Einleitung

In Holland gibt es seit einigen Jahren einen »Monat der Spiritualität«. Rundfunk, Zeitungen und einige Verlage stellen diesen Monat unter das Thema der Spiritualität. Die holländischen Initiatoren für den »Monat der Spiritualität« baten mich, für ihre Initiative im Jahr 2007 etwas zum Thema »Spiritualität und Leidenschaft« zu schreiben. Für sie war die Kombination dieser beiden Pole wichtig. Sie wollten keine sanfte »Softie-Spiritualität«, sondern eine Spiritualität, die in die Gesellschaft hinein wirkt und die Welt mitgestaltet.

Der Titel des hier jetzt vorliegenden Buches »Spiritualität – Damit mein Leben gelingt« meint eben auch diese Verbindung von Spiritualität und Leidenschaft. Spiritualität ist nicht abgehoben und weltfremd, sondern wirkt konkret in das Leben der Gesellschaft und in mein eigenes Leben hinein. Ja, letztlich kann mein eigenes Leben nur gelingen, wenn ich spirituell aus der Tiefe lebe und wenn diese Quelle meinem Alltag Leidenschaft gibt und ihn belebt. Ist dies der Fall, dann kann mein Leben für mich und andere Frucht bringen.

Die holländische Kirche lebt noch mehr als die deutsche Kirche in einer multikulturellen Gesellschaft. Daher habe ich Spiritualität hier so beschrieben, dass sich auch nichtchristliche Leser und Leserinnen angesprochen fühlen können.

Der holländische »Monat der Spiritualität« rückt ein Thema in den Mittelpunkt, das heute auch an anderen Orten viele Menschen bewegt. Die Sehnsucht nach Spiritualität ist groß. Sie ist weiter verbreitet als die Zugehörigkeit zu bestimmten Religionen: Über Spiritualität sprechen Menschen, die in der Wirtschaft oder Politik Verantwortung tragen. Menschen, die in eine Krise geraten sind, suchen nicht nur in der Therapie, sondern auch auf einem spirituellen Weg Hilfe und Heilung. Über Spiritualität zu sprechen ist heute möglich, ohne gleich als »fromm« abgetan zu werden. Die Gesellschaft spürt, dass sie ohne Spiritualität nicht auskommt.

Jede Religion bietet uns spirituelle Wege an, die wir gehen können, um uns immer mehr für Gott und seinen Geist zu öffnen. Auch außerhalb der Religionen gibt es heute spirituelle Wege. Oft ist nicht ganz klar, was die Einzelnen mit Spiritualität meinen. Aber meistens wird darunter ein Weg verstanden, der uns für eine größere Wirklichkeit öffnet, der uns hilft, unser enges Bewusstsein zu erweitern oder mit uns selbst und mit Gott – oder mit dem Grund des Seins – eins zu werden.

Manche Beobachter sprechen heute von einer »Spiritualität ohne Gott«. Doch alle Formen der Spiritualität sind offen für die Transzendenz Gottes oder für das Transzendente, für eine höhere Macht oder wie immer wir das benennen.

Viele Menschen suchen heute außerhalb der Kirchen nach Spiritualität. Sie haben den Eindruck, dass die Kirchen nur ihre Rituale haben oder dass sie nur ihr dogmatisches und kulturelles Erbe verwalten. Deshalb erwarten sie von dort keine Hilfe, um den Alltag zu bewältigen. Sie besuchen vielmehr spirituelle Kreise, die Meditation oder östliche Entspannungstechniken wie Tai-Chi oder Qigong anbieten. Aber von den Kirchen möchten sie nichts wissen. Sie verbinden diese mit ihren Verletzungen der Kindheit, mit einem strengen und strafenden Gottesbild und mit dem ständigen Reden von Schuld und Sünde.

Und dennoch haben viele dieser Menschen in ihrer Kindheit etwas von dem Getragensein von Gott, von der Geborgenheit in Gott oder einfach von einem numinosen Grund des Lebens gespürt. Diese Erfahrungen haben ihre Sehnsucht nach Spiritualität geweckt. Doch weil sie in der Kirche Verletzungen erfahren haben oder für ihre Sehnsüchte keinen Raum finden, suchen sie nach spirituellen Wegen außerhalb der Kirchen.

Viele suchen Spiritualität in der Esoterik, andere in östlichen Religionen. In letzter Zeit erlebe ich verstärkt, dass Menschen, die gerade in östlichen Religionen gesucht haben, sich wieder den eigenen christlichen Wurzeln zuwenden. Doch sie bleiben allergisch gegenüber einer moralisierenden oder dogmatischen Sprache. Sie sehnen sich nach einer Sprache, die ihre Erfahrungen ernst nimmt und ihnen den Reichtum der christlichen Tradition so erklärt, dass sie sich mit ihrem spirituellen Suchen angesprochen fühlen.

»Spiritualität und Leidenschaft« steht als Motto über dem Monat der Spiritualität. Damit soll die leidenschaftliche Suche nach Spiritualität angesprochen werden, die heute viele umtreibt. Wer wirklich leidenschaftlich nach Wegen der Spiritualität sucht, in dem ist eine große Kraft. Dies gilt es dann aktiv einzusetzen und so zu gebrauchen, dass sie in Gesellschaft und Welt weiterwirkt und dass das eigene Leben gelingt. Bei dem Thema »Spiritualität und Leidenschaft« geht es auch um eine ganz bestimmte Art und Weise von Spiritualität. Auf dem spirituellen Weg dürfen wir uns nicht völlig auf uns selbst zurückziehen.

Jede echte Spiritualität will vielmehr auch eine Wirkung in die Welt hinein haben. Doch nur wenn wir unsere menschlichen Leidenschaften – unsere Leidenschaft im Lieben, im Kampf für eine gerechtere Welt, in der Sorge für die Armen – in unsere Spiritualität einbringen, wird sie für uns selbst und für die Welt zum Segen werden.

Eine Spiritualität, die nur narzisstisch um sich selbst kreist, hat keine Kraft, das Leben zu gestalten. Doch unsere Welt braucht Menschen, die einen spirituellen Weg gehen und zugleich die Leidenschaft für das Leben und für die Liebe unter den Menschen lebendig halten. Wenn sie dies tun, dann wird auch ihr eigenes Leben gelingen.

Was ist Spiritualität?

Es ist immer gut, sich auf den Ursprung der Worte zu besinnen. »Spiritualis« ist eine Übersetzung des griechischen Wortes »pneumatikos«, das man im Deutschen mit »dem Geist gemäß«, »vom Geist erfüllt« übersetzen kann. Bis zum 19. Jahrhundert hat man nur das Adjektiv gebraucht. So hat der heilige Benedikt in seiner Regel um das Jahr 500 ein Kapitel über die »ars spiritalis«, über die geistliche Lebenskunst, geschrieben.

Das Wort »Spiritualität« wurde also im christlichen Kontext gebildet. Das Substantiv taucht allerdings erst sehr spät auf, und zwar im französischen Katholizismus des 19. Jahrhunderts. Dort wurde die Lehre vom geistlichen Leben als »spiritualité« bezeichnet. Letztlich meint Spiritualität daher: Leben aus dem Geist, Leben aus der Quelle des Heiligen Geistes.

Christliche Spiritualität orientiert sich am Geist Jesu Christi. Sie bezieht sich in der Entfaltung eines geistlichen Lebens immer wieder auf die Worte und Taten Jesu, auf seine Lehre und auf sein erlösendes und befreiendes Handeln. Sie ist der Weg, sich immer mehr vom Geist Jesu prägen und verwandeln zu lassen und aus Jesu Gesinnung heraus die Welt zu gestalten. Wenn ich von Spiritualität schreibe, meine ich die christliche Spiritualität, die ich selbst lebe. Aber die konkreten spirituellen Wege, die ich vorstelle, gelten in ähnlicher Weise für jede Form von Spiritualität. Jede Religion wird diese spirituellen Wege auf ihre je eigene Weise deuten und mit dem Inhalt ihres Glaubens füllen. Aber die Art und Weise, wie Menschen in den verschiedenen Religionen ihren spirituellen Weg gehen, ähnelt sich. Sie ist nicht identisch. Und es geht auch nicht darum, alles zu vermischen. Aber indem ich die christliche Spiritualität beschreibe, können auch Menschen, die einen anderen Weg gehen, sich selbst darin wiederfinden. Sie werden die Formen mit ihrer eigenen Religion oder ihrem eigenen Glauben füllen.

Es gab viele Versuche, Spiritualität zu definieren. Der Theologe Karl Rahner versteht unter Spiritualität »Leben aus dem Geist«. Das ist wohl die einfachste und klarste Definition. Spiritualität bedeutet, dass ich aus der Quelle des Heiligen Geistes lebe. Doch um aus dieser Quelle leben zu können, brauche ich zunächst Wege, die mich zu ihr führen. Das sind Meditation und Gebet, Stille und die Feier von Gottesdiensten. All diese Formen wollen mich mit der Quelle des Heiligen Geistes in Berührung bringen, die in mir strömt, von der ich aber oft genug auch abgeschnitten bin.

Das Institut der Orden, die Bildungsakademie der Ordensleute im deutschen Sprachraum, hat Spiritualität als »Integration des gesamten Lebens in eine vom Glauben getragene und reflektierte Lebensform« definiert. Der Wiener Pastoraltheologe Paul Michael Zulehner spricht von der »Verwirklichung des Glaubens unter den konkreten Lebensbedingungen«. In beiden Definitionen geht es darum, dass Spiritualität sich konkret in der Lebensgestaltung ausdrücken muss. Spiritualität muss sichtbar werden in meinem Alltag, in meiner Arbeit, in der Gestaltung meines Tages, in meiner Begegnung mit den Menschen und in meiner ganzen Ausstrahlung. Darauf legt auch eine Arbeitsgruppe der Evangelischen Kirche in Deutschland Wert, die im Jahre 1979 Spiritualität als »das wahrnehmbare geistgewirkte Verhalten des Christen vor Gott« (Wigger­mann 709) beschrieben hat.

Dies alles sind Versuche, das heute so schwammig gewordene Wort »Spiritualität« zu erklären und ihm »Bodenhaftung« zu geben. Letztlich bleibt im Begriff der Spiritualität aber immer auch noch etwas, was nicht nur mit Worten ausgedrückt werden kann. Es ist das Geheimnis des Heiligen Geistes, der im Menschen nach konkreten Ausdrucksweisen sucht, damit er in dieser Welt auch für andere erfahrbar werden kann.

Für mich besteht das Wesen der Spiritualität darin, aus der Quelle des Heiligen Geistes zu leben. Das klingt für die einen zu abstrakt, für die anderen zu christlich. Für mich ist die Quelle, aus der ich schöpfe, die Quelle des Heiligen Geistes. Für andere mag es die göttliche Quelle sein, die Quelle der Liebe, die Quelle der Intuition oder die Quelle göttlicher Energie.

Wir können an einem Menschen sehen, aus welcher Quelle er lebt. Wenn einer aus der Quelle von Unzufriedenheit und Bitterkeit lebt, dann hat er eine negative Ausstrahlung. Wenn er aus der Quelle der eigenen Kraft schöpft, dann bekommt seine Arbeit etwas Angestrengtes. Und häufig hat er eine aggressive Ausstrahlung.

Viele Menschen sind heute erschöpft, weil sie aus trüben Quellen schöpfen: aus der Quelle des Perfektionismus, aus der Quelle des Sich-beweisen-Müssens oder aus der Quelle des Ehrgeizes. Spiritualität bedeutet, aus der Quelle des Heiligen Geistes zu leben. Und der Heilige Geist ist für uns Christen zugleich der Geist Jesu. Wenn wir aus dieser Quelle leben, dann strömt unser Leben, dann wird es fruchtbar. Und wir spüren, dass dieser Mensch sich selbst nicht in den Mittelpunkt stellt, sondern dass er für etwas Größeres durchlässig ist. Wer aus der Quelle des Heiligen Geistes schöpft, der wird nicht so schnell erschöpft. Denn diese Quelle ist unerschöpflich, weil sie göttlich ist.

Die Frage ist, wie wir mit der Quelle des Heiligen Geistes in Berührung kommen und wie wir in unserem Alltag daraus schöpfen können. Dazu hat die christliche Spiritualität verschiedene Wege angeboten. Es gibt gemeinsame spirituelle christliche Wege. Und es gibt besondere Wege, die den jeweils anders geprägten Formen der Spiritualität entsprechen, wie sie in der Geschichte des Christentums entstanden sind.

Da gibt es eine eher benediktinisch geprägte Spiritualität, die die Liturgie und das Leben in Gemeinschaft in den Mittelpunkt stellt. Es gibt die franziskanische Spiritualität, für die die Armut und die innere Freiheit wichtig sind. Die ignatianische Spiritualität schätzt die Exerzitien als geistlichen Übungsweg. Dann gibt es die mystische Spiritualität, der es um das Einswerden mit Gott geht, die marianische Spiritualität, die Maria als Vorbild des Glaubens sieht, die Spiritualität des politischen und gesellschaftlichen Engagements, die Spiritualität der Befreiungstheologie und viele andere Formen mehr. Und es gibt die konfessionell verschieden geprägten Spiritualitäten: etwa die protestantische Spiritualität, die das Wort Gottes in den Mittelpunkt stellt, oder die katholische Spiritualität, die neben der Bibel auch der kirchlichen Tradition Beachtung schenkt.

Und es gibt außerhalb des Christentums die buddhistische, die hinduistische und muslimische Spiritualität, die jedoch auch innerhalb der einzelnen Religionen verschiedene Ausprägungen gefunden hat.

Jede Spiritualität versucht auf ihre Weise, aus dem Geist Gottes zu leben und diesen Geist für die jeweilige Zeit fruchtbar werden zu lassen. Ich möchte jedoch nicht die verschiedenen Formen der Spiritualität betrachten, sondern vor allem die Wege, die allen Formen gemeinsam sind, und zwar nicht nur den christlichen, sondern auch den nicht christlichen Weisen von Spiritualität. Ich beschreibe nur christliche Formen der Spiritualität, die ich selbst praktiziere, vergesse dabei aber nicht, dass sich ähnliche Formen auch in anderen Religionen finden.

Was ist christliche Spiritualität?