Der neue Landdoktor – 77 – Inkognito verliebt

Der neue Landdoktor
– 77–

Inkognito verliebt

Die Wahrheit hätte vieles vereinfacht

Tessa Hofreiter

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-702-8

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Genauso habe ich es mir vorgestellt, dachte Serina, als sie im Bahnhof von Bergmoosbach aus dem Zug gestiegen war. Es war das erste Mal, dass sie das Allgäu besuchte, und es war das erste Mal, dass sie inkognito verreiste, ohne Begleitung, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, ob sie von jemandem erkannt wurde. Für die nächsten Tage war sie nicht Prinzessin Serina, die Erbin eines Hotelkonzerns, die in adligen Kreisen als überaus gute Partie galt. Sie war Erina, die Erbin eines Berghofes aus Tirol, die von guten Freunden, die ihre Komödie unterstützten, zu einer Taufe eingeladen war.

Sie ließ sich Zeit, als sie mit ihrem Rollkoffer über den Bahnsteig lief. Sie wollte jede Minute als Erina genießen. Die anderen Reisenden, die mit demselben Zug gekommen waren, hatten es eilig, den Bahnhof zu verlassen. Der weiß gepflasterte Bahnsteig mit den Blumenkübeln aus Beton, in denen roten Geranien blühten, lag schon bald verwaist in der Mittagssonne.

Eine wundervolle Ruhe, dachte Serina. Sie blieb stehen und schaute über die Hecke, die den Bahnsteig einfasste. Der Bahnhof lag auf einer Anhöhe, und sie konnte von dort hinunter ins Tal sehen, auf das Dorf mit seinen grünen Hügeln und dem türkisfarbenen See.

Ihr Flug von London nach München war an diesem Morgen superpünktlich gewesen. Sie hatte einen früheren Zug nach Bergmoosbach erwischt, als ursprünglich geplant war. Malte und Julia, die sie vom Bahnhof hatten abholen wollen, würde sie nun mit ihrer Ankunft überraschen.

Das Hotel Sonnenblick lag nur ein paar Minuten vom Bahnhof entfernt auf der höchsten Erhebung des Dorfes. Für Fußgänger gab es einen direkten Weg, eine Holzbrücke, die den Bahnhofsvorplatz mit einer Steintreppe verband, die zum Hotel hinaufführte. Ein gut gewählter Name für dieses Hotel, dachte sie, als sie den weißen Kiesweg oberhalb der Treppe erreichte.

Das im alpenländischen Stil erbaute mehrstöckige Gebäude erhob sich unter einem strahlend blauen Himmel. Die Balkons mit ihren gelb- weißen Markisen und den mit gelben Geranien bepflanzten Blumenkästen lagen um diese Uhrzeit alle in der Sonne.

Hinter einer mit Efeu bewachsenen Mauer lag der Park des Hotels. Farbenprächtige Blumenbeete, tiefgrüne Hecken, Laubengänge, die zu versteckten Bänken führten, eine Teichanlage mit einem Wasserfall und ein Springbrunnen, der mit einer hohen Fontäne beeindruckte. Einige Hotelgäste hatten es sich auf Liegestühlen bequem gemacht, lasen Zeitung oder dösten in der Mittagssonne.

Serina ging zu dem Springbrunnen, stellte ihren Koffer ab und setzte sich seitlich auf den weißen Steinrand.

Hier hätte ich also ein paar Tage wohnen können, dachte sie, während sie eine Hand in das plätschernde Wasser hielt und auf die gut besuchte Terrasse des Restaurants schaute. Das leise Klappern des Geschirrs drang bis zu ihr herüber, und es duftete nach Oregano, Thymian und Minze.

»Serina?«, fragte die junge Frau verwundert, die über die Restaurantterrasse in den Park kam. Sie trug ein Baby in einem bunten Baumwolltuch, das sie sich um Schultern und Hüfte gebunden hatte.

»Ja, ich bin es wirklich. Hallo, Julia, ich freue mich, dich zu sehen.«

»Ich hätte dich fast nicht erkannt«, gab Julia zu, nachdem sie Serina zur Begrüßung umarmt hatte. Sie betrachtete die Prinzessin, die ihr rotblondes Haar zu zwei dicken Zöpfen geflochten hatte, Jeans, Pullover und Wanderschuhe trug und auf ihr übliches Makeup verzichtet hatte. »Wir haben dich erst in einer Stunde erwartet! Warum hast du nicht angerufen? Wir hätten dich doch abgeholt«, sagte Julia und setzte sich neben Serina auf den Brunnenrand.

»Ich wollte mir beweisen, dass ich in der Lage bin, ohne Chauffeur von einem Bahnhof zu einem Hotel zu gelangen.«

»Das hast du zweifellos geschafft«, entgegnete Julia lächelnd.

»Ja, schon, hallo, Alina, meine Süße, wie geht es dir?«

Serina beugte sich über das Baby und hauchte ihm einen sanften Kuss auf die Stirn. »Verstehe, dir geht es gut«, stellte sie lächelnd fest, als das Baby gluckste und mit den Beinchen strampelte.

»Sie freut sich, dich zu sehen.«

»Du meinst, sie erkennt mich?«

»Sie lässt sich nicht von Zöpfen oder Kleidung täuschen. Deine Stimme, deine Mimik, daran erkennt sie dich.«

»Kluges Mädchen.«

»Äußerlichkeiten sind für Kinder unwichtig, sie müssen wissen, ob es jemand gut mit ihnen meint, das allein zählt.«

»Das kluge Mädchen hat auch eine kluge Mutter.«

»Die kluge Mutter hat sich aber von deinem Aussehen verunsichern lassen, zumindest einen Moment lang.«

»Das heißt, meine Tarnung könnte für Fremde, die mich nur von Fotos kennen, ausreichen?«

»Auf jeden Fall. Das bedeutet dann wohl, dass du deine Meinung nicht geändert hast.«

»Es bleibt dabei, für die nächsten Tage bin ich Erina aus Tirol.«

»Die nicht bei uns im Hotel wohnen möchte, obwohl sie zum ersten Mal hier ist.«

»Nicht böse sein, ich nutze nur die Chance auf ein kleines Abenteuer.«

»Ich bin dir nicht böse. Ich finde es nur schade. Was hast du eigentlich deinem Onkel erzählt? Er wollte doch sicher nicht, dass du gerade jetzt London verlässt.«

»Ich habe ihm gesagt, dass ich mich um gute Freunde kümmern muss.«

»Aber nicht, wo das sein wird, nehme ich an.«

»Natürlich nicht, ich möchte ja nicht von ihm gefunden werden. Sonst wird er alles daran setzen, mich zu überreden zurückzukommen.«

»Dein Onkel wird sich Sorgen um dich machen.«

»Ich schreibe ihm jeden Tag eine SMS, dass es mir gut geht. Außerdem hat er sich diese Geheimniskrämerei selbst zuzuschreiben. Ich bin doch keine Trophäe, die er dem Meistbietenden überreichen kann.«

»Das hat er auch nicht vor«, sagte der junge Mann, der vom Hotelparkplatz herübergekommen war und sich ihnen leise genähert hatte. Er war schlank, hatte ein schmales Gesicht, und der Pony seines dunkelblonden Haares fiel ihm in die Stirn, was ihm ein jungenhaftes Aussehen verlieh.

»Malte, mein Herzblatt«, begrüßte Serina ihren guten Freund und ehemaligen Kollegen mit einer herzlichen Umarmung. »Du denkst also, mein Onkel hat keine Hintergedanken in Bezug auf diesen Ball, den er in unserem Hotel veranstaltet?«

»Hintergedanken würde ich es nicht nennen, eher Hoffnung.«

»Hoffnung auf was? Dass ich mich auf dieser Heiratsbörse für den europäischen Adel in einen aufgeblasenen Schnösel verliebe, der sich auf dem Geld seiner Eltern ausruht?«

»Das ist ein wenig pauschal geurteilt. Vielleicht hätte dir doch einer von ihnen gefallen oder du hättest zumindest neue Freundschaften geschlossen. Schließlich hat dein Onkel nur junge Leute eingeladen, die im Alter zu dir passen.«

»Die meisten kenne ich bereits. Sie sind arrogant und selbstverliebt. Und mit diesem Hotelerben muss er mir schon gar nicht kommen.«

»Welchen Hotelerben meinst du?«, fragte Malte und tauschte einen schnellen Blick mit Julia.

»Ich habe neulich ein Telefongespräch meines Onkels zufällig mitangehört.«

»Zufällig?«, fragte Malte schmunzelnd.

»Ja, zufällig. Er war im Landhaus in seinem Arbeitszimmer, und ich war auf dem Weg in mein Arbeitszimmer. Wie du weißt, führt dieser Weg an seinem Zimmer vorbei. Da seine Tür nur angelehnt war und ich meinen Namen hörte, bin ich stehen geblieben. Das hätte doch wohl jeder gemacht.«

»Könnte schon sein. Was genau hast du gehört?«

»Mein Onkel und irgendein spanischer Herzog mit einem Hotelkonzern möchten, dass sein Sohn und ich uns näherkommen. Ich meine, mehr Arrangement geht nicht. Eigentlich sollen sich die Hotels näherkommen und nicht dieses her­zögliche Bübchen und ich. Auf so etwas werde ich mich niemals einlassen. Dieser Erbe könnte Adonis persönlich sein, und er hätte absolut keine Chance bei mir.«

»Vielleicht weiß er gar nichts von diesem Arrangement.«

»Ich bitte dich, Malte. Da ich offiziell nichts davon weiß, muss er es wissen. Wie sollten wir uns denn sonst einander annähern?«

»Ihr könntet euch sympathisch sein.«

»Das wäre Zufall, ein Arrangement verlässt sich aber nicht auf Zufälle.«

»Vielleicht ist es kein wirkliches Arrangement. Vielleicht glaubt dein Onkel einfach nur, dass der junge Mann zu dir passen könnte, und möchte euch die Chance geben, einander kennenzulernen.«

»Ich könnte mir aber niemals sicher sein, was die Gefühle dieses Herzogs für mich betrifft, und er könnte es umgekehrt auch nicht sein. Wer sich auf so etwas einlässt, ist nicht an echten Gefühlen interessiert, sondern an Macht und Geld. Wie sollte mir so jemand sympathisch sein?«

»Das heißt, egal, was dieser Herzog tun würde, du würdest ihm misstrauen?«, wollte Julia wissen.

»Bis ans Ende unserer Tage«, erklärte Serina mit fester Stimme. »Bevor ich mich auf so etwas einlasse, suche ich mir einen ehrlichen und liebevollen Mann mit einem Bauernhof und ziehe mich aufs Land zurück. Ich wollte schon als Kind immer auf einem Bauernhof leben. Warum sollte ich mir diesen Wunsch nicht erfüllen?«

»Weil du irgendwann das Erbe deines Onkels antreten wirst und dir das bisher nicht als Bürde erschien.«

»Da wusste ich noch nicht, dass ich einen Hotelkonzern heiraten soll. Und jetzt will ich echt nicht mehr über diesen Herzog sprechen. Ich will in den nächsten Tagen überhaupt nicht mehr über den Adel sprechen. Ab sofort bin ich Erina Adelmeier, die auf einem Berghof am Achensee wohnt. Er gehört ihrem Onkel, der sie nach dem Tod ihrer Eltern aufgenommen hat.«

»Die Geschichte ist dicht an der Wahrheit«, stellte Malte fest. Serinas Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als sie noch ein Kind war. Ihr Onkel hatte sie großgezogen, nicht auf einem Berghof, sondern in einem Schloss auf dem Land, dem Landsitz der Familie.

»Geschichten, die man zur Tarnung nutzt, sollten immer dicht an der Wahrheit sein, dann läuft man nicht Gefahr, sich zu verplappern«, erklärte Serina.

»Dann wünsche ich dir viel Glück für dein Vorhaben. Hübsche Frisur, übrigens«, sagte Malte und schaute auf die Zöpfe mit den weißblauen Spangen.

»Eine Bäuerin läuft selten mit offenem Haar herum. Das würde sie nur bei der Arbeit stören.«

»Keine Sorge, du wohnst nur auf dem Hof, auf dem ich dich einquartiert habe, du wirst dort nicht arbeiten.«

»Auf einem Hof kann immer etwas sein. Das kann man in jedem Film sehen.«

»Ja, klar, Serina, das Leben ist auch nur ein Film«, sagte Malte und lachte laut auf. »Wie ist denn dein Plan? Möchtest du noch bei uns im Hotel zu Mittag essen, bevor wir dich zu deinem Appartement bringen?«

»Wenn es für euch in Ordnung ist, würde ich gern gleich zum Hof fahren. Ich werde mich auch heute selbst versorgen. Ihr müsst euch nicht um mich kümmern.«

»Ganz wie du willst«, sagte Malte. »Ich denke, du wirst schnell herausfinden, dass sich Film und Wirklichkeit erheblich unterscheiden.«

»Du weißt, dass ich das Leben auch außerhalb meiner heilen Welt kenne. Die meisten meiner Freunde haben nichts mit dem Adel zu tun. Allerdings ist mir bewusst, dass mein Name auch eine Art Schutzschild ist, hinter das ich flüchten kann, wenn ich in unangenehme Situationen gerate. Mir hilft immer irgendjemand.«

»Du hast doch nicht vor, dich in eine unangenehme Lage zu bringen, um herauszufinden, ob sich auch für Erina Adelmeier jemand einsetzt?«, fragte Malte erschrocken.

»Nein, natürlich nicht, obwohl ich schon hoffe, dass ihr beide euch für Erina stark machen würdet.«

»In Bergmoosbach setzen sich die Leute generell füreinander ein. Es gibt hier einen Zusammenhalt, den du so in der Stadt niemals findest.«

»Auch nicht in jedem Dorf«, fügte Julia hinzu. »Trotzdem …«

»… werde ich mich benehmen«, beendete Serina Julias Satz. »Ist dieser Hof, auf dem ich wohnen werde, denn auch ein richtiger Bauernhof? Es gibt inzwischen so viele Höfe, die einfach nur noch Zimmer vermieten und mit der Landwirtschaft gar nichts mehr zu tun haben.«

»Die Mittners verdienen ihren Lebensunterhalt mit der Landwirtschaft. Auf dem Hof gibt es auch nur zwei Appartements. Das eine haben wir für dich gemietet, das andere für Manuel.«

»Wer ist Manuel?«

»Ein guter Freund aus der Schweiz.«

»Warum wohnt er nicht bei euch?«

»Genau wie du, bevorzugt er das landwirtschaftliche Ambiente.«

»Aus einem bestimmten Grund? Mag er keine Hotels? Und wieso kommt er jetzt schon? Die Taufe ist doch erst nächste Woche? Flüchtet er auch vor einer Veranstaltung?«