image1

Grundkurs Philosophie

Band 24

Michael Reder

Philosophie pluraler ­Gesellschaften

18 umstrittene Felder der ­Sozialphilosophie

mit einem Kapitel zu »Menschen und (andere) Tiere« von Mara-Daria Cojocaru

Verlag W. Kohlhammer

1. Auflage 2018

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-031009-4

 

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-031010-0

epub: ISBN 978-3-17-031011-7

mobi: ISBN 978-3-17-031012-4

 

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhalt

1.  Zum Einstieg

1.1  Drei philosophiehistorische Beispiele

1.2  Spannungsfelder als Heuristik

2.  Sozialphilosophie als Praktische Philosophie

2.1  Themenfelder und disziplinäre Abgrenzungen

2.2  Methodische Grundspannungen

2.3  Erkenntnisanspruch

3.  Grundelemente des Sozialen

3.1  Funktionale Differenzierung oder Gemeinschaft

3.2  Menschen oder Systeme

3.3  Diskurse oder Praktiken

4.  Leitmotive des Verstehens von Gesellschaft

4.1  Kritik oder Verständigung

4.2  Anerkennung oder Entfremdung

4.3  Privat oder öffentlich

5.  Politische Dimensionen des Sozialen

5.1  Individuelle Interessen oder kooperative Macht

5.2  Gewalt oder Recht

5.3  Gerechte Institutionen oder solidarische Praktiken

6.  Demokratie vor neuen Herausforderungen

6.1  Konsens oder Streit

6.2  Staat oder Weltgesellschaft

6.3  Digital oder analog

7.  Wer sind wir?

7.1  Frau oder Mensch

7.2  Menschen und (andere) Tiere (Cojocaru)

7.3  Gegenwart oder Zukunft

8.  Kulturelle Signaturen des Sozialen

8.1  Homogenität oder Interkulturalität

8.2  Säkular oder religiös

8.3  Alltag oder Fest

9.  Ausblick

Literatur

Personenregister

1.  Zum Einstieg

1.1  Drei philosophiehistorische Beispiele

(a) Als Max Horkheimer, einer der Begründer der kritischen Theorie, 1931 Direktor des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt wurde, hielt er einen Vortrag mit dem Titel Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie. Das Ziel der Sozialphilosophie beschrieb er dort als

»die philosophische Deutung des Schicksals der Menschen, insofern sie nicht bloß Individuen, sondern Glieder einer Gemeinschaft sind. Sie hat sich daher vor allem um solche Phänomene zu bekümmern, die nur im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Leben der Menschen verstanden werden können: um Staat, Recht, Wirtschaft, Religion, kurz um die gesamte materielle und geistige Kultur der Menschen überhaupt.« (Horkheimer 1988, 20)

Mit diesem Zitat wird bereits einiges über die Sozialphilosophie ausgesagt. Zuerst argumentiert Horkheimer, dass es dieser philosophischen Teildisziplin weniger um den einzelnen Menschen als um die Gesellschaft als Ganze geht. Der methodische Individualismus, der Ausgangspunkt anderer philosophischer Disziplinen ist, wird dezidiert verlassen und Phänomene aus ihrem sozialen Zusammenhang heraus erklärt. Zweitens bestimmt Horkheimer die Sozialphilosophie als eine Reflexion der verschiedenen Teilbereiche der Gesellschaft. Sozialphilosophie denkt deshalb über Politik, Recht, Wirtschaft und Religion nach, insofern diese gesellschaftlich relevant sind. Schlussendlich weist Horkheimer auf den Unterschied von Gemeinschaft und Gesellschaft hin, der innerhalb der Sozialphilosophie einen wichtigen Stellenwert einnimmt. Gemeinschaft markiert dabei den engeren Raum sozialer Beziehungen, die z. B. durch geteilte Wertvorstellungen oder Habitusformen gekennzeichnet sind, wohingegen Gesellschaft als das weitere Feld der funktional ausdifferenzierten Beziehungen bestimmt wird.

(b) Hannah Arendt ist eine politische Philosophin, die in den vergangenen Jahren wieder vermehrt Aufmerksamkeit in der sozialphilosophischen Forschung erhalten hat. Wie bei Horkheimer ist auch ihr philosophisches Denken eng mit ihrer Biographie verbunden. Nach dem Studium bei Karl Jaspers und Martin Heidegger musste sie 1933 in die USA emigrieren. Arendt steht nicht explizit in der Tradition der kritischen Theorie von Horkheimer und Theodor W. Adorno, auch wenn viele ihre Überlegungen Parallelen zu diesen aufweisen. Zudem ist auch ihre politisch ausgerichtete Sozialphilosophie eine Antwort auf die Erfahrungen des Nationalsozialismus in Deutschland. In einem kleinen Text von 1943 (Arendt 1943/1986) verarbeitet sie beispielsweise ihre Erfahrung der Flucht und gibt Hinweise darauf, welche Akzente die Sozialphilosophie setzen sollte.

Dabei argumentiert sie zuerst, dass sich mit dem 2. Weltkrieg die Formen der Flucht stark verändert haben. Nicht nur die große Zahl der Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, ist symptomatisch dafür, sondern auch die Gründe, aus denen sie dies tun mussten.

»Als Flüchtling hatte bislang gegolten, wer aufgrund seiner Taten oder seiner politischen Anschauungen gezwungen war, Zuflucht zu suchen. […] Mit uns hat sich die Bedeutung des Begriffs ›Flüchtling‹ gewandelt. ›Flüchtlinge‹ sind heutzutage jene unter uns, die das Pech hatten, mittellos in einem neuen Land anzukommen, und auf die Hilfe des Flüchtlingskomitees angewiesen waren.« (Arendt 1943/1986, 18)

In einer globalisierten Welt ist diese Beschreibung des Phänomens der Flucht aktueller denn je. Gleichzeitig zeigt sie auch auf, dass die Flucht massive Auswirkungen auf die Flüchtlinge selbst hat.

»Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren. Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unsere Gefühle. Wir haben unsere Angehörigen in polnischen Ghettos zurückgelassen und unsere besten Freunde wurden in Konzentrationslagern getötet, was einen Zusammenbruch unserer privaten Welt zur Folge hat.« (Arendt 1943/1986, 19)

Es entstehen weltweit also große Gruppen von geflüchteten Menschen, die Gesellschaften prägen und auch verändern.

Für die Reflexion der Situation der Flüchtlinge ist die Kategorie der sozialen Identität nach Arendt besonders relevant, weil Menschen durch die Umstände gezwungen werden, ihre soziale Identität aufzugeben und sich in den neuen (kulturellen) Kontexten neu zu entwerfen. Das Vertraute, das für die menschliche Gestaltung des Sozialen eine große Rolle spielt, geht dabei verloren, was vielfach Ängste für die betroffenen Menschen mit sich bringt. Gleichzeitig hält sie fest, dass viele Menschen in den Aufnahmeländern scheinbar genau wüssten, wie man sich verhalten sollte, was die Probleme, die mit den Suchprozessen der sozialen Identität verbunden sind, noch einmal verschärft.

»Nur sehr wenige Individuen bringen die Kraft auf, ihre eigene Integrität zu wahren, wenn ihr sozialer, politischer und juristischer Status verworren ist. Weil uns der Mut fehlt, eine Veränderung unseres sozialen und rechtlichen Status zu erkämpfen, haben wir uns stattdessen entschieden […] einen Identitätswechsel zu versuchen. Und dieses kuriose Verhalten macht die Sache noch viel schlimmer.« (Arendt 1943/1986, 20)

Einen letzten Impuls, der für die Sozialphilosophie bis heute besonders relevant ist, gibt Arendt durch ihr Nachdenken über das Verhältnis von sozialer Identität und Politik bzw. Recht, das bereits in dem vorangegangenen Zitat zum Ausdruck kam. Denn die Gestaltung sozialer Beziehungen und ihre nachträgliche gesellschaftlichen Deutung hängen ihrer Ansicht nach immer auch stark von politischen und rechtlichen Bedingungen ab. In diesem Kontext formuliert sie die bis heute viel zitierte Grundforderung jedes Menschen nach dem Recht, Rechte zu haben.

»Dass es so etwas gibt wie ein Recht, Rechte zu haben – und dies ist gleichbedeutend damit, in einem Beziehungssystem zu leben, in dem man aufgrund von Handlungen und Meinungen beurteilt wird –, wissen wir erst, seitdem Millionen von Menschen aufgetaucht sind, die dieses Recht verloren haben und zufolge der neuen globalen Organisation der Welt nicht imstande sind, es wiederzugewinnen.« (Arendt 1955/2001, 614)

Mit diesen sozialphilosophischen Überlegungen zum Phänomen der Flucht, kann mit Arendt auf zwei für die Sozialphilosophie besonders wichtige Aspekte aufmerksam gemacht werden. Zum einen muss die Sozialphilosophie heute immer schon eine globale Perspektive eröffnen, wenn sie sich sozialen Phänomenen zuwenden will. Denn die Implikationen von Flucht für Menschen und Gesellschaften sind beispielsweise nur überzeugend thematisierbar, wenn auf globale Zusammenhänge geachtet und diese philosophisch verarbeitet werden. Zum anderen zeigen ihre Reflexionen, dass soziale Dynamiken immer auch eine politische Dimension aufweisen, weshalb die Sozialphilosophie herausgefordert ist, über die politischen Aspekte des Zusammenlebens der Menschen nachzudenken. Dies ist ein erster Hinweis auf das enge Verhältnis von Sozialphilosophie und politischer Philosophie.

(c) Die Diskussionen über die kritische Theorie und ihre Übersetzung in die Gegenwart prägen bis heute sozialphilosophische wie öffentliche Debatten. Eine dieser Debatten, in der diese Auseinandersetzung um das Erbe der kritischen Theorie pointiert zum Ausdruck gekommen ist, haben 2009 die beiden Philosophen Peter Sloterdijk und Axel Honneth geführt.

Sloterdijk, ein Provokateur der deutschen Philosophieszene, beginnt seine Überlegungen mit Rousseaus Diskurses über die Ungleichheit.

»Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: Das gehört mir!, und der Leute fand, die einfältig (simples) genug waren, ihm zu glauben, ist der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft (société civile).« (Rousseau 1755/2008, 173)

Eigentum ist auf der Basis solcher Überlegungen zum Fundament gesellschaftlichen Zusammenlebens der Moderne geworden. Moderne Gesellschaften haben als Reaktion darauf eine nachträgliche Heiligung gewaltsamer Landnahme durchgeführt, so seine These.

Sloterdijk referiert als Entgegnung auf dieses Argument auf Karl Marx, der die Spannungen moderner kapitalistischer Gesellschaften paradigmatisch analysiert hat (vgl. 4.2). Insbesondere fokussiert er auf das problematische Verhältnis zwischen Arbeiter*innen und Kapitalist*innen. Weil Eigentum für Marx letztlich eine Form des Diebstahls ist, kommt eine Korrektur dieser Eigentumsordnung auf die politische Agenda. Diese Idee liegt nach Sloterdijk nach wie vor dem modernen Sozialstaat zugrunde. Deshalb könne »gegen den ursprünglichen Diebstahl seitens der wenigen nur ein sittlich berechtigter Gegendiebstahl seitens der vielen Abhilfe schaffen.« (Sloterdijk 2009) Weil die Wirtschaft vom linken politischen Lager als eine Kleptokratie gedeutet wird, plädiere dieses Lager für eine sozialstaatliche Umverteilung. Sloterdijk schlussfolgert deshalb, dass die wirklich nehmende Hand der zeitgenössische Sozialstaat ist. Der Staat hat sich »binnen eines Jahrhunderts zu einem geldsaugenden und geldspeienden Ungeheuer von beispiellosen Dimensionen ausgeformt.« (Sloterdijk 2009) Es wird eine gewaltsame Umverteilung durch den Sozialstaat im Namen der Gerechtigkeit vollzogen, so seine Kritik. Das sei letztlich eine getarnte Ausbeutung ähnlich des Feudalismus – nur geschickter angestellt.

»Voll ausgebaute Steuerstaaten reklamieren jedes Jahr die Hälfte aller Wirtschaftserfolge ihrer produktiven Schichten für den Fiskus, ohne das die Betroffenen zu der plausibelsten Reaktion darauf, dem antifiskalischen Bürgerkrieg, ihre Zuflucht nehmen. Dies ist ein politisches Dressurergebnis, das jeden Finanzminister des Absolutismus vor Neid hätte erblassen lassen.« (Sloterdijk 2009)

Deshalb schlägt Sloterdijk eine sozialpsychologische Neuerfindung der Gesellschaft vor, in der Zwangssteuern abgeschafft und in Geschenke an die Allgemeinheit umgewandelt werden.

Honneth, einer der wichtigsten gegenwärtigen Vertreter der Frankfurter Schule, reagierte auf diese Überlegungen, indem er sie als »fatalen Blödsinn« (Honneth 2009) bezeichnet. Sloterdijk ist seiner Ansicht nach Leitfigur für einen neuen Bürgertyp, der dem Sozialstaat Verachtung entgegenbringt, aber keine tragfähige Idee für die politische Gestaltung der Zukunft vorschlägt. Zudem impliziere seine Gesellschaftskritik einen anthropologischen Essentialismus, der ausschließlich auf das Moment des Neids ausgerichtet ist. Die Diebstahlthese ist nach Honneth deshalb falsch, weil Vermögen nicht (nur) auf die eigene Leistung zurückzuführen sei. Gesellschaftliche Strukturen wie Recht und Ordnung, aber auch ökonomische und politische Infrastruktur sind Voraussetzungen für die eigene Leistung. Außerdem beruhe die Demokratie auf gleichen Chancen zur Teilnahme an der Gesellschaft für alle Menschen. Ökonomische Ungleichheit wird deshalb nur zum Teil akzeptiert, um die ungleichen Voraussetzungen der Bürger*innen zumindest teilweise auszugleichen.

Der Sozialstaat erscheint deshalb auch heute als sinnhaft, weil er genau dies leistet. Nur mit Spenden und privater Wohltätigkeit kann dies seiner Ansicht nach nicht geleistet werden. Sloterdijk hat im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung seine Position ein Stück weit zurückgenommen. Trotz allem zeigt die Debatte sehr deutlich sowohl die Spuren der kritischen Theorie in der gegenwärtigen Sozialphilosophie als auch die kritischen Einwände gegen sie. Insbesondere die Argumente, die sich auf die Thesen von Marx berufen, stehen dabei oft im Fokus.

Die drei Beispiele geben einen ersten Einblick in die Grundfragen der Sozialphilosophie. Dieser philosophischen Teildisziplin geht es, so lässt sich zusammenfassen, um eine Rekonstruktion der Dynamiken und Formationen des Sozialen und ihrer interne Kritik. Das Soziale umfasst dabei sehr unterschiedliche Beziehungen der Menschen, welche die Sozialphilosophie von innen heraus analysieren und verstehen will. Ihre Grundfrage kann folgendermaßen formuliert werden: Was sind die Dynamiken und Potenziale, aber auch die Pathologien der zwischenmenschlichen Beziehungen, die moderne und funktional ausdifferenzierte Gesellschaften prägen? Und besonders: Wie verändert die Globalisierung der vergangenen 30 Jahren die Bedingungen und Dynamiken gesellschaftlicher Entwicklungen?

Erkenntnisleitend für den vorliegenden Band ist das kantische Konzept der Aufklärung, wie es im 20. Jahrhundert von Philosophen wie Michel Foucault und Jacques Derrida aufgegriffen und kritisch weiterentwickelt wurde. Immanuel Kant sieht das Ziel der Philosophie darin, die Menschen von Begrenzungen, Vorurteilen und blindem Gehorsam gegenüber festgefahrenen Meinungen zu befreien. Allerdings hat Kant zu wenig die gesellschaftlichen Bedingungen dieser Unmündigkeit thematisiert, worauf Horkheimer und Adorno aufmerksam gemacht haben. Genau diesen Bedingungen (verstanden als Potenziale und Pathologien) widmet sich die Sozialphilosophie in kritischer Weise. Michel Foucault übersetzt dieses Anliegen folgendermaßen in die Sprache des 20. Jahrhunderts.

»Philosophie ist eine Bewegung, mit deren Hilfe man sich nicht ohne Anstrengung und Zögern, nicht ohne Träume und Illusionen, von dem freimacht, was für wahr gilt, und nach neuen Spielregeln sucht.« (Foucault 1984, 22)

Die Sozialphilosophie sollte diesem Ziel folgen und keine naive Abbildung öffentlicher Debatten vorlegen. Vielmehr sollte sie kritisch gegenüber eingefahrenen Vorurteilen sein und die sozialen Tiefenstrukturen mit ihren je eigenen Dynamiken erfassen. Dabei ist sie auch keine wertfreie Wissenschaft, sondern Sozialphilosophie ist immer auch auf einen normativen Standpunkt bezogen.

Genau in diesem Sinne sind alle vier zum Einstieg vorgestellten Philosoph*innen zudem nicht nur Wissenschaftler*innen, sondern auch öffentliche Intellektuelle. Denn ihre unterschiedlich gelagerte Kritik verstehen alle vier nicht nur als ein akademisches Ergebnis, sondern auch als eine philosophisch begründete, politische Perspektive auf aktuelle soziale Entwicklungen. In diesem Sinne ist Sozialphilosophie eine öffentliche und politisch ausgerichtete Reflexion und Kritik sozialer Formationen (vgl. 9.).

1.2  Spannungsfelder als Heuristik

Die vorliegende Einführung will die verschiedenen sozialphilosophischen Theorietraditionen vorstellen und zu einer kritischen Diskussion anregen. Dieses Anliegen wird in verschiedenen Teilschritten umgesetzt. Im nachfolgenden Kapitel (2.) werden zunächst sowohl Themenfelder der Sozialphilosophie und methodische Grundspannungen identifiziert als auch erkenntnistheoretische Implikationen herausgearbeitet.

Die daran anschließenden Kapitel widmen sich verschiedenen Spannungsfeldern der Sozialphilosophie, wobei gegenwärtige Ansätze auch in ihren historischen Ursprüngen vorgestellt werden. Jedes Unterkapitel folgt dabei einer ähnlichen Logik: Es werden in 18 Teilschritten jeweils zwei Pole der Debatte vorgestellt, welche das jeweilige Spannungsfeld der Sozialphilosophie besonders prägt. Die ›Binaries‹ werden jeweils in Dreiergruppen unterschiedlichen Themenfeldern zugeordnet, je nachdem, ob sie sich stärker auf die Grundeinheiten des Sozialen, die sozialphilosophischen Leitmotive oder die politischen bzw. kulturellen Dimensionen des Sozialen richten.

In den verschiedenen Themenfeldern zeigt sich das Verhältnis der Pole allerdings in unterschiedlichen Formen. Manche Spannungsfelder sind derart strukturiert, dass die beiden Pole eher als Gegensätze verstanden werden müssen. In anderen Themenfeldern sind die Pole mehr zwei sozialphilosophische Optionen, die das gleiche Phänomen mit sich ergänzenden Begriffen zu beschreiben versuchen, wie z. B. im Spannungsfeld von individuellen Interessen oder kooperativer Macht (vgl. 5.1). In allen Fällen sind die Pole allerdings keine sich ausschließende Gegensätze, sondern vielmehr zwei Alternativen, innerhalb derer sich der Diskurs bewegt. Sie eröffnen also ein Kontinuum an Positionen und viele Autor*innen sind sicherlich zwischen diesen Polen zu verorten.

Mit dieser Methode soll deutlich werden, was die grundlegenden Weichenstellungen sozialphilosophischer Argumentation sind. Die zugespitzte Darstellung der Sozialphilosophie in Form von diesen Polen (Binaries) soll helfen, die grundlegenden Argumentationsfiguren dieser Disziplin leichter zu erfassen und damit eine Heuristik für das Fach zu entwickeln. Die Pole in den verschiedenen Spannungsfeldern hängen zudem auch miteinander zusammen, wobei sich manche Pole leichter miteinander kombinieren lassen als andere. Verständigung (vgl. 4.1) und Konsens (vgl. 6.1) hängen beispielsweise eng miteinander zusammen, während Systeme (vgl. 3.2) und Praktiken (vgl. 3.3) schwerlich innerhalb einer Theorieperspektive vereinbar sind.

Indem die Leser*innen verschiedene Möglichkeiten der Kombination von grundlegenden Argumentationsfiguren kennenlernen, sollen die Überlegungen auch zu einer eigenen sozialphilosophischen Positionierung anleiten. In ausgewählten, zentralen Spannungsfeldern folgen auf die Rekonstruktion deshalb auch eine eigene kritische Überlegungen zu den jeweiligen Paradigmen, um die Reflexion der Leser*innen anzuregen. Diese kritischen Positionierungen münden am Ende des Buches schlussendlich in ein Fazit, in dem diese Überlegungen noch einmal gebündelt werden und die Sozialphilosophie als eine öffentliche und gesellschaftskritische Aufgabe thematisiert wird.

2.  Sozialphilosophie als Praktische Philosophie

2.1  Themenfelder und disziplinäre Abgrenzungen

Um im Folgenden den Gegenstandsbereich der Sozialphilosophie genauer bestimmen zu können, soll zuerst auf die aristotelische Unterscheidung von theoretischer und praktischer Philosophie zurückgegriffen werden. Die theoretische Philosophie zielt auf die Erkenntnis des von Natur aus Gegebenen (z. B. Erkenntnistheorie, Metaphysik). Demgegenüber fragt die praktische Philosophie nach dem menschlichen Handeln. Ausgangspunkt ist dabei für Aristoteles der Mensch als zoon politikon, der als Individuum immer schon auf Gemeinschaft bezogen ist. Gegenstand der Sozialphilosophie als praktischer Philosophie ist daher der vom Menschen durch seine Handlungen gestaltete Bereich des Sozialen, Politischen und Kulturellen. Menschliches Handeln ist für Aristoteles aber nicht nur Gegenstand der Reflexion, sondern auch Erkenntnisziel. Praktische Philosophie leitet bei ihm deshalb auch zum richtigen Handeln an, und zwar im Sinne einer Verwirklichung des Guten. Der Handlungsraum der praktischen Philosophie in diesem zweiten Sinne ist die politische Öffentlichkeit.

Die Sozialphilosophie, wie sie im Folgenden verstanden wird, folgt dieser doppelten Bedeutung der praktischen Philosophie von Aristoteles. Sie will einerseits das Feld des Sozialen (deskriptiv) rekonstruieren und andererseits (in einem normativen Sinne) Handlungsoptionen angesichts komplexer gesellschaftlicher Problemlagen aufzeigen. Sie thematisiert und reflektiert dabei menschliches Handeln, insofern es nicht (nur) den einzelnen Menschen betrifft, sondern als Ausdruck oder Ursache für zwischenschliche Beziehungen verstanden werden kann. Zentral für diese sozialphilosophische Reflexion ist dabei der Gesellschaftsbegriff, den Aristoteles in dieser Form noch nicht kannte, weil die Polis nicht als eine funktional ausdifferenzierte Formation des Sozialen verstanden werden kann.

In den letzten 30 Jahren sind viele Konzeptionen entstanden, die in verschiedener Weise an dieses Verständnis der Sozialphilosophie als praktische Philosophie anschließen (Brieskorn 2009; Liebsch 1999; Gamm 2001; Horster 2005; Jaeggi/Celikates 2017). Mit Blick auf diese teils unterschiedlich angelegten Ansätze lassen sich in einer übergreifenden Perspektive vier grundlegende Themenfelder der Sozialphilosophie unterscheiden, die in einem engen Wechselverhältnis zueinander stehen. Diese sollen im Folgenden skizziert werden (Gosepath et al. 2009).

Sozialphilosophie versteht sich erstens als eine Reflexion des Sozialen. Dieses kann u. a. als Handlung, Kommunikation oder Struktur verstanden werden. Die verschiedenen Paradigmen, die im Laufe des Bandes vorgestellt werden, lassen sich diesen unterschiedlichen Konzeptualisierungen des Sozialen zuordnen. Dabei gilt es, sowohl die normativen als auch deskriptiven Aspekte des Sozialen zu analysieren.

Sozialphilosophie versteht sich zweitens als eine Reflexion über Gesellschaft als Strukturierung des Sozialen. In der Geschichte der Sozialphilosophie findet sich dabei eine große Bandbreite von Gesellschaftskonzeptionen. Auch wenn antike (und teilweise auch mittelalterliche Ansätze) noch keinen expliziten Gesellschaftsbegriff entwickelt haben, so werden auch zu diesen Zeiten bereits implizit erste Modelle des Gesellschaftlichen entworfen. Die Vorsokratiker haben beispielsweise Gesellschaft als eine kosmologische Ordnung verstanden. In der Neuzeit wurde Gesellschaft demgegenüber als ein geordneter kausaler Zusammenhang interpretiert, der teilweise Züge einer Maschine annimmt. Seit gut 100 Jahren hat sich das Bild der Gesellschaft als mehrdimensionalen funktionalen Zusammenhang durchgesetzt. Die folgenden Überlegungen schließen an diese Gesellschaftsbilder an und wollen zur weiteren Klärung des Gesellschaftsbegriffs beitragen.

Auf zwei Begrenzungen im aktuellen Diskurs über Gesellschaftstheorien sei bereits zu Beginn hingewiesen: Einige Ansätze fokussieren vor allem auf Institutionen, verstanden als Regelsysteme, die eine Handlungsorientierung für die Betroffenen implizieren und das Element des sozialen Zwangs betonen. Wenn Gesellschaft ausschließlich als ein Gefüge von Institutionen verstanden wird, dann greift dies allerdings zu kurz. Denn Gesellschaft ist auch ein dynamischer Prozess, beispielsweise von sich verästelnden Diskursen, die nicht nur als ein institutionelles Arrangement verstanden werden können. Andere Ansätze interpretieren Gesellschaft wiederum als eine kollektive Intentionalität (z. B. die Sozialontologie nach John Searle). Auch diese Perspektive greift zu kurz, denn mit ihr werden eben jene Strukturen und Institutionen, die Gesellschaften ebenfalls prägen, ausgeblendet und zudem soziale Beziehungen ausschließlich als intentionales Handeln gefasst.

Sozialphilosophie ist drittens eine Selbstaufklärung über die normativen Aspekte des Sozialen, weshalb sie eine gewisse Nähe zur Ethik bzw. Sozialethik aufweist. Wichtig ist hierbei, dass sie weniger über das Handeln des Einzelnen reflektiert als über das Handeln der Gemeinschaft bzw. Gesellschaft als solcher. Sozialphilosophie greift also auf normative Kriterien zurück. Es geht ihr allerdings weniger um die Begründung normativer Prinzipien (wie in der Ethik) oder die Anwendung von normativen Prinzipien auf gesellschaftliche Teilbereiche (wie in den Bereichsethiken). Vielmehr will sie die normativen Dimensionen sozialer Prozesse und Strukturen beschreiben und kritisch hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen, politischen oder kulturellen Implikationen reflektieren.

Genau in diesem Zusammenhang manifestiert sich dann auch der Unterschied zu den Disziplinen, die nur in einer deskriptiven Perspektive soziale Sachverhalte beschreiben wollen. Rahel Jaeggi und Robin Celikates beschreiben deshalb die sozialphilosophische Perspektive am Beispiel der Arbeit als gesellschaftlichem Phänomen folgendermaßen:

»Die Sozialphilosophie stellt sich also nicht nur die Frage, wie zeitgenössische Arbeitsverhältnisse verfasst oder wie die Individuen sich (empirisch) zu ihrer Arbeit verhalten; sie fragt auch begrifflich und evaluativ danach, was Arbeit und die durch sie geprägten sozialen Verhältnisse eigentlich sind und wie die gesellschaftliche Organisation von Arbeit verfasst sein sollte.« (Jaeggi/Celikates 2017, 8)

Sozialphilosophie ist schließlich eine Reflexion über Politik als zielgerichtete Steuerung von Gesellschaft und ihrer Teilbereiche. Als Hintergrund spielt hierbei die Theorie funktionaler Ausdifferenzierung eine zentrale Rolle. In welchem Verhältnis die autonomen Teilbereiche der Gesellschaft mit ihrer je eigenen Logik stehen und wie eine Steuerung dieser Teile möglich ist, gilt es sozialphilosophisch zu diskutieren. In dieser vierten Hinsicht ist Sozialphilosophie vor allem politische Philosophie bzw. politische Theorie. Es geht um eine theoretische Konzeptualisierung der politischen Dimension sozialer Prozesse und die Reflexion ihrer Gestaltungsmöglichkeiten. Für diesen Band werden beide Dimensionen – die sozialphilosophische und politiktheoretische – integriert vorgestellt.

In Deutschland wird Sozialphilosophie teilweise als politische Philosophie verstanden. In einem engeren aristotelischen Sinne geht es dann vor allem um die rechtlich-politische Ordnung und ihre bestmögliche, normativ begründete Gestaltung mit dem Ziel eines gerechten und friedlichen Zusammenlebens. Dies ist ein wichtiger Aspekt der Sozialphilosophie – der Fokus des Bandes soll allerdings weiter gefasst werden. Es geht zuerst einmal um eine Rekonstruktion sozialer Grunderfahrung und eine theoretische Konzeptualisierung von Strukturen und Dynamiken gegenwärtiger Gesellschaften. Dabei sollen soziale Zusammenhänge in ihrer Entstehung und Funktionalität erklärt werden. Erst auf dieser Basis kann der politische Aspekt der Sozialphilosophie angemessen diskutiert werden.

Die vier skizzierten grundlegenden Themenfelder markieren sowohl das Diskursfeld der Sozialphilosophie als auch die Grenzen zu anderen Disziplinen, innerhalb und außerhalb der Philosophie. Denn viele Phänomene menschlicher Wirklichkeit können erst angemessen erklärt werden, wenn auch ihre soziale Dimension beachtet wird. Beispielsweise ist innerhalb der Philosophie die Anthropologie bei ihrer Frage nach dem Menschen immer auch auf die Sozialphilosophie verwiesen. Denn das, was den Menschen ausmacht, bestimmt sich auch durch seine Einbindung in eine größere Gemeinschaft bzw. in die funktional ausdifferenzierte Gesellschaft. Ähnliches gilt für Interpretation der Sprache. Wie weit diese Verwiesenheit anderer philosophischer Disziplinen auf die Sozialphilosophie reicht, ist jedoch in einigen Fällen umstritten.

Dies gilt beispielsweise auch für das Verhältnis von Ethik und Sozialphilosophie. In diesem Zusammenhang wird u. a. diskutiert, ob Normen theoretisch begründet werden können oder ob sie mit Blick auf ihre gesellschaftliche Umsetzung hin sozialphilosophisch rekonstruiert werden sollten, wie beispielsweise Honneth (2001) gegen John Rawls einwendet. Auch die Auseinandersetzung zwischen Rawls und Michael Walzer ist ein eindrückliches Beispiel hierfür: Können Gerechtigkeitsprinzipien aus einer theoretischen Überlegung zum Urzustand heraus begründet werden oder müssen sie mit Blick auf ihre Umsetzung in kulturell geprägten Praktiken bestimmt werden? Innerhalb der Sozialphilosophie werden beide Positionen vertreten. Die Sozialphilosophie kann in beiderlei Hinsicht helfen, die normativen Aspekte des Sozialen (und dies betrifft auch ihre eigenen normativen Vorentscheidungen) kritisch zu rekonstruieren und reflexiv einzuholen.

Ein letzter Bezug zu einer anderen philosophischen Teildisziplin sei genannt, und zwar der zur Kulturphilosophie. Soziale Erfahrungen und gesellschaftliche Strukturen sind immer auch kulturell geprägt, weshalb Sozial- und Kulturphilosophie immer zwei Seiten einer Medaille sind. Außerdem stehen viele Ansätze der Sozialphilosophie in der Tradition der Kulturkritik, wie sie in der Geschichte der Kulturphilosophie grundgelegt wurde. Die Kulturkritik von Jean-Jacques Rousseau am Menschen als ein interessengeleitetes und selbstverliebtes Wesen sei stellvertretend genannt (Rousseau 1755/2008). Die Sozialphilosophie nimmt diese Kulturkritik auf und präzisiert sie in gesellschaftstheoretischer Hinsicht. Deswegen werden auch einige kulturelle Signaturen des Sozialen aus der Perspektive der Sozialphilosophie rekonstruiert und diskutiert (vgl. 8.).

Gleichzeitig ist die Sozialphilosophie auch auf andere wissenschaftliche Disziplinen verwiesen, wobei der Bezug zu den Sozialwissenschaften am offensichtlichsten ist. Zu den Sozialwissenschaften gehören wiederum ganz unterschiedliche Disziplinen, die für die Sozialphilosophie von Bedeutung sind, beispielsweise die Soziologie und Politikwissenschaft, aber auch die Sozialpsychologie oder die Ökonomie, wobei hinsichtlich der beiden zuletzt genannten die Zuordnung (teilweise) umstritten ist. Während die Sozialwissenschaften ganz allgemein formuliert stärker auf konkrete soziale und politische Felder fokussieren oder über (sozialwissenschaftliche) Methoden reflektieren, fragt die Sozialphilosophie v. a. nach der Bedingung der Möglichkeit des Sozialen. Diese Fragen hängen jedoch eng miteinander zusammen.

Die enge wechselseitige Verwiesenheit von Sozialphilosophie und Sozialwissenschaften zeigt sich bereits in ihren Ursprüngen, und zwar ab Mitte des 19. Jahrhunderts, einer Zeit, in der sich erste Belege für die Verwendung des Begriffs Sozialphilosophie finden lassen. Dabei fällt auf, dass insbesondere soziologische und sozialphilosophische Diskurse in dieser Zeit eng miteinander verschränkt waren. Mit Georg Simmel findet der Begriff ›Sozialphilosophie‹ dann Eingang in den offiziellen akademischen Diskurs, und zwar genau an der Schnittstelle von Sozialwissenschaften und Philosophie.

Weitere Bezugspunkte stellen die Sozialpsychologie und auch die Psychoanalyse dar. In Bezug auf erstere wird u. a. das Verhältnis der innerpsychischen Deutungen zum Sozialen reflektiert, beispielsweise wenn soziale oder gesellschaftliche Entwicklungen psychologisch gedeutet werden. Dies gilt nicht nur für Ansätze der kritischen Theorie, sondern auch für Theoretiker*innen der Gegenwart wie Jacques Lacan oder von Slavoj Žižek.

Sozialphilosophie ist also immer auch auf die Erkenntnisse anderer Disziplinen angewiesen, wenn sie eine umfassende Reflexion des Sozialen anstellen will. Es geht hierbei nicht um die Vorherrschaft einer Disziplin über eine andere, sondern um ein wechselseitiges Übersetzen des theoretischen Standpunkts und der hieraus gewonnenen Einsichten in das Sprachspiel der jeweils anderen Disziplinen. Interdisziplinarität folgt daher nicht einem hierarchischen Stufenmodell, sondern vielmehr einem Konzept der wechselseitigen Verwiesenheit.

2.2  Methodische Grundspannungen

Die vier Grundfragen nach dem Sozialen, der Gesellschaft, dem Normativen und dem Politischen eröffnen das Feld der Sozialphilosophie. Quer zu diesen Grundfragen kennzeichnet die Sozialphilosophie vier (methodische) Grundspannungen, die sich seit Jahrzehnten in vielen unterschiedlichen Debatten wiederfinden. Diese Spannungen geben eine Orientierung für die weiteren Analysen des Bandes.

Eine erste Spannung zeigt sich zwischen deduktiv und induktiv ausgerichteten Sozialphilosophien. Deduktive Ansätze entwickeln zuerst einen Begriff des Sozialen oder Politischen und wenden diesen dann auf die Gesellschaft und ihre sozialen Phänomene an. Theoretische Modelle haben in diesen Konzepten Vorrang vor der Analyse der sozialen Wirklichkeit. Induktive Ansätze wählen demgegenüber als Ausgangspunkt die Rekonstruktion der Vielfalt sozialer Praktiken und ihrer institutionellen Gefüge. Diese gilt es multiperspektivisch anzufragen und auf dieser Basis ein Theoriemodell zu entwickeln. Dieses Modell wird dann wieder an der gesellschaftlichen Wirklichkeit überprüft. Grundsätzlich erscheint es sinnvoll, beide Zugänge nicht gegeneinander auszuspielen. Sie stellen beide berechtigte sozialphilosophische Argumentationsmuster dar. Allerdings wird gegenwärtig oftmals der Rekonstruktion sozialer Realität ein zu geringer Raum zugestanden. Für eine umfassende Erklärung des Sozialen ist dies ungenügend.

Eine zweite Spannung ist die zwischen normativen und deskriptiven Aspekten der Sozialphilosophien. Sie wurde bereits implizit als eine Grundfrage der Sozialphilosophie nach den normativen Dimensionen des Sozialen eröffnet. In diesem Sinne wurde auch mit Aristoteles auf die doppelte Bedeutung der Sozialphilosophie als praktische Philosophie hingewiesen. Sozialphilosophien sollten beiden Aspekte gleichermaßen Beachtung schenken. Es geht daher sowohl um eine Rekonstruktion sozialer Erfahrungen und Strukturen als auch um eine normativ ausgerichtete Orientierung für die politische Gestaltung des gesellschaftlichen Raumes. Dabei darf die normative Frage jedoch keinen Vorrang in der sozialphilosophischen Argumentation einnehmen. Georg Wilhelm Friedrich Hegel hatte in seiner Rechtsphilosophie bereits darauf aufmerksam gemacht, dass gerade die normativ ausgerichtete Sozialphilosophie auf präzise und plausible Rekonstruktionen der normativen Praktiken angewiesen ist. Diese Spannung ist auch ein Hinweis darauf, dass Sozialphilosophie immer auch sozialwissenschaftliche Studien beachten und in ihre Überlegungen integrieren sollte.

Historisch betrachtet haben sich an dieser Grundspannung viele Sozialphilosophien abgearbeitet und damit den Diskurs insgesamt geklärt. Zu nennen sind z. B. die Reflexionen von Max Weber über die Werturteilsfreiheit der Sozialwissenschaften, mit der er dafür plädierte, dass sich die Erforschung sozialer Zusammenhänge und Dynamiken eigener Wertaussagen enthalten sollte. In den 1960er Jahren flammte der so genannte Methodenstreit wieder auf, und zwar zwischen Vertreter*innen der kritischen Theorie und Karl Popper. Während Popper das Ziel der Erforschung sozialer Zusammenhänge in der (wertfreien) und problemorientierten Beschreibung von einzelnen gesellschaftlichen Sachverhalten sah, argumentierten die Vertreter*innen der kritischen Theorie für eine umfassende Rekonstruktion gesellschaftlicher Zusammenhänge, die gerade in ihrer wechselseitigen Verschränkung nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Forschungsperspektive selbst bestimmen (Adorno u. a. 1969). Daraus ergibt sich eine Form der Sozialphilosophie, die sich als eine umfassende Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse versteht (vgl. 4.1).

Die dritte Spannung ist die zwischen Sozialphilosophien, die auf Handlungen oder Strukturen fokussieren. Während sozialphilosophische Handlungstheorien auf den handelnden Menschen als Mitglied einer Gesellschaft aufbauen, achten Struktur- und Systemtheorien stärker auf strukturelle Zusammenhänge moderner Gesellschaften. Den Zusammenhang dieser beiden Positionen erklärt ein Blick auf Anthony Giddens. Er ist ein wichtiger Soziologe (und auch Sozialphilosoph) des 20. Jahrhunderts, der u. a. mit den Stichworten der Soziologisierung der Gesellschaft und der reflexiven Moderne die Debatte geprägt hat. In seiner Analyse der Moderne führt er die Differenz von Struktur- und Handlungstheorien ein. Während die meisten Sozialphilosophen sich mit ihrer Theorie für die eine oder andere Seite entscheiden, plädiert er für einen Mittelweg: Menschen leben zwar in Strukturen, von denen sie beeinflusst werden. Aber gleichzeitig sind sie auch Akteure, die mit ihrem Handeln wiederum die Strukturen gestalten (können). Mit dem Stichwort der reflexiven Moderne wird zum Ausdruck gebracht, dass Menschen immer schon ein Wissen über Strukturen besitzen, das ihr Handeln beeinflusst. Menschen integrieren dieses Wissen in ihren Alltag und nehmen dazu Stellung. Die persönliche (biographische) Handlungsgeschichte muss dabei je neu erzählt werden. Giddens spricht hierbei vom rekursiven Charakter des sozialen Lebens.

»Der Wiederholungscharakter von Handlungen, die in gleicher Weise Tag für Tag vollzogen werden, ist die materiale Grundlage für das, was ich das rekursive Wesen des gesellschaftlichen Lebens nenne.« (Giddens 1988, 37)

Schließlich prägt die Spannung zwischen Einheit und Vielfalt viele sozialphilosophische Theorien. Einige Ansätze fokussieren stark auf die Einheit der Gesellschaft, andere thematisieren vor allem ihre Pluralität. Auch wenn es sicherlich eines einheitlichen Gesellschaftsbegriffs als theoretische Klammer für eine Sozialphilosophie bedarf, so sollte damit weder deskriptiv noch normativ die Vielfalt moderner Gesellschaften unterbelichtet werden, wie dies in einigen Ansätzen – zumindest tendenziell – der Fall ist. Gegenwärtige Ansätze sind deshalb immer auch daraufhin zu befragen, inwieweit sie ein überzeugendes Verständnis des Verhältnisses von Einheit und Vielfalt vorzulegen vermögen. Beispielhaft hierfür stehen die Überlegungen zu den Binaries von funktionaler Differenzierung und Gemeinschaft bzw. kultureller Homogenität und Interkulturalität.

2.3  Erkenntnisanspruch

Neben den vier skizzierten methodischen Grundspannungen implizieren alle sozialphilosophischen Positionen unterschiedliche erkenntnistheoretische An­nahmen, die es offen zu legen gilt. Denn die erkenntnistheoretischen Positionen stehen (oft) in einem engen Verhältnis zu den darauf aufbauenden Gesellschaftskonzepten. Um die Grundlagen dieser Modelle zu verstehen, ist es deshalb sinnvoll, nach den erkenntnistheoretischen Grundlagen der Sozialphilosophie allgemein zu fragen. Zwei Ansätze sollen hierbei genauer untersucht werden, und zwar eine soziobiologische und eine konstruktivistische Perspektive (Brieskorn 2009, 25ff.).

Die Soziobiologie geht auf die Evolutionstheorie zurück, wie sie u. a. von Charles Darwin entwickelt wurde, und überträgt deren Argumente auf soziale Zusammenhänge. Mutation, Selektion und Anpassung werden für die Erklärung sozialer Prozesse herangezogen. Soziale Entwicklungen sind daher Anpassung im Sinne einer Selbstorganisation. Teilweise gehen die Ansätze sogar noch einen Schritt weiter, beispielsweise wenn evolutionsgeschichtliche und genetische Argumente miteinander verbunden werden. Wenn von einer genetischen Co-Evolution gesprochen wird, so ist damit gemeint, dass mit den soziobiologischen Entwicklungen genetische Prozesse parallel einhergehen und sich wechselseitig bedingen. Beispielsweise wird dann argumentiert, dass Altruismus als soziale Entwicklungsstufe genetisch bedingt ist:

»Die Grundthese ist, dass alle Organismen über Verhaltensprogramme verfügen, die dem Eigennutz dienlich sind […]. Der Grund für diese Annahme hat mit der natürlichen Auslese zu tun: Lebewesen, die um anderer willen auf Vorteile verzichten, hinterlassen weniger Nachkommen als Egoisten.« (Sommer 2003, 5)

Die Ansätze der Soziobiologie implizieren in unterschiedlicher Hinsicht Argumente einer naturalistischen Erkenntnistheorie. So werden soziale Strukturen und Verhaltensformationen als ein determiniertes naturhaftes Geschehen interpretiert. Erkenntnisse über soziale Prozesse richten sich deshalb an diesen natürlichen Entwicklungsprozessen aus. Sozialphilosophische Erkenntnis ist dann eine Rekonstruktion natürlicher Prozesse.

Naturalistische Positionen werden seit vielen Jahren intensiv diskutiert und kritisiert. Erscheinen einerseits manche Argumente als intuitiv plausibel und beziehen sich zudem auf fundierte naturwissenschaftliche Erkenntnisse, so werden andererseits auch valide Einsprüche vorgebracht, von denen drei exemplarisch genannt werden sollen. Erstens etablieren Gesellschaften immer auch Strukturen, die keine gelungene Anpassung an soziale Veränderungen darstellen. Gesellschaften finden also nicht nur zu einer ›rationalen ­Bearbeitung‹ ihrer Probleme, sondern können auch pathologische Züge entwickeln. Zweitens ist soziales Leben durch die Freiheit des einzelnen Menschen und dessen Individualität gekennzeichnet, was innerhalb der Soziobiologie zu wenig Beachtung findet. Und drittens tun sich soziobiologische Ansätze schwer, die normative Dimension der Gesellschaft in ihren vielfältigen Prägungen zu rekonstruieren, beispielsweise wenn Kooperation oder ­Altruismus ausschließlich als genetisch bedingtes Verhalten interpretiert werden.

Ein anderes Beispiel ist die historische Kontingenz des Nachdenkens über soziale Phänomene. Die Gesellschaftstheorie von Horkheimer ist beispielsweise durch die NS-Zeit und ihre extremen Formen des Leides und der Gewalt geprägt. Bezüglich dieser historischen Kontingenz der Sozialphilosophie kann einerseits mit Hegel festgehalten werden, dass es sicherlich das Ziel einer überzeugenden Sozialphilosophie ist, die Gesellschaft ihrer Zeit philosophisch auf den Begriff zu bringen. Dies führt allerdings andererseits nicht zu einer historischen Beliebigkeit sozialphilosophischer Argumente. Sozialphilosophie besteht vielmehr auch darin, die historische Kontingenz der Ansätze zu reflektieren und auf ihre Übertragbarkeit hin zu überprüfen. Gegenüber der Variante eines starken sozialen Konstruktivismus kann deshalb festgehalten werden, dass jede sozialphilosophische Erkenntnis auch einen allgemeinen Erkenntniswert beansprucht und eine Entsprechung in der sozialen Realität hat. In diesem Sinne sind die Einsichten keine beliebigen Konstruktionen.

Dies lässt sich an einem Beispiel illustrieren: Soziale Ungleichheit prägt Gesellschaften weltweit und lässt sich material beispielsweise in Einkommensunterschieden ablesen. Schon die Unterschiede zwischen der US-amerikanischen und der deutschen Gesellschaft zeigen allerdings, dass die interpretierende Konstruktion solcher sozialen Ungleichheiten unterschiedlich ausfällt. Während in den USA in vielen sozialphilosophischen Ansätzen diese Ungleichheiten nicht problematisiert bzw. sogar als Antrieb für gesellschaftliche Entwicklungen bewertet werden, thematisieren viele deutsche Autor*innen soziale Ungleichheiten in kritischer Weise. Diese (kulturell bedingte) Differenz sozialphilosophischer Konzeptionen ist ein Hinweis auf die Bedeutung sozialer Konstruktionen bei der Begründung sozialphilosophischer Argumente. Dies gilt auch für die Gesellschaftskonzeptionen selbst. Das Theorem der funktionalen Ausdifferenzierung ist z. B. ein sozial konstruiertes Bild moderner Gesellschaften. Dies bedeutet allerdings nicht, dass es sich hierbei um ein beliebiges Bild handelt, sondern es ist eine soziale Konstruktion, für die es plausible Gründe gibt.

Die so verstandene Erkenntnis über soziale Zusammenhänge kann allerdings nicht im Sinne eines objektiv-mathematisierbaren Wissens interpretiert werden. Darauf hat bereits Edmund Husserl in seiner Schrift über Die Krisis der europäischen Wissenschaften hingewiesen (Husserl 1936/1977). Die mathematisch orientierte Naturwissenschaft suggeriert Wissenschaftler*innen einen Objektivismus, der Husserls Ansicht nach für die Deutung sozialer Phänomene unangemessen ist. Er betont vielmehr, dass die Welt der mathematisierbaren Gegenstände nicht allein die ›wahre Welt‹ des Sozialen ist. Sozialphilosophisch betrachtet spielen insbesondere die subjektiv geprägten Lebenswelten eine zentrale Rolle. Wenn Wissenschaften diese Lebenswelten nicht angemessen in den Blick nehmen, werden sie für das soziale Leben unbedeutend und verstärken die Sinnkrise der Moderne, so seine Schlussfolgerung, die insbesondere für die Sozialphilosophie von Bedeutung ist.

Bezüglich der erkenntnistheoretischen Grundlegung der Sozialphilosophie kann Folgendes festgehalten werden: Sozialphilosophische Erkenntnisse entstehen im wissenschaftlichen Diskurs. Dabei wird Bezug auf materiale Entwicklungen genommen, die in wissenschaftlichen Debatten interpretiert werden. Die daraus gezogenen Schlussfolgerungen haben immer auch einen sozial-konstruierten Anteil, der im Diskurs der Wissenschaften ständig neu zur Diskussion steht und damit verfeinert wird.

Brieskorn weist darauf hin, dass in diesem Diskurs (in normativer Hinsicht) die sozialen Minderheiten nicht aus dem Blick geraten sollten. Dies betrifft zum einen die Beschreibungen sozialer Phänomene selbst, in denen die Interpretationen von Benachteiligten angemessen Raum finden sollten. Zum anderen ist damit aber auch der wissenschaftliche Diskurs selbst gemeint, in dem Minderheitenpositionen immer wieder neu mit dem Mainstream sozialphilosophischer Argumentation in Beziehung gesetzt werden sollt. Mit Anspielung auf René Descartes nennt Brieskorn dies eine methodische Skepsis und das Hören auf Minderheiten.

»Der Erkenntnisprozess in dieser Welt und im Besonderen auf dem sozialen, politischen und rechtlichen Feld verlangt es, sich den Erfahrungen, dem Leben jener auszusetzen, welche für die eigenen Interessen gerade nicht interessant sind. Der Austausch mit ihnen, so wenig gesprächig sie sein mögen […] ist als Korrektur nötig.« (Brieskorn 2009, 38)