FRANK HARPER

 

 

Die Nächte

der weißen Lilie

 

 

 

 

Roman 

 

 

Apex Crime, Band 10

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DIE NÄCHTE DER WEISSEN LILIE 

Erster Teil 

Zweiter Teil 

Dritter Teil 

 

 

Das Buch

 

Mein Blick glitt über die Gesichter. Dabei vermied ich sorgfältig, die große rothaarige Frau anzusehen, deren voller, etwas feuchter Mund mehrmals fast auffordernd zu mir hingelächelt hatte. Sie fiel etwas aus dem Rahmen, woran vielleicht nur die Haarfülle und die auffallend grünen Augen schuld waren. An feineren Gesichtern fehlte es nicht, nur dass es mir unmöglich war, sie zu einem Lächeln zu bewegen, zu einem kleinen Zeichen, dass ich willkommen war. Ganz im Gegenteil, gelangweilt saßen die Schönen da wie eine Geheimverbindung von Jungfrauen.

Endlich, als ich fast schon aufgab, nickte mir ein betörend blonder Kopf zu, doch gerade in diesem Augenblick trat jemand neben mich, und eine etwas heisere Stimme sprach über meine Schulter hinweg: »Laden Sie mich zu einem Martini ein?«

 

Licht und Schatten von New York sind die Kulissen dieses außergewöhnlichen Thrillers... und Frank Harper ist in dieser Umgebung keinesfalls der trockene Mathematiker des kriminalistischen Einmaleins: Er formt mit seiner lebendigen Sprache – und oft mit feinem Humor – die Figuren der Handlung zu realen Menschen und Charakteren.

Die Nächte der weißen Lilie - ein düsteres, spannungsgeladenes Meisterwerk aus der Feder von Frank Harper!

  DIE NÄCHTE DER WEISSEN LILIE

 

 

 

 

  Erster Teil

 

 

  Der Schrei riss mich aus meinen Gedanken, als ich an der Mall im Central Park vorüberkam und mich dem Lichterglanz näherte, den New York in die Nacht ausschüttet.

Ein Mann hatte geschrien, vielleicht um Hilfe, und der Schrei ließ mich erbeben.

Ich stand reglos. Jetzt war es still um mich her, und ich lauschte in die Stille, ließ den Blick über den See gleiten, den Rasen, das Gebüsch, die ungewiss im Dunkeln schimmerten. Es  blieb still. Schon glaubte ich, mich getäuscht zu haben, als noch einmal ein Schrei kam, dieses Mal halb erstickt, mehr ein schweres Röcheln,  das gleich darauf erstarb.

Angst befiel mich. Ich wusste, dass der große Park nachts gefährlich ist; mancher Mord war in den dunklen Schlupfwinkeln begangen worden. Galt ich auch als ein Reporter des New Yorker Globe als hartgesotten, in Wahrheit bin ich empfindlich, ja, nervös und furchtsam. Ich hatte den Park auch nur betreten, weil es ein ausnehmend schöner Abend war, und es war noch nicht ganz dunkel.

Ich begann zu laufen, in die ungefähre Richtung, aus der der Schrei gedrungen war; ich stolperte, lief weiter, einen mit Efeu überrankten Weg hinan, der Lover's Lane genannt wird. So scharf ich auch um mich spähte, im matten Schein der Laternen sah ich nichts als meinen eigenen Schatten, der mit mir um die Wette zu rennen schien.

Plötzlich blendeten vor mir die Lampen eines Funkwagens auf, der den Park durchstreifte, und ein Polizeifahrer schrie: »Stehenbleiben! Was haben Sie hier noch so spät zu suchen?«

Ich blieb sofort stehen. »Gut, dass Sie da sind«, sagte ich erleichtert. »Ich habe einen Schrei gehört. Offenbar ist hier jemand überfallen worden.«

»Was Sie gehört haben, ist mir einerlei. Ich habe Sie gefragt, was Sie hier zu suchen haben.«

»Ich überfalle Liebespaare«, grinste ich.

Es war ein schlechter Witz.

»Haben Sie einen Ausweis bei sich?«

»Sicher.«

Ich zeigte dem Grobian meinen Presseausweis. Al Farfor vom Globe. Es machte nicht den geringsten Eindruck.

»Mann Gottes, ist Ihnen denn nicht bekannt, dass nachts niemand in den Park darf? Scheren Sie sich auf die Straße zurück!«, brüllte er mich an.

Ich hasse Polizisten. Ich sagte: »Ihr Vorgesetzter, Inspektor McGee vom 22. Revier, ist ein Freund von mir. Sie können damit rechnen, Sir, dass ich mich über Sie beschweren werde.«

»Erst verlassen Sie den Park, und dann beschweren Sie sich über mich!«

»Nehmen Sie doch Vernunft an«, bat ich. »Glauben Sie mir, es hat jemand um Hilfe geschrien. Ich habe es gehört.«

»Sie kenne ich! Sie hören immer alles und sehen immer alles.«

»Ich schwöre...«

»Ich weiß, ich weiß. Al Farfor war dabei!«, lachte er bösartig, trat den Gashebel nieder und stob davon.

»Al Farfor war dabei.« Das ist der Titel meiner Artikel, die täglich im Globe erscheinen, meist über die Sportereignisse des Tages.

Ich ging weiter, auf die Lichter zu, die jenseits des Parks funkelten. Es waren die Lichter, die ich liebte, die Lichter von New York, die wie ein Feuerwerk in den Himmel stiegen. Sie berauschen mich immer aufs Neue. Die fielen aus den hohen Stock werken des Empire-State-Gebäudes, des Rockefeller-Center-Gebäudes, des Chrysler-Gebäudes und aus jedem Straßenzug.

Über dem Broadway schwelte der Himmel in einem dunstigen, glutvollen Rot.

Dies ist meine Stadt, in der ich nur einer von acht Millionen Menschen bin. So unbedeutend ich auch bin, nichts als ein Sport-Berichterstatter, der bescheiden genug leben muss, inmitten all des Reichtums, ich liebe diese maßlose, frevelhafte, wilde Stadt New York.

Vielleicht, versuchte ich mich selbst zu trösten, war jener Schrei doch eine Täuschung gewesen. Ich war schon nicht mehr sicher, dass ich ihn wirklich gehört hatte.

An der Plaza stieg ich in ein Taxi.

»Zu Teddy«, rief ich dem Fahrer zu.

 

Das berühmte Restaurant, in dem sich die Größen von Sport und Bühne treffen, liegt in der 51. Straße, zwischen Fünfter und Sechster Avenue, am Rande Radio Citys, umbrandet vom Lärm der Riesenstadt und eingetaucht in den Glanz von Neonröhren, die seltsame Zeichen in die Nacht schreiben.

Der Lärm, der bunte Glanz blieben zurück, als Timothy, der Portier, die Glastüren vor mir aufschwang. Ich trat ein, und ich war zu Hause.

Den Zwischenfall im Park hatte ich schon fast vergessen.

»Wie war's am Nachmittag im Yankee Stadion, Al?«

»Großartig.« Ich war zu Charlene getreten, dem Garderobenfräulein, das mir meinen Hut abnahm. »Die Yanks haben gesiegt, 4:3, und Harry Kan hat sich selbst übertroffen.«

»Wirklich?«

Ein kurzes, bitteres Schweigen war zwischen uns, eine Spannung, wenn wir auch beide lächelten. Das Lächeln stimmte nicht. Einst hatte sie mir nahegestanden, sie mit ihrem dunklen Haar und ihrer schmeichlerischen Stimme, und Kan war dazwischengekommen.

»Ist er schon hier?«

»Nein, noch nicht!«

»Wenn er kommt, will ich ihn sprechen.«

»Wozu das, Al?«

»Das habe ich schon lange vor«, sagte ich in plötzlicher Erregung.

»Al, bitte...«

Sie sah mich mit dem Blick an, dem ich mich immer unterworfen hatte, und ich lächelte kläglich. »Keine Angst, Charlene, ich werde mich schwer hüten, mich mit ihm einzulassen, schon darum, weil er viel stärker ist als ich.«

Sie gab mir die Garderobennummer.

»Müssen Sie mir gerade die 13 geben?«, fragte ich.

»Entschuldigung, Al. Ich vergesse immer, dass Sie abergläubisch sind.«

Da musste ich doch lachen. »Ich und abergläubisch?«

»Früher waren Sie es jedenfalls.«

»Ach, Unsinn«, sagte ich und ging zur Bar.

Die Bar im Vorraum des Restaurants, in dem Tisch 23 stets für mich und meine Gäste reserviert war, ist imposant. Es ist eine ovale Bar, die über fünfzig Zechern Platz bietet, und gezecht wird hier ohne Unterlass. Da ist ein Dutzend Mixer, von denen der alte James ein Meister ist, wenn es zum Martini kommt, den nur ganz wenige in der Welt wahrhaft perfekt mixen können. In beleuchteten Reihen aus Spiegelglas stehen der Scotch und der Bourbon, darunter einer, der fast 75 Jahre lang in der Erde Kentuckys gelagert hat, woher der gute Bourbon kommt. Da gibt es feinsten Kognak und Armagnac, den feinsten Gin, Chartreuse und Benedictine, und es gibt nichts, was es hier nicht gibt, sogar Fernet Branca.

Nur ein Platz war frei, neben Jack Gleason, der auf zwei Hockern saß, Mr. Fish und Velvet Lee.

»Entfernen Sie gefälligst die Runzeln von Ihrer Stirn, Al.« Velvet ist zauberhaft, eine der begehrenswertesten Frauen vom Broadway.

Gleason, der fast 300 Pfund wiegt, rief dem Mixer zu: »James, geben Sie dem Mann etwas gegen Runzeln,«

»Möglichst eine Blondine«, sagte Mr. Fish. »Blondinen sind das beste Mittel gegen Brünette.«

»Das ist gut!« Gleason lachte schallend. Ich lachte nicht.

»Blond bin ich auch. Wie ist's mit mir, Al?« Velvets Hand lag auf meinem Knie.

»Martini, Mr. Farfor?«, fragte James.

»Bourbon.«

Eine gepflegte Hand strich langsam über mein Knie hinweg aufwärts. »Bin ich nicht die Richtige für Sie?«

»Sie sind albern, Velvet«, sagte ich.

»Ich bin die Richtige'. Ich habe alles, was die Brünette hat, die Sie anscheinend nicht vergessen können. Und ich bin treu.«

Ich sagte nichts. Ich war nicht in der Stimmung...«

Sie war hartnäckig. »Al, es ist ein Prinzip von mir, treu zu sein, wenn ich jemand liebe.«

»Ein Geschäftsprinzip«, sagte Mr. Fish.

Diese Art von Geschwätz verstimmte mich nur noch mehr. Nie hörten meine Freunde auf, darauf anzuspielen, dass ich Charlene verloren hatte, und was Velvet anbetraf, so machte sie sich nur über mich lustig. Sie war fest an Mr. Fish vergeben, und der war Millionär. Ich dagegen hatte noch nicht einmal die letzte Rate des Cadillac bezahlt; den ich fast schon drei Jahre lang fuhr.

»Hat jemand Harry gesehen?«, rief einer.

»Nein, der ist noch nicht hier gewesen«, rief Gleason zurück.

Yogi Berra von den Yanks, der sich nach Harry erkundigt hatte, schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich einfach nicht.«

Die Yanks feierten bei Teddy den Sieg über die Cincinnati Reds, und man wartete auf Harry Kan, der diesen Sieg noch in den letzten drei Minuten herausgerissen hatte, der Teufelskerl!

Erbittert stürzte ich meinen Bourbon hinunter.

Ich sah zu den Yanks hinüber, diesen prachtvollen Athleten, und ich sah den Ehrenplatz - mit Rosen geschmückt, den sie für ihn freigelassen hatten. Er war der Prachtvollste von ihnen, und jeden Cent der 100.000 Dollar wert, die sie für ihn bezahlt hatten. Er war groß und stark und schön wie Cary Lane, der Filmstar, dem er sehr ähnlich sah, und niemand konnte den Ball so weit ins Außenfeld schlagen wie er.

Er war, das stand auf jeden Fall fest, ein Mann, mit dem ich mich nicht messen konnte, und mein eigenes Spiegelbild, das aus den Spiegeln der Bar auf mich blickte, schien das bestätigen zu wollen.

Und doch, dachte ich fast hämisch, stimmte auch mit Harry etwas nicht. Irgendwo war er ganz schwach, und ich war fest überzeugt davon, dass er sich heute - wie so oft - betrunken hatte und im Bett irgendeiner Frau seinen Rausch ausschlief.

»Noch einen Bourbon, James.«

Mir war elend, und der Bourbon stimmte mich noch elender, doch als ich genug davon in mir hatte, wusste ich auf einmal, dass meine schlechte Laune gar nichts mit Harry Kan oder Charlene zu tun hatte. Man weiß viel, wenn man betrunken ist. Und ich wusste plötzlich, dass es der Schrei gewesen war, der mir den ganzen Abend verdorben hatte, der Schrei, der aus dem Dunkel des Parks zu mir gedrungen war und der noch immer in mir nachzugellen schien. Am meisten ärgerte es mich, dass ich mich. von einem Polizisten hatte davonjagen lassen.

»Al, kommen Sie mit in den Stork Club?«

Gleason gab mir einen Stoß in die Seite, und Velvet streichelte mein Haar.

»Nein, ich...«

»Lasst ihn. Mit dem ist heute nichts anzufangen«, sagte Mr. Fish, und die drei gingen.

»Mehr Bourbon, James!«

Jetzt war ich so allein, wie man in diesem immer überfüllten Restaurant namens Teddy nur sein konnte, und zusammen mit dem Glühen des Bourbons in meinen Eingeweiden baute sich eine starke Unruhe in mir auf, ein Verlangen, den Dingen, die sich im Park abgespielt haben mussten, auf den Grund zu gehen. Nein, eine Täuschung war es nicht gewesen. Ich wusste es nun ganz genau, jemand hatte in dem großen Park inmitten New Yorks geschrien, und der Schrei war verhallt, wie viele Schreie in dieser Riesenstadt verhallen.

New York ist taub, wenn jemand um Hilfe schreit.

»Bourbon.«

»Mr. Farfor, ist es nicht ein bisschen zu viel? Sie können doch nicht so viel vertragen?« James ist an die siebzig, weißhaarig und weise, ein Mann, der es sich erlauben darf, so mit mir zu sprechen.

Trotzdem sagte ich: »Was fällt Ihnen ein?«

»Ich meine es doch gut mit Ihnen.«

»Ich weiß, James.«

Ich zeichnete meinen Namenszug unter die Rechnung und erhob mich. Getrieben von dem Wunsch, zu erfahren, was im Park geschehen war, eilte ich zur Garderobe, wo ich mir meinen Hut aushändigen ließ, ohne auch nur einen Blick auf Charlene zu werfen.

 

Über den Broadway gingen Schauer weißen Lichtes nieder. Ich lief zur 44. Straße, wo sich das Globe-Gebäude befindet. Dort an den UPI- und AP-Fernschreibern konnte ich etwaige Nachrichten aus dem Park abwarten. Menschenmassen, die sich am Paramount-Theater und Astor-Hotel vorüberschoben, blockierten meinen Weg, so dass ich mit den Ellbogen um mich stoßen musste, um überhaupt vorwärts zu kommen.

Die erste Morgenausgabe des Globe, die meinen Bericht über den Sieg der Yanks enthielt, war schon auf der Straße, und als ich um die Ecke der 44. Straße bog, sah ich die Packen der zweiten Ausgabe in die bereitstehenden Lastwagen fliegen. Händler schrien bereits die Schlagzeile aus. Die heiseren Schreie drangen an mein Ohr. Ich blieb mit einem Ruck stehen.

»Cary Lane im Central Park ermordet.«

Es war nicht mehr nötig, an den Fernschreibern auf irgendetwas zu warten.

Von dort, wo ich stand, konnte ich das Portal des Paramount-Theaters sehen. Es blendete magischen Glanz in die Broadwaynacht, und Hunderte von Menschen drängten sich vor den Kassen. Man gab einen Film mit Cary Lane, Abgott der Frauen.

Eine Sekunde schien das Getöse von Autobussen und Taxis, untermischt mit Jazzmusik, die unentwegt aus Schallplattengeschaffen drang, so anzuschwellen, dass ich mir, überempfindlich wie ich bin, die Ohren zuhalten musste.

Mein Cadillac stand, wie so oft, im Hof des Globe, und erst, als ich in die schon etwas schäbige Lederpolsterung sank, gelang es mir, ruhiger zu werden. Ich fühlte mich schuldig. Ich war davongelaufen - anstatt nach dem sterbenden Lane zu suchen.

Ich tat einen tiefen Atemzug aus dem silbernen Flakon mit Riechsalz, das ich stets im Handschuhfach meines Wagens mitführe.

Ich ließ den Motor anspringen, stellte die automatische Schaltung ein und fuhr los. Nur konnte man zu dieser Stunde nicht gut von Fahren sprechen. Tausende von Autos hielten mich auf, und gegen die roten Haltesignale, die den langen Straßenzug zum Park hinauf glühten, war nichts auszurichten.

Am Columbus Circle, wo der Park beginnt, verlor ich die Geduld. Ich trat den Gashebel nieder. Dreimal sah ich im Rückspiegel, dass meine Wagennummer notiert wurde, doch dafür kam ja meine Zeitung auf, und ich jagte unbeirrt weiter. An der 72. Straße bog ich in den Park ein.

An der Mall parkte ich den Wagen. Ich lief in den Park hinein, über die Rasenflächen, den ansteigenden Weg hinan, von dem wie in einem Irrgarten Pfade abzweigten, wo sich, wenn die Nacht schön ist, Liebespaare treffen. Dies war eine schöne Nacht. Es war die Nacht zum 1. Juni 1956, doch es war keine Nacht für Liebespaare. Die Lichtkegel von Polizeischeinwerfern fegten über die Pfade.

Dann sah ich auch die Funkwagen, alle vom 22. Revier, das den Park betreut. Polizeispezialisten suchten den Pfad, eine Bank und das Gebüsch dahinter ab. Über die Bank gelehnt stand der Polizeiarzt. Kurz flackerte das Blitzlicht einer Kamera auf, und in der plötzlichen Helle erkannte ich Mr. Kennedy, den Polizeipräsidenten, der persönlich hierhergeeilt war.

Ich sah auch etwas auf der Bank liegen, und neben dem Polizeiarzt sah ich McGee.

Ich drängte mich näher an die Bank heran, doch die Polizisten stießen mich zurück.

»Mac«, rief ich »Mac!«

McGee sah kalten Blickes auf. »Was willst du?«

»Ich muss mit dir sprechen.«

»Bedauere, Reporter sind nicht zugelassen.«

»Ich komme nicht als Reporter.«

»Ist mir einerlei. Ich bin jetzt nicht zu sprechen.«

»Mac, so kannst du doch nicht einen alten Freund abweisen«, rief ich empört.

So weit her war es nicht mit der Freundschaft. Hatten wir auch einst im Fall der Schwarze-Rose-Morde Hand in Hand gearbeitet, so war doch hinlänglich bekannt, dass er mich nicht leiden konnte, weil er mich für einen Schwächling hielt.

»Dies ist eine schreckliche Bescherung!«, fuhr er mich an. »Der größte Filmstar Hollywoods wird im Central Park ermordet aufgefunden, und da kommst du und willst dich mit mir unterhalten. Wenn du nicht Angaben über den Mord machen kannst, scher dich davon.«

»Wie du willst. Ich gehe.«

»Inspektor, halten Sie den Mann!« Einer der Polizisten wies auf mich, und ich erkannte den Grobian, der mich vorhin aus dem Park gewiesen hatte. »Das ist der Bursche, den ich vom Tatort weglaufen sah, und der mir gleich verdächtig vorkam.«

»Moment, Al.« McGee winkte mich heran. »Was hast du dazu zu sagen?«

Ich sagte: »Zunächst möchte ich mich über diesen Polizisten beschweren, der mich aufs unhöflichste behandelt hat, als ich darüber Meldung erstattete, dass ich Schreie gehört hatte.«

»Darüber kannst du dich ja in deinem Schundblatt beschweren. Was mich interessiert, ist lediglich, dass du hier in der Nähe warst. Stimmt das?«

»Ich kam hier vorbei, wie jeden Abend, wenn ich noch zu Teddy gehe.«

»Sehr seltsam, Al, dass du hier vorbeikamst, als Lane ermordet wurde.«

Im Gegensatz zu mir ist McGee kein Schwächling. Er ist ein nahezu brutaler Mann, wie es der Inspektor des gefährlichsten Reviers Nerv Yorks wohl sein muss, und gelegentlich hat er auch Schwierigkeiten gehabt, weil er sich an verhafteten Personen vergriffen hat. Er ist ein ehemaliger Boxer, und seine Faust holt sehr leicht aus.

»Was ist daran so seltsam?«, stammelte ich.

»Dass du vom Tatort wegliefst, wie mein Beamter sagt.«

»Ich bin nicht weggelaufen. Ich hörte Schreie, und ich lief, um dem, der geschrien hatte, Hilfe zu bringen. Ist das klar?«

»Nein.«

Seine Augen unter den schwarzen Brauen, die über der Nasenwurzel fast zusammenwuchsen, maßen mich drohend.

»Kanntest du Lane?«

»Nein, nicht persönlich.«

Unwillkürlich wich ich vor ihm zurück, als er nach meinem Arm griff. Sein Griff war hart. »Sieh dir die Leiche an.«

»Muss das sein?«

»Stell dich nicht so an.«

Er zog mich zu der Bank, auf der die Leiche lag. Ich hatte das Gefühl, dass er sich daran weidete, dass mir elend war.

»Wollen Sie ein Beruhigungsmittel?«, fragte der Polizeiarzt fast mitleidig.

Die Leiche war in Blut gebadet. Es musste ein Messer mit einer sehr scharfen Schneide gewesen sein. Und es hatte den Körper von der linken Brust, wo es mehrmals herumgedreht worden war, bis in den Unterleib aufgeschlitzt.

»Beachten Sie die Feinheiten«, sagte der Polizeiarzt sachlich. »Die dreifache Drehung in der Herzgegend weist auf die Methode der Sioux hin, und es sieht mir auch so aus, als wenn hier ein indianisches Skalpmesser benutzt worden sei.«

»Wie können Sie das wissen?«, fragte McGee.

»Diese Skalpmesser haben unerhört feine Schneiden.

Zu meiner eigenen Überraschung fiel ich nicht in Ohnmacht. Ich sah starr auf das Haupt des Toten, dieses schöne Gesicht mit den verglasten Augen, das ich so gut kannte. »Das ist nicht Cary Lane«, sagte ich.

»Rede keinen Unsinn!«

»Es ist kein Unsinn, Mac. Ich kenne diesen Mann.«

»Wer ist es?«

»Harry Kan von den Yanks. Er sieht Lane sehr ähnlich.«

»Der Baseballspieler?«

»Ja. Ein Irrtum ist nicht möglich.«

»Ich will verdammt sein«, stöhnte McGee.

»Darf ich jetzt gehen?« Ich musste meine Zeitung benachrichtigen, dass Kan und nicht Lane im Central Park ermordet worden war.

»Nein. Du bleibst, bis du meine Fragen beantwortet hast.«

»Bitte, beeil dich, Mac.«

»Mit Kan warst du also persönlich bekannt?«

»Gewiss. Ich kenne alle Baseballspieler.«

»War das nur eine berufliche Bekanntschaft?«

»Etwas mehr als das. Wir haben einander gelegentlich bei Teddy getroffen.«

»Es war also ein Freund von dir?«

»Nein, ganz und gar nicht.«

Der Nachdruck, den ich diesen Worten gab, fiel McGee doch auf. Geschult wie er war, nahm er die geringste Veränderung im Tonfall wahr, die geringste Veränderung im Gesichtsausdruck, und wahrscheinlich wies mein Gesicht den alten Ingrimm auf. Er sah mich forschend an. »Hattest du etwas gegen ihn?«

»Offen gestanden, ja. Vor etwa einem Jahr hat er mir meine beste Freundin weggenommen, und das verzeih ich ihm nie.« Es war mir klar, dass ich McGee ein erstklassiges Motiv geliefert hatte.

»Du gibst ja allerhand zu.«

»Ich gebe nichts zu.«

»Mir kannst du's doch sagen, Al. Schließlich sind wir wirklich alte Freunde. Hast du Harry Kan umgebracht?«, fragte er im biederen Ton.

»Hast du den Verstand verloren?«

»Möglicherweise bist du derjenige, der den Verstand verloren hat.«

Ich lachte, doch ich wusste nur zu gut, dass ich wenig Grund zum Lachen hatte. Die Umstände waren gegen mich, zum Beispiel der Umstand, dass ich erst vorhin Charlene versichert hatte, mit Harry abrechnen zu wollen, auch meine drei Freunde an der Bar hatten über mich den Kopf geschüttelt. Vielleicht hatte selbst der alte James gefunden, dass ich mich sonderbar benommen hatte.

»Mac, du weißt ganz genau, dass ich nicht das Zeug dazu habe, irgendjemand umzubringen.«

»Nein, das weiß ich nicht. Als Kriminalbeamter, der sich auch ein wenig auf Psychologie versteht, weiß ich nur, dass die grausamsten Morde oft von Personen begangen werden, denen man eine solche Tat gar nicht zutraut, nämlich von so sanftmütigen, empfindsamen, feinen Personen wie du.«

»Genügt dir nicht mein Wort, dass ich mit der Sache nichts zu tun habe?«

»Nein, Al, das genügt nicht.«

»Du vergeudest nur kostbare Zeit! Warum fahndest du nicht nach jemand, der ein indianisches Skalpmesser besitzt und sich auf die Kunst versteht, es nach der alten Siouxmethode anzuwenden?«, rief ich höhnisch.

»Hast du ein solches Messer?«

»Wenn du es genau wissen willst, ich habe sechs Steakmesser aus schwedischem Stahl.«

»Sehr witzig. Bist du mit deinem Wagen hier?«, fragte McGee.

Ich nickte.

»Wenn du nichts dagegen hast, möchte ich mir den gern einmal ansehen.«

Wir gingen zur Mall zurück, gefolgt von mehreren Polizisten, die alsbald darangingen, den Cadillac abzusuchen. Mit Ausnahme des silbernen Flakons mit Riechsalz, eines elektrischen Rasierers und einer Schreibmaschine fanden sie nichts.

»Rasch, etwas mehr Licht«, rief plötzlich ein Polizist.

Ich selbst schaltete die Lampen meines Wagens ein, und in dem starken Licht sah ich das glitzernde Ding in der Hand des Polizisten.

»Es lag hier auf der Straße, direkt neben dem Wagen.«

McGee nahm das Messer in die Hand. Es hatte einen Griff aus geschmiedetem Eisen, um den ein rotes Seidenband geflochten war. Die Klinge, deren Schneide zu äußerster Schärfe geschliffen war, war blutbefleckt. Kein Zweifel, dass der Täter die Mordwaffe hier fortgeworfen hatte.

»Sehr interessant. Eine Rarität. Wo hast du dieses Ding erworben?«, fragte McGee in dem Ton, den ich so hasste.

»Mach dich nicht lächerlich. Dieses Messer hat mir nie gehört.«

»Es scheint wirklich ein Skalpmesser zu sein, ein altes Skalpmesser der Sioux, das heute von historischem Wert ist. In welchem Museum hast du es aufgetrieben?«

»Ich habe dir doch gesagt...

Auf einmal gab McGee den biederen Ton auf. Er starrte mich feindselig an. »Hast du Kan mit diesem Ding ermordet?«

»Nein.«

Er hob die Faust. Möglicherweise war es nur die Bewegung eines alten Boxers, doch ich war auf alles gefasst. »Ich warne dich davor, mich anzugreifen, Mac.«

»Wer greift dich an, Al?«

Ich sah ihm in die Augen. »Verhafte mich, wenn du mich für den Täter hältst. Das ist doch dein gutes Recht.«

Er grinste auf einmal versöhnlich und streckte mir seine große Hand hin. »Ich denke gar nicht daran, dich zu verhaften, bevor ich deine Schuld beweisen kann.«

»Ich kann also gehen?«

Sicher, du kannst gehen.«

Ebenfalls grinsend umschloss ich seine Hand. »Viel Erfolg, Mac.«

»Den werde ich schon haben, Al.«

Ich stieg in meinen Wagen und ließ die Mall und den Park hinter mir. Die lockenden Lichter von New York sagten mir nichts mehr. Gott, wie ich es hasste, in eine Mordsache verstrickt zu werden... ich, dem nichts so schrecklich ist wie Sensationen und Aufregungen!

 

Mit den feinsten Worten, die ich zur Verfügung hatte, schrieb ich am nächsten Morgen über Nasha, das berühmte Rennpferd aus dem Stall James, als Bob Gordon mich rufen ließ. Es ist immer ein Schock für mich, mitten im Satz unterbrochen zu werden, und sofort machte ich mich auf ernste Unannehmlichkeiten gefasst.

Sowohl die News als auch der Mirror hatten Hinweise gebracht, dass ich in Sachen Kan vernommen worden war, und mancher Blick war auf mich gerichtet, als ich meinen Schreibtisch in der Sportabteilung verließ und zum Fahrstuhl ging. Auch Thomas, der farbige Fahrstuhlführer, betrachtete mich sorgenvoll. »Kummer, Mr. Farfor?«

»Eine ganze Menge.«

Mein Spiegelbild sah schlechter denn je aus. Die ganze Nacht hatte ich mich schlaflos herumgewälzt, und die Tatsache, dass ich ein heißes Bad genommen, mich sorgfältig rasiert und eleganter als gewöhnlich angezogen hatte, entschädigte nicht für mein schlechtes Aussehen.

Die Nachrichtenabteilung, das Herz des Globe, lag im  32. Stock, ein riesiger Saal mit vielen Schreibtischen und Schreibmaschinen, an denen ich vorüberlief, auf Bob Gordons Schreibtisch zu. Der befand sich ganz hinten in der Ecke, und darüber an der weißgetünchten Wand hing ein Täfelchen mit dem Wort »Denk!«

Zu meinem Erstaunen empfing mich mein Chef mit ausgebreiteten Armen. »Al, mein guter Junge! Ich bin ja so erschüttert. Waren Sie es wirklich?« Dabei ist er absolut unerschütterlich, ein Klotz von einem Mann, der im ganzen Haus - ja in ganz New York - gefürchtet wird. Er ist gedrungen, mit einem kurzen Nacken, auf dem ein mächtiges Haupt sitzt. Unter den dichten weißen Brauen glitzern seine Augen wie Glasscherben, wen sie auch im Moment mit einem Ausdruck tiefer Teilnahme auf mich zu blicken schienen.

»Ich muss sie enttäuschen, Bob. Ich war es nicht.«

»Wenn Sie es dennoch waren, hatten Sie wohl Ihre guten Gründe. Verlassen sie sich darauf, dass wir die besten Rechtsanwälte für Sie engagieren werden. Mit John Amen habe ich schon gesprochen, und der ist überzeugt, Sie freizubekommen, wenn es zu einem Verfahren kommt - womit Sie rechnen müssen.«

»Sie glauben doch wohl nicht im Ernst...«

»Ich muss es glauben, Al, so unglaublich es auch ist, dass Sie je den Mut zu dieser Tat aufbrachten.«

»Sie scheinen aber keineswegs entsetzt zu sein.«

»Entsetzt? Wenn ich auch die Tat selbst verurteilen muss, so habe ich doch zum ersten Mal Achtung vor Ihnen«, sagte Gordon und schlug mir auf die Schulter, gerade so, als hätte ich ihm endlich bewiesen, dass ich doch kein Schwächling war.

Ich sagte wütend: »Richten Sie John Amen aus, dass ich ihn nicht brauche, da es bestimmt zu keinem Verfahren gegen mich kommen wird.«

»Das wäre allerdings bitter«, grunzte der Chef.

»Was wäre daran so bitter?«

»Mensch, sind Sie schwer von Begriff? Solange Sie beschuldigt werden, den Baseballspieler Harry Kan, über den Sie so oft schrieben, umgebracht zu haben, sind Sie von unschätzbarem Wert für den Globe.« Er sagte es voll Entzücken. Ich war für ihn, den Meister sensationeller Schlagzeilen, ein Wertgegenstand geworden. Er hat unter Hearst gelernt, und die Auflage der Zeitung ist alles, was ihm wichtig ist.

»Was tun Sie heute, Al?«, fragte er plötzlich in dem harmlosen Ton, dem ich misstraute.

»Heute fahre ich zum Belmont-Park, wo Nasha läuft.«

»Unwichtig! Darüber kann auch Keats schreiben.«

»Meine Leser erwarten aber von mir...«

»Ach, Unsinn! Mit Ihrem großartigen Stil sind Sie mir überhaupt viel zu schade für die Sportabteilung. Lassen Sie mich denken.« Den Blick auf das Täfelchen mit dem Wort »Denk!« gerichtet, begann Gordon zu denken. Er dachte angestrengt für mehrere Minuten. Dann sagte er: »Ich hab's, Al Ich brauche Sie hier in der Nachrichtenabteilung.«

»Ausgeschlossen, Bob. Dafür eigne ich mich nicht.«

Widerspruch duldete er nicht. Er hieb mit der Faust auf den Schreibtisch. »Wofür Sie sich eignen, bestimme ich. Mir ist niemand bekannt, der geeigneter als Sie ist, über den Fall Kan zu berichten.«

»Ich, den man verdächtigt...«

»Das macht es ja gerade so interessant! Als alter Zeitungsmann kann ich Ihnen sagen, dass es etwas ganz Neues ist, wenn der mutmaßliche Täter selbst die Berichterstattung übernimmt.«

»Bedauere, Mr. Gordon. Das mache ich nicht mit.«

Er sprang auf, und ich wich zur Seite, als er an mir vorüberstob. Trotz seines schweren Körpergewichts bewegte er sich mit ungeheurer Schnelligkeit, und schon hatte er einen ganzen Stapel von Papieren von einem der Schreibtische gefegt, an dem Atkinson saß. »Machen Sie Platz für Far for, Atkinson.« Er zog Atkinson fast den Stuhl weg.

»Wollen Sie mich nicht erst anhören, Bob?«, wandte ich ein.

»Halten Sie mich nicht unnütz auf! Wenn Sie eine Sekretärin brauchen, ist Miss Witherspoon gerade richtig für Sie.« Damit griff er nach dem Arm der Dame, die das Pech hatte, in diesem Augen« blick vor ihm aufzutauchen.

»Miss Witherspoon! Künftig werden Sie für Mr. Farfor tätig sein.«

Die Dame war nicht weit davon entfernt, in Ohnmacht zu fallen. »Mr. Atkinson kann aber nicht ohne mich...«

»Wenn es Ihnen nicht passt, sind Sie entlassen!« Dann zog Gordon grollend ab.

Ich saß ziemlich unglücklich an meinem neuen Schreibtisch, der mit drei Telefonen, Fernschreiber, Schreibmaschine und Miss Witherspoon ausgestattet war.

»Ich hoffe, Sie finden sich mit mir ab, Fräulein«, sagte ich. Die Dame war nicht mehr ganz jung und sah auch reichlich streng aus.

»Ich muss mich damit abfinden, wenn's auch ein harter Schlag ist.«

»Danke!«

»Entschuldigen Sie! Ich meinte es nicht persönlich. Was kann ich für Sie tun, Mr. Farfor?«

»Halten Sie meine Hand.«

»Bitte?«, fragte Miss Witherspoon entgeistert.

»Ich komme mir nämlich genauso verloren vor wie Sie.«

Auf Nasha musste ich nun verzichten. Es war nicht möglich, der Wirklichkeit zu entrinnen. Die Wirklichkeit hieß Harry Kan. Harry Kan und ein indianisches Messer.

Das Läuten eines der Telefone riss mich aus meinen Überlegungen, und ich blickte auf Miss Witherspoon, die den Hörer abnahm.

»Was gibt's?«, fragte ich.

»James ist um drei Punkte gestiegen.«

»James?«

»James Chemikalien, wichtige Regierungsaufträge.«

»Ich verstehe nicht.«

»Das Gespräch ist noch für Mr. Atkinson. Er ist der Wirtschaftsredakteur. Ich lasse es umlegen«, sagte Miss Witherspoon.

»Beeilen Sie sich!«

»Ich beeile mich ja schon. Schade, dass Sie es so eilig haben.«

»Warum?«

»Weil ich Ihnen raten möchte, Ihren Börsenmakler sofort zu beauftragen, James Chemikalien zu kaufen. Hören Sie auf mich. Sie können reich daran werden.«

»Ich habe keinen Börsenmakler. Und mit Wertpapieren und Geld will ich auch nichts zu tun haben. Verstanden?«

»Jammerschade«, sagte die Dame gekränkt, als hätte ich einen Rat von unermesslicher Bedeutung abgelehnt.

»Verbinden Sie mich mit Inspektor McGee vom 22. Revier!«

Mac war nicht gerade erbaut davon, dass mich meine Zeitung mit der Berichterstattung über den Fall Kan beauftragt hatte, und meine Bitte um Zusammenarbeit stieß auf taube Ohren.

»Gibt es irgendetwas Neues?«, fragte ich.

»Ja, wir haben herausgefunden, dass Kan gestern Abend gegen acht, also eine Stunde vor dem Mord, in der Zebra-Bar war.«

»Ist das nicht die Bar Ecke Madison Avenue und 72. Straße?«

»Du kennst dich ja gut aus. Verkehrst du da etwa auch? Warst du vielleicht gestern Abend gegen acht da?«

Es knackte im Telefon, das Gespräch war unterbrochen. Zugleich begannen die beiden anderen Telefone zu läuten, und von meinem Fernschreiber erscholl das Signal. Noch immer hielt ich den Hörer ans Ohr gepresst, doch McGee meldete sich nicht mehr. Stattdessen hörte ich verworrene Geräusche, offenbar von der Wertpapierbörse, und eine aufgeregte Stimme rief: »In Wall

Street gehen große Dinge vor sich. James ist um zwei weitere Punkte gestiegen.«

»Zum Teufel mit der Wall Street!«, schrie ich und hängte auf.

 

 

Auch ohne Bourbon war ich an diesem Abend ein umgewandelter Mann. Mir war klargeworden, dass ich als Reporter des Falles Kan die ganze Organisation des Globe hinter mir hatte und wenigstens versuchen konnte, meinen eigenen Namen reinzuwaschen.

Ich wusste, dass ich mich in einer Situation befand, die eigentlich nur in Kriminalromanen von Agatha Christie und Paul Lalonde vorkommt, doch für mich war diese Situation wirklich, und ich begann meine Nachforschungen mit verzweifeltem Ernst und dem Vorsatz, meine Hemmungen zu überwinden.

Damit musste ich sofort anfangen: Ich hatte nämlich Hemmungen, als ich von der 72. Straße in die Madison Avenue einbog und dort vor der Zebra-Bar aus dem Wagen stieg. Dies ist die feinste Gegend der Stadt. Äußerlich macht die Bar einen ähnlich feinen Eindruck, der auch drinnen noch erhalten ist: indirektes Licht, weißer Teppich, schwarz-weiß gestreifte Sofas und Sessel. Dass nahezu nur Frauen darin sitzen, ausnehmend gut aussehende Frauen, mit einer Olive im Martini, fällt allerdings sofort auf.

Doch sie saßen in damenhafter Haltung, in scheinbarer Unnahbarkeit, und abgesehen von einer großen rothaarigen Frau, die mir deutlich einen interessierten Blick zuwarf, beachtete mich niemand. Ich bin ja auch nicht der Typ, den Frauen beachten. Und die Rothaarige war nicht mein Typ.

An der Bar saß ich als einziger, den Blick so in den Spiegel gerichtet, dass ich die Frauen beobachten konnte, besonders die üppige alte Dame, die zu viel Brillanten trug, wahrscheinlich die Inhaberin. Ich verlangte ein Coca-Cola.

»Mit Rum?«, fragte der Mixer dreist.

»Nein, ohne.« Zu dem, was ich mir vorgenommen hatte, gehörte auch der Verzicht auf Alkohol, den ich mir allerdings schon oft vorgenommen hatte. »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus.«

»Oh, nicht das Geringste.« Der Mixer war ein pfiffiger Irländer, mager und sommersprossig, mit einem Schwall rötlichen Haares. »Das Coca-Cola kostet so oder so fünf Dollar.«

»Ich gebe Ihnen zehn Dollar, wenn Sie mir eine Auskunft geben.«

»Über Harry Kan?«

Ich fuhr ein wenig zurück.

»Das geht schon den ganzen Tag so«, grinste der Mixer. »Sind Sie ein Detektiv?«

»Presse.«

»Tut mir leid, dass ich Ihnen gar nichts sagen kann. Gestern war mein freier Tag. Ich war nicht hier.«

»Wer ist denn hier gewesen?«

»Die Damen. Die sind jeden Abend hier.«

Es war nun notwendig für mich geworden, mich an eine der Frauen zu wenden, doch ich war mit den Formalitäten nicht vertraut, die in der Zebra-Bar gewahrt werden müssen. Im Spiegel beobachtete ich einen dicken Herrn aus Boston oder Philadelphia, der mit der üppigen Dame verhandelte und dann einer wirklich herrlichen Brünetten, die für den Dicken viel zu schade war, vorgestellt wurde.

»Muss ich auch erst mit der Madame sprechen?«, fragte ich den Mixer.

»Bloß nicht. Wenn Mrs. Selbit hört, dass Sie von der Presse sind, werden Sie vor die Tür gesetzt.«

Mein Blick glitt über die Gesichter. Dabei vermied ich sorgfältig, die große rothaarige Frau anzusehen, deren voller, etwas feuchter Mund mehrmals fast auffordernd zu mir hingelächelt hatte. Sie fiel etwas aus dem Rahmen, woran vielleicht nur die Haarfülle und die auffallend grünen Augen schuld waren. An feineren Gesichtern fehlte es nicht, nur dass es mir unmöglich war, sie zu einem Lächeln zu bewegen, zu einem kleinen Zeichen, dass ich willkommen war. Ganz im Gegenteil, gelangweilt saßen die Schönen da wie eine Geheimverbindung von Jungfrauen, was wohl den Anordnungen der Mrs. Selbit entsprach.

Endlich, als ich fast schon aufgab, nickte mir ein betörend blonder Kopf zu, doch gerade in diesem Augenblick trat jemand neben mich, und eine etwas heisere Stimme sprach über meine Schulter hinweg: »Laden Sie mich zu einem Martini ein?«

Auf meinem Hocker drehte ich mich so, dass ich der Rothaarigen gerade ins Gesicht sah; es war kein unschönes Gesicht. »Gern.« Es ist eine meiner Schwächen, nicht Nein sagen zu können, vor Angst, jemanden zu verletzen.

»Man steht auf, wenn man zu einer Dame spricht«, ermahnte sie mich lächelnd.

»Entschuldigung.«

Ich erhob mich schon. Die Frau war mindestens einen Kopf größer als ich. Sie war größer als jede Frau, die ich je getroffen hatte, und sie war wahrhaft imposant.

»Man stellt sich auch vor«, sagte sie.

»Ich bin Al Farfor.«

»Sie sagen das, als wenn ich Ihren Namen kennen müsste. Sind

Sie Jemand, den man kennt, Wenn man nicht so unbelesen ist wie ich?«

»Nein, nein.«

»Mein Name ist Carlotta Colt, von Hohokus, New Jersey.«

Von einer solchen Stadt hatte ich nie gehört, doch wie ich mich später überzeugte, gibt es wirklich ein Hohokus in New Jersey, einen Marktflecken, wo man Schweinezucht betreibt.

»Bieten Sie mir Platz an, Al!«

Ich schob einen Hocker für sie zurecht, und jetzt saß sie so dicht neben mir, dass wir einander mit Schulter und Ellbogen berührten. Ihr schwarzes Abendkleid ließ ihre Schulter entblößt. Es war aus Samt, der ein wenig staubig aussah, überhaupt schien sie mir etwas schlampig. Es störte mich nicht.

»Wo bleiben die Drinks?«, fragte sie etwas ungehalten!

Ich bestellte einen Martini. »Wenn Sie erlauben, bleibe ich bei meinem Coca-Cola.«

»Sie trinken nicht?«

»Nicht mehr,«

»Wir passen nicht zusammen, Al. Ich trinke nämlich«, lachte sie und schlug mir ein wenig derb auf die Schulter, »Was haben Sie übrigens mit mir vor? Das Übliche?«

»Was ist das Übliche?«

»Theater oder Oper.«

»Nein, nicht das«, sagte ich und schob ihr mein Zigarettenpäckchen hin, bevor sie sich über meine Unaufmerksamkeit beschweren konnte. »Es mag nicht gerade üblich sein...«

Ihr Blick ging prüfend über mich. »Solange Sie nicht vergessen, dass Sie von mir nichts als meine Gesellschaft haben können, bin ich auch mit dem Unüblichen einverstanden.« Sie nahm sich eine Zigarette, und sie nahm mir das brennende Zündholz aus der- Hand. »Was ist es?«

»Haben Sie Harry Kan gekannt?«

Ohne sich die Zigarette anzuzünden, hielt sie das Zündholz zwischen ihren Fingerspitzen. Es brannte nieder, und erst im letzten Augenblick ließ sie es zu Boden fallen. »Kein Wort über Kan hier!«, flüsterte sie mir zu.

»Also gehen wir«, drängte ich.

»Erst müssen Sie bezahlen.«

Ich gab dem Mixer zehn Dollar, doch das hatte Carlotta Colt nicht gemeint. Sie hängte sich in meinen Arm ein und schob mich Mrs. Selbit zu. Ich musste den Formalitäten Genüge tun. Nicht nur musste ich mich ausweisen, ich musste auch die Namen von drei Geschäftsfreunden angeben, die meine Ehrenwertigkeit verbürgen konnten, schließlich hatte ich 100 Dollar Zu hinterlegen, preiswert genug in Anbetracht der imponierenden Körperfülle meiner Begleitdame.

 

Planlos fuhr ich über die 5th Avenue, vorüber am Rockefeller Center, an der St.-Patrick-Kathedrale, am James-Gebäude, mit dem beleuchteten Denkmal von Lathan James davor.

»Wir können zum El Borracho gehen, Al.«

Im Wagen war es dunkel. Nur von den Armaturen fiel ein Schimmer auf lange, kräftige Frauenbeine.

»Da ist zu viel Betrieb.«

Es war ungefähr ein Jahr her, seit neben mir in meinem Wagen eine Frau gesessen hatte, Charlene, und jetzt saß dort die rothaarige Frau von Hohokus, New Jersey.

»Teddy?«, schlug sie vor.

»Nein, dort kennt mich jeder.« Ich konnte mir das Erstaunen meiner Freunde und sogar der Kellner vorstellen, wenn ich dort mit einer auffälligen Frau erschien.

»Warum laden Sie mich nicht zu sich ein, wenn Ihnen all die Lokale nicht passen?«

Ich sah zur Seite. Ich hatte diesen Vorschlag nicht erwartet, und ich war nicht erbaut davon, sie in meiner Wohnung zu haben. Dazu gefiel sie mir nicht gut genug. »Ihr Vertrauen ehrt mich.«

»Bisher haben Sie mir keinen Grund gegeben, Ihnen nicht zu trauen.«

»Auf mich können Sie sich auch weiterhin verlassen.«

»Oh, ich verlasse mich immer auf mich selbst.«

Ich konnte mir nicht verhehlen, dass sie Eindruck auf mich machte. »All right. Gehen wir zu mir«, willigte ich ein.

Über Central Park South fuhr ich Central Park West zu.

»Warum wollen Sie eigentlich mit mir über Kan sprechen?«, fragte sie.

»Weil...« Ich zögerte. »Versprechen Sie mir, nicht davonzulaufen, wenn ich Ihnen die Wahrheit sage?«

»Ich laufe nie davon.«

»Man verdächtigt mich des Mordes.«

»Ach!«

»Darum liegt mir daran, Dinge in Erfahrung zu bringen, die mich entlasten können. Von Ihnen möchte ich wissen, wen Kan gestern Abend in der Zebra-Bar getroffen hat!«