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Friedhelm Peters • Stefan Lenz • Valentin Kannicht
Diana Düring • Thomas Röttger (Hrsg.)

Innovation in kleinen Schritten

Zur sozialräumlichen Kooperation von Kindertagesstätten,
Hilfen zur Erziehung und Allgemeinem Sozialen Dienst

Originalausgabe

© 2018 Hirnkost KG

Lahnstraße 25

12055 Berlin

prverlag@hirnkost.de

www.jugendkulturen-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage Juli 2018

Vertrieb für den Buchhandel:

Runge Verlagsauslieferung; msr@rungeva.de

Privatkunden und Mailorder: shop.hirnkost.de

Layout: Linda Kutzki

Lektorat: Klaus Farin

ISBN:

PRINT: 978–3-947380–16–9

PDF: 978–3-947380–18–3

EPUB: 978–3-947380–17–6

Dieses Buch gibt es auch als E-Book – bei allen Anbietern und für alle Formate. Unsere Bücher kann man auch abonnieren: shop.hirnkost.de

Das Projekt und das Buch wurden gefördert von der Stiftung Aktion Mensch, Bonn.

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Inhaltsverzeichnis

Einführung

Teil I. Kita und Hilfen zur Erziehung: Eine sozialwissenschaftliche Verortung im Licht der Projekterkenntnisse

Kita und Hilfen zur Erziehung: Eine sozialwissenschaftliche Verortung im Licht der Projekterkenntnisse

Friedhelm Peters, Valentin Kannicht, Diana Düring

Teil II. Abschlussberichte aus Sicht der beteiligten Standorte und Träger

Das Celler Modell der Kooperation von HzE und Kita in einer sozialräumlich ausgerichteten Kinder- und Jugendhilfelandschaft

Thomas Röttger, Sabrina Stoch, Stefan Fleischer

Integrationsangebot für Kinder mit einem erhöhten erzieherischen Bedarf in Frankfurt (Oder)

Gina Deleroi

Evangelische Jugendhilfe Münsterland – der Standort: Greven

Beate Schürmann

Von der Träger- zur Sozialraumorientierung

Stefan Lenz, Susanne Schlosser, Bettina Kiem

Teil III. Anregungen zur Praxisentwicklung

Anregungen zur Praxisentwicklung

Diana Düring, Valentin Kannicht, Friedhelm Peters

Teil IV. AK HzE und Kita: Forderungen aus Erkenntnissen des Projekts

AK HzE und Kita: Forderungen aus Erkenntnissen des Projekts

Friedhelm Peters, Stefan Lenz

Der Arbeitskreis Hilfen zur Erziehung und Kindertagesbetreuung (AK HzE/Kita)

Mitglieder des AK

Literatur

Die Autor*innen

Einführung

I.

Dieses Buch handelt von Versuchen, die Kooperation zwischen Kindertagesstätten (Kita), Hilfen zur Erziehung (HzE) und Allgemeinem Sozialen Dienst (ASD) zu verbessern und in sozialräumlicher Perspektive zu qualifizieren. In allen Bereichen gibt es ja schon des Längeren die Diskussion und das Versprechen, HzE wie Kindertagesbetreuungen durch vermehrte oder verbesserte Kooperationen und eine stärkere Öffnung in den sozialen Raum leistungsfähiger zu gestalten. Dazu gibt es relativ konsistente Vorlagen (z. B. Hinte/Treeß 32014; Früchtel/Cyprian/Budde 2007; Deutschendorf u. a. 2006), aber auch Begründungen, die entsprechend ihrer Herkunft aus Politik, dem Kita-Kontext, aus HzE-Diskursen oder unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Begründungen differieren und unterschiedliche Positionen favorisieren.

Hiermit sind auch bereits – jenseits der Betroffenen – die entscheidenden Akteur*innen, die das Feld der HzE wie der Kitas strukturieren, benannt. Ohne dass durch politische Akteur*innen im Kontext sozialstaatlichen Handelns entsprechende rechtliche, finanzielle und infrastrukturelle Mittel zur Verfügung gestellt werden, können weder HzE noch Kita dauerhaft und flächendeckend operieren. Der Preis für diese Ressourcenbereitstellung ist, dass in die geförderten Maßnahmen politisch-kulturelle (und historische) Problemdefinitionen sowie Ziel- und Bewertungsdimensionen eingeschrieben sind, die vorrangig den Interessen und Eigensinnigkeiten der jeweiligen Instanzen folgen (Offe 1972; Dollinger u. a. 2017; für den Kita-Bereich: Mierendorff 2013). Dass Organisationen und Professionelle mit vergleichsweise großen Ermessensspielräumen für die Erbringung der Leistungen zuständig sind, verkompliziert die Situation noch. Unterschiedlichste empirische Forschung belegt, „dass Organisationen nicht schlicht als Einrichtungen betrachtet werden können, die öffentliche Problemdefinitionen einfach umsetzen. Im Gegenteil weisen sie eine komplexe Eigensinnigkeit bzw. distinkte Formen des ‚Sensemaking‘ (Weick 1995) auf, so dass kontextuelle Handlungsaufträge spezifiziert und je nach organisational verfügbaren und plausibilisierbaren Handlungsoptionen realisiert werden“ (Dollinger u. a., a. a. O.: 10). Unterschiedliche Konzeptionen, auch mit gegenläufigen Adressierungen im Vergleich zu den institutionalisierten Vorgaben, zeigen dies plastisch, wenn etwa jugendliche Normabweichler*innen als Träger von Innovationen und nicht als Objekte erzieherischer Einflussnahme angesehen werden.

Die auch immer normativ aufgeladenen Bilder, die Institutionen und Professionelle von ihren Klient*innen haben und inszenieren (oder dies zumindest versuchen), kollidieren allerdings manchmal mit der Realität und empirischen Vielfalt von Kindern und Eltern sowie deren eigentätiger Art und Weise, in der sie sich die Hilfs- und Erziehungsangebote aneignen bzw. mit ihnen differenziert umgehen. Als Produzent*innen oder zumindest Ko-Produzent*innen der Gestaltung und Auswirkungen von Hilfen und Erziehung, wo diese nicht als Dressur erscheint, be- und verarbeiten sie die Teilnahme an solcherart Bildungsprozessen auf der Grundlage biographischer Vorerfahrungen oder Bewältigungsmuster und sozialstrukturell-materieller und sozialräumlich erscheinender Chancenstrukturen. Diese gestalten sich – trotz flächendeckender Investitionen im Kita-Bereich und steigender Fallzahlen im Bereich der HzE – aber zunehmend disparitär, was u. a. mit dazu beigetragen hat, den sozialen Raum – jenseits der klassischen oder kritischen Gemeinwesenarbeit (vgl. Peters 1983) – für die Armutsbekämpfung in EU-Programmen und Soziale Arbeit insgesamt wieder zu entdecken.

Das in der (Fach-)Öffentlichkeit und Politik wahrgenommene Gemeinsame an der Sozialraumorientierung ist vordergründig der Versuch, ein dreifaches Versprechen einzulösen:

HzE und Kita sollen durch eine Orientierung auf den sozialen Raum für die Menschen, die auf diese Leistungen angewiesen oder davon betroffen sind, hilfreicher oder inklusiver bzw. weniger ausgrenzend und lebensweltlicher und damit auch – sowohl geographisch als auch niedrigschwelliger – erreichbarer gestaltet werden.

Zweitens sollen die Organisationen durch die mit einer Sozialraumorientierung verbundenen Veränderungen selbst profitieren und einen Professionalisierungs- und Legitimationsschub erhalten.

Und drittens schließlich sollen sich diese Prozesse zumindest im Bereich der HzE möglichst auch wirtschaftlich – u. a. durch Stärkung von Regeleinrichtungen vor Ort und Fallvermeidungen – kostenreduzierend oder Ausgabensteigerungen beschränkend auswirken.

Unter Sozialraumorientierung wird dabei, ungeachtet einer notwendigen theoretischen Verständigung (s. Teil I), (kommunal-)politisch und verwaltungsseitig zunächst eine Orientierung an Quartieren „unterhalb der Stadt- bzw. Kreisebene verstanden […], die über die Herstellung sozialer Bezüge oder Milieus identitätsstiftend wirken und Fokus für soziales und politisches Handeln sind.“ Unter „sozialräumlichen Ansätzen in den Hilfen zur Erziehung“ werden Strategien verstanden, die „die Planung und Erbringung von Leistungen im Kontext sozialräumlicher Bezüge verorten, diese umsetzen, auf deren Wirkungen Bezug oder auf deren Gestaltung Einfluss nehmen. Zentrale sozialräumliche Bezüge sind dabei die sozialen und kulturellen Regelangebote. […] Durch eine bessere Abstimmung mit den Angeboten des Regelsystems können somit bereits Hilfeeffekte erzielt werden, die einen Übergang in Hilfen zur Erziehung vermeiden helfen bzw. zur Inanspruchnahme weniger intensiver Hilfen führen.“ (JFMK 2013: 17)

Als eine Anforderung an die zukünftige Entwicklung der Hilfen zur Erziehung, schlussfolgert die Jugend- und Familienministerkonferenz der Länder (JFMK), sei zu überlegen, wie die Hilfen zur Erziehung „stärker mit Angeboten der Regelsysteme verknüpft werden können. Hierzu gehört auch, dass Schnittstellen und Übergänge zu Regelsystemen“ – insbesondere auch der Kindestagesbetreuung – „wechselseitig konkret und verbindlich beschrieben und ausgestaltet werden müssen. […] Hier ist zu erörtern, wie das Verhältnis (der) Leistungserbringung zwischen Hilfen zur Erziehung und den anderen Angeboten der Regelversorgung im Rahmen des KJHG im Hinblick auf die Gestaltung und Priorisierung neu justiert werden kann.“ (Ebd.: 20)

(Grund-)Schulen, die aber nur partiell in die Zuständigkeit des KJHG (SGB VIII) fallen, wechselweise die Offene Kinder- und Jugendarbeit, Beratungsstellen und insbesondere Kitas, deren Besuch für die allermeisten Kinder inzwischen ein Teil ihrer Alltagsnormalität darstellt, stehen deshalb in den letzten 15 – 20 Jahren im Fokus der fachpolitischen Aufmerksamkeit. Zunehmend richtet sich die Fachdiskussion dabei jenseits von Fragen der Quantität und rechtlich garantierter Realisierbarkeit von Kitaplätzen auf die Qualität der Angebote der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE). Diesbezüglich dominieren drei Diskussionslinien, die alle auf die Funktionen von Kitas als Regelinstitutionen im Kontext sozialer Disparitäten abheben: (1) Kitas als Bildungseinrichtungen, (2) Kitas als soziale Inklusionseinrichtungen sowie (3) Diskussionen um Aufgaben von Kitas im Kontext des Kinderschutzes (vgl. Lochner 2018).

Es werden Programme für einen möglichst frühen Kitastart und zusätzliche resilienzstärkende präventive Angebote an Kinder und ihre Familien entwickelt, aber da ein rein kindzentrierter Handlungsauftrag als wenig nachhaltig eingeschätzt wird, votieren viele kommunale Programme für die Weiterentwicklung von Kitas zu Familienzentren (vgl. ebd.).

Folgt man den Einschätzungen z. B. des 14. Kinder- und Jugendberichts (KJB) oder dem Strategiepapier der JFMK vom Juni 2013, dann ist ein zentrales Ziel der Weiterentwicklung der HzE, Unterstützungs- und Hilfebedarfe frühzeitig zu erkennen und Hilfen so auszugestalten, dass sie nachhaltig sind und für die betroffenen Kinder, Jugendlichen und ihre Familien positive Entwicklungsperspektiven sichern, wozu auch gehört, ihr normales Lebensumfeld zu erhalten, zu entwickeln und biographische Brüche und Beziehungsabbrüche sowie negative Karrieren möglichst zu vermeiden. Dazu gibt es inzwischen im Feld Kita – HzE vielfältige regionale, integrative und vernetzende Formate (vgl. Teil I; Lochner 2018), aber dennoch tun sich HzE und Kita schwer mit der Kooperation.

Historisch bedingt gibt es in Deutschland seit den Regularien des Jugendwohlfahrtsgesetzes (JWG) in der Restaurationsphase nach dem Zweiten Weltkrieg bislang eher wenig Verbindungen zwischen der Kitabetreuung und Einrichtungen und Diensten der Hilfen zur Erziehung1, obgleich beide Teil der Kinder- und Jugendhilfe sind und man § 1 des KJG/SGB VIII als Klammer gemeinsamer Aufgaben betonen könnte. Aber die Aufgaben der beiden Leistungssegmente sind auf den ersten Blick sehr verschieden. Geht es einerseits primär um Bildung, Betreuung und Erziehung zunehmend für alle Kinder, so andererseits historisch bedingt eher um Nothilfe, also z. B. ein Eingreifen in Notsituationen (Stichwort: Kindeswohlgefährdung) und um Hilfen in prekären Lebenssituationen oder darum – im Selbstverständnis helfend, aber objektiv kontrollierend –, einzuschreiten, wenn Eltern/Sorgeberechtigte eine Erziehung zum Wohl des Kindes nicht (vollständig) gewährleisten können. Letzteres zeigt sich u. U. auch in abweichendem oder normverletzendem Handeln. Hier treten dann die Hilfen zur Erziehung auf den Plan, die von niedrigschwelliger Beratung, ambulanter Unterstützung bis zu familienersetzenden Maßnahmen reichen können. Aus diesen unterschiedlichen Aufgaben und Zielstellungen ergab sich eine zunehmend spezialisierte, deutlich unterschiedene und auch durch unterschiedliches Wissen und unterschiedliche berufliche Selbstverständnisse gespeiste (Berufs-)Praxis.

II.

Genau an dieser Stelle setzt das Projekt an, über das in diesem Buch berichtet wird. Das Modellprojekt zur „Integration von Hilfen zur Erziehung in Kindertageseinrichtungen und mehr Sozialraumbezug“ von fünf in verschiedenen Regionen – Celle, Erfurt, Frankfurt (Oder), Greven, Rhein-Neckar-Kreis – angesiedelten Trägern (s. Teil II), die sowohl Kita-Angebote vorhalten als auch Hilfen zur Erziehung erbringen, zielt auf eine Reform der Schnittstelle und der Zusammenarbeit von Kita und HzE unter stärkerem Lebenswelt- und Sozialraumbezug. In enger, sozialräumlich ausgestalteter Kooperation von Öffentlichem und Freiem Träger sollen die Ausgangslagen für Erziehungs- und Unterstützungsleistungen verbessert werden. Im Erfolgsfall führt dies zu einem Hilfsangebot, das situativ zur Vermeidung notwendiger formeller Hilfen zu Erziehung („Fälle“) durch die veränderte Kooperation von HzE und Kita und durch Integration und Flexibilität von Betreuungs- oder Hilfesettings sowie Nutzung sozialräumlicher Ressourcen beitragen kann. Insofern dabei die Interessen und Bedürfnisse Betroffener systematisch berücksichtigt werden, kann dies – über eine auch sozialräumlich zum Ausdruck kommende veränderte Infrastruktur für ein gelingendes Aufwachsen – zu einer verbesserten Ausgangslage und zu verbesserten Hilfeoptionen für betroffene Kinder und deren Familien führen. Durch die Erarbeitung einer nicht ausgrenzenden Hilfephilosophie sowie der Schaffung einer gemeinsamen Sprache und Fallverantwortung, gekoppelt mit konkreten Maßnahmen und Methoden, sollen Ausgrenzungen einzelner Kinder vermieden und die Früherkennung und Bearbeitung von Hilfebedarfen gestärkt und entsprechende Angebote kooperativ zwischen Kita und HzE entwickelt werden.

III.

Reformen sind, wie jeder weiß, keine linearen Prozesse, die von der Planung und Entscheidung bis zur Durchführung gradlinig auf das vorgezeichnete Ziel hin verlaufen. Und Evaluationen oder – wie wir in diesem Fall vorziehen zu sagen – wissenschaftliche Begleitungen, zumal wenn sie prozessnah operieren, werden fast automatisch in das mikropolitische Ringen um Wissen, Information und Prestige verwickelt, das sich ergibt, sobald eine Reformabsicht auch nur bekannt wird (vgl. Wolff/Scheffer 2003). Dies ist umso wahrscheinlicher, wenn es um Veränderungen in Feldern geht, in denen nicht nur die zwei sozialpädagogisch/sozialarbeiterisch geprägten Professionen und ihre Traditionslinien aufeinandertreffen, sondern wie in unserem Fall auch zusätzlich Vertreter*innen von Disziplinen wie Medizin (Psychiatrie), Recht, Psychologie, Erziehungswissenschaft usw., die z. T. über mehr Reputation verfügen und nachhaltig unser Bild vom Kind und dessen gesundem Aufwachsen geprägt haben und nach wie vor prägen. Unterschiedliche Interessen werden des Weiteren auch eingespeist durch Politik, Organisationen (oder Abteilungen) oder anderweitig relevante Umwelten. Es kommt zu Stellungnahmen für und wider, zu Festlegungen und zu Vorwegnahmen der verschiedensten Art. Und manchmal kommen auch nicht erwartbare Zufälle hinzu, die man nicht beeinflussen kann. Es treten Verzögerungen auf und es stellt sich ein Hin und Her zwischen alten und neuen Vorstellungen ein …

Zwar gibt es ein relativ stabiles Grundwissen über einzelne Reformprojekte, es gibt auch z. T. empirisch abgesichertes Wissen, wie Praxis funktioniert und wie eine weniger ausgrenzende und responsivere Kinder- und Jugendhilfe insgesamt aussehen könnte, aber Wissen allein reicht nicht. Gute Vorschläge und Ideen reichen nicht. Man braucht Personen, die für eine Sache brennen (die ‚local heroes‘), und man braucht in Kooperation erarbeitete Verfahren, um einen Reformprozess auch personenunabhängig zu stabilisieren (vgl. Langhanky u. a. 2004; Deutschendorf u. a. 2006).

Reformprozesse müssen auch, und das ist eine Erkenntnis, die wir in unserem Prozess, in dem wir die Praxisentwicklung an den verschiedenen Orten begleitet und nicht primär evaluiert und (vergleichend) bewertet haben, bestätigt gefunden haben, durch eine Geschichte (eine starke Idee, eine gemeinsame ‚Philosophie‘, ein Narrativ) zusammengehalten werden. Das vorliegende Buch spiegelt auch dieses Narrativ und ist zugleich ein Teil dessen. Es handelt vom „Hinauswärts-Denken“. „Hinauswärts-Denken“ (vgl. Früchtel/Budde/Cyprian 2007: 24) beginnt nicht bei einem Ziel, sondern bei einem Ausgangspunkt, bei der eigenen Praxis, über die man beginnt, hinauszudenken.

IV.

In einem ersten längeren Teil (Teil I) wird der Gesamtprozess des Projekts reflexiv im Licht sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse dargestellt und gesellschaftlich verortet. Damit wird weder eine eindeutige Erfolgsgeschichte noch eine des Misserfolgs rekonstruiert, sondern die Strategien und Aktivitäten der Akteur*innen vor Ort werden als mal mehr, mal weniger erfolgreiches Handeln auch in ihren – praktischen wie gesellschaftspolitischen – Ambivalenzen erkennbar. Durch das Aufzeigen unterschiedlicher Bezugnahmen auf verschiedene Wissensbestände zur Begründung des Handelns wird die Relativität und soziale Konstruktion der Praxis betont.

Zu den unterschiedlichen Textsorten, mit denen wir hier experimentieren, nur so viel: Wer an einer sozialwissenschaftlich-analytischen Betrachtung interessiert ist, dem seien Kap. 1–3 empfohlen. Kapitel 4 – mit Vortragselementen und insofern auch leser*innenfreundlicher (insb. Kap. 4.3) – und 5 sind mehr oder weniger an der Empirie entlang formuliert, wobei Kapitel 5 eine einfache Variante empirischen Vorgehens dar- und vorstellt, die auch in praktischen Arbeitszusammenhängen genutzt werden kann. Kapitel 6 schließlich fasst die teilplenare Abschlussdiskussion zusammen.

Im zweiten Teil des Buches (II) finden sich vier Reflexionsberichte und Überlegungen zur Weiterarbeit aus Sicht verantwortlicher Akteur*innen aus den jeweiligen Regionen und der verschiedenen Träger. Im Vergleich zum ersten Teil überwiegen eher programmatische bzw. präskriptive Aussagen auch da, wo konkrete Erfahrungen vorliegen. Die Aussagen handeln manches Mal eher von Soll- als von Ist-Zuständen bzw. changieren zwischen beiden. Dies ist insoweit verständlich, als die Beiträge offensichtlich Engagement wecken wollen, eine veränderte Praxis begründen, Argumente liefern, mit denen sich Kritik entkräften lässt, die im Falle der empfohlenen Neuorientierung unumgänglich – auch im jeweils eigenen Haus – zu erwarten ist. Schließlich müssen sie plausibel machen, weshalb die Veränderung überhaupt wünschenswert, interessant, innovativ, moralisch vertretbar ist und die ‚eigentlichen Ziele‘ der jeweils eigenen Arbeit – zumal in Konkurrenz zu anderen Paralleldiskursen – besser zu erreichen verspricht.

Daran knüpft Teil III direkt an. Darin geht es um Anstöße zur Praxisentwicklung, um die Frage, wie und wodurch methodisch unterstützt das Hinaus-Denken angeregt werden kann, oder welche bewährten methodischen Ansätze es bereits gibt, bzw. was man berücksichtigen sollte, wenn man die Kooperation zwischen Kita, HzE und ASD zu verbessern und – in sozialräumlicher Perspektive – zu qualifizieren sucht. Dabei scheint uns zentral, dass Veränderungsprozesse in den Feldern Interaktion und Organisation sowie Individuum und Sozialraum angestoßen werden bzw. deren Zusammenspiel neu strukturiert wird. Zur Gestaltung dieser Entwicklungsaufgaben haben wir methodische Anregungen zusammengestellt, die zum Teil schon in den Projektregionen genutzt wurden und werden – aber auch darüber hinausgehen.

Insgesamt – und deshalb auch der Titel „Innovation in kleinen Schritten“ – sind Prozesse wie hier geschildert für die Beteiligten anstrengend, dauern länger, als man zunächst denkt, vollziehen sich in Sprüngen und nicht linear, aber sind auch freudvoll und machen Spaß, weil sie die eigene Entwicklung fördern und sich innovativ sowie professionell anregend entwickeln.

Friedhelm Peters

Stefan Lenz

Valentin Kannicht

Diana Düring

Thomas Röttger

Dresden, Wilhelmsfeld, Leipzig, Jena, Celle im April 2018

1Im RJWG der Weimarer Republik in der Fassung von 1922 gibt es allerdings diese enge Verbindung; dort wird der Kindergarten als „nebenfamiliale Nothilfeeinrichtung“ (Reyer 2006: 47ff.) und als Fürsorgeleistung für hilfsbedürftige Minderjährige (§ 3 RJWG) genannt.

Teil I

Kita und Hilfen zur Erziehung: Eine sozialwissenschaftliche Verortung im Licht der Projekterkenntnisse

Kita und Hilfen zur Erziehung: Eine sozialwissenschaftliche Verortung im Licht der Projekterkenntnisse

Friedhelm Peters, Valentin Kannicht, Diana Düring

1.Veränderungen im Kita-Bereich: Entwicklungen hin zu einer eltern-, familien- und sozialraumorientierten und nicht ausgrenzenden Kita

Kindertageseinrichtungen des Elementarbereichs (Kita) sind Orte des Aufwachsens, die von nahezu allen Kindern in den Jahren vor ihrem Schulbeginn besucht werden. Mehr als 95 % der Vier- und Fünfjährigen und 55 % der Zweijährigen nehmen heute an den in Deutschland freiwilligen frühpädagogischen Bildungsangeboten teil (vgl. Rauschenbach 2015). Auch wenn die Inanspruchnahmemöglichkeiten, sprich Kita-Plätze, und Inanspruchnahmen nach wie vor regional ungleich verteilt sind, kann man Rauschenbach folgen, wenn er schlussfolgert: „Die Kita-Kindheit ist im Laufe der letzten Jahrzehnte für die Kinder in den ersten Lebensjahren zu einem neuen Normalitätsmuster geworden.“ (Ebd.: 7) Dabei folgt die zunehmende Institutionalisierung der Kindheit in der Kita unter der Programmatik von Bildung, Betreuung, Erziehung Diskursen, die wiederum aus und in arbeitsmarktlichen, bildungs-, sozial- und gleichstellungspolitischen Zielen abgestimmt werden, was gleichzeitig dazu führt, dass die pädagogischen Aufgaben und Zielsetzungen ständig reflektiert werden müssen. Während „also vorrangig auf externe Erwartungen reagiert wird, stellt sich das Betreuungssystem aus der Position des Kindes als ein sozialer Ort der Transitionen zwischen Familie, Markt und Staat dar, welche die alltägliche Lebensführung (horizontal) sowie Lebenschancen (vertikal) ermöglichen und begrenzen“ (Braches-Chyrek u. a. 2012: 12). Bildungsteilhabe und Partizipation sind Teil übergreifender konflikthafter gesellschaftlicher Dynamiken „und nehmen mit dem Ziel der Demokratisierung darauf Einfluss. Es geht mit einer Stärkung von Bildungsteilhabe darum, u. a. ökonomische, soziokulturelle und geschlechtsabhängige vertikale Hierarchien zwischen den Nachkommen unterschiedlich privilegierter Gruppierungen zu vermindern, indem benachteiligten Kindern Teilhabe im Bildungswesen ermöglicht wird. Mit der Stärkung von Partizipation geht es darum, vertikale Hierarchien im Generationenverhältnis – also die Macht der älteren und die Ohnmacht der jüngeren Generation – zu begrenzen“ (Prengel 2016: 13) – und zwar auf allen Ebenen und prinzipiell, wie dies auch in der UN-Kinderkonvention und den Kinderrechten sich niedergeschlagen hat.

Auch wenn die Kita erfolgreich darin ist, allen Kindern unabhängig von ihrer ökonomischen und soziokulturellen Herkunft und ihren individuellen Fähigkeiten im Prinzip Zugang zu Bildung zu verschaffen, darf nicht übersehen werden, dass dies den Bereich auch vor große Herausforderungen stellt: Zwar werden Kinder aus unterschiedlichen Lebenslagen und sozialen Milieus erreicht, aber dies bedeutet nicht automatisch, dass die z. B. mit Armutslagen2, Alleinerziehenden- oder Migrationsstatus etc. verbundenen Risiken und Einschränkungen auf Seiten der Kinder (und Eltern) auch kompensatorisch bewältigt werden (können). Dies liegt z. T. gerade am Erfolg der Kita: In dem Maße, in dem sie zum normalen, von fast allen Kindern besuchten Regelangebot wird, muss sie sich mit der Heterogenität ihrer Adressat*innen (Kindern und Eltern), die von unterschiedlichsten (Lern-) Ausgangslagen, Entwicklungsständen, Fähigkeiten, ethnisch-kulturellen Herkünften und sozio-ökonomischen Milieus bestimmt ist, nicht nur auseinandersetzen, sondern diese systematisch – konzeptionell und vor allem praktisch – berücksichtigen. Mit der relativ jungen Debatte um „Inklusion“ kommt eine weitere Dimension hinzu: die konsequente Öffnung für die Pluralität der Lernenden, sprich der Kinder, unabhängig von ihren individuellen Fähigkeiten, um so der pädagogischen Segregation vorzubeugen bzw. ihr entgegenzuarbeiten.

Angesichts dieser Komplexität der Aufgaben, mit denen sich der Kita-Bereich konfrontiert sieht und die Erzieher*innen im Berufsalltag auch manchmal an ihre Grenze bringen oder überfordern, ist es nicht verwunderlich, dass es sowohl Hinweise darauf gibt, dass sich trotz Kitabesuch Bildungsungleichheiten und -chancen schichtspezifisch reproduzieren, wie darauf, dass auch im Kindergarten in der alltäglichen Kommunikation der Erzieher*innen mit den Kindern Ungleichheiten inszeniert und produziert werden (vgl. Beyer 2013). Kitas wie Schulen und Einrichtungen der Hilfen zur Erziehung sind im Umgang mit sozialen Unterschieden alles andere als passive Instanzen. Mit ihren Organisationsstrukturen, Programmen, offenen und unausgesprochenen Regeln, dem Handlungswissen der Fachkräfte, mit ihren Kommunikationsformen und Routinen sind sie an der Verfestigung oder Veränderung sozialer Unterschiede aktiv beteiligt. Gesellschaftliche Machtverhältnisse finden sich immer auch in den Strukturen von Kitas und Schulen; sie sind eingebaut in die Mechanismen ihres Funktionierens, z. B. in Selektionsmechanismen der Schulen, die Rückwirkungen auch auf Kitas haben, als Mechanismen der Homogenisierung und Normierung von Kindern. Dominanzverhältnisse oder Marginalisierungsprozesse, die als „normal“ und üblich gelten, können kaum als solche benannt oder skandalisiert werden. Die Ausgrenzung ist eingelassen in die gesellschaftlichen Strukturen, sie ist effektiv ohne direkte, persönliche rassistische Übergriffe oder Gewalttaten. Sie funktioniert lautlos – aus der Sicht der dominierenden Gruppe (vgl. Wagner 2003: 1).3

Wie tief lebensweltlich verankerte ethnozentristische Vorstellungen auch im wissenschaftlich-professionellen Kontext anzutreffen sind, zeigt Hamburger an einem Beispiel aus dem 14. Kinder- und Jugendbericht. Die Passage beginnt mit einer anschaulichen Reflexion über den Wandel des Aufwachsens in Deutschland:

„In diesem einleitenden Text werden die später differenziert referierten Studien zur Lage der Kindheit und Jugend zusammengefasst. Dort findet sich auch ein Abschnitt zur Migration und zum Aufwachsen mit Migrationshintergrund, aber spezielle Aspekte werden nur dieser besonderen Gruppe zugeschrieben. So auch in der Einleitung: ‚In Deutschland wächst eine erhebliche Zahl an Kindern und Jugendlichen auf, für die es zum Alltag gehört, dass ihre Eltern nicht hierzulande geboren sind und dass ihre Großeltern zumindest zum Teil nicht hier in Deutschland leben. Sie erleben Heterogenität in vielen alltäglichen Dingen von Kindesbeinen an. Sie entwickeln daraus Stärken und Kompetenzen, sie müssen aber oft auch mit den Widersprüchlichkeiten und Ungleichzeitigkeiten, mit den widerstreitenden Mustern der Lebensführung ganz unterschiedlicher Kulturen, Lebensstile und Wertesysteme zurechtkommen, sie erleben die Ambivalenzen kultureller Heterogenität vielfach am eigenen Leib. Die traditionell enge Verwobenheit von Lebensort, Lebensalltag und Lebensstilen ist ihnen fremd. Vermeintliche Selbstverständlichkeiten verlieren ihre Eindeutigkeit und werden eher zu einer allgegenwärtigen Differenzerfahrung.‘ (S. 56) […] Warum werden bestimmte Merkmale einer Gruppe zugeschrieben oder nur einer Gruppe?

Der Jugendbericht analysiert das Aufwachsen in modernen Gesellschaften so, dass die genannten Erfahrungsmerkmale für alle Kinder zutreffen, dass die kulturelle und soziale Differenziertheit der Gesellschaft als universell verbreitet angenommen werden kann. In diesen strukturellen Beschreibungen werden diese personenunabhängig, also nicht aus der Perspektive der Kinder und Jugendlichen beschrieben. Hier aber wird scheinbar die Perspektive der Kinder eingenommen, auch wenn man diese rein hypothetisch formulieren muss. Die Erfahrung von Fremdheit wird ihnen zugeschrieben, die sie doch in Deutschland schon aufgewachsen sind. Eine einfache Umkehr der Wahrnehmungsperspektive, subjektiv möglicherweise aus dem Bestreben, verstehen zu wollen, motiviert, verschiebt die Fremdheitswahrnehmung aus der Beobachterperspektive in die Beobachtetenperspektive. Heterogenität, Widersprüchlichkeiten, Ungleichzeitigkeiten, widerstreitende Muster – alle diese Strukturmerkmale der einheimischen Gesellschaft werden als verdichteter Erfahrungshorizont einer ausgewählten und wohldefinierten Gruppe zugeschrieben. Vor allem die behauptete ‚enge Verwobenheit von Lebensort, Lebensalltag und Lebensstilen‘ ist bemerkenswert. Üblicherweise wird mit dieser Trias von Elementen die Lebenswelt ‚Heimat‘ beschrieben und vielleicht handelt es sich hier um eine Projektion von Harmonievorstellungen oder -wünschen auf eine Gruppe, die als Migrant*innengruppe ‚offensichtlich‘, nämlich ganz von außen betrachtet, diese Harmonie nicht erleben kann.“ (Hamburger 2015: 6f. – Hervorh. d. V.)

Eingebaut in Mechanismen des Funktionierens sind ebenfalls Prozesse des Ineinandergreifens von Klasse und Geschlecht bei der (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit. Das zeigt sich für das Kind zunächst in der inneren Dynamik der Familie und der ihr zur Verfügung stehenden Netzwerke und fragmentierten Unterstützungssysteme. In dem Maße, in dem im öffentlichen Diskurs über Ungleichheit „insbesondere Fragen nach der persönlichen Schuld von Eltern, nach dem Versagen von Familien, nach einseitigen Geschlechtsrollenangeboten in den Mittelpunkt des Interesses [rücken] […], werden [strukturelle Defizite] tendenziell übergangen und die Kritik […] auf die inneren Prozesse von Familien gelenkt. In dessen Folge geraten insbesondere die mütterlichen Erziehungsleistungen […] in den Blick, wohingegen die sozialen Rahmenbedingungen wie sozialer Status, die Arbeitsverhältnisse, das Verhältnis von Schule [nebst Kita, F. P.] und Familie, das familiäre Zeitbudget, die materielle Situation der Familie und eine Unterfinanzierung der pädagogischen Institutionen als gegeben hingenommen werden.“ (Andresen 2008: 37)

Diese Prozesse, die letztlich aus ökonomischen Prozessen, politischen Diskursen und daraus bedingten sozialen Lagen resultieren, werden auch reproduziert vermittels in Normalitätsvorstellungen der sozialpädagogischen Fachkräfte eingelassenen und immer auch schon gegenderten und ethnisierten und mit sozialen Adressierungen oder sozialen Zensuren (vgl. zum Begriff der ‚social censures‘: Sumner 1990) verbundenen Typisierungen und Deutungsmustern. Sowohl im Kita-Bereich als auch in den HzE sind besonders solche Deutungsmuster relevant, die ein Bild von Familie transportieren, das regelhaft die Orientierung am Modell der bürgerlichen Kleinfamilie beinhaltet und diese als gesellschaftliche, generationale und geschlechterdifferenzierte Ordnungsvorstellung wie normatives Ideal institutionalisiert und zu einer politisch privilegierten Lebensform erhebt – gekennzeichnet u. a. durch Privatheit, Intimität und Emotionalität, ‚Kinderaufzucht‘ und Care. Im Zuge des Strukturwandels von Familie seit den 1970er Jahren hat dieses Bild zwar einige Risse bekommen, ist aber nach wie vor – entgegen aller Empirie – sehr stabil. Erst in jüngerer Zeit wird Familie als eine zunehmend anspruchsvolle Gestaltungsaufgabe im Sinne eines „doing familiy“ betrachtet, durch „das sich eine spezifische familiale Lebensführung, ein familienspezifischer Habitus und eine familiale Identität herausbilden. Hier werden auf der einen Seite die Diversität der Familien und der Zusammenbruch der alltäglichen Konventionen und Gewohnheiten bei der Gestaltung des Familienlebens konstatiert […], die sich aus der Pluralisierung der Familienformen (z. B. durch Ein-Eltern-Familien, Patchwork-Familien oder der Veränderung von Geschlechterrollen), aber auch aus der Zunahme von Migrationsprozessen und transnationalen Alltagspraktiken in Familien ergeben. […] Daraus ergibt sich ein enges und ambivalentes Geflecht aus Wandel und Kontinuität von Leitbildern einerseits sowie alltäglichen Praktiken andererseits.“ (Bauer u. a. 2015: 27)

Im Zuge der erhöhten bildungsbezogenen Erwartungen an Familien seitens des aktivierenden, sozialinvestiven Staates werden zugleich Bilder von Familien generiert und wirksam, in denen das gängige Familienbild um „benachteiligte“ bzw. „unvollständige“ oder „bildungsferne“ Familien gleichsam als defizitäres Gegenbild zur verantwortungsbewussten und bildungsaffinen Familie ergänzt wird. Obgleich der Zusammenhang von (Einkommens-)Armut, deren immateriellen Folgen und mangelndem Bildungserfolg immer wieder belegt wird, führt diese Erkenntnis eben doch „häufig zu einer individualisierend-moralischen Perspektive, die die Stigmatisierung von sozial benachteiligten Familien im Bild der ‚bildungsfernen Familie‘ nunmehr verdoppelt“ (Bauer u. a., a. a. O.: 28). Sozialstrukturelle Bedingungen geraten angesichts der Reduktion sozialer Problemlagen auf eine „Kultur der Unterschicht“ in den Hintergrund. Als Folge muss man davon ausgehen, dass Mütter und Väter aus den so adressierten sozialen Milieus weniger Chancen haben, dass ihre Sichtweisen in den pädagogischen Institutionen gehört und anerkannt werden. „,Unpassende‘ Sichtweisen und Strategien von Eltern werden (nicht) als ein Strukturmoment eines symbolischen Gewaltverhältnisses“ erkannt. „Den betreffenden Vätern und Müttern wird stattdessen aus Institutionenperspektive fehlende Kooperationsbereitschaft vorgeworfen, was zur Reproduktion dieses Ungleichverhältnisses führt.“ (Bischoff u. a. 2017: 214)

Solche zunehmend kulturalistisch eingefärbten und von sozialen, gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen abstrahierenden Familienbilder werden sowohl massenmedial vermittelt als auch in Ausbildungen eingeübt – mit der Folge, dass man sich ihnen kaum entziehen kann.4 Mit den angesprochenen Familienbildern verbunden sind bestimmte Vorstellungen von „guter Erziehung“, deren Ergebnis (fast) niemals „problematische Kinder“ sein können, was im Umkehrschluss bedeutet, dass bei „schwierigen Kindern“ zugleich die Erziehungsfähigkeit der Familie, Eltern oder Elternteilen zur Diskussion steht. Bauer u. a. (2015) haben ferner festgestellt, dass Professionelle einen engen Zusammenhang zwischen Erziehungskompetenz und Milieu herstellen. Bei Familien aus nichtbürgerlichen Milieus wird relativ schnell deren Erziehungskompetenz angezweifelt. Hierüber wird dann zugleich eine bestimmte Relation, eine hierarchische Verhältnisbestimmung in der Zusammenarbeit zwischen Kita/HzE und Familie, zwischen den sozialpädagogischen Fachkräften und den Familien(angehörigen) mit thematisiert und hergestellt, bei der die eine Seite (Familie) mit Defiziten behaftet wird und maximal als Nachfragerin nach pädagogischen Dienstleistungen auftritt. Stellen sich Bildungs- oder Erziehungserfolge ein, werden sie eher einseitig der institutionellen Seite, sprich der jeweils eigenen Einrichtung/Arbeit, zugerechnet.

Wie Familienbilder in einem widersprüchlichen Verhältnis von Wandel und Kontinuität stehen, so variieren die Beschreibungen damit verbundener Bilder von Kindern historisch und kontextuell, zumal unter dem Einfluss von Wissenschaft. Kelle/Tervoren (2008) formulieren diesbezüglich, dass „sich nicht die Kinder (allein), sondern die entwicklungsbezogenen Evaluations- und Diagnoseinstrumente, das Bild des Kindes und die institutionellen Arrangements, die Kindern und Eltern zur Verfügung gestellt werden, gewandelt haben“ (Kelle/Tervoren, zit. nach Betz/Bischoff 2013: 62). Die Vorstellungen vom Kind bzw. die Perspektiven auf Kinder sind dabei vielschichtig; sie reichen von entwicklungspsychologisch-sozialisationstheoretisch beeinflussten Vorstellungen, nach denen Kinder in die Gesellschaft hineinwachsen, bis zu solchen, die eher von Kindern als „kompetenten Akteuren“ ausgehen, die ihren Eigensinn für sich selbst entwickeln müssen.

„Dabei beziehen sich diese Konstruktionen in Teilen auf alle Kinder, teilweise aber auch auf spezifische Teilgruppen […] wie z. B. Kinder mit Migrationshintergrund […], Jungen oder arme Kinder. Letztere werden – im Kinderarmutsdiskurs – als psychisch und physisch nicht gesund, als verhaltensauffällig, bildungsarm und potentiell gewalttätig konzipiert (vgl. Mierendorf 2008). Dabei stehen die Konstruktionen von (normalen) Kindern in enger Verbindung zu den kindbezogenen Institutionen und dort gängigen sozialen Praktiken“ (Betz/Bischoff 2013: 63). Insbesondere vermittels der zunehmenden Beobachtungsund Beurteilungsaufgaben in der Kita, der Beschreibung von Entwicklungsverläufen bis hin zu diversen „Reifetests“ etc., werden (statistisch) normale und davon abweichende Lebensläufe klarer unterscheidbar und die entsprechenden Bilder immer schärfer gefasst. Prozesse der Normalisierung, Normierung und Standardisierung der Lebensphase Kindheit zeigen sich u. a. in den verschiedenen medizinischen, psycho-sozialen Diagnoseverfahren und pädagogischen Dokumentationssystemen zur Beobachtung und Vermessung kindlicher Entwicklung. Über den Vergleich so gewonnener Daten mit denen der Alterskohorte können normalistische Wissensbestände über die angemessene, aber auch „fehlerhafte“ oder risikobehaftete Entwicklung heutiger Kinder gewonnen werden und ihre Wirkmächtigkeit entfalten. Parallel werden Vorstellungen davon entwickelt, was zur Risikominderung getan werden soll. Im Kitakontext legen „Risikokinder“ z. B. als „emotional instabile“ Kinder psychologische Betreuung und Kooperationen zwischen Eltern und Kita nahe, während andere Klassifizierungen weniger Handlungsmöglichkeiten bieten bzw. andere Kooperationspartner benötigten oder gar – im Falle kollektiver Risikolagen – gänzlich außerhalb der Reichweite von Kita wie HzE lägen.

Neben situativen Beobachtungen sind es solche und ähnliche Wissensbestände, die Erzieher*innen und Sozialarbeiter*innen/-pädagog*innen nutzen und die sie veranlassen, Kinder ggfs. als „schwierig“, „problematisch“, „abweichend“ o. ä. zu adressieren, und die in der Folge dazu beitragen (können), Kinder – und dann im Verlauf des Prozesses eventuell auch deren Eltern – aktiv zu benachteiligen und auszugrenzen oder sie zumindest als „gefährdet“/„gefährdend“ oder „hilfsbedürftig“/„beratungsresistent“ oder „risikobehaftet“ etc. zu beschreiben.

Spätestens hier und jetzt ist der Bereich der Hilfen zur Erziehung – Jugendamt/Allgemeiner Sozialer Dienst sowie Träger und Einrichtungen von Hilfen zur Erziehung – angesprochen, bei dem ggfs. um Rat nachgesucht wird oder an den solche Fälle dann delegiert werden, vordergründig, weil Hilfen zur Erziehung ja dafür – arbeitsteilig spezialisiert und rechtlich kodifiziert – zuständig sind. Will man die hiermit verbundenen Brüche und Delegationen oder Segregationen, die u. U. den Verlust alltäglicher und normaler Zugehörigkeiten (hier: Kita) zur Folge haben können, vermeiden, stellt sich nahezu automatisch die Frage der nicht exkludierenden Kooperation dieser beiden Bereiche. HzE und Kita verfügen aber bislang kaum über gemeinsame Verbindlichkeiten, Arbeitsformen und -methoden im Umgang mit Situationen, in denen ein erhöhter Erziehungs- oder Hilfebedarf einzelner Kinder besteht. In der Regel folgen die Bereiche unterschiedlichen Handlungsphilosophien und -logiken inkl. der impliziten und expliziten Begründungen für ihr jeweiliges Handeln. Idealtypisch reflektiert sich Kita (zunehmend) in Termini von Bildung, HzE dagegen, wie der Name schon bedeutet, als „Hilfe“, was sich auch in unterschiedlichen Sprachspielen, Routinen etc. niederschlägt. Ein weiteres Problem aktueller Kooperation ist, dass die Kita im Ausgangspunkt gruppenbezogen arbeitet, die HzE aber ganz überwiegend einzelfallorientiert, wobei das nähere soziale Umfeld (zumeist die Familie) einbezogen wird.

Würde man eine hieraus abgeleitete Kooperation nur so und gleichsam additiv verstehen, verbliebe man letztlich institutionenlastig und normativ/appellativ, stellte aber die Logik, die Grund für die Kooperationsforderung war – nämlich die unterschiedliche Adressierung der Kinder und Familien –, nicht wirklich in Frage. Positiv formuliert geht es ja darum, an Stelle politisch symbolisierter Erwartung bei gleichen Kosten durch Kooperation Synergieeffekte zu erzielen und die Leistungsfähigkeit der ansonsten gleichbleibenden Institutionen zu erhöhen, gemeinsam neue generative Handlungsorientierungen zu erarbeiten. Andererseits aber muss man wohl Probleme, die Institutionen wie Kita und HzE auf den Ebenen der (pädagogischen) Interaktion wie Organisation zeitigen, in eine Interventionssprache, sprich in eine Forderung, transformieren, wenn wir daran festhalten wollen, neue Optionen zu eröffnen (vgl. auch Lenz i. d. Bd.). Dies erklärt, nebenbei gesagt, auch den oftmals aufzufindenden präskriptiven Duktus im Kontext von Reformdebatten (vgl. Peters 2007: 68ff.).

Ein nächster Aspekt, der die Zusammenarbeit ebenfalls beeinflusst, wird von Thole in Anschluss an Cloos benannt, der darauf hingewiesen hat, dass die Mitarbeiter*innen in pädagogischen Einrichtungen – entsprechend der jeweiligen formalen Qualifikationen sowie abhängig von den jeweiligen Teampositionen – über eine je unterschiedliche Definitionsmacht verfügen. In der Regel werden denjenigen, die einen fachlichen und/oder höheren Ausbildungsabschluss und eine höhere formale Stellung vorweisen können, mehr Definitionsrechte zugestanden (vgl. Thole 2010: 214f.) – in unserem Fall also tendenziell den Sozialarbeiter*innen in den ASDen bzw. den HzE. „Höhere Qualifikationsabschlüsse scheinen mit höheren Begründungs- und Reflexionsverpflichtungen, komplexeren Deutungen des beruflichen Alltags, höhersymbolischen Sprachstilen und der Aktivierung von komplexeren Wissensdomänen verbunden zu sein (vgl. Barnett 2004; Cloos 2008; Beher 2004).“ (Thole 2010: 214) Diese Einschätzung korrespondiert mit der Erwartung, nach der Sozialarbeiter*innen – idealerweise – in der Lage sein sollten, als problematisch wahrgenommene „Fälle“ (Kinder, Familien etc.) unter Rückgriff auf wissenschaftliches Wissen analytisch aufzuschlüsseln, um eine angemessene Handlungsorientierung zu gewinnen. Insbesondere gilt es zu berücksichtigen, dass und wie solche Fälle 1.) immer eingebettet sind in strukturell gerahmte Lebensverhältnisse und Handlungskonstellationen, dass sie 2.) primär Problemlösungsversuche auf Seiten der handelnden Kinder/Eltern, verallgemeinert: Betroffenen, darstellen, um ihre Handlungssouveränität zu erhalten, sowie 3.) sozial konstruiert sind, was u. a. heißt, selbstreflexiv die nicht auflösbare Beteiligung der eigenen Institution (Kita oder HzE) an der Fallkonstitution qua Adressierungsweisen zu berücksichtigen. Ungeachtet der Frage, ob Sozialarbeiter*innen tatsächlich (immer) ihre Praxis unter Rückgriff auf wissenschaftlich gewonnenes Wissen und dadurch unterfütterte Kompetenzen realisieren, was durchaus partiell bestritten wird, wird Fachkräften in der Kita dies nahezu generell abgesprochen: Das in der Qualifikationsphase erworbene Wissen wird von Erzieher*innen „nicht durchgängig für die erfolgreiche Ausbuchstabierung des pädagogischen Alltags herangezogen […] und die Berufspraxis weitgehend ohne expliziten Rückgriff auf wissenschaftliches Wissen realisiert“ (Thole 2010: 214).

Im Zwischenbericht des Projekts haben wir zur Kooperation u. a. ausgeführt:

„In der Außenperspektive von Kita seitens des ASD wird Kita nicht als permanenter Kooperationspartner wahrgenommen. ASD-Mitarbeiter*innen nennen hierfür vor allen Dingen ihren vorherrschenden Zeitmangel als Grund. […] Eine ambivalente Haltung von ASD-Fachkräften gegenüber der Kita ergibt sich aus der durchweg geäußerten Anerkennung für die ‚wichtige Arbeit‘ in einem anspruchsvollen Arbeitsfeld bei begrenzten Ressourcen, aber zugleich als eher nur ‚fallweise‘ erlebtem Kooperationspartner. Die diesbezügliche Einschätzung schwankt zwischen den Polen ‚für uns ja nicht so wichtig‘ bis (zur sozial erwünscht gedachten Antwort?) ‚ein wichtiger Partner‘. Diese Ambivalenz nehmen auch Kita-Mitarbeiter*innen ähnlich wahr, wenn sie in einzelnen Interviews berichteten, die Erfahrung gemacht zu haben, dass der ASD in Bezug auf Familien, die sowohl in der Kita angebunden sind als auch im Rahmen von HzE im ASD auftauchen, Entscheidungen trifft, ohne sich diesbezüglich mit der Kita abzustimmen; zum Teil sogar, ohne die Kita über getroffene Entscheidungen (etwa bei einem Sorgerechtstreit) zu informieren. Hier bildet sich möglicherweise ein Anspruch auf eine höhere Deutungsmacht des ASD gegenüber der Kita ab – exemplarisch findet sich der Bezug auf eine hierarchische Ordnung etwa in der Äußerung einer ASD-Fachkraft, der zufolge sie Erzieher*innen als ‚komisches Völkchen‘ wahrgenommen hat. Dass dieser Eindruck eher zu Beginn der Kooperation zwischen ASD und Kita bestand, deutet jedoch stärker auf eine Fremdheit zwischen den unterschiedlichen Professionsbereichen hin, welche sich über ein persönliches Kennenlernen offensichtlich schrittweise abbauen ließ.

Entscheidend im Selbst- und Fremdverständnis zwischen Kita und HzE/ASD scheint zudem die Definition von professionellen Zuständigkeiten entlang der unterschiedlichen Arbeitsfelder zu sein. Der ASD sieht sich – wohl realistisch – selbst als Bereich, der einen umfassenderen Blick und eben nicht nur die Kinder im Blick hat und nicht nur auf die Ebene der Interaktion Eltern-Kind schaut. Auch wird – zumindest latent – ein Kompetenzgefälle unterstellt, was sich u. a. darin ausdrückt, dass, wie in einem Interview ganz dezidiert, davon gesprochen wird, Kita-Mitarbeiter*innen manchmal über die Schiene ‚Kindeswohlgefährdung‘ den ASD gegenüber nicht kooperationswilligen Eltern zu instrumentalisieren suchten, aber eigentlich kein Wissen von den Möglichkeiten des ASD und von den Voraussetzungen einer Kindeswohlgefährdung hätten. Grundsätzlich sehen – dies mit aller Vorsicht wegen der ‚schiefen Datenlage‘ gerade im quantitativen Teil – ASD-Mitarbeiter*innen aus den HzE die Dinge etwas entspannter als Kita-Mitarbeiter*innen, obwohl beide Gruppen eine Zunahme von Problemen bei Kindern und Eltern wahrnehmen. Die Probleme werden dabei vor allem (individualisierend) als Zunahme ‚psychischer Auffälligkeiten‘ – vereinzelt durchaus auch bedingt durch Armutsphänomene, denen gegenüber man aber keinerlei Einflussmöglichkeiten sieht – gedeutet. Die bedeutsame Frage für die Projektentwicklung ist hier, ob es gelingt, eine Kultur des ‚Gemeinsamen-sich-zuständig-Fühlens‘ und eine Bereitschaft zur gemeinsamen Verantwortungsübernahme zwischen Kita und HzE zu entwickeln statt des Versuchs, als ‚schwierig‘ erlebte Kinder eher hin- und herzuschieben (sprich sich wechselseitig für ‚nicht-zuständig‘ zu erklären), um möglichst Entlastung in der eigenen Einrichtung bzw. der eigenen Arbeit zu erfahren. […]

Neben der Beobachtung kindlichen Verhaltens tauchen Schwierigkeiten auch im Austausch mit Eltern auf. Hierbei bildet immer wieder die zum Teil unterschiedliche Problemwahrnehmung und entsprechend eingeschätzten Handlungsbedarf zwischen Kita-Fachkräften und Kindeseltern einen Spannungspunkt. Diese Schwierigkeiten im Umgang mit Eltern werden dem subjektiven Eindruck von Kita-Mitarbeiter*innen zu Folge wiederholt als schwerer lösbar gegenüber jenen Schwierigkeiten, die im Kontakt mit den Kindern auftreten, beschrieben: ‚Schwierige Eltern sind uneinsichtige Eltern, die, ähm, letztendlich keine Bereitschaft haben, Hilfen über Kita oder Beratungsstellen oder Jugendamt anzunehmen. Und die letztendlich auch mit der eigenen Störung/Persönlichkeit eher beschäftigt sind und dadurch die Bedürfnisse der Kinder nicht gut im Blick haben.‘ (Kita-Interview 1, Absatz 82/83)

Diese negative Attributierung der Eltern ist keine Kita-Besonderheit, sondern kommt auch im ASD vor.“ (Kannicht u. a. 2016: 16ff.)