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Günter Figal

Martin Heidegger zur Einführung

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Junius Verlag GmbH
Stresemannstraße 375
22761 Hamburg
Im Internet: www.junius-verlag.de

© 1992 by Junius Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Florian Zietz
Titelfoto: akg-images
E-Book-Ausgabe September 2018
ISBN 978-3-96060-066-4
Basierend auf Printausgabe
ISBN 978-3-88506-750-4
7., vollständig überarb. Aufl. Mai 2016

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Vorbemerkung

1. Einleitung

2. Philosophie und Geschichte

Beginn mit Hegel und Kierkegaard

Rückfrage an Aristoteles

3. Fundamentalontologie: Ein folgenreiches Zwischenspiel

Destruktion des Aristoteles

Fundamentalanalyse des Daseins

Dasein in einer Welt

Zeit: Zeitlichkeit und Temporalität

4. Die Rückkehr der philosophischen Geschichte

Weltbildung von jenseits des Seins

Politik: Aufbruch und kein Anfang

5. Der unverfügbare Anfang

Heideggers Hölderlin: Die Götter, der Gott und die dürftige Zeit

Totale Mobilmachung und Nihilismus: Die Gefahr und das Rettende

6. Abschluss

Anmerkungen

Literaturhinweise

Zeittafel

Über den Autor

Vorbemerkung

Dass diese erstmals vor mehr als zwanzig Jahren veröffentlichte Einführung zu Heidegger nunmehr in siebter Auflage erscheinen kann, zeigt, dass sie ihre Aufgabe immer noch erfüllt: in knapper Form mit wesentlichen Gedanken und Gedankenmotiven Heideggers bekannt zu machen und so eine Art Schlüssel zur Beschäftigung mit seiner Philosophie zu sein. Die vorliegende siebte Auflage unterscheidet sich allerdings von den vorangegangenen Auflagen deutlich. Nachdem die Veröffentlichung der so genannten ›Schwarzen Hefte‹ das ganze Ausmaß von Heideggers nationalsozialistischer Verstrickung offenkundig gemacht hat, wollte ich den Text nicht unverändert lassen. Die Veränderungen betreffen vor allem die Einleitung, die Abschnitte über die 1930er und 1940er Jahre einschließlich des Rektorats sowie den resümierenden Abschluss. Aber ich habe den ganzen Text noch einmal gründlich gelesen und ihn, wo es mir nötig schien, revidiert. Dabei ist ein neues Buch entstanden, auch wenn viele seiner Sätze mit denen der früheren Fassung identisch sind.

Freiburg im Breisgau, September 2015

Günter Figal

1. Einleitung

Das Werk Martin Heideggers ist selten gelassen aufgenommen worden. Es hat Bewunderung ebenso erregt wie – zum Teil erbitterte – Kritik. Heideggers Denken wurde für das tiefste und weitreichendste der Moderne gehalten, und ebenso hat man sich an seinen sprachlichen Manierismen gestoßen und angenommen, was als Tiefsinn erscheine, sei nichts als die Beschwörung leerer Worte. Außerdem ist das Werk eines Philosophen, der zu den wirkungsvollsten seiner Zeit und nicht nur seiner Zeit gehört und sich zugleich zum Nationalsozialismus bekannte, eine Herausforderung. Ist Heideggers Denken, zumindest sein Denken seit dem Anfang der 1930er Jahre, so tief von seinen politischen und ideologischen Verblendungen geprägt, dass man es im Ganzen für ideologisch halten müsste? Oder lässt sich das Denken von den politischen Überzeugungen des Denkers trennen? Die Antwort ist schwierig, und sie ist seit der Veröffentlichung der so genannten ›Schwarzen Hefte‹ im Rahmen der Gesamtausgabe noch schwieriger geworden. Heideggers Aufzeichnungen in diesen bis in die späten Jahre geführten Notizbüchern lassen deutlich werden, dass sein nationalsozialistisches Engagement tiefer war und auch länger andauerte, als man allein auf der Grundlage der früher zugänglichen Quellen annehmen musste, und sie zeigen, dass er sich auch in den Nachkriegsjahren nicht zu einem klaren und selbstkritischen Wort des Bedauerns durchringen konnte. Während Heideggers im engeren Sinne philosophische Texte aus den 1930er und frühen 1940er Jahren von ideologischen und politischen Äußerungen so gut wie frei sind, findet man in den ›Schwarzen Heften‹ jener Jahre ein irritierendes Gemisch aus philosophischen Überlegungen, politischen Überzeugungsbekundungen und abstoßenden, von Ressentiment geleiteten, zum Teil aggressiven antisemitischen Äußerungen. Wie das Verhältnis von Philosophie und Ideologie einzuschätzen ist, wird sich nur in gründlichen Einzeluntersuchungen klären lassen. Doch gewiss wird man Heideggers Philosophie von der Ideologie, die ihn zumindest eine Zeit lang beherrschte, unterscheiden können. Es gibt philosophische Gedanken, auch aus den 1930er und 1940er Jahren, die auch ohne die ideologischen Konkretisierungen, die Heidegger von ihnen gibt, formuliert und kritisch diskutiert werden können. Und erst recht sollte man Heideggers ideologische Prägung in den 1930er und 1940er Jahren nicht auf die 1920er Jahre, wohl seine philosophisch wichtigste und produktivste Zeit, zurückprojizieren. Nicht zuletzt die Philosophie der 1920er Jahre, wie sie in Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit kulminiert, macht seine philosophische Wirkung aus. Wollte man auch dieses Werk und so Heideggers Philosophie im Ganzen als ideologisch geprägt verstehen, müsste man auch sagen, dass eine Reihe bedeutender Philosophen des 20. und 21. Jahrhunderts, ohne es zu bemerken, durch ein nationalsozialistisches oder faschistisches Denken beeinflusst gewesen seien, und das ist eine wenig plausible Annahme.

Die moderne Philosophie sähe ohne Heidegger anders aus. Ohne ihn wäre der Existentialismus Jean-Paul Sartres ebenso wenig möglich gewesen wie die Ethik der Alterität von Emmanuel Levinas; Hans-Georg Gadamer hätte seine philosophische Hermeneutik ohne Heidegger nicht entwickelt, Michel Foucault ohne die Anregung durch Heidegger anderes geschrieben, und Jacques Derridas Philosophie der Dekonstruktion wäre ohne die Auseinandersetzung mit Heidegger nicht entstanden. Ähnliches gilt für viele andere Philosophen, und zwar nicht nur für solche, die der so genannten ›kontinentalen‹ Philosophie zuzurechnen sind, also den Traditionen der Phänomenologie und der Hermeneutik. Auch analytische oder analytisch geprägte Philosophen wie Stanley Cavell oder Richard Rorty, haben mit Heidegger gedacht und über ihn geschrieben. Nach Heidegger lässt sich die Philosophie nicht ohne Heidegger verstehen.

Heideggers Wirkung ist wohl nicht zuletzt so groß und anhaltend, weil er als einziger Philosoph des 20. Jahrhunderts eine neue Sicht auf die Geschichte der Philosophie im Ganzen eröffnet hat: Es ist Heidegger zu verdanken, dass klassische Autoren wie Platon und Aristoteles, Kant oder Hegel neu gelesen werden können. Die Fragmente von Parmenides und Heraklit wären ohne ihn wahrscheinlich Gegenstände spezialisierter Forschung geblieben. Dass man Nietzsche als Philosophen ernst nimmt, geht auf die Interpretationen Heideggers zurück. Auch Kierkegaard oder Dilthey hätten es ohne Heidegger gewiss schwerer gehabt, in der akademischen Philosophie hoffähig zu werden.

Und schließlich: Heidegger hat in seinen intensiven Interpretationen der philosophischen Tradition sich immer wieder die Frage gestellt, was Philosophie ist und wie man Philosophie betreiben kann, ohne die Geschichte der Philosophie zu vergessen und ohne zum bloßen Verwalter des Überlieferten zu werden. Heidegger hat den geschichtlichen Charakter der Philosophie ernst genommen; es war ihm klar, dass eine Philosophie, die ihre Tradition ignoriert, hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt, allein schon, weil sie dann ihre Eingebundenheit in die Tradition nicht durchschaut. Doch Heidegger hat andererseits immer daran festgehalten, dass Philosophie mehr ist als ihre eigene Geschichte – immer dann, wenn sie sich einer sachlichen Frage unterstellt. Das ist, dem Selbstverständnis Heideggers nach, die Frage nach dem Sein – die Frage, von der Heidegger dachte, dass sie die Zentralfrage der Philosophie überhaupt sei.

Im Allgemeinen, zumindest am Anfang der Beschäftigung mit Heidegger, weiß man nicht genau, was mit der ›Seinsfrage‹ gemeint ist, und dann liegt es auch nahe, Heideggers oft rätselhafte Formulierungen als bloßen Wortzauber abzutun. In der Tat ist es schwierig, die Frage nach dem Sinn von ›Sein‹, so abstrakt, wie sie zunächst erscheint, zu verstehen. Und wenn man mit einer unvermittelten Erläuterung dieser Frage beginnt, gelangt man schnell ins Programmatische und übersieht, dass Heidegger die angeblich zentrale Frage der Philosophie oft indirekt erläutert und dabei seine reichsten und anschaulichsten Gedanken entwickelt. Um Heidegger zu verstehen, sollte man deshalb die »Seinsfrage« erst einmal auf sich beruhen lassen. Einen Zugang zu seinem Philosophieren findet man sehr viel leichter, wenn man verfolgt, wie Heidegger seine Gedanken entwickelt und die Sachverhalte, an denen er diese Gedanken festmacht, beschreibt. Beginnt man mit seinen ersten eigenständigen Überlegungen, dann kristallisieren sich die zentralen Motive und Gedankenfiguren seiner Philosophie bald heraus.

Obwohl Heidegger diesen Motiven und Gedankenfiguren durchgängig treu bleibt, bietet sein Werk keine allmählich fortschreitende Entwicklung eines bereits früh entworfenen Programms. Es ist vielmehr ein gigantischer Torso; immer wieder setzt er neu an, wechselt seine Begriffe oder, was noch schwieriger zu überschauen ist, verwendet einmal eingeführte Begriffe in neuen Bedeutungen. Seine Schriften und Vorlesungen dokumentieren ein rastloses Experimentieren mit dem eigenen philosophischen Ansatz; in ihnen versucht Heidegger immer neue Darstellungen, immer neue Fassungen seiner Gedanken zu finden. So gelangt Heidegger beim Versuch der Durchführung seines Programms zu Lösungen, die sich nicht mehr aufeinander reduzieren lassen, sondern in ihrer Verschiedenheit und Vorläufigkeit stehen bleiben. Er verrennt sich auch, indem er seine Überlegungen hart an die Grenze der Nachvollziehbarkeit treibt. Doch immer findet er neue Wege: neue Möglichkeiten, das, was ihn als Denker bewegt, in Worte zu fassen.

Wer Heideggers Philosophieren verstehen will, muss sich auf den experimentellen Charakter seines Werkes einlassen. Einen Zugang zu ihm findet man deshalb vor allem an den Brüchen und Bruchstellen. Dort sieht man, mit welcher Konsequenz Heidegger seine Fragestellung verfolgt und zugleich bereit ist, seine Gedanken anders zu formulieren, wenn sich ein Lösungsversuch für ihn als unbefriedigend erweist.

Wer Heideggers Philosophie verstehen will, kann sich jedoch nicht damit begnügen, nur Heidegger verstehen zu wollen. Viele, oft die entscheidenden Gedanken Heideggers sind in der Auseinandersetzung mit anderen Philosophien gewonnen und in Textinterpretationen dargestellt. Heidegger denkt und schreibt lesend; was ihn herausfordert, ist weniger die Anschauung, sondern vielmehr ein Text, den er wie mit der Lupe durchgeht, um ihm bis dahin verborgene Bedeutungs- und Sinnmomente abzulesen. Entsprechend ist es für die Philosophie Heideggers charakteristisch, dass sie eigene und höchst eigentümliche Verfahren der Textinterpretation entwickelt hat. Eine Einführung in Heidegger kann man nicht geben, ohne auch von Hegel, von Husserl und Dilthey, von Aristoteles und Platon, von Hölderlin und Nietzsche, von Ernst Jünger zu sprechen. Am wichtigsten dabei sind jedoch Aristoteles und Platon. Es ist unmöglich, Heidegger ohne die Berücksichtigung der klassischen griechischen Philosophie gründlich und angemessen zu verstehen.

Eine Einführung in Heidegger wird also mehr als nur Heideggers Texte zur Sprache bringen müssen. Andererseits ist sie, wie jede Einführung, ja, wie jede Darstellung eines Gedankenzusammenhangs, notwendigerweise eine perspektivische Verkürzung: Sie muss von bestimmten Vorentscheidungen geleitet sein, um das reiche Feld der Gedanken überhaupt strukturieren zu können. Und sie wird dabei vieles beiseitelassen müssen, was in einer anderen Perspektive gewiss der Aufmerksamkeit wert wäre. Heideggers Auseinandersetzung mit der Philosophie seines Lehrers Edmund Husserl wird im Folgenden nicht eingehender erörtert werden; seine Kant-Interpretation wird keine Rolle spielen, auch nicht seine Beschäftigung mit Schelling; die intensive Auseinandersetzung mit Nietzsche wird nur am Rande zur Geltung kommen; Heideggers Arbeiten zu Parmenides und Heraklit bleiben ebenso weitgehend ausgeblendet wie die späteren Schriften zur Sprache. Das sind Einschränkungen, die es erleichtern sollen, so genau wie möglich die Entstehung von Grundgedanken zu verfolgen und diese in ihrem oft spannungsvollen Zusammenhang verständlich zu machen. Das Bild, das sich dabei ergibt, ist schon komplex genug. Doch einfacher kann es nicht sein, ohne dass es der Philosophie, die es darstellen soll, allzu unähnlich würde.

2. Philosophie und Geschichte

Beginn mit Hegel und Kierkegaard

Wäre Heidegger, wie der von ihm geschätzte Heidelberger Philosoph Emil Lask, im Ersten Weltkrieg gefallen, so würde man heute in ihm nur eine Randfigur der philosophischen Debatten sehen, wie sie für die Zeit nach der Jahrhundertwende charakteristisch waren. Seine Dissertation (1913; veröffentlicht 1914), die der Lehre vom Urteil im Psychologismus gewidmet ist, lässt noch keine philosophische Eigenständigkeit erkennen, und auch die Habilitationsschrift zur Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus (1915; veröffentlicht 1916) bleibt – zumindest auf den ersten Blick – eine solide akademische Arbeit ohne eigenständige Akzente. Doch liest man diese Arbeit vor dem Hintergrund von Heideggers späterem Werk und mit der entsprechenden Aufmerksamkeit, lassen sich in ihr bereits die zentralen Motive erkennen: Erfahrung der Geschichte und unverstellte Erfahrung des eigenen Lebens, oder, wie Heidegger später sagen wird: des Daseins. Mit der Wirksamkeit dieser Motive zeichnet sich Heideggers eigenständige Philosophie ab.

Philosoph hatte Heidegger gar nicht werden sollen, sondern Theologe. 1889 im badischen Meßkirch als Sohn eines Mesners geboren und in streng katholischer Umgebung aufgewachsen, war der begabte Schüler zum Priesteramt geradezu bestimmt. Er studiert dann auch Theologie, gibt aber sogleich seinen philosophischen Neigungen nach und gerät an der Freiburger Universität in den Wirkungsbereich der seinerzeit aktuellen philosophischen Diskussionen: Nach eigenem Zeugnis (GA 14, 91) befasst er sich schon im ersten Semester (1909/10) mit Husserls Logischen Untersuchungen; vor allem durch seinen Lehrer Heinrich Rickert ist er mit den Ansätzen des Neukantianismus vertraut.

In seiner Habilitationsschrift macht Heidegger sich nun die neueren Forschungen zunutze, um die Probleme der mittelalterlichen Kategorien- und Bedeutungslehre schärfer herausarbeiten zu können. Man kann sogar annehmen, dass er durch die Dominanz des sogenannten Kategorienproblems in der ihm zeitgenössischen Philosophie auf den mittelalterlichen Helden seiner Arbeit erst aufmerksam wurde. Für sich genommen wäre das noch nicht besonders originell; schon Hegels Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie führen vor, wie Texte der Tradition aufgeschlossen werden können, indem man sie in der Perspektive einer gegenwärtigen Terminologie und Problemstellung interpretiert; das Beispiel Hegels ist denn auch für Heidegger verbindlich. Interessant ist der Ansatz von Heideggers Habilitationsschrift jedoch, weil er bereits ganz andere Akzentuierungen der Frage vornimmt, die auch Hegel beschäftigt hatte. Es sind Akzentuierungen der Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Geschichte.

Heidegger lässt die Vorbildfunktion Hegels deutlich werden, indem er seine Habilitationsschrift mit einer ausdrücklichen und emphatischen Berufung auf ihn schließt. Zu dieser Schlussbetrachtung wird er bei der Zusammenfassung seiner Erörterung des Kategorienproblems geführt. »Kategorien« sind die allgemeinen Bestimmungen eines Gegenstandes in seiner Gegenständlichkeit. Die Frage nach der Kategorie als der »allgemeinsten Gegenstandsbestimmtheit« (GA 1, 403) aber lässt sich, wie Heidegger sagt, nur angemessen stellen und ausarbeiten, wenn dabei der wesentlichen Rolle des »Subjekts« Rechnung getragen wird: »Gegenstand und Gegenständlichkeit haben nur Sinn als solche für ein Subjekt.« (GA 1, 403) Subjekte sind wesentlich dadurch charakterisiert, auf Gegenstände »gerichtet« zu sein. Mit diesem Gedanken steht Heidegger ganz unter dem Einfluss der Logischen Untersuchungen Husserls. Mit Husserl betont er die intentionale Struktur von Bewusstseinsakten.

Das Subjekt intentionaler Akte aber kann, wie Heidegger kritisch gegen den Neukantianismus und ansatzweise auch schon gegen Husserl geltend macht, nicht nur als »erkenntnistheoretisches Subjekt« (GA 1, 407) gefasst werden: Die Erkenntnistheorie versucht, die Bezogenheit auf einen Gegenstand zu begreifen, indem sie sie auf »bloße Denkfunktionen« (GA 1, 403) reduziert. Das Erfassen von Gegenständen ist aber immer auch eine »sinnvolle und sinnverwirklichende lebendige Tat« (GA 1, 406), das heißt: Was jeweils als Gegenstand des Bewusstseins erfahren wird und wie etwas als Gegenstand erfahren wird, lässt sich nur aus der Lebensweise des erkennenden Subjekts verstehen.

Die erkenntnistheoretische Frage nach den Kategorien gehört also in einen größeren Zusammenhang; wer sie angemessen erörtern will, muss reichere als nur erkenntnistheoretische Bestimmungen der Subjektivität annehmen. Diese reicheren Bestimmungen wiederum müssen geschichtlich sein, wenn die Lebensweise, in welche eine bestimmte Auffassung der Kategorien gehört, nicht mehr die eigene, sondern eine vergangene ist. Und das Vergangene kann man nicht für sich, von der eigenen Gegenwart absehend betrachten, weil es ja gegenwärtig verstanden wird.

Spätestens mit diesem Gedanken hat Heidegger, die Anregung Husserls aufnehmend, den Zusammenhang von Husserls eigenen philosophischen Arbeiten verlassen: Geschichte war für den früheren Husserl kein Thema einer »strengen« Philosophie.1 Um die neugewonnene Position zu bestimmen, greift Heidegger programmatisch auf Hegels Begriff des Geistes zurück: »Der lebendige Geist ist als solcher wesensmäßig historischer Geist im weitesten Sinne des Wortes. Die wahre Weltanschauung ist weit entfernt von bloßer punktueller Existenz einer vom Leben abgelösten Theorie. Der Geist ist nur zu begreifen, wenn die ganze Fülle seiner Leistungen, d.h. seine Geschichte, in ihm aufgehoben wird, mit welcher stets wachsenden Fülle in ihrer philosophischen Begriffenheit ein sich fortwährend steigerndes Mittel der lebendigen Begreifung des absoluten Geistes Gottes gegeben ist.« (GA 1, 407f.)

Das klingt im ersten Moment, als könnte Hegel selbst es geschrieben haben. Denn Hegels Konzeption einer Geschichte der Philosophie ist von der Überzeugung getragen, dass die vergangenen »Taten des Denkens« nicht jenseits der gegenwärtigen Wirklichkeit liegen, sondern diese nur als »Resultat [...] der Arbeit aller vorhergegangenen Generationen des Menschengeschlechts«2zu verstehen ist. Die gegenwärtige Philosophie begreift sich deshalb in ihrer Wirklichkeit auch erst dadurch, dass sie ihre eigene Geschichte aufarbeitet und darin selbst geschichtlich ist.

Für Hegel führt diese Einsicht in die Geschichtlichkeit des Philosophierens jedoch nicht zu einer historischen Relativierung der gegenwärtigen Philosophie. Denn gegenwärtig kann man sich des in der Vergangenheit Gedachten nur versichern, gegenwärtig kann man sich als Resultat des Vergangenen nur begreifen, weil es bei den Denkern der Vergangenheit auch bereits um dieselbe Sache gegangen ist. Die Geschichte der Philosophie erhält ihre Kontinuität und Einheit durch das »gemeinschaftliche Unvergängliche«3, das sich zwar in der Zeit und mit der Zeit herausbildet, aber wesentlich nicht zeitlich ist. Die vergangenen Taten des Denkens blieben in ihrer Sachlichkeit, in ihrer Wahrheit unbegreiflich, wenn das Denken nicht auch »über seine Zeit wahrhaft hinaus«4 wäre. Das gegenwärtige Denken ist sogar vollkommen dadurch bestimmt, über seine Zeit und die Zeit überhaupt hinaus zu sein: Sofern im gegenwärtigen Denken alle vergangenen Taten des Geistes begreiflich und damit »aufgehoben« sind, unterliegt das gegenwärtige Denken keiner Bedingtheit und keiner Relativität mehr. Es ist zum »absoluten Selbstbewußtsein«5 geworden und kann insofern auch als die »Enthüllung Gottes, wie er sich weiß«6, bezeichnet werden.

Hegels Entwurf einer Geschichte der Philosophie ist zugleich der Entwurf einer Philosophie der philosophischen Geschichte: Die Philosophie ist darin geschichtlich, dass sie sich zu ihrer wirklichen Gestalt erst entwickeln muss und ihre Wirklichkeit erst hat, wenn sie ihre Entwicklung selbst begreift. Doch dieses Begreifen ist über die Zeit hinaus; im Begreifen ihrer Entwicklung erweist die Philosophie zugleich die Ungebundenheit durch die Zeit, und sie erweist die Geschichte in ihrer Wahrheit; es ist die Wahrheit des absoluten Geistes, des Geistes, der sich unbedingt und ohne Verdunkelungen selbst erkennt. Selbst wenn man zögert, Hegels Philosophie theologisch zu nennen, muss man doch zugestehen, dass sich sein Verständnis des philosophischen Denkens ohne Schwierigkeiten in die Sprache einer spekulativen Theologie übersetzen lässt.

Vor allem der bei Hegel alles beherrschende Gedanke eines sich vollkommen durchsichtigen Geistes kann einen Anhaltspunkt dafür bieten, sich über die Akzentverschiebungen, die Heidegger in seinen hegelianisierenden Sätzen vornimmt, Klarheit zu verschaffen. Liest man jetzt die Sätze Heideggers noch einmal, so fällt auf, dass in ihnen der Gedanke von der Wirklichkeit des absoluten Geistes im gegenwärtigen Philosophieren zwar aufgenommen, aber doch auch eigentümlich zurückgenommen ist. Heidegger versteht das Gegenwärtige nicht mehr als die Wirklichkeit eines absoluten, sich absolut durchsichtigen Geistes, sondern spricht von einem »sich fortwährend steigernden Mittel der lebendigen Begreifung des absoluten Geistes Gottes« (GA 1, 408): Im Begreifen der Geschichte der Philosophie liegt nicht die Wirklichkeit des Absoluten, sondern nur eine sich steigernde Annäherung an das Absolute. Die geschichtliche Entwicklung des Geistes ist eine »stets wachsende Fülle«, und damit ist die Gegenwart nicht mehr ihr Ziel, ihre Vollendung. Heideggers Verzicht auf eine Übersetzung der Philosophie in spekulative Theologie verändert das Verständnis von Philosophie ebenso wie das der philosophischen Geschichte.

Es ist eine Veränderung zugunsten des Besonderen und Individuellen: Die Lebendigkeit des philosophischen Betrachtens und Begreifens ist für Heidegger nicht mehr von der Art eines absolut durchsichtigen Selbstbewusstseins, sondern sie hat den Charakter der zeitlichen Einzigkeit und Individualität; es ist immer das jeweilige, jetzt gegenwärtige Denken, dem es aufgegeben ist, die Geschichte zu begreifen. Während für Hegel der »Standpunkt des Individuums« dadurch gekennzeichnet ist, dass die Individuen »innerhalb des Ganzen [...] wie Blinde«7 seien, bestimmt Heidegger die »Grundstruktur« des »lebendigen Geistes«, indem er sagt, in ihr seien »Einzigkeit, Individualität der Akte mit der Allgemeingültigkeit, dem Ansichbestehen des Sinnes zur lebendigen Einheit zusammengeschlossen« (GA 1, 410). Das wirkliche Denken und Erleben ist immer einzig und individuell in seinen Vollzügen oder »Akten«; und wenn der »Sinn« dieser Vollzüge allgemeingültig ist, so handelt es sich doch immer um die Allgemeingültigkeit des jeweiligen Einzelnen und Individuellen. Der Sinn des individuellen Lebens ist für Heidegger hier noch das Absolute, Gott. Trotz seiner Allgemeingültigkeit ist das Absolute nur individuell zugänglich – und nicht in einem überindividuellen spekulativen Denken. Die Erfahrung des Absoluten, von der Heidegger als einer Annäherung spricht, »ruht im Individuum« (GA 1, 409).

Mit der Individualisierung der Gotteserfahrung, der Erfahrung des Absoluten, ist Martin Heidegger dem vielleicht radikalsten Kritiker Hegels verpflichtet: dem religiösen Schriftsteller Sören Kierkegaard. Noch seine Vorlesung im Wintersemester 1921/22 eröffnet Heidegger mit einem Zitat aus Kierkegaards Einübung im Christentum, das er selbst als »dankbare Anzeige der Quelle« (GA 61, 182) bezeichnet. Doch Heidegger will Kierkegaards Insistenz auf der Individualität des Glaubens mit dem Hegelschen Programm einer geschichtlichen Philosophie verbinden: Er will an Hegel anschließen, indem er sich der Aufgabe einer philosophischen Geschichte der Philosophie stellt, die ganz der Erfahrung des Absoluten unterstellt ist; und er will diese philosophische Geschichte der Philosophie entwickeln, indem er sich am Gedanken Kierkegaards von der Individualität religiöser und speziell christlicher Erfahrung orientiert. Wenn Heidegger sich in den letzten Sätzen seiner Habilitationsschrift auf das Programm einer »Philosophie des lebendigen Geistes, der tatvollen Liebe, der verehrenden Gottinnigkeit« (GA 1, 410) verpflichtet, so spricht daraus die Stimme Kierkegaards ebenso wie diejenige Hegels.

Auf die Frage, wie die beiden Stimmen miteinander zum Tragen kommen sollen, gibt Heidegger in seiner Habilitationsschrift keine eindeutige Antwort. Aus den noch recht schwach gezeichneten Linien seines Entwurfs lässt sie sich aber erschließen. Man muss sich nur an Heideggers Gedanken erinnern, dem zufolge die »wachsende Fülle« des geschichtlichen Geistes eine Annäherung an den absoluten Geist Gottes bedeuten soll, und dies mit dem Gedanken Kierkegaards verbinden, dass die Philosophie auf die eigentliche und allein ernsthafte individuelle Erfahrung des Glaubens immer nur hinweisen kann. Dann ergibt sich der Gedanke einer geschichtlichen Philosophie im Sinne Hegels, die Hinweis auf die eigentliche und existentielle Erfahrung des Glaubens ist; indem die Philosophie geschichtlich verstanden und vollzogen wird, soll der Ort religiöser Erfahrung bestimmt werden.

Was das im Einzelnen heißen soll, tritt bei der Lektüre von Heideggers Habilitationsschrift hervor. Es ist keine Äußerlichkeit, dass Heidegger sich hier mit der »mittelalterlichen Weltanschauung« (GA 1, 409) beschäftigt. In ihr und dem ihr wesentlichen Gottesbezug sieht Heidegger ein Gegenbild zur eigenen Zeit: Gegen Ende seiner Schrift stellt er die »Erlebnismöglichkeit und -fülle«, die »durch die ins Transzendente sich erstreckende Dimension des seelischen Lebens bedingt« ist, dem heutigen Leben gegenüber, als dessen Charakteristikum er »inhaltliche flüchtige Breite« geltend macht. Und zur Erläuterung fügt er hinzu: »Bei dieser flächig verlaufenden Lebenshaltung sind die Möglichkeiten einer wachsenden Unsicherheit und völligen Desorientierung weit größer und geradezu grenzenlos, wogegen die Grundgestaltung der Lebensform des mittelalterlichen Menschen sich von vornherein gar nicht in der inhaltlichen Breite der sinnlichen Wirklichkeit verliert und sich dort verankert, sondern gerade diese selbst als verankerungsbedürftige einer transzendenten Zielnotwendigkeit unterordnet.« (GA 1, 409f.) Das liest sich zunächst wie eine Variante jener konservativen Kulturkritik, die gegen die Dürftigkeit der Gegenwart das Bild eines sinnerfüllten vergangenen Lebens heraufbeschwört. Man scheint in den Überlegungen des jungen Heidegger bereits all jene Momente ausmachen zu können, die man gern in seiner reifen Philosophie findet: Antimodernismus, Zivilisationsfeindlichkeit, Irrationalismus, Vorbehalt gegen die Autonomie eines durch die Aufklärung zur Mündigkeit gebrachten Lebens.

Doch so einfach liegen die Dinge schon beim jungen Heidegger nicht. Er ist sich darüber im Klaren, dass die mittelalterliche Weltanschauung kein Vorbild für die heutige Zeit sein kann; immerhin ist diese »Weltanschauung« der Gegenstand einer geschichtlichen Untersuchung, und Heidegger weiß, dass sie deshalb besonderen Zugangsbedingungen unterliegt; er weiß außerdem, dass moderne Denkweisen sich radikal von früheren unterscheiden. Das hält ihn davon ab, einfach nur für eine Wiederbelebung der mittelalterlichen religiösen Erfahrung zu plädieren. Worauf es ihm ankommt, ist vielmehr eine »eigentliche begriffliche, kulturphilosophische Fundierung« (GA 1, 408) der geschichtlichen Erörterung des Mittelalters, und diese lässt sich nur erlangen, wenn es gelingt, eine der vergangenen Zeit »konforme Aufgeschlossenheit einfühlenden Verstehens« (GA 1, 408) auszubilden. Das wiederum wäre unmöglich, wenn die vergangene Zeit sich von der gegenwärtigen vollkommen unterschiede. Zwar ist das »gedankliche Milieu« der Gegenwart ein anderes als das der Vergangenheit; aber ebenso gibt es, mit dem Wort Hegels gesagt, ein »gemeinschaftliches Unvergängliches«, und das ist die »Grundstruktur« des lebendigen Geistes. Doch für Heidegger ist es die Grundstruktur geschichtlicher Individualität.

Am mittelalterlichen Helden seiner Arbeit hebt Heidegger denn auch hervor, er habe »eine feine Disposition sicheren Hineinhörens in das unmittelbare Leben der Subjektivität und der ihr immanenten Sinnzusammenhänge, ohne daß ein scharfer Begriff des Subjekts gewonnen ist« (GA 1, 401). Im ersten Moment klingt das wieder nach der Konzeption Hegels: Wenn das gegenwärtige Denken als Resultat des bisherigen zu begreifen ist, dann muss das, was gegenwärtig »scharf begriffen« werden kann, auch früher schon, wie schemenhaft auch immer, im Blick gestanden haben, und es bedarf der Klarheit gegenwärtigen Denkens, dies herauszuarbeiten. Doch wenn Heidegger von der »wachsenden Fülle« des geschichtlichen Geistes spricht, ist für ihn die Gegenwart nicht Ziel und Vollendung des vergangenen Denkens. Das gegenwärtige Denken hat nicht die absolute Durchsichtigkeit eines Selbstbewusstseins, das sich souverän in die religiöse Sprache übersetzen und als Enthüllung des Wissens bezeichnen kann, das Gott von sich hat. An das Absolute kann man sich nur annähern, und dem entspricht es, dass die philosophische Arbeit eine »immer neu einsetzende Bemühung« (GA 1, 196) sein muss – eine Bemühung offenbar, in das »unmittelbare Leben der Subjektivität« hineinzuhören.

Für eine philosophische Bemühung dieser Art sieht Heidegger das »gedankliche Milieu« seiner Gegenwart als besonders günstig an: »Bei dem energischen Problemwillen der gegenwärtigen theoretischen Philosophie und bei ihrer entsprechenden Kraft der Problembewältigung bereichert und vertieft sich zugleich das philosophiegeschichtliche Verstehen, steigert sich aber auch die Dringlichkeit einer Aufgabenbewältigung«, und zwar im Hinblick darauf, »den systematischen Gehalt der mittelalterlichen Scholastik wenigstens in den wichtigsten Problemkreisen flüssig zu machen« (GA 1, 204). Das zielt wieder auf die Bestrebung, hineinzuhören in das unmittelbare Leben der Subjektivität, und wenn Heidegger die Möglichkeiten der Philosophie derart beurteilt, so kann er, bei aller Übereinstimmung mit Kierkegaard, nicht der Überzeugung sein, die Aufgabe der Philosophie bestehe nur darin, sich selbst aufzuheben. Die Philosophie hat für Heidegger nicht, wie für Kierkegaard, eine Leiter zur Einsicht in die Unumgänglichkeit des Glaubens zu sein, eine Leiter, die man umstößt, wenn man bereit ist, den Sprung in den Glauben wirklich zu vollziehen. In der philosophischen Arbeit selbst kommt vielmehr jenes individuelle Leben zur Geltung, in dessen Grundstruktur auch, wie Heidegger es herausgearbeitet hat, der Transzendenzbezug des Glaubens liegt. Und in einer Zeit, die nicht mehr die des Glaubens ist, kann jenes individuelle Leben ernsthaft auch gar nicht anders zur Geltung kommen. Das Interesse am Glauben und am Religiösen, verbunden mit der Überzeugung, dass es einen unmittelbaren Zugang zum Glauben nicht mehr gibt, kommt im Interesse an der »Subjektivität« zum Tragen, weil diese sich in der Geschichte glaubend artikulieren konnte. In der philosophischen Erörterung der Philosophiegeschichte zeigt sich Lebensernst und damit eine Einstellung, die vormals die des Glaubens gewesen ist. Die Einstellung des Philosophierens selbst eröffnet einen Zugang zu dem, was sich in der Geschichte anders, nämlich religiös, artikuliert hatte.