WOW_Vor_dem_Sturm_Cover.jpg

AUSERDEM VON PANINI ERHÄLTLICH:

WORLD OF WARCRAFT: Krieg der Ahnen I –
Die Quelle der Ewigkeit

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-3534-4

WORLD OF WARCRAFT: Krieg der Ahnen II – Die Dämonenseele

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-3535-1

WORLD OF WARCRAFT: Krieg der Ahnen III – Das Erwachen

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-3536-8

WARCRAFT: Der offizielle Roman zum Film

Christie Golden, ISBN 978-3-8332-3267-1

WARCRAFT: Durotan – Die offizielle Vorgeschichte zum Film

Christie Golden, ISBN 978-3-8332-3266-4

WORLD OF WARCRAFT: Illidan

William King, ISBN 978-3-8332-3265-7

WORLD OF WARCRAFT: Der Lord der Clans

Christie Golden, ISBN 978-3-8332-3444-6

WORLD OF WARCRAFT: Der letzte Wächter

Jeff Grubb, ISBN 978-3-8332-3445-3

WORLD OF WARCRAFT: Der Aufstieg der Horde

Christie Golden, ISBN 978-3-8332-3446-0

WORLD OF WARCRAFT: Kriegsverbrechen

Christie Golden – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2858-2

WORLD OF WARCRAFT: Der Untergang der Aspekte

Richard A. Knaak – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2859-9

WORLD OF WARCRAFT: Vol’jin – Schatten der Horde

Michael Stackpole – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2617-5

WORLD OF WARCRAFT: Jaina Prachtmeer – Gezeiten des Krieges

Christie Golden – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2523-9

WORLD OF WARCRAFT: Wolfsherz

Richard A. Knaak – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2233-7

Weitere Titel und Infos unter www.paninibooks.de

Roman

Von Christie Golden

Ins Deutsche übertragen von
Andreas Kasprzak & Tobias Toneguzzo

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Englische Originalausgabe: „World of Warcraft: Before the Storm“ by Christie Golden published in the US by Del Rey, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC, New York, Juni 2018.

Copyright © 2018 Blizzard Entertainment, Inc. All Rights Reserved.

Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87, 70178 Stuttgart.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: marketing@panini.de)

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Andreas Kasprzak & Tobias Toneguzzo

Lektorat: Thomas Gießl

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Book design by Mary Wirth

Satz und E-Books: Greiner & Reichel, Köln

YDWCTP011E

ISBN 978-3-7367-9975-2

Gedruckte Ausgabe:

ISBN 978-3-8332-3537-5

1. Auflage, Juli 2018

Findet uns im Netz:

PaniniComicsDE

Dieses Buch ist drei Menschen gewidmet,
die sich für diesen Roman eingesetzt und ihn sogar
noch besser gemacht haben:

Tom Hoeler, mein Editor bei Del Rey,

Cate Gary, mein Editor ein paar Schritte
entfernt bei Blizzard,

und Alex Afrasiabi, der Kreativdirektor
von World of Warcraft.

Ich danke euch von ganzem Herzen dafür,
dass ihr die Charaktere und die Welt liebt,
dass ihr gleichzeitig auf die kleinen Details und
das große Ganze achtet, dass ihr diesen Weg
mit mir erforscht, und dafür, dass ihr Vor dem Sturm
zu dem besten Buch machen wolltet,
das es nur sein konnte.

PROLOG

Silithus

Kezzig Klapperpfeife richtete sich von der Stelle auf, wo er gefühlt mindestens ein Jahrzehnt gekniet hatte, dann schob er die großen grünen Hände hinter den Rücken und verzog das Gesicht, als es mehrmals knackste. Er fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und blickte sich um, die Augen gegen das blendend grelle Sonnenlicht zusammengekniffen, und wischte sich dabei mit einem schweißverkrusteten Taschentuch über den kahlen Schädel. Hie und da sah er eng zusammengedrängte, wogende Insektenschwärme. Und natürlich war da auch der Sand, überall, und der Großteil davon würde vermutlich in Kezzigs Unterwäsche enden. Genau wie gestern. Und vorgestern.

Mann, war Silithus ein hässlicher Ort.

Und dass ein wütender Titan ein riesiges Schwert hineingerammt hatte, machte es nicht gerade hübscher.

Das Ding war riesig. Gigantisch. Kolossal. Und all die anderen hochtrabenden, schicken, mehrsilbigen Wörter, mit denen ein etwas gebildeterer Goblin es überschütten würde. Es war tief ins Herz der Welt gerammt worden, direkt hier im malerischen Silithus. Das Ganze hatte natürlich auch einen Vorteil, schließlich barg das gewaltige Artefakt einen Großteil dessen, wonach Kezzig und die knapp einhundert weiteren Goblins gerade suchten.

„Jixil?“, wandte er sich an seinen Begleiter, der einen schwebenden Fels mit dem Betracht-o-Matik 4000 untersuchte.

„Ja?“ Der andere Goblin warf einen Blick auf die Anzeige, schüttelte den Kopf und versuchte es von vorne.

„Ich hasse diesen Ort.“

„Is’das so? Hm. Spricht für Euch.“ Der kleinere, gedrungenere Goblin starrte das Instrument wütend an und verpasste ihm einen geräuschvollen Schlag.

„Haha, sehr witzig“, grummelte Kezzig. „Nein, ich mein’s ernst.“

Jixil seufzte, schlurfte zu einem anderen Felsen und begann, ihn zu examinieren. „Wir alle hassen diesen Ort, Kezzig.“

„Nein, wirklich. Ich bin nicht für so eine Umgebung gemacht. Ich habe früher in Winterquell gearbeitet. Ich bin die Art Goblin, die den Schnee liebt und sich am warmen Feuer räkelt. Fröhlich und unbeschwert.“

Jixil bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. „Und warum seid Ihr dann hergekommen, anstatt dort zu bleiben, wo Ihr mir nicht auf die Nerven geht?“

Kezzig schnitt eine Grimasse und rieb sich den Nacken. „Wegen des kleinen Fräuleins Lunnix Schmierspross. Ihr müsst wissen, ich habe in ihrem Bergbauladen gearbeitet. Hin und wieder habe ich auch den Fremdenführer für Besucher in unserem gemütlichen, kleinen Dörfchen, der Ewigen Warte, gespielt. Lunnix und ich, wir waren quasi … ja.“ Einen Moment lächelte er voller Nostalgie, dann verzog er das Gesicht. „Und dann war sie plötzlich schrecklich beleidigt, weil sie mich dabei erwischt hatte, wie ich Zeit mit Gogo verbrachte.“

„Gogo“, wiederholte Jixil tonlos. „Oh, Mann. Lunnix war also böse auf Euch, weil Ihr mit einem Mädchen namens Gogo herumhängt. Wie kann sie nur?“

„Genau! Ich meine, was soll das denn? Es ist kalt dort oben. Da muss ein Goblin sich ab und an ans Feuer legen, wenn er nicht erfrieren will, richtig? Aber wie gesagt, plötzlich wurde die Sache heißer, als jeder Mittag hier es sein könnte.“

„Hier ist nichts“, erklärte Jixil. Er hatte offensichtlich aufgehört, Kezzigs Erzählung über seine Misere in der Ewigen Warte zu lauschen. Mit einem Seufzen nahm Kezzig den großen Rucksack mit Ausrüstung, warf ihn sich über die Schulter und trug ihn zu der Stelle hinüber, wo Jixil noch immer auf ein positives Ergebnis hoffte. Anschließend ließ er den Rucksack auf den Boden fallen, und das Geräusch empfindlicher Instrumente erklang, die gefährlich laut gegeneinanderklirrten.

„Ich hasse Sand“, fuhr er fort. „Ich hasse die Sonne. Und, Mannomann, hasse ich Insekten. Ich hasse die kleinen, weil sie einem in die Ohren und in die Nase krabbeln, und ich hasse die großen, weil sie groß sind. Ich meine, wer hasst sie nicht? Das ist so was wie universeller Hass. Aber mein Hass brennt mit dem Licht von tausend Sonnen.“

„Ich dachte, Ihr hasst Sonnen.“

„Ja, aber …“

Plötzlich versteifte Jixil sich. Seine violetten Augen weiteten sich, während er auf seinen Betracht-o-Matik starrte.

„Was ich meinte, ist …“

„Klappe, Ihr Idiot!“, schnappte Jixil. Jetzt blickte auch Kezzig auf das Messgerät.

Es spielte vollkommen verrückt.

Die kleine Nadel ruckte hin und her, und das kleine Licht oben blinkte in einem drängenden, aufgeregten Rot.

Die beiden Goblins blickten einander an. „Wisst Ihr, was das bedeutet?“, fragte Jixil mit zitternder Stimme.

Kezzigs Lippen krümmten sich zu einem Grinsen, bei dem fast alle seine gezackten, gelben Zähne zum Vorschein kamen. Er ballte eine Hand zur Faust und schlug damit in die Handfläche.

„Es bedeutet“, sagte er, „dass die Konkurrenz einpacken kann.“

1. KAPITEL

Sturmwind

Es regnete, während die trauernde Menge zur Löwenrast schritt, ganz so, als würde der Himmel selbst um jene weinen, die ihr Leben gegeben hatten, um die Brennende Legion zu besiegen. Anduin Wrynn, der König von Sturmwind, stand ein paar Schritte von dem Podium entfernt, von dem aus er schon bald zu den Trauernden aller Allianzvölker sprechen würde. Schweigend beobachtete er, wie sie eintrafen, und er wünschte, er müsste keine Rede vor ihnen halten. Er war ziemlich sicher, dass diese Andacht zu Ehren der Gefallenen das Schwerste sein würde, was er in seinem relativ kurzen Leben erlebt hatte – und schwer nicht nur für die Trauernden, sondern auch für ihn selbst, schließlich fand dieses Ereignis im Schatten der leeren Gruft seines Vaters statt.

Anduin hatte schon an viel zu vielen Zeremonien teilgenommen, bei denen der Opfer des Krieges gedacht wurde. Und jedes Mal hoffte und betete er – so, wie es jeder gute Anführer tat, da war er sich sicher –, dass es das letzte Mal sein würde.

Doch das war es nie.

Irgendwoher kam immer wieder ein neuer Feind. Manchmal war er neu: eine Gruppe, die wie aus dem Nichts auf der Bildfläche erschien; oder etwas Uraltes, seit ewigen Zeiten gefangen oder begraben, dem Anschein nach unschädlich gemacht, das sich nach Äonen wieder erhob, um Schrecken und Zerstörung über die Unschuldigen zu bringen. Dann wieder war der Feind auf schmerzhafte Weise vertraut, aber so gut man ihn auch kannte, stellte er doch immer eine große Bedrohung dar.

Wie hatte sein Vater es nur geschafft, diesen Herausforderungen wieder und wieder zu trotzen, fragte sich Anduin. Oder sein Großvater? Sie befanden sich gerade in einer Phase relativer Ruhe, aber der nächste Feind, die nächste Herausforderung, würde zweifelsohne schon bald am Horizont heraufziehen.

Der Tod Varian Wrynns lag noch nicht allzu lange zurück, aber für den Sohn des großen Mannes fühlte es sich an, als sei seitdem ein ganzes Menschenalter vergangen. Varian war beim ersten echten Vorstoß in diesem jüngsten Krieg gegen die Legion gefallen, und die Verantwortung für seinen Tod lag angeblich nicht nur bei den monströsen, von Teufelsenergie erfüllten Kreaturen, die der Wirbelnde Nether ausgespien hatte, sondern auch bei seiner vermeintlichen Verbündeten, Sylvanas Windläufer, die ihn verraten hatte. Diese Version der Geschichte wurde jedoch durch die Schilderungen einer Person infrage gestellt, der Anduin vertraute; sie wollte wissen, dass Sylvanas keine andere Wahl gehabt hatte. Anduin war nicht sicher, was er glauben sollte. Der Gedanke an die gerissene, hinterhältige Anführerin der Horde machte ihn wütend, wie immer. Und wie immer rief er das Heilige Licht an, um Ruhe zu finden. Es brachte nichts, in seinem Herzen Hass gären zu lassen, nicht einmal, wenn dieser Hass auf einen Feind gerichtet war, der ihn derart verdiente. Stattdessen suchte Anduin Trost in dem Wissen, dass der legendäre Krieger im Kampf gestorben war, und dass sein Opfer vielen anderen das Leben gerettet hatte.

Und im selben Sekundenbruchteil war Prinz Anduin Wrynn König geworden.

Auf vielerlei Weise hatte Anduin sich sein ganzes Leben lang auf dieses Amt vorbereitet. Aber auf andere, sehr bedeutsame Weise war er nicht wirklich bereit dafür gewesen, wie er selbst nur zu gut wusste. Und vielleicht war er es noch immer nicht. Sein Vater war nicht nur in den Augen seines jugendlichen Sohnes überlebensgroß gewesen, sondern auch in denen seines Volkes – ja, und sogar in denen seiner Feinde.

Man hatte Varian wegen seiner Wildheit in der Schlacht Lo’Gosh genannt, den „Geisterwolf“, aber er war weit mehr gewesen als nur ein mächtiger Krieger mit überragenden Kampffertigkeiten. Nein, er war auch ein außergewöhnlicher Anführer gewesen. In den ersten Wochen nach dem erschütternden Tod seines Vaters hatte Anduin sein Bestes getan, um der trauernden, fassungslosen Bevölkerung Trost zu spenden, während die Menschen unter diesem Verlust litten, aber er hatte sich dabei nie wirklich selbst Gelegenheit zur Trauer gegeben.

Sie trauerten um den Wolf. Anduin hingegen trauerte um den Menschen.

Und wenn er nachts wach lag und nicht schlafen konnte, fragte er sich, wie viele Dämonen letzten Endes wohl nötig gewesen waren, um König Varian Wrynn zu ermorden.

Einmal hatte er Genn Graumähne von diesen Gedanken erzählt – dem König des gefallenen Reiches Gilneas, der es auf sich genommen hatte, den frischgebackenen Monarchen zu beraten. Der alte Mann hatte gelächelt, auch wenn seine Augen voller Trauer waren.

„Alles, was ich Euch dazu sagen kann, Junge, ist dies: Bevor sie ihn überwältigten, rettete Euer Vater ein Luftschiff voller flüchtender Soldaten, indem er eigenhändig den größten Teufelshäscher erschlug, den ich je gesehen habe. Varian Wrynn hat der Legion sein Leben teuer verkauft, da bin ich ganz sicher.“

Anduin zweifelte nicht daran. Es war nicht genug, aber es musste reichen.

Etliche Wachen hatten sich an diesem Tag in voller Rüstung eingefunden, um der Toten zu gedenken, aber Anduin hatte keine Rüstung angelegt; er war in ein weißes Seidenhemd, Handschuhe aus Lammleder, dunkelblaue Hosen und einen schweren, förmlichen Mantel mit goldenen Zierstreifen gewandet. Und seine einzige Waffe war ebenso ein Werkzeug des Friedens wie des Krieges: der Streitkolben Furchtbrecher, den er an seiner Seite trug. Als der ehemalige Zwergenkönig Magni Bronzebart dem jungen Prinzen die Waffe geschenkt hatte, hatte er erklärt, dass Furchtbrecher in manchen Händen Blut vergossen und in anderen Blutvergießen verhindert hatte.

Anduin wollte mit möglichst vielen der Trauernden sprechen und ihnen danken. Er wünschte, er könnte ihnen allen Mut spenden, aber die kalte, harte Wahrheit war: Es ging nicht. Dennoch fand er Trost in der Überzeugung, dass das Licht auf jeden Einzelnen herabschien … sogar auf einen müden jungen König.

Wissend, dass hinter den Wolken die Sonne wartete, hob er den Kopf und ließ die sanften Regentropfen wie eine Weihe auf sich niederfallen. Er erinnerte sich daran, dass es auch vor ein paar Jahren geregnet hatte, als bei einer ganz ähnlichen Zeremonie jene geehrt worden waren, die im Feldzug gegen den mächtigen Lichkönig das größte aller Opfer gebracht hatten.

Zwei geliebte Personen, die sich damals unter den Anwesenden befunden hatten, waren heute nicht hier. Eine war natürlich sein Vater. Die andere war eine Frau, die Anduin liebevoll Tante Jaina genannt hatte: Lady Jaina Prachtmeer. Einst waren die Lady von Theramore und der Prinz von Sturmwind vereint gewesen in ihrem Wunsch nach Frieden zwischen der Allianz und der Horde.

Als es noch ein Theramore gegeben hatte.

Doch die Horde hatte Jainas Stadt auf die grauenhafteste Weise zerstört, die man sich nur vorstellen konnte, und die erschütterte Lady hatte den Schmerz jenes schrecklichen Augenblicks nie wirklich verwunden. Anduin hatte mitangesehen, wie sie es mehrmals versuchte, aber jedes Mal hatte weiteres Leid ihr geschundenes Herz von Neuem aufgerissen. Schließlich war es ihr absolut unerträglich geworden, mit der Horde zusammenzuarbeiten, selbst gegen einen so tödlichen Feind wie die dämonische Legion, und so hatte Jaina allen den Rücken gekehrt: den Kirin Tor, die sie angeführt hatte; dem blauen Drachen Kalecgos, den sie geliebt hatte; und Anduin, dem sie sein ganzes Leben lang ein Vorbild gewesen war.

„Darf ich?“ Die Stimme war warm und gütig, ebenso wie die Frau, die die Frage stellte.

Anduin lächelte auf die Hohepriesterin Laurena hinab. Sie wollte wissen, ob er ihren Segen wünschte. Er nickte, und als er den Kopf beugte, spürte er, wie die Anspannung aus seiner Brust wich und seine Seele sich beruhigte. Während sie zur Menge sprach, trat er respektvoll zur Seite und wartete darauf, dass er an die Reihe kam.

Bei der Gedenkzeremonie für seinen Vater war er nicht in der Verfassung gewesen, eine Rede zu halten. Die Trauer war noch zu frisch, zu überwältigend gewesen. Im Laufe der Zeit hatte sich ihre Form in seinem Herzen gewandelt; sie war nach wie vor gewaltig, aber nicht mehr so unmittelbar, daher hatte er sich bereit erklärt, heute ein paar Worte zu sagen.

Anduin trat neben die Gruft seines Vaters. Sie war leer; was die Legion Varian angetan hatte, hatte es unmöglich gemacht, seine sterblichen Überreste zu bergen. Anduin betrachtete das steinerne Antlitz auf der Gruft; ein würdiges Abbild, dessen Anblick ihm Trost spendete. Aber nicht einmal der beste Steinmetz konnte Varians Feuer einfangen – wie schnell er sich reizen ließ, wie leicht man ihn zum Lachen bringen konnte … diese ständige innere Bewegung. Auf gewisse Weise war Anduin froh, dass die Gruft leer war; in seinem Herzen würde er Varian stets lebendig und voller Energie sehen.

Seine Gedanken kehrten zu dem Tag zurück, als er das erste Mal den Ort besucht hatte, an dem sein Vater gefallen war. Wo Shalamayne gelegen hatte – ein Geschenk der Lady Jaina an Anduins Vater –, schlummernd fernab der Finger Varians, in Erwartung eines anderen, auf dessen Berührung die Klinge reagieren würde.

Die Berührung des Sohnes jenes großen Kriegers.

Als er die Waffe in die Hand genommen hatte, hatte er beinahe Varians Gegenwart gespürt. In jenem Augenblick, da Anduin die Pflichten eines Königs wahrlich akzeptiert hatte, war das Licht in dem Schwert von Neuem erwacht – doch nicht das Orangerot des Kriegers, sondern das warme, goldene Glühen des Priesters. Und in diesem Moment hatten Anduins Wunden begonnen, zu heilen.

Genn Graumähne wäre sicher die letzte Person, die sich selbst als eloquent bezeichnen würde, aber die Worte, die der ältere Mann gesprochen hatte, würden Anduin ewig im Gedächtnis bleiben: Die Taten Eures Vaters waren fürwahr heldenhaft. Sie waren eine Aufforderung an uns, sein Volk, niemals der Furcht nachzugeben … nicht einmal, wenn wir vor den Toren der Hölle stehen.

In seiner Weisheit hatte Genn nicht gesagt, dass sie niemals Angst haben durften. Nur, dass sie ihr nie erliegen sollten.

Das werde ich nicht, Vater. Und Shalamayne weiß es.

Anduin zwang sich, in die Gegenwart zurückzukehren. Er nickte Laurena zu, dann wandte er sich an die Menge. Obwohl der Regen inzwischen nachließ, hatte er noch nicht aufgehört, und trotzdem machte niemand Anstalten, zu gehen. Anduins Blick schweifte über die Witwen und Witwer, die kinderlosen Eltern, die Waisen und die Veteranen. Er war stolz auf die Soldaten, die in der Schlacht gestorben waren, und er hoffte, dass ihre Seelen in Frieden ruhen könnten, wissend, dass ihre Lieben ebenfalls Helden waren.

Denn keiner von denen, die hier an der Löwenrast versammelt waren, hatte der Furcht nachgegeben.

Neben einem Laternenpfahl entdeckte er Graumähne, der sich im Hintergrund hielt, und als ihre Blicke einander begegneten, schenkte der ältere Mann ihm ein kurzes, anerkennendes Nicken. Anduin ließ die Augen weiter über die Gesichter wandern – jene, die er kannte, und jene, die er nicht kannte. Ein kleines Pandarenmädchen versuchte, nicht zu weinen, und er bedachte es mit einem aufmunternden Lächeln. Sie schluckte und lächelte mit bebenden Lippen zurück.

„Wie viele von Euch habe auch ich den Schmerz des Verlustes am eigenen Leib erfahren“, sagte er. Seine Stimme hallte laut und klar bis zu jenen in den hintersten Reihen. „Ihr alle wisst, dass mein Va…“

Er hielt inne, räusperte sich und fuhr dann fort: „Dass König Varian Wrynn … während der ersten großen Schlacht auf den Verheerten Inseln fiel, als sich die Legion einmal mehr auf Azeroth stürzte. Er starb, um seine Soldaten zu retten – die tapferen Männer und Frauen, die sich unvorstellbarem Grauen gestellt haben, um uns und unser Land und unsere Welt zu beschützen. Er wusste, dass niemand, nicht einmal ein König, wichtiger ist als die Allianz. Jeder von Euch hat seinen eigenen König, seine eigene Königin verloren. Euren Vater oder Eure Mutter, Euren Bruder oder Eure Schwester, Euren Sohn oder Eure Tochter.

Und weil er und so viele andere den Mut hatten, dieses Opfer zu bringen, haben wir das Unmögliche geschafft.“ Anduin blickte von einem Gesicht zum nächsten, sah, wie sehr es sie nach Trost dürstete. „Wir haben die Brennende Legion besiegt. Und jetzt ehren wir jene, die alles gegeben haben. Wir ehren sie nicht, indem wir sterben … sondern, indem wir leben. Indem wir unsere Wunden verbinden und anderen helfen, zu genesen. Indem wir lachen und die Sonne auf unseren Gesichtern spüren. Indem wir unsere Lieben umarmen und sie jede Stunde, jede Minute, jeden Tag wissen lassen, dass sie wichtig sind.“

Der Regen hatte aufgehört, die Wolken brachen auf und die ersten Flecken hellen Blaus spähten dahinter hervor.

„Keiner von uns ist unversehrt geblieben, ebenso wenig wie unsere Welt“, fuhr Anduin fort. „Wir tragen Narben. Ein besiegter Titan hat ein schreckliches Schwert aus Gestalt gewordenem Hass in unser geliebtes Azeroth gerammt, und noch können wir nicht sagen, welchen Preis das fordern wird. Es gibt Stellen in unseren Herzen, die für immer leer bleiben werden. Aber falls Ihr dem König dienen wollt, der heute mit Euch trauert, falls ihr das Andenken eines anderen Königs ehren wollt, der für Euch gestorben ist – dann lebt. Denn Euer Leben, Eure Freude, unsere Welt … das sind die Geschenke der Gefallenen. Und wir müssen sie in Ehren halten. Für die Allianz!“

Die Menge jubelte, nicht wenige mit Tränen in den Augen. Nun war es an anderen, ihre Ansprachen zu halten. Anduin trat zur Seite, damit sie vortreten und zur Menge sprechen konnten. Dabei huschte sein Blick wieder zu Graumähne zurück, und sein Herz schlug schwerer.

Mathias Shaw, Meisterspion und Leiter von Sturmwinds Geheimdienst, dem SI:7, stand an der Seite des entthronten Königs von Gilneas, und Anduin konnte sich nicht erinnern, die beiden Männer jemals so grimmig gesehen zu haben.

Er hielt nicht allzu viel von Shaw, wenngleich der Meisterspion Varian – und nun auch ihm – treue und gute Dienste geleistet hatte. Der König war intelligent genug, um anzuerkennen, wie wichtig die Agenten des SI:7 und ihre Arbeit für das Königreich waren. Er wusste nicht, wie viele Spione während des jüngsten Krieges ihr Leben verloren hatten, und er würde es nie erfahren. Im Gegensatz zu Soldaten lebten, dienten und starben jene, die in den Schatten operierten, ohne dass ihre Taten große Bekanntheit erlangten. Nein, es war nicht der Meisterspion selbst, der Anduin mit Missfallen erfüllte; es war die Tatsache, dass sie Männer und Frauen wie ihn brauchten, die ihn missmutig stimmte.

Laurenas Augen waren seinem Blick gefolgt, und nun trat sie wortlos vor, als Anduin Genn und Shaw zunickte, um anzudeuten, dass sie sich abseits der Menge der Trauernden unterhalten sollten, die noch eine ganze Weile hier sein würden. Viele von ihnen würden betend auf den Knien verharren; andere würden nach Hause gehen und dort im Stillen trauern; wieder andere würden die Tavernen aufsuchen, um sich daran zu erinnern, dass sie noch immer lebten, Speis und Trank und Gelächter genießen konnten – um das Leben zu feiern, so, wie Anduin es gefordert hatte.

Doch für einen König gab es immer Arbeit.

Die drei Männer schritten stumm hinter die Gedenkstätte. Die Wolken hatten sich inzwischen fast vollständig verzogen, und die Strahlen der untergehenden Sonne schillerten auf dem Wasser des Hafens, der sich unter ihnen erstreckte.

Anduin ging zu der verzierten Steinmauer und legte die Hand darauf, während er tief die Meeresluft einatmete und dem Kreischen der Möwen lauschte. Er brauchte einen Moment, um sich zu fassen, ehe er sich den unheilvollen Worten stellte, die Shaw zweifelsohne für ihn bereithielt.

Als er von dem großen Schwert in Silithus gehört hatte, hatte Anduin Shaw befohlen, sich die Sache anzusehen und ihm dann Bericht zu erstatten. Was er brauchte, war jemand vor Ort, nicht die wilden Gerüchte, die hier die Runde machten. Sie klangen unmöglich und erschreckend, und das Schlimmste von allem: Sie entsprachen alle der Wahrheit. Der letzte und verheerendste Schlag, der im Krieg gegen die Legion geführt worden war – der finale Akt eines verderbten Wesens –, hatte einen Großteil von Silithus ausgelöscht. Das Einzige, was das Ausmaß der Zerstörung eindämmte, war der Umstand, dass Sargeras sein Schwert gnädigerweise nicht in einen der dichter bevölkerten Teile der Welt gerammt hatte, sondern in dieses weitgehend unbewohnte Wüstenland. Hätte er hier zugeschlagen, in den Östlichen Königreichen, einem Kontinent weit entfernt von Silithus … Anduin gestattete sich nicht, diesem Gedanken weiter nachzuhängen. Es gab nicht viel, wofür er dankbar sein konnte, und das wollte er nicht verderben.

Bislang hatte Shaw Berichte mit Informationen geschickt. Anduin hatte nicht erwartet, den Mann selbst so bald schon wiederzusehen.

„Heraus damit?“, war alles, was der König sagte.

„Goblins, Sir. Eine ganze Meute dieser widerlichen Kreaturen. Es scheint, als tauchten sie nur einen Tag nach …“

Er unterbrach sich. Noch hatte niemand einen Begriff gefunden, mit dem sich die Klinge beschreiben ließ, ohne dass es einem dabei kalt den Rücken hinunterlief. „… nach dem Schwertstreich auf“, beendete Mathias den Satz.

„So schnell?“ Anduin war verblüfft. Er wahrte einen neutralen Gesichtsausdruck, während er weiter auf das Wasser hinausblickte. Die Schiffe und ihre Mannschaften wirken von hier aus so winzig, dachte er. Wie Spielzeuge. So zerbrechlich.

„So schnell“, bestätigte Shaw.

„Goblins sind nicht die angenehmsten Wesen, noch dazu sind sie sind gerissen. Und meistens haben sie für alles, was sie tun, gute Gründe“, sagte Anduin.

„Und diese Gründe drehen sich in der Regel um Geld.“

Nur eine Gruppe konnte so schnell so viele Goblins mobilisieren und finanzieren: das Bilgewasserkartell, das wiederum die Unterstützung der Horde genoss. Diese Sache trug die fettige Handschrift des aalglatten und moralisch verkommenen Jastor Gallywix.

Anduin presste kurz die Lippen zusammen, ehe er sprach. „Also hat die Horde etwas Wertvolles in Silithus entdeckt. Was ist es diesmal? Noch eine uralte Stadt, die sie plündern wollen?“

„Nein, Euer Majestät. Sie haben … das hier gefunden.“

Der König drehte sich um. In Shaws Hand lag ein schmutzig weißes Taschentuch, das der Meisterspion wortlos auseinanderfaltete.

In dessen Mitte befand sich ein kleiner Kiesel von goldener Substanz. Er sah aus wie Honig und Eis, warm und einladend, gleichzeitig aber auch kühl und tröstlich. Und … er glühte. Anduin musterte ihn skeptisch. Er übte eine gewisse Anziehung aus, ja, aber auch nicht mehr als andere Edelsteine. Er sah jedenfalls nicht aus wie etwas, das den gewaltigen Zustrom an Goblins erklären würde.

Anduin war verwirrt, und er blickte zu Genn hinüber, eine Augenbraue fragend hochgezogen. Er wusste nicht sonderlich viel über das Spionagehandwerk, und auch wenn Shaw bei allen hohes Ansehen genoss, war er für Anduin doch größtenteils noch immer ein Rätsel, das er nur langsam entschlüsselte.

Genn nickte, ein Zugeständnis, dass Shaws Geste seltsam war, und das Objekt sogar noch seltsamer, aber auch eine Andeutung, dass Anduin dem Spion vertrauen konnte, gleichgültig wie immer er fortfahren mochte. Der König streifte seinen Handschuh ab und streckte die Hand vor.

Der Stein fiel sanft in seine Handfläche.

Und er keuchte.

Das Gewicht der Trauer verschwand, als wäre sie eine Rüstung, die man ihm vom Leib gerissen hatte. Die Müdigkeit verdunstete, wurde ersetzt durch eine hochbrandende, geradezu knisternde Energie und ein Gefühl der Erkenntnis. Strategien rasten durch seinen Kopf, jede Einzelne durchdacht und ein garantierter Erfolg, jede Einzelne aus einer anderen Sichtweise geboren, und allesamt würden sie einen dauerhaften Frieden sichern, zum Wohle jedes Wesens auf Azeroth.

Doch nicht nur sein Geist schien abrupt in ganz neue, verblüffende Höhen emporzusteigen; binnen eines Herzschlags wurde auch sein Körper von frischer Kraft, Gewandtheit und Selbstbeherrschung erfüllt. Anduin fühlte, dass er Berge nicht nur erklimmen konnte … er konnte sie bewegen. Er konnte Kriege beenden, das Licht in jeden noch so dunklen Winkel tragen. Er war überschwänglich, gleichzeitig aber auch vollkommen ruhig, und er wusste ganz genau, wie er diesen reißenden Strom – nein, diesen Tsunami – von Energie kanalisieren musste. Nicht einmal das Licht hatte eine vergleichbare Wirkung auf ihn. Das Gefühl war ähnlich, aber weniger spirituell, mehr körperlich.

Und es war erschreckend.

Einen langen Moment war Anduin nicht in der Lage, zu sprechen; er konnte nur verdutzt auf dieses unglaublich wertvolle Ding in seiner hohlen Hand hinabstarren. Schließlich fand er seine Stimme wieder.

„Was … was ist das?“, brachte er hervor.

„Wir wissen es nicht.“ Shaws Stimme klang unverblümt.

Was sich damit alles bewirken ließe!, dachte Anduin. Wie viele könnte es heilen? Wie viele könnte es stärken, beruhigen, ermuntern, inspirieren?

Wie viele könnte es töten?

Der Gedanke war ein Schlag in die Magengrube, und er spürte, wie das von dem Edelstein ausgelöste Hochgefühl verblasste.

Als er wieder das Wort ergriff, war seine Stimme kräftig und entschlossen. „Nun, die Horde scheint es zu wissen … und wir müssen mehr darüber herausfinden.“ Sie durften nicht zulassen, dass diese Substanz in die falschen Hände fiel.

In Sylvanas’ Hände …

So viel Macht …

Vorsichtig schloss er die Finger um das kleine Steinchen unbegrenzter Möglichkeiten, dann richtete er den Blick wieder gen Westen.

„Das sehe ich genauso“, erwiderte Shaw. „Wir haben die Sache im Auge.“

Einen Moment standen sie da, während Anduin sich seine nächsten Worte zurechtlegte. Er wusste, dass Shaw und Graumähne – Letzterer war ungewöhnlich schweigsam, aber er hatte die Unterhaltung mit stiller Zustimmung verfolgt – beide auf seine Befehle warteten, und er war dankbar, so loyale Personen in seinen Diensten zu haben. Ein weniger standhafter Mann als Shaw hätte diesen Stein für sich selbst eingesteckt.

„Setzt Eure Ihre besten Leute darauf an, Shaw. Zieht sie von anderen Missionen ab, falls nötig. Wir müssen mehr darüber erfahren. Ich werde in Kürze ein Treffen meiner Berater einberufen.“ Anduin streckte die Hand nach Shaws Taschentuch aus und packte den kleinen Kiesel dieses unbekannten, unglaublichen Materials wieder sorgfältig darin ein. Anschließend ließ er ihn in seine Tasche gleiten. Das Gefühl war jetzt weniger intensiv, aber er konnte es immer noch spüren.

Anduin hatte bereits vorgehabt, eine Reise zu unternehmen und die Verbündeten Sturmwinds zu besuchen, um ihnen zu danken und ihnen zu helfen, sich von der Zerstörung des Krieges zu erholen.

Nun würde er diese Reise viel früher als gedacht antreten.

2. KAPITEL

Orgrimmar

Sylvanas Windläufer, einst Waldläufergeneralin von Silbermond, dann Anführerin der Verlassenen und nun Kriegshäuptling der mächtigen Horde, hasste es, dass man sie nach Orgrimmar zurückgerufen hatte wie einen Hund, der all seine Tricks vorführen sollte. Sie hatte in die Unterstadt zurückkehren wollen; sie vermisste ihre Schatten, ihre feuchte Kälte, ihre erholsame Stille. Frieden in Ruhe, dachte sie grimmig, und ein amüsiertes Lächeln zupfte an ihren Mundwinkeln. Aber es verblasste fast sofort wieder, während sie in der kleinen Kammer hinter dem Thron des Kriegshäuptlings in der Feste Grommash ungeduldig auf und ab ging.

Sie hielt inne, als ihre feinen Ohren das Geräusch vertrauter Schritte aufschnappten. Dann wurde das Stück gegerbten Leders, das einen Eindruck von Privatsphäre schaffen sollte, zur Seite gezogen, und der Neuankömmling trat herein.

„Ihr seid spät dran. Noch eine Viertelstunde, und ich hätte ohne meinen Champion an meiner Seite losreiten müssen.“

Er verbeugte sich. „Verzeiht, meine Königin. Ich habe mich um Eure Angelegenheiten gekümmert, und es dauerte länger als erwartet.“

Sie war unbewaffnet, aber er trug einen Bogen und einen Köcher voller Pfeile. Als einziger Mensch, der es je zum Waldläufer gebracht hatte, war er ein überragender Schütze. Doch das war nur ein Grund, warum er der beste Leibwächter war, den Sylvanas sich wünschen konnte. Es gab noch andere Gründe, die in der fernen Vergangenheit verwurzelt lagen, als die beiden unter einer hellen, wundervollen Sonne zusammengekommen und für eine helle, wundervolle Sache gekämpft hatten.

Der Tod hatte sie beide eingeholt, den Menschen ebenso wie die Elfe. Jetzt gab es kaum noch Helles, Wundervolles, und ein Großteil ihrer gemeinsamen Vergangenheit war verblasst und verschwommen.

Aber nicht alles.

Obwohl die meisten ihrer wärmeren Emotionen Sylvanas in dem Moment verlassen hatten, da sie als Banshee von den Toten wiederauferstand, hatte ihr Zorn seine Hitze aus irgendeinem Grund nicht eingebüßt. Doch gerade jetzt spürte sie, wie er zu schwelender Glut abebbte. Sie konnte nie lange wütend auf Nathanos Marris sein, nun bekannt als Pestrufer. Und er war tatsächlich in ihrem Namen in die Unterstadt gereist, während ihre Pflichten sie hier in Orgrimmar festgehalten hatten.

Sie wollte nach seiner Hand greifen, beließ es dann aber bei einem wohlwollenden Lächeln. „Euch sei verziehen“, sagte sie. „Und jetzt berichtet mir von unserer Heimat.“

Sylvanas erwartete eine kurze Aufzählung geringfügiger Belange, eine Bestätigung, dass die Verlassenen treu zu ihrer Dunklen Fürstin standen. Stattdessen zog Nathanos die Brauen zusammen. „Die Situation … ist kompliziert, meine Königin.“

Ihr Lächeln verblasste. Was konnte denn bitte „kompliziert“ daran sein? Die Unterstadt gehörte den Verlassenen, und die Verlassenen waren ihr Volk.

„Eure Gegenwart wird schmerzlich vermisst“, erklärte er. „Viele sind zwar stolz, dass die Horde zu guter Letzt eine Verlassene als Kriegshäuptling hat, aber es gibt ein paar, die glauben, dass Ihr vielleicht vergessen habt, wer loyaler zu Euch stand als alle anderen.“

Sie lachte, scharf und humorlos. „Baine und Saurfang und die anderen klagen, ich schenke ihnen nicht genug Beachtung. Mein Volk klagt, ich schenke ihnen zu viel Beachtung. Egal was ich tue, irgendjemand beschwert sich immer darüber. Wie soll man so herrschen?“ Sie schüttelte den fahlen Kopf. „Verflucht seien Vol’jin und seine Loa. Ich hätte in den Schatten bleiben sollen, wo ich etwas bewirken konnte, ohne ständig hinterfragt zu werden.“

Wo ich tun konnte, was ich wirklich wollte.

Das hier hatte sie nie gewollt. Nicht wirklich. Es war, wie sie dem Troll Vol’jin bereits erklärt hatte, damals, als dem verstorbenen und kaum betrauerten Garrosh Höllschrei der Prozess gemacht worden war: Sie mochte ihre subtile Macht, ihre subtile Kontrolle. Doch dann hatte Vol’jin, der Anführer der Horde, sie gezwungen – und das sprichwörtlich mit seinem letzten Atemzug – alle Subtilität hinter sich zu lassen. Er hatte behauptet, die Loa, die er verehrte, hätten ihm eine Vision zuteilwerden lassen.

Ihr müsst aus den Schatten treten und führen.

Ihr seid jetzt Kriegshäuptling.

Sie hatte Vol’jin respektiert, auch wenn sie hin und wieder aneinandergeraten waren; er war nicht so aggressiv wie die orcischen Anführer es typischerweise gewesen waren, und sie hatte seinen Tod aufrichtig bedauert – nicht nur, weil er ihr diese Verantwortung aufgebürdet hatte.

Sie hatte bereits den Mund geöffnet, um Nathanos zum Fortfahren aufzufordern, als vor dem kleinen Raum das Pochen eines Speerendes auf dem steinernen Boden ertönte. Sylvanas schloss die Augen und versuchte, ihre Geduld zusammenzunehmen. „Herein“, grollte sie.

Einer der Kor’kron – der orcischen Elitegarde der Feste – kam ihrer Aufforderung nach und nahm mit undurchdringlicher Miene Habachtstellung an. „Kriegshäuptling“, sagte er. „Es ist Zeit. Euer Volk wartet auf Euch.“

Euer Volk. Nein. Ihr Volk war in der Unterstadt und vermisste sie und fühlte sich übergangen und ahnte nicht, dass sie nichts lieber täte, als zurückzukehren und einmal mehr unter ihnen zu weilen.

„Ich komme sofort“, sagte Sylvanas. Für den Fall, dass die Wache den tieferen Sinn dieser Worte nicht begriff, fügte sie hinzu: „Lasst uns allein.“

Der Orc salutierte und zog sich zurück, wobei er die Lederklappe hinter sich wieder zufallen ließ.

„Wir werden uns unterwegs weiter darüber unterhalten“, wandte sie sich an Nathanos. „Außerdem gibt es einige andere Dinge, die ich mit Euch besprechen muss.“

„Wie meine Königin wünscht“, erwiderte Nathanos.

Ein paar Jahre zuvor hatte Garrosh Höllschrei darauf gedrängt, das Ende des Nordend-Feldzuges mit einer gewaltigen Feier in Orgrimmar zu zelebrieren. Er war damals nicht Kriegshäuptling gewesen – noch nicht. Und so hatte es eine Parade gegeben, mit allen Veteranen, die daran teilnehmen wollten, ihr Pfad gesäumt von importierten Kieferzweigen, und am Ende der Route: ein gewaltiges Festmahl.

Es war extravagant und teuer gewesen, und Sylvanas hatte nicht vor, in Höllschreis Fußstapfen zu treten – und das nicht nur in diesem Punkt, sondern generell. Er war arrogant und brutal und impulsiv gewesen. Seine Entscheidung, Theramore mit einer verheerenden Manabombe anzugreifen, hatte eine Gewissenskrise unter den weicheren Völkern der Horde ausgelöst (wenngleich Sylvanas’ einzig echter Kritikpunkt der Zeitpunkt gewesen war, den er für seinen Angriff gewählt hatte). Sie hatte ihn gehasst, hatte im Geheimen – und leider ohne Erfolg – ein Komplott geschmiedet, um ihn zu töten, nachdem er in Ketten geschlagen und mehrerer Kriegsverbrechen angeklagt worden war. Und als Garrosh letztlich und unausweichlich doch ermordet worden war, hatte sie tiefe Genugtuung empfunden.

Varok Saurfang, der Anführer der Orcs, und Baine Bluthuf, der Oberhäuptling der Tauren, hatten Garrosh auch keine Träne nachgeweint. Aber sie hatten Sylvanas zu einem öffentlichen Auftritt in Orgrimmar gedrängt, zu einer Art Geste, um das Ende des Kriegs offiziell zu machen. Viele tapfere Mitglieder dieser Horde, deren Anführerin Ihr seid, kämpften und starben, um zu verhindern, dass die Legion diese Welt zerstört wie so viele andere zuvor, hatte der junge Bulle intoniert. Er war nur einen Schritt davon entfernt gewesen, sie öffentlich zu tadeln.

Sylvanas erinnerte sich an Saurfangs kaum verhohlene … Warnung? Drohung? Ihr seid die Anführerin der gesamten Horde: von Orcs, Tauren, Trollen, Blutelfen, Pandaren, Goblins – ebenso wie den Verlassenen. Das müsst Ihr stets im Hinterkopf behalten, denn sonst könnten sie es auch vergessen.

Was ich im Hinterkopf behalten werde, Orc, dachte sie, während neuer Zorn in ihr hochstieg, sind diese Worte.

Anstatt nach Hause zurückzukehren und sich um die Sorgen der Verlassenen zu kümmern, saß Sylvanas nun also auf einem ihrer knochigen Skelettpferde und winkte der Menge der Feiernden zu, die die Straßen von Orgrimmar säumten. Der Marsch – sie hatte darauf geachtet, dass niemand es eine „Parade“ nannte – begann offiziell am Eingang der Hauptstadt der Horde. Auf einer Seite der hochaufragenden Tore drängten sich die Blutelfen und Verlassenen, die in der Stadt wohnten.

Die Blutelfen waren allesamt prachtvoll gekleidet, wie nicht anders zu erwarten in Rot und Gold, und Lor’themar Theron, der an ihrer Spitze auf einem rotgefiederten Falkenschreiter ritt, begegnete selbstbewusst Sylvanas’ Blick.

Einst waren sie Freunde gewesen; Theron hatte unter Sylvanas gedient, als sie zu ihren Lebzeiten Waldläufer-Generalin der Hochelfen gewesen war. Sie hatte ihn als ihren Waffenbruder betrachtet, so wie ihn, der nun als ihr Champion neben ihr ritt. Doch während Nathanos – früher ein sterblicher Mensch und nun ein Verlassener – stets loyal zu ihr stand, galt Therons Treue seinem Volk, wie Sylvanas wusste.

Einem Volk, das einst genauso gewesen war wie sie.

Doch jetzt nicht mehr.

Theron neigte den Kopf. Er würde ihr dienen, zumindest fürs Erste. Sylvanas war keine Freundin großer Reden, darum erwiderte sie lediglich das Nicken, ehe sie sich der Gruppe der Verlassenen widmete.

Sie standen da, geduldig wie immer, und Sylvanas war stolz auf sie. Doch sie durfte niemanden bevorzugen, und so bedachte sie sie mit demselben Gruß wie Lor’themar und die Sindorei. Anschließend trieb sie ihr Ross durch das Tor. Die Blutelfen und Verlassenen setzten sich in Bewegung, aber sie ordneten sich hinter ihr ein, um ihr Platz zu lassen. Das war ihre Forderung gewesen, und sie hatte fest darauf bestanden; Sylvanas wollte zumindest ein paar Momente der Privatsphäre, denn es gab Dinge, die nur für die Ohren ihres Champions bestimmt waren.

„Erzählt mir mehr über die Gedanken meines Volkes“, befahl sie.

„Aus ihrem Blickwinkel“, fuhr der dunkle Waldläufer fort, „wart ihr ein fester Bestandteil der Unterstadt. Ihr habt sie erschaffen, Ihr habt darauf hingearbeitet, ihre Existenz zu verlängern, Ihr wart alles für sie. Euer Aufstieg zum Kriegshäuptling kam völlig unerwartet, und die Bedrohung war so groß, so unmittelbar, weil Ihr niemanden zurückgelassen habt, der sich um Euer Volk kümmert.“

Sylvanas nickte. Diesen Teil konnte sie nachvollziehen.

„Ihr habt eine große Lücke hinterlassen. Und Löcher im Gefüge der Macht werden meist anderweitig gefüllt.“

Ihre Augen weiteten sich. Sprach er von einem Putsch? Die Gedanken der Königin huschten zurück zu Varimathras Verrat ein paar Jahre zuvor. Sie hatte geglaubt, der Dämon würde ihr gehorchen, aber stattdessen hatte er sich mit dem undankbaren Schuft Putress zusammengetan, einem Apotheker der Verlassenen, der eine Plage entwickelt hatte, die die Lebenden und die Untoten gleichermaßen befiel und der auch Sylvanas beinahe erlegen wäre. Danach die Unterstadt zurückzuerobern, war ein blutiges Unterfangen gewesen. Aber nein. Noch während sie darüber nachdachte, wurde ihr klar, dass ihr loyaler Champion nie in so beiläufigem Ton sprechen würde, wenn etwas wirklich Schreckliches geschehen wäre.

Wie so oft interpretierte Nathanos ihren Gesichtsausdruck genau richtig, und er beeilte sich, sie zu beruhigen. „Alles ist ruhig, meine Königin. Aber in Abwesenheit eines einzelnen, mächtigen Herrschers haben die Bewohner Eurer Stadt eine Regierung gegründet, um sich der Bedürfnisse der Bevölkerung anzunehmen.“

„Ah, ich verstehe. Eine einstweilige Verwaltung. Das ist … nicht unvernünftig.“

Ihr Pfad durch die Stadt würde den Kriegshäuptling zunächst durch eine Straße voller Läden führen, genannt „die Gasse“, und dann weiter ins Tal der Ehre. Vor dem Kataklysmus war die Gasse ein passender Titel für diesen Teil der Stadt gewesen, aber nach jenem schrecklichen Ereignis hatte sie sich physisch verschoben, wie so vieles auf dem angeschlagenen Azeroth. Sie hatte sich aus den Schatten herausgeschält, ein wenig wie Sylvanas Windläufer selbst, und nun erhellte Sonnenlicht die gewundenen Straßen aus festgetretener Erde. Auch schienen sich an ihren Rändern immer mehr seriöse Etablissements wie Kleider- und Tintengeschäfte anzusiedeln.

„Sie nennen sich den Trostlosen Rat“, erklärte Nathanos weiter.

„Ein bemitleidenswerter Titel“, murmelte Sylvanas.

„Mag sein“, stimmte Nathanos zu, „aber er verrät viel über ihre Gefühle.“ Er blickte zu ihr hinüber, während sie weiterritten. „Meine Königin, es gibt Gerüchte über Dinge, die Ihr in diesem Krieg getan haben sollt. Und einige davon sind wahr.“

„Was für Gerüchte?“, fragte sie, vielleicht zu schnell. Sylvanas verfolgte zahllose Pläne, und sie fragte sich, welche davon wohl in das Reich der Gerüchte durchgesickert waren und nun unter ihrem Volk die Runde machten.

„Sie haben von einigen der eher extremen Schritte gehört, die Ihr unternahmt, um ihr Fortbestehen zu sichern“, sagte Nathanos.

Sie war mit ihrem Flaggschiff, der Windläufer, nach Sturmheim auf den Verheerten Inseln gesegelt, um mehr Val’kyr zu finden und die Gefallenen wiederzubeleben – bislang war dies die einzige Möglichkeit, die sie gefunden hatte, um mehr Verlassene zu erschaffen.

„Beinahe wäre es mir gelungen, die große Eyir zu unterwerfen. Durch sie hätte ich für alle Zeit die Kontrolle über die Val’kyr gehabt. Niemand aus meinem Volk hätte je wieder sterben müssen.“ Sie machte eine Pause. „Ich hätte sie gerettet.“

„Genau das … ist ihre Sorge.“

„Redet nicht um den heißen Brei herum, Nathanos. Kommt zur Sache.“

„Nicht alle von ihnen wollen, was Ihr Euch für sie wünscht, meine Königin. Viele im Trostlosen Rat haben große Bedenken.“ Sein Gesicht – noch immer das eines Toten, aber besser erhalten dank eines komplexen Rituals, das auf Sylvanas’ Anweisung hin durchgeführt worden war – verzog sich zu einem Lächeln. „Das war die Gefahr, als Ihr ihnen einen freien Willen gabt. Sie können anderer Meinung sein.“

Ihre fahlen Brauen zogen sich zu einem furchterregend finsteren Blick zusammen. „Dann wollen sie also untergehen?“, zischte sie, und der Zorn züngelte lohend in ihr hoch. „Sie wollen in der Erde verrotten?“

„Ich weiß nicht, was sie wollen“, erwiderte Nathanos ruhig. „Sie möchten mit Euch sprechen, nicht mit mir.“

Sylvanas knurrte leise. Nathanos wartete, geduldig wie immer. Er würde ihr gehorchen, ganz gleich, was sie tat, das wusste sie. Selbst, wenn sie irgendeiner Kombination von Hordekriegern – Verlassene ausgeschlossen – befahl, in die Unterstadt zu marschieren und die Mitglieder jenes undankbaren Rates gefangen zu nehmen. Doch noch während ihr dieser befriedigende Gedanke durch den Kopf ging, erkannte sie, dass ein solches Vorgehen unklug wäre. Bevor sie etwas unternehmen konnte, brauchte sie erst mehr Informationen. Viel mehr Informationen. Sie wollte keine Verlassenen zerstören – ganz gleich, welche unter ihnen –, wenn sie sie stattdessen überzeugen konnte.

„Ich … werde darüber nachdenken. Aber jetzt möchte ich erst einmal etwas anderes besprechen. Wir müssen die Schatzkammer der Horde füllen“, flüsterte Sylvanas ihrem Champion leise zu. „Wir brauchen das Gold, und wir brauchen sie.“

Sie winkte einer Familie von Orcs zu. Sowohl der Vater als auch die Mutter trugen Narben, aber sie lächelten, und ihr Kind, das sie über ihre Köpfe hoben, damit es den Kriegshäuptling sehen konnte, wirkte wohlgenährt und gesund. Offensichtlich gab es auch Wesen in der Horde, die ihren Kriegshäuptling liebten.

„Ich bin nicht sicher, ob ich recht verstehe, meine Königin“, sagte Nathanos. „Natürlich braucht die Horde Geld und ihre Mitglieder.“

„Es sind nicht die Mitglieder, die mir Kopfzerbrechen bereiten. Es ist die Armee. Ich habe beschlossen, sie nicht aufzulösen.“

Er drehte sich herum und blickte sie an. „Die Krieger glauben, sie können jetzt in der Heimat bleiben“, sagte er. „Irren sie sich da etwa?“

„Für den Moment sollen sie bleiben“, erwiderte sie. „Wunden müssen verheilen. Äcker müssen bestellt werden. Aber schon bald werde ich die tapferen Kämpfer der Horde für eine weitere Schlacht zusammenrufen. Die Schlacht, von der Ihr und ich schon lange träumen.“

Nathanos blieb stumm, aber Sylvanas sah darin weder ein Zeichen von Dissens noch von Missfallen. Er war oft still; dass er nicht nach weiteren Informationen fragte, bedeutete lediglich, dass er bereits wusste, was sie wollte.

Sturmwind.