Opfer der Gefühle

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2018

Copyright Cartland Promotions 1985

 

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1 ~ 1851

Der Herzog von Nuneaton raschelte ungehalten mit der Morning Post.

»Wie ich sehe, hat Winsford den Hosenbandorden bekommen. Weiß Gott, was er getan haben mag, um diese Auszeichnung zu verdienen!«

Er legte die Zeitung in den Silberhalter, der vor ihm auf dem Frühstückstisch stand, und begann sein Kalbsbries zu essen. Die beiden Frauen, die links und rechts von ihm saßen, merkten ihm seinen Ärger deutlich an.

»Jedenfalls besitzt der Graf ein Bein, das den Orden höchst vorteilhaft zur Geltung bringen wird«, bemerkte die Herzogin.

Sie sprach in besänftigendem Ton, aber ihr Mann sah erbost von seinem Teller auf.

»Du verteidigst diesen Kerl auch noch! Letzte Woche beim Staatsball war es wohl offensichtlich, was du von ihm hältst.«

Sie hob die Brauen und erwiderte mit ihrer »Kleinmädchenstimme«, wie ihre Stiefnichte dazu sagte: »Was meinst du denn bloß, lieber Edmund? Ich dachte, es sei ganz in deinem Sinn, wenn ich unseren Nachbarn höflich behandle.«

Der Herzog murmelte etwas Unverständliches und befaßte sich wieder mit seinem Frühstück.

Sorilda kannte die Eifersucht ihres Onkels und fand sie keineswegs erstaunlich. Für sie war es ebenso wie für alle anderen Schloßbewohner ein Schock gewesen, als der Herzog vor drei Monaten - eine Woche nach seinem sechzigsten Geburtstag - eine um fünfunddreißig Jahre jüngere Witwe geheiratet hatte. Zunächst hatte Sorilda geglaubt, daß es vielleicht sehr angenehm sein könne, eine gleichaltrige Hausgenossin zu haben, und daß sie und ihre Stieftante Freunde würden. Doch sie war schon bald eines Besseren belehrt worden.

Iris wußte nichts mit Frauen anzufangen, schon gar nicht mit solchen, die ihr auf irgendeine Weise Konkurrenz machen könnten. Niemals wäre Sorilda auf den Gedanken gekommen, daß ihre Tante sie als Rivalin betrachten könnte. Neidlos bewunderte sie die Schönheit der neuen Herzogin, bis sie herausfand, daß der äußere Schein trog.

Sechs Monate nach der Hochzeit ihres Onkels mußte Sorilda der Tatsache ins Auge blicken, daß aus dem Zuhause, das sie nach dem Tod ihrer Eltern gefunden hatte - wenigstens, was sie selbst betraf -, ein trostloses, düsteres Gemäuer geworden war, in dem sie jeden neuen Tag fürchtete.

Der Herzog, wie so viele alte Ehemänner junger Frauen völlig verblendet, sah nichts weiter als Iris’ verführerischen Charme und hatte keine Ahnung, daß sie den anderen Schloßbewohnern wie ein feuerspeiender Drache erschien. Seltsam, hatte Sorilda schon oft überlegt, daß Iris äußerlich wie ein Engel wirkte, aber in ihrem Herzen eine Teufelin war.

Sorilda war ein bemerkenswert intelligentes, gebildetes junges Mädchen, da sie viel Zeit mit ihrem außergewöhnlich geistreichen Vater verbracht hatte. Nach seinem Studium in Eton und Oxford war er Parlamentsmitglied und der herausragendste junge Politiker seiner Generation geworden. Die ganze Nation empfand es als Tragödie, als Lord Lionel Eaton und seine Frau auf der Fahrt zu einer politischen Konferenz in Frankreich bei einem Zugunglück ums Leben kamen. Für Sorilda brach eine ganze Welt zusammen. Obwohl ihr Onkel sie zu trösten versuchte und nach Northamptonshire in sein Schloß holte, war sie für lange Zeit unfähig gewesen, etwas anderes zu tun, als den Verlust der geliebten Eltern zu betrauern. Wehmütig blickte sie auf ihre Kindheit in einem Haus voller Glück und Fröhlichkeit zurück. Daheim hatte sie sich vor allem deshalb so wohl gefühlt, weil sie von einer liebevollen Atmosphäre umgeben worden war, die sie im herzoglichen Schloß nicht fand.

Der Onkel war seit zehn Jahren Witwer, seine Söhne hatten längst geheiratet, und der älteste, der Marquis, machte bereits diplomatische Karriere als Vizekönig von Indien.

Der Herzog hatte viele Pflichten zu erfüllen. Fast unentwegt mußte er der Königin im Buckingham-Palast zu Diensten stehen. Außerdem fungierte er in Northamptonshire als Vertreter Ihrer Majestät und bekleidete mehrere offizielle Posten in der Grafschaft.

Weder Sorilda noch andere Leute hätten vermutet, daß er sich im Grunde seines Herzens einsam fühlte. Und wie so viele andere Männer in seiner Situation wollte er die Freuden der Jugend festhalten, ehe er zu alt wurde. Deshalb stellte er genau den richtigen Kandidaten für eine Frau wie Mrs. Iris Handley dar, die nach einer gesellschaftlichen Position suchte, die ihrer Schönheit würdig war.

Natürlich war sie von etlichen Bewunderern umgeben, doch die meisten waren verheiratet. Den Herzog hatte sie bei einer großen Dinnerparty kennengelernt, bei der sie neben ihm gesessen hatte. Die distinguierte ältere Dame, die als seine Tischgefährtin vorgesehen war, erkrankte in letzter Minute, und um nicht die ganze Tischordnung umzustoßen, hatte die Gastgeberin kurzerhand Iris an seiner Seite platziert.

Oft genug hatte der Herzog geklagt, er müsse stets die »Gattin des Bürgermeisters« zur Tafel führen. Und so betrachtete er es als angenehme Überraschung, neben der schönsten Frau zu sitzen, die er je gesehen hatte.

Iris’ Anblick pflegte die meisten Männer zu betören. Ihre hellblauen Augen, das blonde Haar und der zarte rosige Teint entsprachen dem gängigen Frauenideal, besonders seit die Königin alles, was klein, süß und betont feminin war, zum modischen Vorbild erkoren hatte. Dies kam dem Herzog an jenem Abend nicht zu Bewußtsein, aber als Iris’ blaue Augen in die seinen schauten, war er verloren.

Sorilda hingegen hatte als erste erkannt, daß der Charakter der neuen Stieftante ihre äußere Erscheinung Lügen strafte.

Die Hochzeit wurde schon nach so kurzer Zeit gefeiert, daß Iris keine Gelegenheit fand, Schloß Nuneaton zu besuchen, ehe sie Herzogin wurde. Deshalb kam sie erst zum traditionellen Fest für die Pächter im Zehntschuppen. Blumengeschmückte Triumphbögen wurden im Dorf und auf der Zufahrt zum Schloß errichtet, und sobald es dunkel wurde, ließ man ein farbenprächtiges Feuerwerk abbrennen.

Als Iris aus der Kutsche stieg - in der breitesten Krinoline, die Sorilda je gesehen hatte, in einem Taftmantel, der farblich zu ihren Augen paßte, mit kleinen Straußenfedern auf einem Hut in derselben Farbe -, hielt das junge Mädchen entzückt den Atem an.

Spontan lief sie auf ihren Onkel zu, knickste und umarmte ihn.

»Alles Gute, Onkel Edmund! Ich hoffe, du wirst sehr, sehr glücklich. Wir alle konnten es kaum erwarten, deine Braut kennenzulernen!«

»Dann sollst du nicht länger auf die Folter gespannt werden«, erwiderte er gutgelaunt und wandte sich zu seiner Frau. »Das ist meine Nichte Sorilda, die bei mir lebt. Sicher werdet ihr gute Freundinnen.«

»Sie lebt bei dir?«

In dieser Frage lag ein Unterton, der Sorilda bestürzte. Der Herzog mußte seiner Frau doch erzählt haben, daß seine Nichte im Schloß wohnte.

»Ja, ja«, bestätigte er. »Ihre Eltern sind unter tragischen Umständen gestorben. Ich hatte noch keine Zeit, dir das mitzuteilen, Liebste.«

Sorilda hatte einen Knicks vor der jungen Frau gemacht. Nun wartete sie, und als sie dem Blick der Herzogin begegnete, kam es ihr so vor, als wehte plötzlich ein kalter Wind um ihre Schultern.

Der Herzog merkte nichts davon. Er führte Iris die Eingangstreppe hinauf und in die Schloßhalle, wo die Dienstboten in Reih und Glied standen, um die neue Herrin willkommen zu heißen. Höflich nahm sie die Glückwünsche entgegen, mit einem Lächeln, das jeden täuschen mußte, der sie nicht kannte. Doch das sollte Sorilda erst später herausfinden.

Es war kaum zu glauben, daß eine einzige Person die Atmosphäre des Schlosses Nuneaton innerhalb weniger Wochen völlig verändern konnte. Und doch hatte Iris genau das geschafft.

Es lag nicht nur an ihrer Ausdrucksweise, sondern auch an der Art, wie sie die Macht ergriff: mit der Gier einer Frau, die von fanatischem Ehrgeiz getrieben wird. Nichts und niemand durfte ihr im Weg stehen, alles mußte genau so sein, wie sie es wünschte.

Das Schloß war stets ein wenig düster gewesen, und die Dinge bewegten sich ziemlich langsam innerhalb der alten Mauern, als spielte Zeit keine besondere Rolle.

Plötzlich erwachte das große Haus zu hektischem Leben, und wenn auch einige Neuerungen begrüßenswert waren - der Stil, in dem sie durchgeführt wurden, und die Methode, mit der die neue Herrin Gehorsam erzwang, wirkten bedrückend.

Mehrere alte Dienstboten wurden pensioniert, was großes Unbehagen im Kreise der anderen erzeugte. Sorilda sah, daß sie schneller als früher umhereilten und immer wieder nervös um sich schauten. Nach jahrelanger Arbeit war ihnen das Gefühl der Sicherheit genommen worden.

Was Sorilda betraf, so verschwendete Iris keine Zeit, um ihr in aller Deutlichkeit klarzumachen, daß sie nicht die Absicht hegte, sich um die Nichte ihres Mannes zu kümmern. Sorilda war keineswegs eingebildet, hätte aber sehr dumm sein müssen, um nicht zu merken, daß ihre eigene Schönheit die sofortige Abneigung der neuen Herzogin erregt hatte. In den Adern ihrer Mutter war österreichisches Blut geflossen, und die Tochter hatte das dunkelrote, für viele Wiener Schönheiten typische Haar geerbt. Ihre Augen strahlten in intensivem Grün, und ihre Haut war so zart wie Magnolienblüten.

 In den drei Jahren seit dem Tod ihrer Eltern hatte sie sich von einer hübschen Fünfzehnjährigen zu einer bildschönen jungen Frau entwickelt, die in London zweifellos großen Anklang gefunden hätte, wäre sie dort in Erscheinung getreten. Der Herzog hatte es bisher nicht für nötig gefunden, seine Nichte in die Gesellschaft einzuführen, da ihr das Leben im Schloß zu genügen schien.

Hin und wieder hatte er überlegt, daß sie früher oder später der Königin im Buckingham-Palast vorgestellt werden und daß er eine seiner wenigen widerwärtigen weiblichen Verwandten als Anstandsdame bestimmen mußte. Stets hatten ihn die unzähligen Eatons gelangweilt, die um ihn herumscharwenzelten und ihn mit Briefen bombardierten, die ihn nicht interessierten.

 Im Gegensatz zu seinem Vater sah er sich nicht als Familienoberhaupt, das jedem zur Seite stand, der Rat und Hilfe brauchte. Er zog es vor, sich alle anderen vom Leib zu halten. Das bedeutete, daß die meisten Gäste des Schlosses in seinem Alter waren. Und da er sich nie bemüht hatte, Sorilda mit anderen Leuten bekannt zu machen, wurde sie nur selten zu den Partys im County eingeladen, nicht zuletzt auch deshalb, weil ihr Onkel auf viele einschüchternd wirkte. Er war in der Tat eine furchterregende Persönlichkeit.

In seiner Jugend war er sehr attraktiv gewesen, und die Jahre hatten sein Selbstbewußtsein keineswegs verringert. Der Mehrzahl seiner Mitmenschen fühlte er sich weit überlegen, und er sah keinen Grund, jemanden einzuladen, der ihn weder interessierte noch amüsierte. Dies schränkte den Kreis der Besucher, die ins Schloß kamen, weiterhin ein, und Sorilda hätte ein sehr einsames, tristes Leben geführt, wäre sie nicht mit ihrer Ausbildung beschäftigt gewesen.

Indem sie sich dem Revisor des Herzogs anvertraute, der ihren Vater sehr geschätzt hatte, gelang es ihr, eine sympathische Gouvernante und Lehrer aus mehreren Teilen der Grafschaft ins Schloß zu holen. Falls der Herzog die hohen Kosten für den Unterricht seiner Nicht mißbilligte, so erwähnte er dies jedenfalls nicht. Und da Sorilda Fachgebiete gewählt hatte, die sie faszinierten, besaß sie eher die Kenntnisse eines Mannes als einer jungen Frau.

Ein Jahr zuvor, an ihrem siebzehnten Geburtstag, hatte ihre Gouvernante erklärt, sie müsse kündigen, da sie sonst bald zu alt sei, um einen neuen Posten zu finden. Danach war Sorilda meist allein gewesen, hatte aber weiterhin Musikstunden genommen und die Lehrer behalten, die ihr alte und neue Sprachen beibrachten.

Doch sie hatte sich vorgenommen, ihren Onkel darauf hinzuweisen, daß sie nun erwachsen sei und ihre Tage nicht länger im Schulzimmer verbringen könne. Und dann war Iris angekommen, und Sorilda hatte bald gemerkt, daß sie ihr Dasein zwar nicht mehr im Schulzimmer, aber dafür ganz im Hintergrund der Ereignisse fristen mußte.

Wie viele schöne Frauen empfand Iris eine gänzlich überflüssige Eifersucht auf alle Konkurrentinnen. Tag und Nacht mußte sie im Mittelpunkt des Interesses stehen. Und die erste Begegnung mit der Nichte ihres Mannes hatte ihr einen schweren Schock versetzt.

Als Sorilda nun die Mißstimmung am Frühstückstisch bemerkte, versuchte sie die Wogen zu glätten.

 »Ich glaube, der Graf von Winsford hat den Hosenbandorden bekommen, weil er Prinz Albert von Anfang an bei der Planung des Kristallpalastes unterstützte.«

»Woher willst du das wissen?« fragte die Herzogin.

Ehe Sorilda antworten konnte, erklärte ihr Onkel: »Sie hat recht, und das Ganze war ein idiotisches Projekt. Nur ein Wahnsinniger kann einen Glaspalast entwerfen und den Hyde Park damit entweihen. Das ist eine unerhörte Zumutung für alle Bewohner dieses Landes.«

Sorilda erinnerte sich, daß ein Parlamentsmitglied im Unterhaus ähnliche Worte gebraucht hatte. Aber trotz des Widerstands von Seiten distinguierter Persönlichkeiten wie des Herzogs und der Presse war der Bau des Palastes weitergeführt worden.

»Ihr werdet schon sehen!« fuhr der Schloßherr mit erhobener Stimme fort. »Das Ganze wird ein gigantischer Fehlschlag, und es würde mich nicht überraschen, wenn dieses Gebäude just in dem Augenblick zusammenbricht, wenn es von der Königin eröffnet wird.« Er schnaufte verächtlich und fügte hinzu: »Was kann man denn von einem Gärtner erwarten, der sich als Architekt bezeichnet?«

Damit war Joseph Paxton gemeint, einer der bedeutendsten Männer des Jahrhunderts. Er hatte sein Leben tatsächlich als Gärtner begonnen, war aber später als Protegé des Herzogs von Devonshire und ohne architektonische Qualifikationen zum gefeierten Erbauer des großen Konservatoriums in Chatsworth geworden, dem Sitz des Herzogs in Derbyshire. In den Zeitungen war verächtlich berichtet worden, Paxton habe Prinz Albert den grob skizzierten Entwurf eines Glaspalasts vorgelegt, der im Grunde nur ein überdimensionales Gewächshaus sei. Nicht nur der Herzog von Nuneaton prophezeite eine Katastrophe.

Sorilda studierte die Zeitungen immer sehr methodisch, und sie hatte zahllose Artikel, Leserbriefe und Berichte gefunden, in denen vorausgesagt wurde, daß das Bauwerk infolge der Vibrationen, die durch die Schritte der Besuchermassen entstehen würden, unweigerlich einstürzen müsse.

Andere Leute äußerten die Überzeugung, es würde durch einen Hagelsturm zertrümmert, durch einen Donnerschlag zerschmettert oder durch einen Regenschauer fortgespült werden. Aber die Bauarbeiten am Kristallpalast wurden fortgesetzt, und Sorilda hatte gelesen, daß sie sich nun bereits ihrem Ende näherten. Selbst die schärfsten Kritiker merkten allmählich, daß da etwas Außerordentliches vorging. Bereits in zwei Wochen, am 1. Mai, würde die Königin den Kristallpalast eröffnen.

Von Anfang an war der Herzog einer der heftigsten Gegner von Prinz Alberts »Traum« gewesen. Sorilda war allerdings überzeugt, daß er das bei Hof nicht erwähnte. In diesem Augenblick schien ihn aber nicht der Glaspalast zu ärgern, sondern seine Eifersucht auf den Grafen von Winsford. Weil es die Gefühle anderer Menschen sehr deutlich spürte, ahnte das junge Mädchen, daß seine Stieftante in dem Grafen nicht nur den Nachbarn sah, dessen Ländereien an jene von Schloß Nuneaton grenzten. Wenn sein Name erwähnt wurde, was ziemlich oft geschah, trat ein Ausdruck in die hellblauen Augen, der sich vom üblichen kühl berechnenden Blick unterschied. Es wäre nicht verwunderlich gewesen, wenn sich die junge Herzogin in den Grafen von Winsford verliebt hätte.

Seit Sorilda im Schloß lebte, hatte sie nicht nur ihren Onkel und seine Gäste über ihn reden hören, sondern auch die Dienstboten und alle anderen in der Nachbarschaft. Und als sie ihn zum ersten Mal bei dem Jagdtreffen gesehen hatte, das alljährlich auf Nuneaton stattfand, war ihr bewußt geworden, warum so viel über ihn geklatscht wurde. Er sah großartig aus, was die Begeisterung der Frauen erklärte, und er war ein besserer Reiter als alle Männer, die sie kannte. Letztes Jahr hatte er in Ascot den Gold-Cup gewonnen, und man erwartete, daß er seinen Erfolg in diesem Jahr wiederholen würde.

Vor seiner Hochzeit war der Herzog nicht gerade ein enger Freund des Grafen gewesen, hatte ihn aber toleriert. Dann schien sich der Nachbar, mit dem er jahrelang in Frieden gelebt hatte, über Nacht in einen Feind verwandelt zu haben.

 »Eins will ich euch sagen!« rief der Schloßherr, wie immer, wenn er in Wut geriet, in autoritärem Ton: »Wenn wir die Eröffnungsfeier dieses lächerlichen Bauwerks überstehen, ohne unser Leben zu verlieren oder von herabstürzenden Glassplittern in Stücke gehackt zu werden, so sollte es mich sehr wundern.«

Die Herzogin lachte.

»Ich fürchte mich nicht, Edmund, und du hast keinen Grund, dich wegen dieser vermeintlichen Gefahren aufzuregen.«

 »Der Palast ist nicht nur gefährlich, er ist der reinste Wahnsinn«, entgegnete er. »Als ich vor zwei Tagen in London war, berichtete man mir die allerneueste Idiotie, die sich in dieser Monstrosität abgespielt hat.«

»Was denn?« fragte Sorilda gespannt.

Sie wollte so gern den Kristallpalast sehen und hatte bereits den Wunsch geäußert, zu diesem, Zweck nach London zu fahren. Doch die Stieftante hatte unmißverständlich erklärt, das komme nicht in Frage, und hatte ihr kategorisch verboten, in Nuneaton House an der Park Lane zu wohnen. Sorilda fand das schrecklich unfair, denn fast die gesamte Einwohnerschaft von Northampton würde zu der Ausstellung nach London reisen. Aber es überraschte sie nicht besonders, denn sie war sich bewußt, daß die Gefühle der Stieftante ihr gegenüber von Tag zu Tag immer haßerfüllter wurden.

»Erzähl doch, Onkel Edmund«, bat sie.

Vor lauter Neugier bemerkte sie nicht, daß ihre Stieftante die Stirn ärgerlich in Falten zog. Die Herzogin fand, daß sich das Mädchen zu sehr in den Vordergrund drängte.

Doch der Herzog freute sich offenbar über die Gelegenheit, den Kristallpalast noch mehr herabzusetzen, und antwortete bereitwillig: »Man stellte fest, daß die drei großen Ulmen im Querschiff so viele Sperlinge beherbergen, daß die Gefahr bestünde, die kostbaren Ausstellungsobjekte könnten beschmutzt werden.«

»Warum hat man diese Möglichkeit nicht erwogen und die Bäume im Palast stehen lassen?« wollte Sorilda wissen.

»Eine gute Frage«, meinte ihr Onkel. »Das Ganze war von Anfang an eine Fehlplanung, und wenn ich mir vor Augen führe, daß ungefähr zweitausend Leute an diesem katastrophalen Projekt gearbeitet haben, muß ich wirklich am gesunden Menschenverstand unserer Nation zweifeln.«

»Und was ist mit den Sperlingen geschehen, Onkel Edmund?« erkundigte sich Sorilda, um das faszinierende Thema weiterzuverfolgen.

»Die Königin schlug vor, Lord John Russell hinzuzuziehen, und er erteilte ihr den Rat, die Infanteristen vom Garderegiment in den Palast zu schicken, mit dem Auftrag, die Vögel abzuschießen.«

»Aber dabei würde doch das Glas zerbrechen.«

»Das gab auch der Prinz zu bedenken«, erwiderte der Herzog, leicht verärgert, weil sie seiner nächsten Äußerung zuvorgekommen war.

»Und was hat man getan?«

»Irgendjemand - ich weiß nicht, wer - verfiel auf die Idee, den Herzog von Wellington zu holen.«

»Und was sagte der?«

»Ich glaube, er wandte ein, er sei kein Vogelfänger. Aber auf Befehl der Königin erschien er im Buckingham-Palast.«

Mühsam widerstand Sorilda der Versuchung, ihren Onkel erneut zu unterbrechen, denn sie ahnte, daß er sich nun der Pointe seiner Geschichte näherte.

Der Herzog machte eine kleine Pause und warf einen Blick auf seine Frau.

Dann fuhr er fort: »Soviel ich weiß, äußerte Wellington nur einen einzigen Satz. Versuchen Sie es mit Falken, Ma’am.‘«

Sorilda klatschte in die Hände.

»Oh, wie schlau!«

»Und was geschah?« fragte die Herzogin, weil sie fühlte, daß das von ihr erwartet wurde. Offensichtlich mangelte es ihr an Interesse, wie immer, wenn sich ein Gespräch nicht um ihre Person drehte.

Der Herzog lachte kurz auf.

 »Angeblich flog die ganze Sperlingsschar aus dem Kristallpalast und wurde nie wieder gesehen.«

Auch Sorilda lachte und freute sich, weil ihr Onkel jetzt in besserer Stimmung war, nachdem er diese amüsante Episode geschildert hatte. Für eine kleine Weile war Winsford vergessen.

Die Herzogin erhob sich.

 »Du hast doch sicher etwas Besseres zu tun, als am Frühstückstisch herumzusitzen, Sorilda«, bemerkte sie mißmutig. »In meinem Boudoir wartet Arbeit auf dich. Komm mit mir, ich werde dir die nötigen Anweisungen geben.«

Sorilda hatte ihren Kaffee noch nicht ausgetrunken, wußte jedoch, daß es unklug gewesen wäre, darauf hinzuweisen. Gehorsam folgte sie ihrer Stieftante aus dem Zimmer und bemerkte, wie anmutig ihre Krinoline von der schmalen Taille herabschwang. Sie ärgerte sich maßlos, weil Iris ihr nicht erlaubte, unter ihrem eigenen Kleid ein Fischbeingestell zu tragen, das breiter war als zwei Fuß.

Unglücklicherweise war die Herzogin gerade in dem Moment ins Leben ihrer Stiefnichte getreten, als diese dringend ein paar neue Kleider brauchte, da sie aus den alten herausgewachsen war. Sorilda hatte beabsichtigt, nach London zu fahren und sich eine neue Garderobe zu besorgen, auch einige Hüte in dem Stil, der von Königin Victoria in Mode gebracht worden war.

Wegen der überraschenden Hochzeit des Herzogs hatte sie darauf verzichten müssen. Seit die neue Herzogin im Schloß regierte, durfte Sorilda nichts ohne die Billigung ihrer Stieftante kaufen.

 »Ich habe meine Kleider immer selbst ausgesucht«, protestierte sie.

»Du mußt mir schon zugestehen, daß ich weiß, was am besten für dich ist«, lautete die energische Antwort.

Wie Sorilda bald herausfand, befand Iris es für sie am besten, sich möglichst unvorteilhaft zu kleiden. Sorilda durfte nur noch Kleider in einem häßlichen Braunton tragen, der sie blaß wirken ließ, oder in einem Grau, in dem sie sich wie ein Gespenst fühlte. Es wäre sinnlos gewesen, den Herzog um Hilfe zu bitten, denn er stand völlig unter dem Einfluß seiner jungen Gemahlin und stimmte allen ihren Vorschlägen zu.