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Christian Welzbacher

Iran, Ordibehescht 1396 Reisebilder

Mit Fotografien des Autors

punctum 008

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Für Kadidja, Nuria, Ada
und für Andrea

Inhalt

Iran, Ordibehescht 1396 Reisebilder

Abgaswolke. Hupkonzert. Mit einem Schwung aus dem Handgelenk dreht der Taxifahrer das Mittagsgebet im Radio weg. Es hilft ja doch nichts: Seit einer Viertelstunde stehen wir an derselben Stelle, die Seitenfenster runtergekurbelt, 34 Grad Celsius, windstill, mitten in Teheran.

In jenen Teilen der Welt, die sich an der christlichen Zeitrechnung orientieren, ist heute ein Sonntag im späten April 2017. Im Iran, wo die Woche ohnehin keinen Sonntag kennt, hat gerade der Wonnemonat Ordibehescht begonnen. Man schreibt das Jahr 1396.

Um uns herum der alltägliche Stau einer der großen Metropolen der Welt, Ausdehnung sechs- bis siebentausend Quadratkilometer, was ebenso geschätzt ist wie die Zahl von vierzehn bis fünfzehn Millionen Menschen, die hier leben sollen und von denen viele ein Auto besitzen, um die langen Wege zur Arbeit, zu den Verwandten, zum Einkauf, in die Vororte oder in den Urlaub bewältigen zu können. Ohne Auto, sagt man mir, geht es nicht. Mit Auto aber auch nicht.

Unser Fahrer hupt – ein Ritual, an das keine konkrete Forderung geknüpft ist. In den Autos ringsumher das gleiche Bild: ein Griff ins Lenkrad, ein langes Öö, ein teilnahmsloser Blick. Weiterwarten. Stop-and-go, das ist iranische Normalität.

»Teheran ist ein einziger großer Parkplatz«, ruft mir Karim von hinten zu. Er hat sich ziemlich zusammengefaltet, um auf die Rückbank zu passen: ein großgewachsener, schlanker Mann Ende fünfzig, Filmwissenschaftler, eine lederne Aktentasche mit Unterlagen, Terminkalender, Kleincomputer bei der Hand, das dunkle Haar streng gescheitelt, schwarzrandige Brille im gebräunten Gesicht, leger und doch geschäftsmäßig gekleidet. Englisch spricht er nicht, wir verständigen uns auf Niederländisch, da Karim eigentlich in Rotterdam lebt. Mit seinen Kindern, beide mit Holländern verheiratet, wie er zufrieden berichtet, habe er den Iran vor langer Zeit verlassen, kehre aber regelmäßig zurück, um zu forschen. Oder weil Filmfestival sei, so wie jetzt. Er will mir das Filmmuseum zeigen, seinen Lieblingsort in der Stadt.

»Wir wollten doch die U-Bahn nehmen.«

»Die ist hoffnungslos verstopft.«

Ordibehescht, sagt Golineh mit Kastanienaugen, die nicht lügen können, sei der schönste Monat des Jahres. Ich solle froh sein, gerade jetzt hier zu sein. Noch sei es mild. Alles stehe in voller Blüte. Die Menschen seien hoffnungsfroh. Und man könne atmen. Atmen!

An alles habe ich bei meinen Vorbereitungen gedacht, nur nicht ans Wetter. Sollte ich die ideale Reisezeit getroffen haben, so ist das ein schöner Zufall.

Im Hintergrund Hochhausgebirge, ein gelbes Taxi rollt ins Bild: New York. Eine Stadt, die nur zu bestehen scheint, um die Filme zu bestätigen, die über sie gedreht wurden.

Der iranische Durchschnittswagen ist gelb lackiert, doch das lässt sich kaum erkennen, da man nur das Innere sieht: ein zum Taxi umfunktioniertes Privatauto. Es fährt für die Firma Snap, das iranische Uber. Der Fahrer hat auf dem Armaturenbrett eine Kamera festgeklemmt. Eigentlich ist er Filmregisseur. Der Film, der in seinem Auto entsteht, heißt Taxi Teheran. Er spielt im New York des Morgenlandes.

Travis Bickle, gespielt von Robert de Niro, gleitet mit seinem Wagen durch die Straßen der Nacht, inhaliert Hass und Gewalt, atmet sie wieder aus.

Jafar Panahi, der sich selbst spielt, bleibt gelassen. Ein Mann mit Berufsverbot, einer, der gegen Doktrinen, Gesetze, Meinungen, Konventionen, Launen verstoßen hat. Er umrundet die Schlaglöcher. Im Hintergrund Hochhausgebirge, dahinter echte Berge, Vier-, fast Fünftausender. Wer sie übersteigt, kommt ans Meer.

Politische Diplomatie ist die Kunst, Wahrheiten zu verblümen. Sigmar Gabriel, damals bundesdeutscher Wirtschaftsminister, war fraglos angehalten, die Etikette des internationalen Austauschs zu beherzigen, als er im Juli 2015 – kaum eine Woche nach Unterzeichnung des sogenannten Atomabkommens und als erster Repräsentant einer westlichen Industrienation – mit einer Delegation den Iran besuchte, um die seit 2006 infolge des Embargos darbenden deutsch-iranischen Wirtschaftsbeziehungen zu verbessern. »Ich habe den Eindruck, bei alten Freunden zu sein«, soll Gabriel Ministerpräsident Rohani gesagt und hinzugesetzt haben: »als sei in den vergangenen Jahren nichts geschehen.«

Wahrheiten kann man nur verblümen, wenn man sie kennt. Die Deutsche Botschaft liegt an der Teheraner Firdausistraße, eine nach dem Dichterfürsten benannte Magistrale. Wenn man den herrlichen, mauergeschützten Garten des villenartigen Kubus aus der frühen Pahlavizeit verlässt, in dem die Botschaft untergekommen ist, wenn man durch das Gehupe und Getöse des Verkehrs hinüber auf das Trottoir der anderen Straßenseite wechselt, so erblickt man eine schlanke Stele. Sie mag hier vor vielleicht zwanzig Jahren platziert worden sein, dergestalt, dass sich eine unmissverständliche Blickbeziehung zur diplomatischen Vertretung der BRD ergibt. In goldenen Lettern, eingegraben in polierten weißen Marmor, steht auf der Stele zu lesen, »das iranische Volk« werde niemals vergessen, welche Rolle Deutschland im Iran-IrakKrieg gespielt habe. Nach Absetzung des als Verbündeten geschätzten Schahs, nach Revolution und Ausrufung der Islamischen Republik hatte Deutschland Wirtschaftsbeziehungen mit Irans Gegnern geknüpft. Die Invasoren aus dem Irak, Saddam Husseins Truppen, waren mithilfe von Rüstungsgütern bewaffnet worden, die deutsche Firmen unter Billigung deutscher Politiker geliefert hatten. Dabei ging es auch um Giftgas.

Eine knappe, unmissverständliche Botschaft: deutsche Wirtschaftshilfe zur Tötung iranischer Soldaten – Männer, die bis heute als Märtyrer gelten und deren Gedenken im ganzen Land lebendig gehalten wird. Sollte man angesichts der sehr gegenwärtigen Botschaft dieses Teheraner Schandmals als Deutscher mit Iranern wirklich ein Gespräch unter Freunden führen wollen, »als sei in den vergangenen Jahren nichts geschehen«?

Was ist los mit der deutschen Diplomatie? Gibt es für die Mitarbeiter der Botschaft nicht einen Grundkurs »Fettnäpfchen Iran«, der gleich auf der Firdausistraße beginnt, direkt vor der Haustür?

Als ich erstmals deutschen Boden in Teheran betrete, treffe ich zwar nicht den Botschafter selbst, spreche aber den frisch installierten Kulturattaché auf die Sache an. Er rutscht aufgeweckt auf seinem Schreibtischstuhl hin und her und wedelt mit den Armen. Nein, von dieser Stele habe er noch nichts gehört. Das sei ja interessant, das müsse er sich bei Gelegenheit einmal anschauen.

Im Moment ist er, der bis vor drei Wochen noch ein Goethe-Institut in Südamerika geleitet hat, mit dem Umzug beschäftigt. Er akklimatisiert sich. Ein erstes ehrgeiziges Projekt hat er dabei bereits für sich entdeckt: mithilfe von Snap, dem iranischen Uber, ordert er Taxis an alle möglichen Stellen der Stadt, wo Termine mit Künstlern, Galerien oder Kollegen anstehen. Da es sich bei Snap um Privatautos handelt, die man, besonders als Ausländer, nicht leicht identifizieren kann, kommt es immer wieder zu heillosem Durcheinander, Fehlkommunikation und extremen Wartezeiten.

Sicher, jeder erobert sich das Parkett, auf dem er reüssieren will, auf seine Weise. Und der Eifer, den der Mann entwickelt, um den deutschen Steuerzahler zu entlasten (eine Snap-Langstrecke kostet umgerechnet 1,80 Euro statt vielleicht 2,60 Euro mit dem gewöhnlichen Taxi), ringt mir Ehrfurcht ab: Immerhin ist er nach Teheran entsandt worden, um das Anfang der Achtzigerjahre geschlossene Goethe-Institut wieder aufzubauen, ein diffiziles, deshalb offiziell gar nicht erst bekanntgegebenes Unterfangen, dem überhaupt nur erfahrene Kulturdiplomaten gewachsen wären. Er ist ein hoher politischer Beamter mit einer echten Mission, die ihrer Bedeutung nach zwar nicht der des Wirtschaftsministers entspricht. Dennoch kann man angesichts der immer wieder beschworenen symbolischen Wirkungsmöglichkeiten des kulturellen Austauschs von einer Schlüsselfunktion sprechen, zumal sich verlorenes Terrain wettmachen lässt, der Attaché also auf einem Posten sitzt, der zur Profilierung wie geschaffen ist. Man erinnere sich an das 2015 geschlossene Abkommen zwischen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und dem Teheraner Museum für Moderne Kunst, das ermöglichen sollte, iranische Bestände in Berlin zu präsentieren: Meisterwerke westlicher Künstler vom französischen Impressionismus über die klassische Moderne, Fauvismus, Kubismus bis hin zu den Tendenzen der Nachkriegszeit in Europa und Amerika, Informel, Pop Art und abstraktem Expressionismus. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz erhoffte sich von der Schau einen Effekt, wie zuvor von der Ausstellung »Das MoMa in Berlin«, auf der Highlights aus New York zu sehen gewesen waren. Dass es sich bei der Teheraner Sammlung um ähnliche Künstler handelte wie jene, die das MoMa hat, war kein Zufall: Farah Diba, die dritte Frau Schah Mohammad Reza Pahlavis, hatte die Kunstwerke seit Beginn der Siebzigerjahre zusammengetragen, mithilfe einer amerikanischen Beraterin.

Es ist nicht ganz deutlich, warum es Ende 2016 scheinbar aus heiterem Himmel hieß, der Deal sei vorerst geplatzt. Zeitungen und Zeitschriften hatten da längst über das bevorstehende Event berichtet – die Geschichte und die immensen Kosten der kaiserlichen Sammlung, das Schicksal der Bilder nach der Revolution, die Werke, die, in einem Depot verschwunden, jahrelang unzugänglich geblieben waren, schließlich ihre Wiederentdeckung und die neue Hängung im Museum, die westliche und iranische Positionen seit den Zwanzigerjahren gleichberechtigt nebeneinander zeigte. In den Teheraner Schaukästen prangten bereits Plakate, die von der Reise der Werke kündeten. Im deutschen Kulturbetrieb herrschte gespannte Vorfreude. Dann der Eklat.

Es ist möglich, dass die iranischen Kulturbeamten auf die mediale Präsenz Farah Dibas nervös reagierten. Offenbar hat man nicht damit gerechnet, dass die Sammlung im Westen derart stark mit diesem Namen in Verbindung gebracht werden würde. Man hatte an den Austausch fraglos andere Wünsche und Botschaften knüpfen wollen. Aber es könnte zudem handfeste juristische Gründe gegeben haben, warum man vom Export der Kunstwerke absah. Im Iran hat Farah Diba auf ihren einstigen Besitz keinen Zugriff. Aber hätte die im Exil lebende Kaiserin im Moment der Ausfuhr ihrer Sammlung eine Restitutionsforderung lancieren können? Hätte das dazu geführt, dass die Stiftung Preußischer Kulturbesitz die Bestände in Deutschland hätte festsetzen müssen, zumindest bis zum Abschluss entsprechender rechtlicher Prüfungen? Die deutsche Kulturdiplomatie jedenfalls wird hier ansetzen können. Indem sie Missverständnisse vermeidet und angedachte Transfers zu einem Ergebnis bringt. Vielleicht würde ein allmorgendlicher Appell des Botschaftspersonals am Schandmal an der Firdausistraße helfen, dabei den richtigen Ton zu treffen?

»O Welt! Wie schamlos und boshaft du bist! Du nährst und erziehst und tötest zugleich«, lässt Goethe seinen Ferdusi im West-östlichen Divan sprechen: Worte, dem Schahnameh entnommen, wie geschaffen dazu, das Stammbuch von Diplomaten zu zieren.

In gleichsam umgekehrter Perspektive lässt Aischylos in seinen Persern den Schatten des gefallenen Königs Dareios sprechen: »Vieles Unheil wird im Meeres-, vieles auch im Erdenschoß / Reif dem Menschen, wenn zu lang sein überlebend Leben währt«, aber auch hier geht es nicht um die Unbilden herausgeforderter Natur, die sich am Menschen rächt, sondern allein um die Folgen politischen Handelns.

Erhart Kästner hat im Einleitungspassus seines Reisebuchs Aufstand der Dinge diesen Gedanken erneut gewendet: »Mach nicht den Fehler und leb zu lang. Oder du müsstest ertragen, dass die Welt, die du liebst, mein Kind, sich von dir abdreht, wegrutscht, eingeht wie zu heiß gewaschne Wolle«, heißt es da. Und zur Erklärung der Tatsache, dass Erkenntnis immer neu infrage gestellt, immer neu herausgefordert wird, weil sich die Zeiten – angetrieben durch den Menschen – ändern, ruft er den Mythos in Erinnerung: »Hesiodos meinte, die Götter versteckten vor den Menschen die Nahrung. Ach, wenn sie bloß die Nahrung wegzögen; sie verstecken die Wahrheit und alles. Es macht ihnen Spaß, das Wegziehen. Und es scheint, als sei das Spiel jetzt erst richtig zu Laune gekommen, dies Verstecken, Wegreißen und Fortziehen.« Er fordert auf, die Sache ernst zu nehmen: indem sich der Mensch seiner Taten genauso bewusst werde wie deren Konsequenzen: »Welt ist, was sich forttut, was fernrückt wie den Weltraumfahrern der Erdball; wenn der Neuzeit daran läge, Bilder, die sie erzeugt, wahr-, nicht bloß zur Kenntnis zu nehmen: hier hätte sie eines.« Erkenntnisgewinn durch Beobachtung und Ausdeutung der Phänomene, durch Ursachenforschung und Rekonstruktion der Zusammenhänge: wie banal erscheint dieses (selten beherzigte) Vorgehen, wenn man es schriftlich fixiert. Und wie überaus anstrengend, wenn man versucht, es praktisch umzusetzen.

Angesichts der Komplexität politischer Wahrheiten ist Schweigen vielleicht das bessere Kommunikationsmittel. Denn selbst eine Diplomatie, die die Botschaft des Schandmals an der Firdausistraße berücksichtigte, bliebe angesichts des Themas »Deutsche Waffenlieferungen im Verhältnis zum Iran« unzulänglich. Nicht nur, weil direkte Kriegsgegner oder Staaten, die der Iran in strategischer Hinsicht als Rivalen, Feinde, Störfaktoren wahrnahm oder -nimmt – die Golfregion mit Saudi-Arabien, Katar, Kuwait, aber auch die lange militärisch gemästete Türkei – dank deutscher (und anderer) Unterstützung mit Waffen aller Art versorgt wurden und werden. Sondern weil Waffen aller Art durch Deutschland (und andere Staaten, darunter die USA) eben auch an Irans Verbündete, ja sogar an den Iran selbst geliefert wurden und werden.

Im Juli 1974 übernahm der iranische Staat über eine Finanzbeteiligung die Friedrich-Krupp-Hüttenwerke, eines der größten Industrieunternehmen Deutschlands, zu mehr als 25 Prozent. Obwohl amerikanische Banken im Jahr der Revolution die Pfändung von Anteilen durchsetzten, später die amerikanische Regierung Druck ausübte, damit die Anteile weiter reduziert wurden, und obwohl Krupp unter anderem mit Hoesch und Thyssen fusionierte, ist der iranische Staat bis heute an der Firma beteiligt. Die Verwaltung der Shares obliegt der Holdinggesellschaft IFIC (Iranian Foreign Investment Company), eine Abteilung des Oil Stabilization Funds, der mithilfe von Diversifizierung von Kapitalanlagen die starken Absatzschwankungen des von den Wirtschaftssanktionen betroffenen Ölgeschäfts abfedern soll. IFICs deutscher Geschäftssitz liegt an der Düsseldorfer Königsallee. Mehr als die Hälfte seiner Investitionen tätigt IFIC nach eigenen Angaben in Deutschland. Die Beteiligung an der ThyssenKrupp AG bezifferte die Gesellschaft im Jahr 2011 auf 4,5 Prozent.

Bereits 1974 hatte die deutsche Politik den von Berthold Beitz eingefädelten Deal mit Mohammad Reza Pahlavi übrigens skeptisch gesehen. Neben nationalstaatlichen Bedenken und kartellrechtlichen Vorbehalten befürchtete man, der Schah könne entweder Einfluss auf Krupp ausüben oder von bestimmten Unternehmenstechnologien profitieren. Dabei verwies man explizit auf die Tatsache, dass Krupps Geschäfte in nicht unerheblichem Maß mit der Produktion von Rüstungsgütern zusammenhingen.

Wie wäre in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Wirtschafts- und Kulturpolitik zu werten? Kulturpolitik ist als Möglichkeit symbolischer Verständigung ein sichtbares Mittel des wechselseitigen Austauschs. Sie lässt sich medial besser vermarkten als die Wirtschaftspolitik, die, grob heruntergebrochen auf den Transfer von Waren, Arbeitskräften und Geld, weder über eine wirklich vorzeigbare »Form« verfügt noch über einen symbolischen Mehrwert. Handshakes der Krawattenmänner, Unterschriften im Blitzlichtgewitter, Spatenstiche, durchtrennte Bändchen: die Bilder, die die Wirtschaft liefert, sind austauschbar, unattraktiv, oft gar peinlich.

Man könnte die These verfolgen: Kulturpolitik »illustriert« Wirtschaftspolitik. Aber das stimmte nur dort, wo beide miteinander verknüpft werden. Das ist aber nicht zwingend der Fall. Es gibt Wirtschaftsprojekte, die keinerlei Kulturaustausch nach sich ziehen, und Kulturprojekte, die als Form der Völkerverständigung (Künstleraustausch, Ausstellungsexport) frei von wirtschaftlichen Erwägungen laufen und nicht an den Erfolg wirtschaftlicher Parallelunternehmungen geknüpft wären. Ich muss keine Teppiche kaufen, um im Gegenzug eine Ausstellung über zeitgenössischen Moscheenbau zeigen oder einen Vortrag zum Thema halten zu können. Ich muss nicht einmal eine zweite Delegation neben meiner eigenen einfädeln, bei der dann etwa die Vertreter der Industrie- und Handelskammer oder großer Unternehmen hinzukämen.

Zuletzt gibt es eine Form kultureller Eigendynamik, die aus der Entkopplung von wirtschaftlichen Interessen rührt und mithilfe des in die Waagschale geworfenen symbolischen Kapitals auf Politik zielt. Man denke an die Oscarverleihungen 2012 und 2017, bei denen jedes Mal eine iranische Produktion als bester ausländischer Film prämiert wurde. Der wirtschaftliche Aspekt dürfte dabei vergleichsweise gering gewesen sein, da die ausgezeichneten Filme weder in Amerika noch in Europa ein großes Publikum, sondern eher Kenner erreicht haben dürften (wenngleich es sich um die beiden erfolgreichsten Produktionen in der iranischen Filmgeschichte handelt). Kultur war hier weit mehr ein Mittel der politischen Kommunikation, weil sie – auf symbolischer Ebene – auf politische – und damit wirtschaftliche – Zusammenhänge verweist: just auf das Fehlen dieser Zusammenhänge durch die jahrelange Verweigerung des politischen und wirtschaftlichen Austauschs zwischen Iran und den USA.

Gut. Es hat trotzdem nichts genutzt. Die Symbolik der Academy Awards hat kein politisches Handeln nach sich gezogen, kein Umdenken erreicht, die diplomatische Stagnation nicht aufgebrochen. Sollte sich im Verlauf der Zeit aber doch wieder eine Annäherung zwischen den beiden Staaten ergeben, würde man retrospektiv den doppelten Oscartriumph als Zeichen deuten. Dann hätte sich kulturell bereits zu einer Zeit etwas angebahnt, als politisch und wirtschaftlich nichts davon zu ahnen war. Kultur, sonst als weitgehend wirkungslos angesehen, da ohne realpolitische Konsequenz, hätte dann vermeintlich doch Wirkung entfaltet, die versteckte Handlungsaufforderung des Symbols wäre in die Praxis übersetzt worden und hätte politische Schritte nach sich gezogen. Mit dieser Argumentation wäre der Konnex zwischen Kultur- und Wirtschaftspolitik im Nachhinein hergestellt – selbst wenn es ihn vorher faktisch niemals gegeben hat.

»Der Mufti las des Misri Gedichte,/Eins nach dem andern, alle zusammen,/Und wohlbedächtig warf sie in die Flammen,/Das schöngeschriebne Buch, es ging zunichte.«

Bis heute ist die Ächtung Salman Rushdies das stärkste kulturpolitische Signal, das der Iran seit der Revolution international ausgesandt hat. Man erinnere sich an die weltweite Empörung, aber auch die Angst der Lektoren, Verleger, Drucker, Auslieferer, Leser, von diesem Urteil mitbetroffen zu sein: Die satanischen Verse erschienen in den Ländern Europas jeweils als Joint Venture verschiedenster Institutionen, eine Taktik, mit der die Einzelverantwortung in die Fläche verlagert werden sollte, um es den Vollstreckern der Fatwa unmöglich zu machen, den Richtigen zu treffen.