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Hans-Jörg Rheinberger

Historische Epistemologie
zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Dieter Thomä, St. Gallen
Cornelia Vismann, Frankfurt a.M. †

Junius Verlag GmbH
Stresemannstraße 375
22761 Hamburg
www.junius-verlag.de

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Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Florian Zietz
Titelbild: »Baum der Erkenntnis«,
»Encyclopédie Diderot et d’Alembert«
E-Book-Ausgabe September 2018
ISBN 978-3-96060-067-1
Basierend auf Printausgabe
ISBN 978-3-88506-636-1
3. Auflage Juli 2013

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung

1. Fin de Siècle

2. Zwischen den Kriegen I

3. Zwischen den Kriegen II

4. Nach 1945

5. Die sechziger Jahre in Frankreich

6. Rezente Geschichte

Schluss

Nachwort

Anhang

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Über den Autor

Einleitung

Nachdem das 19. Jahrhundert in der Wissenschaftsphilosophie den Aufstieg eines neuen, durch die experimentellen Wissenschaften genährten Empirismus erlebt hatte, bahnte sich an seinem Ende eine Krise besonderer Art – nämlich im Nachdenken über das Wissen – an, ohne dass eine unmittelbare Lösung oder gar eine allgemein akzeptierte Alternative zum Erbe des 19. Jahrhunderts in Sicht gewesen wäre. Der Positivismus in der Nachfolge Auguste Comtes in Frankreich oder im Gefolge Ernst Machs im deutschsprachigen Raum bezeichnete nur den Beginn dieser Wende, gewissermaßen das frühe Symptom der Krise. Erst allmählich, im Laufe des 20. Jahrhunderts, entwickelte sich eine breit gefächerte neue Reflexion über Wissenschaft, die aus unterschiedlichen nationalen Traditionen und aktuellen Wissenschaftsentwicklungen gespeist wurde und die in vielgestaltiger Weise begann, die Epistemologie zu historisieren; im Ergebnis sollten die zwischendurch sauber getrennten Kontexte der Rechtfertigung und der Entdeckung neuen Wissens wieder zusammenrücken. Die Vorstellung von Wissenschaft als Prozess löste die zwanghafte Sicht auf Wissenschaft als System ab. Die eine Wissenschaft wich den vielen, nicht aufeinander reduzierbaren Wissenschaften. Diese Bewegung kann nicht rein philosophie- bzw. wissenschaftstheorie-intern verstanden werden; sie muss im breiteren Rahmen der Dynamik gesehen werden, welche die Entwicklung der Wissenschaften erfasste, und diese ist in den gesellschaftlichen und kulturellen Kontext des 20. Jahrhunderts insgesamt zu stellen. Die vorliegende Einführung geht davon aus, dass die Historisierung der Epistemologie den entscheidenden Beitrag des vergangenen Jahrhunderts zur Transformation der Philosophie der Wissenschaften darstellt.

Im folgenden Überblick sollen verschiedene Autoren und Denkströmungen vorgestellt werden, die an dieser übergreifenden Historisierungsbewegung teilhatten. Vollständigkeit wird dabei nicht angestrebt, die Vorgehensweise ist vielmehr exemplarisch. Ich möchte auch keinen Hehl aus einigen Idiosynkrasien machen. Die Ordnung der Kapitel ist weitgehend chronologisch, denn gerade so zeigen sich charakteristische Verschiebungen. Das erste Kapitel wirft einen Blick auf das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts und die Zeit um die Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg. Eine nicht zu unterschätzende initiale Rolle spielte in Deutschland die berühmte und weithin diskutierte »Ignorabimus«-Rede des Berliner Physiologen Emil Du Bois-Reymond aus dem Jahre 1872. Dem aller Metaphysik abholden Positivismus des Wiener Physikers Ernst Mach im deutschen Sprachraum stehen im ausgehenden 19. Jahrhundert in Frankreich konventionalistische Überlegungen aus philosophischer Perspektive wie diejenigen Émile Boutroux’ und aus physikalischer Sicht diejenigen Henri Poincarés gegenüber.1 Im zweiten Kapitel kommen die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts zur Sprache. Es ist das Jahrzehnt, in dem die ersten Schriften des Immunologen Ludwik Fleck und des Epistemologen Gaston Bachelard erscheinen. Das dritte Kapitel behandelt die Zeit um den Zweiten Weltkrieg. Karl Popper, Edmund Husserl, Martin Heidegger und Ernst Cassirer üben, jeder auf seine Weise, im hier behandelten Zusammenhang einen wichtigen Einfluss aus. Im vierten Kapitel werden die ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte in den Blick genommen. Das Augenmerk liegt hier auf so unterschiedlichen Figuren wie Alexandre Koyré, Thomas Kuhn, Stephen Toulmin und Paul Feyerabend. Kapitel fünf konzentriert sich auf die poststrukturalistische Wende der sechziger Jahre. Zu ihren Wegbereitern und Akteuren gehören neben Georges Canguilhem (in der Tradition Bachelards) Louis Althusser und Michel Foucault (ihrerseits in der Tradition von Canguilhem) sowie Jacques Derrida mit seiner an Husserl anschließenden Dekonstruktion. Kapitel sechs schließlich behandelt die praktische Wende in der Philosophie und Geschichte der Wissenschaften und in den Wissenschaftsstudien, die für den angelsächsischen Sprachraum auch als anthropologische Wende – durch Ian Hacking –, für den französischen hingegen durch Bruno Latour exemplifiziert wird.

Wenn im Folgenden von Epistemologie die Rede ist, so bedarf der Begriff einer kurzen Erläuterung. Er wird hier nicht einfach synonym für eine Theorie der Erkenntnis verwendet, die danach fragt, was Wissen zu wissenschaftlichem Wissen macht, wie dies für die klassische Tradition und insbesondere den angelsächsischen Sprachraum charakteristisch ist. Ich fasse unter dem Begriff der Epistemologie hier vielmehr, an den französischen Sprachgebrauch anknüpfend, die Reflexion auf die historischen Bedingungen, unter denen, und die Mittel, mit denen Dinge zu Objekten des Wissens gemacht werden, an denen der Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung in Gang gesetzt sowie in Gang gehalten wird. Wenn ich es richtig sehe, so gibt es an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einen Umschlag von der Erkenntnistheorie der klassischen philosophischen Tradition zur Epistemologie im genannten Sinne. Diese Verschiebung markiert zugleich eine Problemumkehr. Die Reflexion des Verhältnisses von Begriff und Objekt, die vom erkennenden Subjekt ihren Ausgang nahm, wird ersetzt durch die Reflexion des Verhältnisses von Objekt und Begriff, die am zu erkennenden Objekt ansetzt. Diese Problemverschiebung ist zugleich Kern der Epistemologie und Ausgangspunkt ihrer Historisierung. Gleichzeitig kristallisiert sich hier eine Theorie und Geschichte des Experiments. Die Frage ist nicht mehr, wie das erkennende Subjekt seine Gegenstände unverstellt in den Blick bekommen kann, die Frage gilt jetzt vielmehr den Bedingungen, die geschaffen wurden oder geschaffen werden müssen, um Gegenstände unter jeweils zu bestimmenden Umständen zu Gegenständen empirischen Wissens zu machen.

Dieser Wandel geht mit einer weiteren Verschiebung des erkenntnistheoretischen Interesses einher. Die frühere Ausrichtung darauf, die richtige und möglichst allgemein verbindliche wissenschaftliche Methode zu finden und darzustellen, schlägt um in ein detailliertes Interesse daran, was Wissenschaftler tun, wenn sie ihre jeweilige Forschung betreiben. Auch diese Veränderung ist notwendig, um die Frage stellen zu können, ob dieses Tun nicht vielleicht, anstatt einer zeitlosen Logik zu folgen, selbst historischen Entwicklungen unterworfen ist, deren zeitlichen Verlauf man verfolgen kann und deren jeweiliger Bedingungen man sich vergewissern muss. Historisierung der Epistemologie heißt somit auch, die Erkenntnistheorie einem empirisch-historischen Regime zu unterwerfen und ihren Gegenstand selbst als einen historisch variierenden zu fassen, anstatt ihn einer transzendentalen Voraussetzung oder doch einer apriorischen Norm zu unterwerfen.

Zumindest am Anfang wurde ein erheblicher Teil der Reflexionsleistung, die diesen Umschlag bewirkt hat, innerhalb der Wissenschaften selbst erbracht, ergab sich also nicht aus den Debatten und Grabenkämpfen der akademischen Philosophie. So gehört es auch zu den Thesen dieser Einführung, dass der Prozess der Historisierung, dem die Epistemologie im 20. Jahrhundert unterzogen wurde, auf eine enge Weise mit der Entwicklung der Wissenschaften in diesem Zeitraum in Verbindung steht. Parallel zur Historisierung der Wissenschaftsphilosophie steht ein Vorgang, den man als die Epistemologisierung der Wissenschaftsgeschichte bezeichnen könnte. Aus beiden Bewegungen, die sich unter dem Begriff der historischen Epistemologie zusammenfassen lassen, bezieht die resultierende Geschichte ihre Robustheit und ihre Kraft. Dabei sind es vor allem zwei Dinge, die sich für sie als unhintergehbar erweisen. Das eine ist die Überwindung der Physik in ihrer klassischen Form und das daran anschließende, nicht mehr abreißende Thema wissenschaftlicher Revolutionen. Das andere ist der Umstand, dass sich immer deutlicher gezeigt hat, dass nicht alle Wissenschaften sich unter dem gleichen Dach versammeln. Dies Letztere – dass es nämlich der Dynamik der Wissenschaften offensichtlich keinen Abbruch tat, wenn sie sich nicht vereinheitlichen ließen, sondern dass diese plurale Verfasstheit vielmehr zu den Bedingungen ihrer sich überstürzenden modernen Entwicklung zu gehören schien – hat auf Dauer vielleicht die noch größere Sprengkraft entfaltet. Sehen wir jetzt, wie diese Entwicklung in Gang kam und wie sie in einigen ihrer Hauptlinien verlief.

1. Fin de Siècle

Das Ideal der Naturerklärung, das sich nach dem kurzen Zwischenspiel romantischer Naturforschung im Verlauf des 19. Jahrhunderts artikulierte und radikalisierte, war ein mechanisches. Immer wieder findet man den Satz ausgesprochen, der Naturforschung gehe es darum, zuletzt alle Erscheinungen auf die Bewegung kleinster Teilchen und die zwischen ihnen wirkenden Kräfte zurückzuführen. Wo dies noch nicht als geleistet angesehen werden konnte, wie etwa im Bereich der grundlegenden Lebenserscheinungen, gab man sich doch der Hoffnung hin, mit verfeinerten Methoden das Ziel dereinst ebenfalls zu erreichen. Auf einzelnen Gebieten schien die Naturforschung immerhin bereits an diesem Punkt angelangt. Dem sicheren methodischen Leitfaden der Induktion folgend, verhielt sich der historische Gang naturwissenschaftlicher Erkenntnis wesentlich kumulativ. Dem in Berlin wirkenden Elektrophysiologen Emil Du Bois-Reymond schien es gar, »dass der geschichtliche Gang der induktiven Wissenschaften meist nahe derselbe ist wie der Gang der Induktion selber«. Im Idealfall fielen somit nicht nur Forschung und Darstellung, sondern auch die Methode der Erkenntnisgewinnung und der reale historische Verlauf der Forschung zusammen. Von den »Zufälligkeiten des Entdeckungsgeschäftes«2 abgesehen, war die Geschichte einer Wissenschaft als identisch aufzufassen mit dem induktiven Prozess ihrer Ausdifferenzierung. Konsequenterweise sah der Berliner Physiologe denn auch für die Wissenschaftsgeschichte eine im Wesentlichen didaktische Rolle vor. Dieser Ansicht folgte auch zwei Jahrzehnte später noch Pierre Duhem: »Die richtige, sichere und fruchtbare Methode, um einen Geist zur Aufnahme einer physikalischen Hypothese vorzubereiten, ist die historische.«3 Im Gegensatz zu Du Bois-Reymond war Duhem aber nicht der Meinung, dass ein Hypothesensystem rein induktiv aus der Erfahrung gewonnen werden konnte, vielmehr sollte die historische Methode die Darlegung jener »Schicksale« leisten, die zu seiner Einführung und Durchsetzung geführt hatten. Die historische Darstellung hatte für Duhem also Grundsätzliches über den Verlauf der Erkenntnisgewinnung zu vermitteln. Als Erzählung blieb die Geschichte aber in ihren methodischen Voraussetzungen bei Du Bois-Reymond wie bei Duhem unthematisiert und in ihrer narrativen Struktur weitgehend unproblematisch.

Nun hielt allerdings Du Bois-Reymond 1872, im selben Jahr seiner eben zitierten Rede »Über Geschichte der Wissenschaft« zum Leibniz-Tag der Berliner Akademie der Wissenschaften, eine weitere Rede »Über die Grenzen des Naturerkennens«. Darin zog er, auf der Jahresversammlung der Deutschen Naturforscher und Ärzte in Leipzig, die Konsequenz aus seiner Vorstellung vom Gang des Wissens. Die mechanische Naturerkenntnis sah er – sogar oder vielmehr gerade unter der Voraussetzung, dass sie einmal zur Vollendung gebracht sein würde – vor zwei Schranken gestellt, von denen nicht abzusehen war, wie sie überwunden werden konnten. Zum einen war sie nicht in der Lage, über ihre Grundbegriffe – Materie, Kraft, Bewegung – Rechenschaft abzulegen: Sie konnte sie nur setzen, aber nicht gemäß ihren eigenen induktiven Regeln gewinnen. Zum anderen stand sie machtlos vor den Erscheinungen der Empfindung und des Bewusstseins, die für Du Bois-Reymond zwar eine materielle Grundlage besaßen, aber nicht aus der so verstandenen Mechanik abgeleitet werden konnten. Dass es keine Letztbegründung für die Basisbegriffe gab, mit denen das mechanische Wissensparadigma operierte, führte Du Bois-Reymond zu der einigermaßen radikalen Schlussfolgerung, mechanisches Erklären liefere im Grunde nur das Surrogat einer Erklärung, eine allerdings gelegentlich, wie er hinzufügte, »äußerst nützliche Fiktion«4. Wir sehen an dieser Stelle, wie das Prinzip der mechanischen Naturerklärung, gewissermaßen auf sich selbst angewendet, umschlägt in Agnostik. Hier nahm ein Denken seinen Ausgang, das gegen Ende des 19. Jahrhunderts unter dem Sammelnamen des Konventionalismus vor allem in der Physik und der philosophischen Auseinandersetzung mit ihr weite Verbreitung finden sollte und auf das ich noch zurückkommen werde. Du Bois-Reymond gab jedenfalls mit dem »Ignorabimus« am Ende seiner Rede das Stichwort zu einer anhaltenden Debatte, die noch ein halbes Jahrhundert später in der Programmatik des Wiener Kreises ihren Widerhall fand. Die wissenschaftspolitischen Akzente hatten sich bis dahin allerdings verändert. Mitglieder des Wiener Kreises kämpften am Ende der zwanziger Jahre – in einer Zeit des kulturellen Nachkriegs-Wissenschaftspessimismus – noch einmal für eine einheitliche Wissenschaft, der innerwissenschaftlich keine Grenzen gesetzt sein sollten, wenn sie sich nur vom Ballast metaphysischer Scheinprobleme befreite. Ebenfalls aus der Engführung des mechanistischen Gedankens heraus hatte Du Bois-Reymond mit der Nichtreduzierbarkeit von Bewusstsein auf Materie einen Punkt bezeichnet, von dem ausgehend eine Dichotomie des Wissens in Form der befestigten Unterscheidung zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften Gestalt annehmen konnte. Diese duale Kompetenzverteilung bildete den entscheidenden Anknüpfungspunkt für die zeitgenössische Kritik, der Du Bois-Reymond als konservativer Epistemologe galt. Von mechanistisch gesinnter monistischer Seite schlug ihm heftiger, ontologisch motivierter Widerstand entgegen.

Ernst Mach verwies gleichermaßen auf die Reichweite wie auf die Grenzen von Du Bois-Reymonds Verzweiflungsschlag, als er fast ein Vierteljahrhundert später bemerkte: »War es doch ein wesentlicher Fortschritt, dass Dubois die Unlösbarkeit seines Problems erkannte, und war diese Erkenntnis doch für viele Menschen eine Befreiung, wie der sonst kaum begreifliche Erfolg seiner Rede beweist. Den wichtigeren Schritt der Einsicht, dass ein prinzipiell als unlösbar erkanntes Problem auf einer verkehrten Fragestellung beruhen muss, hat er allerdings nicht getan. Denn auch er hielt, wie unzählige andere, das Handwerkszeug einer Spezialwissenschaft für die eigentliche Welt.«5 Eine Verwechslung des Handwerkszeugs einer Spezialwissenschaft mit der »eigentlichen Welt« – die damit angedeutete mögliche Relativierung von Wissensansprüchen wollen wir in ihrer Ausbreitung und den konkreten Formen, die sie gegen das Ende des 19. Jahrhunderts annahm, nun an einzelnen Beispielen weiter verfolgen.

Werfen wir zunächst einen Blick darauf, wie Mach selbst versucht, der von ihm als verkehrt erachteten Fragestellung zu entgehen. Seine Mechanik in ihrer Entwicklung, historisch-kritisch dargestellt kann dabei als Ausgangspunkt dienen. In ihr kommt die Forschung als solche auf eine Weise in den Blick, die einer eingehenderen Betrachtung wert ist. Im Gegensatz zu Du Bois-Reymond stellt Mach wissenschaftliches Wissen nicht aporetisch, sondern als eine prinzipiell unabschließbare Unternehmung dar. Er unterscheidet, gleichsam als fernes Echo von Auguste Comte, drei Zeitalter: Den Anfang macht die animistische Mythologie der alten Religionen. Im 16. und 17. Jahrhundert entsteht dann, noch im Rahmen einer theologischen Grundstimmung, eine mechanische Kosmologie, die sich erst im Laufe des 18. Jahrhunderts von der Religion ablöst und als mechanische Mythologie zur »projektierten Weltanschauung der Enzyklopädisten« wird. Letztere wird schließlich im ausgehenden 19. Jahrhundert durch ein »besonneneres« Zeitalter überwunden, von dem abzuwarten bleibt, wie es sich entwickeln wird: »Die Richtung, in welcher die Aufklärung durch eine lange und mühevolle Untersuchung zu erwarten ist, kann natürlich nur vermutet werden. Das Resultat antizipieren, oder es gar in die gegenwärtigen wissenschaftlichen Untersuchungen einmischen zu wollen, hieße Mythologie statt Wissenschaft treiben.«6 Mach sieht hier das, was er als Wissenschaft von der Mythologie abgrenzt – womit er übrigens im Vorwort zur ersten Auflage seiner Geschichte der Mechanik von 1883 auch seine eigene »antimetaphysische Tendenz« charakterisiert –, wesentlich bestimmt durch Unabgeschlossenheit und vor allem Unvorwegnehmbarkeit der weiteren Entwicklung: Wir sehen grundsätzlich nicht voraus, wie es weitergehen wird. An der oben zitierten Stelle bezeichnet Mach es denn auch als die höchste Form der Philosophie, deren sich ein Naturforscher befleißigen kann, eine »unvollendete Weltanschauung zu ertragen und einer scheinbar abgeschlossenen, aber unzureichenden vorzuziehen«. Mach betrachtet durchaus auch seine eigene Arbeit als Moment eines übergreifenden historischen Prozesses. Er ist nicht der Vollender seiner Wissenschaft, sondern eröffnet ihr als ein Teilnehmender neue Ausblicke. Historisches Bewusstsein hat für ihn dabei eine doppelte Funktion zu erfüllen. Zum einen hilft es, die systematischen Verfestigungen des jeweils gegenwärtigen Wissens durchsichtig zu machen und es als Gewordenes, nicht als Gegebenes zu verstehen. Zum anderen legt historisches Bewusstsein auch die Möglichkeit nahe, nach neuen, bisher unbetretenen Wegen zu suchen, »indem sich das Vorhandene eben teilweise als konventionell und zufällig erweist«7. Für Mach hätte die Entwicklung der Mechanik insgesamt auch anders verlaufen können können, ihre gegenwärtige Form verdankt sie einer kontingenten historischen Verkettung von Umständen. Eine Theorie der Wissenschaftsgeschichte hingegen – wenn man nicht seine Drei-Stadien-Folge dafür halten möchte – findet sich bei Mach so wenig wie bei Du Bois-Reymond. Sie entsteht erst in der Reflexion auf jenen Bruch, der durch Positionen wie diejenige Machs in den Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts eingetragen wird.

Aus umfassender historischer Perspektive betrachtet, so Machs Argument, ist die Entwicklung der Wissenschaften an die Entstehung arbeitsteiliger Gesellschaften gekoppelt. Diese erst schaffen die Voraussetzung für die Notwendigkeit einer effizienten Weitergabe des vorhandenen Wissens auf einzelnen Gebieten. Dieser soziale Ursprung der Wissenschaft aus Tradierung, der sich Mach zufolge seinerseits in letzter Instanz auf die biologisch-organische Natur des Menschen gründet, ist die Basis für seine Grundansicht, dass die Natur der Wissenschaft eigentlich in nichts anderem besteht als einer »Ökonomie des Denkens«. Man könnte im Sinne Machs auch sagen: Das Denken und seine Ökonomie verdanken sich letztlich einer Ökonomie des sich ausdifferenzierenden sozialen Lebens. Begriffe ersetzen Erfahrungen, die andere gemacht haben und die in einem Traditionszusammenhang nicht ständig wieder erfahren werden müssen – ein Punkt, auf den wir übrigens bei Edmund Husserl unter etwas veränderten Vorzeichen zurückkommen werden. Begriffe sind somit Abstraktionen, die an bestimmten Stellen für Erfahrungen einstehen können. Sie sind Symbole für Komplexe von Empfindungen, die eine gewisse Stabilität aufweisen. Dabei geht Mach durchaus einen Schritt weiter als sein Kollege Hermann von Helmholtz. Dieser war in seiner Zeichentheorie der Wahrnehmung davon ausgegangen, dass Empfindungen als Nervenzeichen für Außenreize zu verstehen sind, die durch Erfahrung in einen Bedeutungszusammenhang gestellt und dadurch erst zu Wahrnehmungen im eigentlichen Sinne werden. Empfindung ist ein physiologischer Vorgang, Wahrnehmung muss gelernt werden. Mach verschärft dieses Argument fast bis zur Umkehrung, wenn er behauptet: »Die Empfindungen sind auch keine ›Symbole der Dinge‹. Vielmehr ist das ›Ding‹ ein Gedankensymbol für einen Empfindungskomplex von relativer Stabilität.«8 Wir erkennen letztlich nicht unveränderliche Dinge in der Außenwelt, sondern diese sind in ihrer Dinghaftigkeit das Ergebnis abstrahierender Anstrengung. Es gibt in der Natur auch keine Ursache und Wirkung – Mach nennt diese Begriffe »Gedankendinge von ökonomischer Funktion«9 –, sondern nur konkrete Zusammenhänge, in die ein ebenso konkretes erkennendes Individuum über sein Empfindungsvermögen immer schon eingebunden ist.

Das Konventionelle und das Zufällige in der Entwicklung des Wissens sind darum aber nicht regellos. Während zwar die Entstehung der »Gedankendinge von ökonomischer Funktion« von Mach andeutungsweise im Biologisch-Organischen verortet wird, so ihre Durchsetzung keineswegs. Sind diese Dinge doch einem historischen Regime der Sparsamkeit unterworfen, das beliebige Wucherungen verhindert. So bezeichnet Mach die Wissenschaft insgesamt auch einmal als eine »Minimumaufgabe«10. Die Grundbegriffe, mit denen eine Wissenschaft wie die Mechanik hantiert, verdanken sich einem Prinzip des geringsten Gedankenaufwandes zur Vergegenwärtigung der mechanischen Erfahrungstatsachen, der jederzeit unterboten werden kann. Was aber noch wichtiger ist: »Die Mechanik fasst nicht die Grundlage, auch nicht einen Teil der Welt, sondern eine Seite derselben.«11 Die Mechanik bildet nicht mehr, etwa aufgrund ihres ontologisch privilegierten Gegenstandes, das Zentrum naturwissenschaftlicher Welterklärung überhaupt, wie dies bei Du Bois-Reymond unterstellt war. Sie verdankt sich lediglich einer bewährten Ökonomie des Denkens. Jede Ökonomisierung fasst jedoch nur eine Seite der Welt, ist eine Abstraktion in einer bestimmten Hinsicht. Die Hinsichten, nach denen sie erfolgen kann, sind aber im Prinzip nicht begrenzt, und keine davon ist privilegiert. Es gibt andere Wissenschaften, die nach anderen Prinzipien abstrahieren, die der Mechanik gleichwertig sind.

Als einer der prominentesten Vertreter der Haltung, die unter dem bereits erwähnten Namen des Konventionalismus in die Wissenschaftstheorie eingegangen ist, gilt der französische Physiker und Mathematiker Henri Poincaré. Bevor wir seine Argumentation mit derjenigen Machs vergleichen, soll jedoch Émile Boutroux, einer der einflussreichsten Wissenschaftsphilosophen des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Frankreich, zu Wort kommen. In seinem auf die Wissenschaften bezogenen Werk sind Themen angeschnitten, die uns in späteren Ausformungen weiter beschäftigen werden, wie sie umgekehrt an die mit Du Bois-Reymond und Mach begonnene Auseinandersetzung anknüpfen. Anders als sie war Boutroux von Hause aus Philosoph, hat sich aber intensiv mit den Wissenschaften seiner Zeit befasst. Er kann als einer der Väter einer Annäherung zwischen der Philosophie und den Naturwissenschaften in Frankreich angesehen werden, die hier im 20. Jahrhundert in eine spezielle Form der historischen Epistemologie münden sollte. In seiner Dissertation von 1874 über Die Kontingenz der Naturgesetze finden sich alle Themen artikuliert, die für unseren Zusammenhang relevant sind.

. Dazwischen ist ein Raum der Unbestimmtheit, den der Determinist dadurch wegargumentiert, dass er »das Prinzip, wonach eine Erscheinung mit der anderen verknüpft ist, im buchstäblichen Sinne nimmt«13