch auch anders als die meisten Arbeiter, wir haben doch andere Bedürfnisse …«

»Anders denken«, sagt Mörschel, »anders denken – Sie denken genau so wie ein Prolet …«

»Das glaub ich nicht«, sagt Pinneberg, »ich zum Beispiel …«

»Sie zum Beispiel«, sagt Mörschel und kneift die Augen ganz gemein ein und feixt. »Sie zum Beispiel haben sich doch Vorschuss genommen?«

»Wieso?«, fragt Pinneberg verwirrt. »Vorschuss –?«

»Na ja, Vorschuss«, grinst der andere noch mehr. »Vorschuss da, bei der Emma. Nicht sehr fein, Herr. Mächtig proletarische Angewohnheit …«

»Ich …«, fängt Pinneberg an und ist sehr rot und hat Lust, die Türen zu donnern und zu brüllen: Oh, so rutscht mir doch alle …!

Aber Frau Mörschel sagt scharf: »Ruhig bist du jetzt,

»Da kommt der Karl«, ruft Lämmchen, denn draußen klappte eine Tür.

»Also her mit dem Essen, Frau«, sagt Mörschel. »Und recht habe ich doch, Schwiegersohn, fragen Sie mal Ihren Pastor, unfein ist das …«

Ein junger Mensch kommt herein, aber jung ist nur eine Altersbezeichnung, er sieht völlig unjung aus, noch gelber, noch galliger als der Alte. Er knurrt: »’n Abend«, nimmt von dem Gast keinerlei Notiz und zieht Jacke und Weste aus, dann das Hemd. Pinneberg sieht es mit steigender Verwunderung.

»Überstunden gemacht?«, fragt der Alte.

Karl Mörschel knurrt nur etwas.

»Lass doch jetzt die Scheuerei, Karl«, sagt Frau Mörschel, »komm essen.«

Aber Karl lässt schon das Wasser am Ausguss laufen und fängt an, sich sehr intensiv zu waschen. Bis zu den Hüften ist er nackt, Pinneberg geniert sich etwas, Lämmchens wegen. Aber die scheint nichts dabei zu finden, es ist ihr wohl selbstverständlich. Pinneberg ist vieles nicht selbstverständlich. Die hässlichen Steingutteller mit den schwärzlichen Anschlagstellen, die halb kalten Kartoffelpuffer, die nach Zwiebeln schmecken, die saure Gurke, das laue Flaschenbier, das nur für die Männer dasteht, dazu diese trostlose Küche, der waschende Karl …

Karl setzt sich an den Tisch, sagt brummig: »Nanu, Bier …«

»Das ist der Bräutigam von Emma«, erklärt Frau Mörschel, »sie wollen bald heiraten.«

»Hat sie doch einen abgekriegt«, sagt Karl. »Na ja, einen Bourgeois. Ein Prolet ist ihr nicht fein genug.«

»Du, zahl man lieber dein Kostgeld, eh du hier den Mund aufreißt«, erklärt Mutter Mörschel.

»Was heißt siehst du«, sagt Karl gallig zu seinem Vater. »Ein richtiger Bourgeois ist mir noch immer lieber als ihr Sozialfaschisten.«

»Sozialfaschisten«, antwortet der Alte böse. »Wer wohl Faschist ist, du Sowjetjünger!«

»Na klar«, sagt Karl, »ihr Panzerkreuzerhelden …«

Pinneberg hört mit einer gewissen Befriedigung zu. Was der Alte ihm gesagt hatte, bekam er jetzt vom Sohn mit Zinsen. Nur die Kartoffelpuffer gewannen nicht sehr dadurch, es war kein nettes Mittagessen, er hatte sich seine Verlobungsfeier anders gedacht.

Geschwätz in der Nacht von Liebe und Geld

Pinneberg hat seinen Zug sausen lassen, er kann auch morgens um vier fahren. Dann ist er immer noch rechtzeitig im Geschäft.

Die beiden sitzen in der dunklen Küche. Drinnen in der einen Stube schläft Herr, in der andern Frau Mörschel. Karl ist in eine KPD-Versammlung gegangen.

Sie haben zwei Küchenstühle nebeneinander gezogen und sitzen mit dem Rücken nach dem erkalteten Herd. Die Tür zu dem kleinen Küchenbalkon steht offen, der Wind bewegt leise den Schal über der Tür. Draußen ist – über einem heißen, radiolärmenden Hof – der Nachthimmel dunkel, mit sehr blassen Sternen.

»Ich möchte«, sagt Pinneberg leise und drückt Lämmchens Hand, »dass wir es ein bisschen hübsch hätten. Weißt du« – er versucht es zu schildern –, »es müsste hell sein

»Ich versteh«, sagt Lämmchen, »ich versteh, es muss schlimm sein bei uns für dich, wo du es nicht gewohnt bist.«

»So meine ich es doch nicht, Lämmchen.«

»Doch. Doch. Warum sollst du es nicht sagen, es ist doch schlimm. Dass sich Karl und Vater immer zanken, ist schlimm. Und dass Vater und Mutter immer streiten, das ist auch schlimm. Und dass sie Mutter immer um das Kostgeld betrügen wollen, und dass Mutter sie mit dem Essen betrügt … alles ist schlimm.«

»Aber warum sind sie so? Bei euch verdienen doch drei, da müsste es doch gut gehen.«

Lämmchen antwortet ihm nicht. »Ich gehör ja nicht rein hier«, sagt sie stattdessen. »Ich bin immer das Aschenputtel gewesen. Wenn Vater und Karl nach Haus kommen, haben sie Feierabend. Dann fang ich an mit Aufwaschen und Plätten und Nähen und Strümpfestopfen. Ach, es ist nicht das«, ruft sie aus, »das täte man ja gerne. Aber dass das alles ganz selbstverständlich ist, und dass man dafür geschuppst wird und geknufft, dass man nie ein gutes Wort bekommt und dass der Karl so tut, wie wenn er mich mit ernährt, weil er mehr Kostgeld zahlt als ich … Ich verdien doch nicht viel – was verdient denn heute eine Verkäuferin?«

»Es ist ja bald vorbei«, sagt Pinneberg. »Ganz bald.«

»Ach, es ist ja nicht das«, ruft sie verzweifelt, »es ist ja alles nicht das. Aber, weißt du, Junge, sie haben mich immer richtig verachtet, du Dumme sagen sie zu mir. Sicher, ich bin nicht so klug. Ich versteh vieles nicht. Und dann, dass ich nicht hübsch bin …«

»Aber du bist hübsch!«

»Du bist der Erste, der das sagt. Wenn wir mal zum Tanz

Ein unheimliches Gefühl beschleicht Pinneberg. ›Wirklich‹, denkt er, ›sie sollte mir das nicht so sagen. Ich hab immer gedacht, sie ist hübsch. Und nun ist sie vielleicht gar nicht hübsch …‹

Lämmchen aber redet weiter: »Siehst du, Jungchen, ich will dir ja nichts vorjammern. Ich will es dir nur dieses einzige Mal sagen, dass du weißt, ich gehör hier nicht her, ich gehör nur zu dir. Zu dir allein. Und dass ich dir ganz furchtbar dankbar bin, nicht nur wegen des Murkels, sondern weil du das Aschenputtel geholt hast …«

»Du«, sagt er. »Du!«

»Nein, jetzt noch nicht. – Und wenn du sagst, wir wollen es hell und sauber haben, du musst ein bisschen geduldig sein, ich hab ja nie richtig kochen gelernt. Und wenn ich etwas falsch mache, dann sollst du es mir sagen, und ich will dich nie belügen …«

»Nein, Lämmchen, nein, es ist gut.«

»Und wir wollen uns nie, nie streiten. O Gott, Junge, was wollen wir glücklich sein, wir beide allein. Und dann der dritte, der Murkel.«

»Wenn es aber ein Mädchen wird?«

»Es ist ein Murkel, sage ich dir, ein kleiner süßer Murkel.« –

Nach einer Weile stehen sie auf und treten auf den Balkon.

Ja, der Himmel ist da über den Dächern und seine Sterne in ihm. Sie stehen eine Weile schweigend, jedes die Hand auf der Schulter des andern.

Dann kehren sie zu dieser Erde zurück, mit dem engen Hof, den vielen hellen Fensterquadraten, dem Jazzgequäk.

»Ja, natürlich. Weißt du, ich bin dann nicht so mutterseelenallein, wenn du im Geschäft bist. Aber erst später. Wir müssen uns so furchtbar viel anschaffen!«

»Ja«, sagt er.

Stille.

»Junge«, fängt Lämmchen sachte an. »Ich muss dich was fragen.«

»Ja?«, sagt er unsicher.

»Aber sei nicht böse!«

»Nein«, sagt er.

»Hast du was gespart?«

Pause.

»Ein bisschen«, sagt er zögernd. »Und du?«

»Auch ein bisschen«, und ganz rasch: »Aber nur ein ganz, ganz klein bisschen.«

»Sag du«, sagt er.

»Nein, sag du zuerst«, sagt sie.

»Ich …«, sagt er und bricht ab.

»Sag schon!«, bittet sie.

»Es ist wirklich nur ganz wenig, vielleicht noch weniger als du.«

»Sicher nicht.«

»Doch. Sicher.«

Pause. Lange Pause.

»Frag mich«, bittet er.

»Also«, sagt sie und holt tief Atem. »Ist es mehr als …«

Sie macht eine Pause.

»Als was?«, fragt er.

»I wo«, lacht sie plötzlich. »Soll ich mich genieren! Hundertdreißig Mark hab’ ich auf der Kasse.«

Er sagt stolz und langsam: »Vierhundertsiebzig.«

»Na …«, sagt er. »Viel finde ich es ja nicht. Aber man lebt schrecklich teuer als Junggeselle.«

»Und ich hab von meinen hundertzwanzig Mark Gehalt siebzig Mark für Kost und Wohnung abgeben müssen.«

»Dauert lange, bis man so viel zusammengespart hat«, sagt er.

»Schrecklich lange«, sagt sie. »Es wird und wird nicht mehr.«

Pause.

»Ich glaub nicht, dass wir in Ducherow gleich ’ne Wohnung kriegen«, sagt er.

»Dann müssen wir ein möbliertes Zimmer nehmen.«

»Da können wir auch für unsere Möbel mehr sparen.«

»Aber ich glaube, möbliert ist schrecklich teuer.«

»Also, lass uns mal rechnen«, schlägt er vor.

»Ja. Wir wollen mal sehen, wie wir hinkommen. Wir wollen rechnen, als ob wir nichts auf der Kasse hätten.«

»Ja, das dürfen wir nicht angreifen, das soll ja mehr werden. Also hundertachtzig Mark Gehalt …«

»Als Verheirateter kriegst du doch mehr.«

»Ja, weißt du, ich weiß nicht.« Er ist sehr verlegen. »Nach dem Tarifvertrag vielleicht, aber mein Chef ist so komisch …«

»Darauf würde ich keine Rücksicht nehmen, ob er komisch ist.«

»Lämmchen, lass uns erst mal mit hundertachtzig rechnen. Wenn’s mehr wird, ist es ja nur schön, aber die haben wir doch erst mal sicher.«

»Also schön«, stimmt sie zu. »Nun erst mal die Abzüge.«

»Ja«, sagt er. »An denen kann man ja nichts ändern. Steuern 6 Mark und Arbeitslosenversicherung 2 Mark 70.

»Na, deine Gewerkschaft, das ist doch überflüssig …«

Pinneberg sagt etwas ungeduldig: »Das lass man erst. Ich hab von deinem Vater genug.«

»Schön«, sagt Lämmchen, »macht 22 Mark 60 Abzüge. Fahrgeld brauchst du nicht?«

»Gott sei Dank nein.«

»Bleiben also erst mal 157 Mark. Was macht die Miete?«

»Ja, ich weiß doch nicht. Zimmer und Küche, möbliert. Sicher doch 40 Mark.«

»Sagen wir 45«, meint Lämmchen. »Bleiben 112 Mark 40. Was denkst du, brauchen wir fürs Essen?«

»Ja, sag du mal.«

»Mutter sagt immer, 1 Mark 50 braucht sie für jeden am Tag.«

»Das sind 90 Mark im Monat«, sagt er.

»Dann bleiben noch 22 Mark 40«, sagt sie.

Die beiden sehen sich an.

Lämmchen sagt ganz schnell: »Und dann haben wir noch nichts für Feuerung. Und nichts für Gas. Und nichts für Licht. Und nichts für Porto. Und nichts für Kleidung. Und nichts für Wäsche. Und nichts für Schuhe. Und Geschirr muss man sich auch manchmal kaufen.«

Und er sagt: »Und man möchte doch auch mal ins Kino. Und am Sonntag ’nen Ausflug machen. Und ’ne Zigarette rauch ich auch ganz gerne.«

»Und sparen wollen wir doch auch was.«

»Mindestens 20 Mark im Monat.«

»Dreißig.«

»Aber wie?«

»Rechnen wir noch mal.«

»An den Abzügen ändert sich nichts.«

»Vielleicht fünf Mark billiger.«

»Naja, ich will mal sehen, ’ne Zeitung möcht man sich aber auch halten.«

»Sicher. Können wir nur am Essen sparen, nun gut, zehn Mark vielleicht ab.«

Sie sehen sich wieder an.

»Dann kommen wir noch immer nicht aus. Und an Sparen ist auch nicht zu denken.«

»Du«, sagt sie sorgenvoll, »musst du immer Plättwäsche tragen? Die kann ich nicht selber plätten.«

»Doch, das verlangt der Chef. Ein Oberhemd kostet sechzig Pfennig plätten und ein Kragen zehn Pfennig.«

»Macht auch wieder fünf Mark im Monat«, rechnet sie.

»Und Schuhe besohlen.«

»Auch das, ja. Das ist auch gemein teuer.«

Pause.

»Also, rechnen wir noch mal.«

Und nach einer Weile: »Also streichen wir vom Essen noch mal zehn Mark ab. Aber billiger als für siebzig kann ich es nicht.«

»Wie machen es denn die andern?«

»Ja, ich weiß auch nicht. Furchtbar viel haben doch noch ’ne ganze Ecke weniger.«

»Ich versteh das nicht.«

»Da muss irgendwas nicht richtig sein. Lass uns noch mal rechnen.«

Sie rechnen und rechnen, sie kommen zu keinem andern Ergebnis. Sie sehen sich an. »Weißt du«, sagt Lämmchen plötzlich, »wenn ich heirate, kann ich mir doch meine Angestelltenversicherung auszahlen lassen?«

»Au fein!«, sagt er. »Das gibt sicher hundertzwanzig Mark.«

»Da ist auch nichts zu erzählen«, sagt er kurz. »Ich schreib ihr nie.«

»So«, sagt sie. »Ja dann.«

Wieder Stille.

Sie kommen nicht weiter, also stehen sie auf und treten auf den Balkon. Es ist fast alles dunkel geworden im Hof, auch die Stadt ist still geworden. In der Ferne hört man ein Auto tuten.

Er sagt in Gedanken verloren: »Haarschneiden kostet auch achtzig Pfennige.«

»O du, lass«, bittet sie. »Was die andern können, werden wir auch können. Es wird schon gehen.«

»Hör noch mal zu, Lämmchen«, sagt er. »Ich will dir auch kein Hausstandsgeld geben. Zu Anfang des Monats tun wir alles Geld in einen Topf, und jeder nimmt sich davon, was er braucht.«

»Ja«, sagt sie. »Ich hab einen hübschen Topf dafür, blaues Steingut. Ich zeig ihn dir noch. – Und dann wollen wir furchtbar sparsam sein. Vielleicht lerne ich noch, Oberhemden plätten.«

»Fünf-Pfennig-Zigaretten sind auch Unsinn«, sagt er. »Es gibt schon ganz anständige für drei.«

Aber sie stößt einen Schrei aus: »Oh Gott, Junge, den Murkel haben wir doch ganz vergessen! Der kostet ja auch Geld!«

Er überlegt: »Was kostet denn solch kleines Kind? Und dann gibt es Entbindungsgeld und Stillgeld und Steuern zahlen wir auch weniger … ich glaub immer, die ersten Jahre kostet der gar nichts.«

»Ich weiß nicht«, sagt sie zweifelnd.

In der Tür steht eine weiße Gestalt.

»Ja, Mutter«, sagt Lämmchen.

»Es ist schon alles gleich«, sagt die Alte. »Ich schlaf heute bei Vater. Der Karl bleibt heute Nacht auch weg. Nimm ihn dir mit, deinen …« Die Tür schrammt zu, ungesagt bleibt, welchen deinen …

»Aber ich möchte wirklich nicht«, sagt Pinneberg etwas pikiert. »Das ist doch wirklich nicht angenehm hier bei deinen Eltern …«

»O Gott, Junge«, lacht sie. »Ich glaub, der Karl hat recht, du bist ein Bourgeois …«

»Aber keine Spur!«, protestiert er. »Wenn es deine Eltern nicht stört.« Er zögert noch einmal: »Und wenn Doktor Sesam sich nun geirrt hat, ich habe nichts da.«

»Also setzen wir uns wieder auf die Küchenstühle«, schlägt sie vor. »Mir tut schon alles weh.«

»Ich komm ja schon, Lämmchen«, sagt er reumütig.

»Ja, wenn du nicht willst –?«

»Ich bin ein Schaf, Lämmchen! Ich bin ein Schaf!«

»Na also«, sagt sie. »Dann passen wir ja zueinander.«

»Das wollen wir gleich sehen«, sagt er.

Die kleine Stadt