Das Vaterunser – Eine Anleitung zum Glauben und zum Leben

Das Vaterunser hat schon zu Beginn des Christentums die Menschen fasziniert. Im zweiten Jahrhundert hat der Kirchenvater Tertullian das Vaterunser eine Kurzfassung des ganzen Evangeliums genannt: In diesem Gebet begegnen wir Jesus Christus und seiner Frohen Botschaft. Cyprian, im dritten Jahrhundert Bischof von Karthago, bezeichnet das Vaterunser als Kompendium der himmlischen Lehre. Er legt das Vaterunser eher dogmatisch aus: In ihm seien die wichtigsten Lehren des Christentums dargestellt. Und im Beten meditierten wir uns in das Geheimnis unseres Glaubens hinein. Im vierten Jahrhundert betont der Kirchenlehrer Gregor von Nyssa in seiner Auslegung eher den ethischen Aspekt des Vaterunsers. Für ihn ist das Vaterunser »Anleitung zu einem gottseligen Leben« (zit. n.: Luz 339) und damit gleichsam eine Hilfe zum richtigen und angemessenen Leben, das den Menschen zu seinem wahren Menschsein führt.

Täglich beten wir Christen das Vaterunser. Doch oft genug ist es uns zur Routine geworden. Wir wissen gar nicht mehr, was wir beten. Die einen stören sich an einzelnen Bitten, die sie nicht verstehen. Für andere sind die Worte leer und fremd geworden.

Doch wir dürfen nicht vergessen: Viele Christen haben durch dieses Gebet ihren Glauben gestärkt und sind durch dieses Gebet in den Geist Jesu Christi hineingewachsen, der uns diese Worte zu beten gelehrt hat. Wenn wir heute das Gebet des Herrn sprechen, dann beten wir nicht nur gemeinsam mit Jesus Christus, sondern wir haben an der Glaubenserfahrung all der Christen teil, die vor uns gelebt haben und durch die Kraft dieses Gebetes ans Ziel in die Herrlichkeit Gottes gelangt sind.

Während wir Lebenden das Vaterunser als Glaubende und Hoffende beten, beten die Verstorbenen dieses Gebet als Schauende. So lenken diese Worte unseren Blick auf die Vollendung, in der die dort ausgesprochenen Bitten für immer verwirklicht sind. Dort im Himmel wird für immer Gottes Name geheiligt und sein Reich ist endgültig gekommen.

Schon die frühe Kirche hat den Christen empfohlen, dreimal am Tag das Gebet des Herrn zu sprechen. Die Didache, auch Zwölfapostellehre genannt und vermutlich um das Jahr 100 entstanden, hat im Vaterunser einen Weg gesehen, in das Zentrum des Glaubens und damit zum richtigen Leben zu gelangen: Durch das Gebet könne der Geist Jesu Christi in das menschliche Herz einfließen.

Die Didache spricht dabei zu Judenchristen, die es gewohnt waren, dreimal am Tag das Achtzehnbittengebet zu sprechen. Anstelle des jüdischen Gebetes sollten die Christen nun das Vaterunser beten. So wird das Vaterunser zum Kennzeichen der Christen. In diesem Gebet haben sie am Gebet Jesu teil. Sie beten sich in seine Gesinnung hinein und erfahren Gott als Vater, der seine Kinder liebt. Und sie fassen in diesem Gebet zusammen, was die Botschaft Jesu für sie ist. Heil und Erlösung, die durch Jesu Tod und Auferstehung geschehen sind, werden ihnen in diesem Gebet täglich erfahrbar.

Seit der frühen Kirche sind unzählige Auslegungen des Vaterunsers erschienen. Das hat mich bisher davon abgehalten, auch ein Buch über dieses vertraute Gebet zu schreiben. Doch die Gespräche mit einigen Freunden haben mich angeregt, meine persönliche Sicht des Vaterunsers auch an andere weiterzugeben. Und ich habe dieses Buch auch geschrieben, weil ich mir selbst Rechenschaft darüber ablegen möchte, was ich denn da tägliche bete: Ich habe mich mit dem Vaterunser beschäftigt, damit mein Beten intensiver werde und ich im Beten immer tiefer in den Geist Jesu Christi hineinwachse, der uns dieses Gebet geschenkt hat. Er selbst will uns im Vaterunser zum Zentrum unseres Glaubens führen und uns zum Leben aus diesem Glauben anleiten.

Vom Vaterunser gibt es zwei Fassungen: eine im Matthäus- und eine im Lukasevangelium. Wir beten das Vaterunser in der Fassung des Matthäusevangeliums. Daher möchte ich dieses Gebet auch gemäß der Theologie auslegen, mit der Matthäus es gedeutet hat. Aber ich möchte immer wieder auch auf die Deutung des Vaterunsers im Lukasevangelium verweisen.

Man sagt, Lukas habe die ursprünglichen Worte Jesu reiner bewahrt, Matthäus habe sie auf dem Hintergrund seiner Theologie gedeutet und kunstvoller formuliert. Bei Matthäus geht es darum, was wir beten sollen, bei Lukas vor allem darum, wie wir beten und welche innere Haltung wir dabei einnehmen sollen. In einem zweiten Kapitel möchte ich daher versuchen, die Gedanken des Lukasevangeliums zu einer Art Gebetslehre zusammenzufassen. Lukas möchte uns ermutigen, voll Vertrauen zu beten und im Beten immer tiefer in die Gemeinschaft mit Jesus Christus hineinzuwachsen.

Die Auslegung des Vaterunsers

Wenn ich das Vaterunser im Rahmen des Matthäusevangeliums auslege, so entdecke ich drei Bedeutungen:

Zum einen ist das Gebet des Herrn der Weg, tiefer in die Gesinnung Jesu hineinzuwachsen. Matthäus versteht Jesus vor allem als Sohn: Er ist der geliebte Sohn des Vaters. Jesus gibt uns nun durch seinen Geist Anteil an seiner Sohnschaft, in der Bergpredigt zeigt er uns, wie Söhne und Töchter Gottes leben sollen. Im Vaterunser weist er uns den Weg, uns – wie Jesus selbst – als Söhne und Töchter Gottes zu erfahren.

Das Gebet will uns in die Erfahrung einführen, die Jesus mit seinem Vater gemacht hat. Im Beten des Vaterunsers haben wir Anteil an seiner intimen Beziehung zum Vater. Das Beten will uns in eine neue Weise der Gotteserfahrung führen: in die Erfahrung des väterlichen und mütterlichen Gottes, der uns immer genauso liebend nahe ist wie Jesus.

Man könnte diese erste Bedeutung des Vaterunsers mystisch bezeichnen. Mystik meint dabei keine überschwänglichen Gefühle und auch keine Visionen oder Erleuchtungen. Mystik bedeutet nach einer philosophischen Definition »cognitio dei experimentalis«: eine erfahrungsmäßige Erkenntnis oder eine existenzielle Erfahrung Gottes. Wir glauben nicht nur an Gott, sondern wir erfahren ihn. In den Worten des Vaterunsers können wir – wenn wir sie mit ganzem Herzen sprechen – eine neue Erfahrung Gottes machen: die Erfahrung der zärtlichen Liebe Gottes und einer intimen Beziehung zwischen uns und Gott.

Die zweite Bedeutung des Vaterunsers besteht für mich darin, dass es die wesentlichen Themen des Evangeliums darstellt. Dieses Gebet spricht an, was Jesus mit seiner Verkündigung und mit seiner Tätigkeit als Heiler und Helfer den Menschen vermitteln wollte. Es thematisiert sein Erlösungswerk. Daher beten wir uns im Gebet des Herrn immer tiefer in das Geheimnis der Frohen Botschaft Jesu hinein. Wir erfahren das Geheimnis seiner vergebenden Liebe, die uns am Kreuz am klarsten aufgeleuchtet ist. Wir erkennen in diesem Gebet, was Gottes Menschwerdung in Jesus Christus für uns bedeutet, und wir üben uns in diesem Gebet in unsere eigene Menschwerdung ein.

Indem wir die Worte Jesu nachsprechen, werden wir mit seinem Geist erfüllt. Wir verstehen immer mehr, worum es Jesus in seiner Botschaft ging. So ist das Beten des Vaterunsers der Weg in die Mitte unseres Glaubens und in die Mitte unseres Christseins.

Die dritte Bedeutung wird durch die Theologie deutlich, die Matthäus mit dem Vaterunser verbindet. Matthäus hat das Vaterunser genau in die Mitte der Bergpredigt gestellt. Alle Forderungen der Bergpredigt sind um dieses zentrale Gebet gruppiert, das Jesus seinen Jünger geschenkt hat.

Was Matthäus in seiner Komposition zum Ausdruck bringt, hat für mich eine theologische Bedeutung: Gebet und Arbeit, Spiritualität und sozialer Einsatz, Kampf und Kontemplation, Mystik und Politik gehören zusammen. Die Forderungen Jesu in der Bergpredigt sind nur als Antwort auf dieses Gebet erfüllbar. Sie sind Ausdruck der Gebetserfahrung, dass unsere Existenz ihre Wurzel im Vertrauen von Söhnen und Töchtern ihrem himmlischen Vater gegenüber hat.

Matthäus sieht Beten und Handeln in einem. Darin wird seine Theologie der Gnade sichtbar. Das neue Tun, das die Christen auszeichnet, strömt aus der Erfahrung des Gebetes. Die Grundlage des Gebetes ist die Erfahrung, dass wir Söhne und Töchter Gottes sind: bedingungslos geliebt von Gott, unserem gemeinsamen Vater, von Gott als unserer wahren Mutter. Wer sich im Gebet als Sohn und Tochter Gottes erfährt, der wird seine Erfahrung in einem neuen Verhalten ausdrücken. Wenn sich das Gebet nicht im Tun äußert, bleibt es wirkungslos. Es führt zum narzisstischen Kreisen um sich selbst.

Das Gebet des Herrn, so wie Matthäus es verstanden hat, will uns zu einem neuen Tun herausfordern: zu einem Tun, das für die ganze Welt heilsam ist und das den Riss, der die Menschen voneinander trennt, überbrückt und heilt.

Gefahr der Privatisierung der christlichen Spiritualität

Heute sind wir tatsächlich in Gefahr, Spiritualität zu einem narzisstischen Kreisen um uns selbst zu verfälschen. Da geht es dann immer nur um das Sichwohlfühlen, um eine Wellness-Spiritualität.

Doch diese Spiritualität ist unfruchtbar für die Gesellschaft. Sie greift nicht ein. Die Privatisierung des Christentums, wie sie in manchen christlichen Kreisen verkündet wird, widerspricht dem Geist Jesu, der auch im Vaterunser zum Ausdruck kommt. Ich kenne Menschen, die einen spirituellen Weg gehen, um sich den sozialen und politischen Konflikten zu entziehen. Sie benutzen ihren Weg, um sich über die anderen Menschen zu stellen: über die, die nur oberflächlich dahinleben, aber auch über die, die sich für andere engagieren.

Ken Wilber, ein amerikanischer Psychologe, meint, die ganze spirituelle Szene in den USA sei in den letzten 20 Jahren eine einzige narzisstische Regression gewesen, die keine Auswirkung auf das politische Handeln gehabt hätte.

Jesus will uns im Vaterunser lehren, dass Mystik und Politik zusammengehören, dass das Gebet des Herrn uns zu einem neuen Verhalten befähigt, aber auch herausfordert. Wer darauf nicht mit einem neuen Handeln antwortet, der hat auch nicht verstanden, was Beten heißt.

Aber auch umgekehrt gilt: Das Vaterunser ist nicht einfach eine Herausforderung, sich sozial zu engagieren. Es ist auch ein Weg in die spirituelle Erfahrung: in die Erfahrung, dass wir Söhne und Töchter Gottes sind. Nur wenn wir uns aus dieser spirituellen Erfahrung heraus für die Gesellschaft engagieren, wird unser Engagement auch zum Segen für die Gesellschaft.

Wir Christen sollen nicht einfach im sozialen Einsatz aufgehen. Wir müssen immer wieder auf den Grund zurückkommen, auf dem unser Einsatz steht. Und dieser Grund ist die mystische Erfahrung der besonderen Nähe zu Gott, einer Nähe, die ihren Grund in der intimen Beziehung Jesu zu seinem Vater hat.

Wenn unser politischer Einsatz nicht vom Gebet getragen wird, wird er uns überfordern. Ein Zivildienstleistender erzählte mir einmal, er engagiere sich für Umweltschutz und Frieden, aber mit sich selber komme er immer weniger zurecht. Er werde immer unzufriedener und aggressiver. Ihm fehlte wohl die spirituelle Erfahrung des Gebetes, da er sich selbst als Atheist bezeichnete. Er hat sicher die Gesinnung Jesu in sich gehabt. Aber er hatte keinen Ort, sich vom Geist Jesu durchdringen zu lassen. Das Gebet ist der Ort, an dem wir mit unserer inneren Quelle in Berührung kommen, aus der heraus wir uns dann für diese Welt einsetzen können.

Der Evangelist Matthäus hat die Verbindung von Mystik und Politik nicht nur dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er das Vaterunser in die Mitte der Bergpredigt stellte, sondern auch durch die Kapitel, die er der Bergpredigt folgen lässt. In ihnen beschreibt er die Taten des Messias, die zehn Wunder, die Jesus – ähnlich wie Mose auf dem Weg durch die Wüste – gewirkt hat.

Jesus begnügt sich nicht damit, uns einen Weg zum Gebet aufzuzeigen und uns Weisungen zu geben, wie wir aus diesem Gebet heraus leben sollen. Er selbst greift in die Welt ein. Er selbst führt die Menschen in die Freiheit und in das Leben. Er heilt ihre Wunden und er stärkt ihren Glauben, dass Gott sie in das Gelobte Land führen wird, in das Land, in dem sie ganz sie selbst sein dürfen, authentisch und frei.

Die Politik muss sich aus der mystischen Erfahrung heraus nähren. Die Mystik aber muss in das gesellschaftliche Engagement einmünden. Das haben die Mystiker und Mystikerinnen aller Zeiten bewiesen. Mystikerinnen wie Hildegard, Mechthild und Gertrud haben immer auch für eine authentischere Kirche und eine gerechtere Welt gekämpft. Und der frühere Generalsekretär der Vereinten Nationen, Dag Hammarskjöld, konnte seinen politischen Einsatz aus der Erfahrung des Gebetes heraus bewältigen. Das Gebet gab ihm die Kraft, sich für andere zu engagieren. Es verhalf ihm zu innerer Klarheit und er konnte so erkennen, was Gott von ihm und für diese Welt will.

Die Auslegung des Vaterunsers von der Bergpredigt her

Ich möchte in diesem Buch das Vaterunser im dreifachen Sinn auslegen: einmal als mystische Erfahrung, dann als Kurzfassung der Verkündigung Jesu und nicht zuletzt als Auslegung der Bergpredigt.

Walter Grundmann, ein evangelischer Exeget, hat für mich überzeugend nachgewiesen, dass Matthäus die ganze Bergpredigt um das Vaterunser herum angeordnet hat und dass die verschiedenen Forderungen der Bergpredigt mit den einzelnen Vaterunser-Bitten korrespondieren. Die Bitte »Geheiligt werde dein Name« entspricht den Seligpreisungen. »Dein Reich komme« bezieht sich auf uns, die wir Salz und Licht der Erde sein sollen. Die Bitte »Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden« konkretisiert sich in den sechs Antithesen, in denen Jesus den Willen Gottes in unser Verhalten hinein interpretiert. »Unser tägliches Brot gib uns heute« wird ausgelegt durch die Beziehung zu Fasten und Almosen und durch das Gedicht von der Sorglosigkeit. »Vergib uns unsere Schuld« entspricht dem »Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet«. Und die Bitte, dass Gott uns nicht in Versuchung führen möge, wird durch die Warnung vor den falschen Propheten entfaltet.

Bei allen Bitten des Vaterunsers soll die Beziehung zur Bergpredigt und zur Botschaft Jesu sichtbar werden. Wir beten uns mit dem Gebet des Herrn in den Geist Jesu hinein, der für uns am klarsten in der Bergpredigt aufleuchtet.

Matthäus hat das Vaterunser nicht nur in die Mitte der Bergpredigt gestellt, sondern auch in die Mitte seines Lehrgedichts über die drei Formen jüdischer Frömmigkeit: Almosengeben, Beten und Fasten.

Jesus übernimmt diese drei Weisen jüdischer Spiritualität und deckt ihren inneren Zusammenhang auf. Beten hängt mit dem Almosengeben zusammen. Das heißt für mich: Wir beten im Sinne Jesu nur richtig, wenn wir auch die soziale Dimension unseres Christseins beachten. Beten ist kein Ersatz für das Almosengeben. Oft genug öffnet uns das Beten, es macht uns bereit, dem anderen auch tatkräftig zu helfen. Und Beten hat mit Fasten zu tun. Es besteht nicht nur in kurzen unverbindlichen Gedanken, sondern im Einsatz für den anderen, das im Fasten körperlich spürbar wird. Fasten ist ein Beten mit dem ganzen Leib.

Zugleich verinnerlicht Jesus das Almosengeben, Beten und Fasten. Es geht ihm nicht darum, seine Frömmigkeit zur Schau zu stellen. Das Gebet soll im Verborgenen geschehen, in der Kammer des eigenen Herzens. Dort im Verborgenen können wir dem verborgenen Gott begegnen, der sich uns zeigt – der sich aber immer wieder auch entzieht, der sich vor uns verbirgt, wie es die jüdische Tradition weiß. Doch Gott, der das Verborgene in uns sieht, will sein Licht in alle Abgründe unserer Seele und auch in die verborgensten Winkel unseres Herzens hineinstrahlen lassen. So geschieht Heilung und Verwandlung. Das Vaterunser soll in der Verborgenheit unseres Herzens erklingen, damit es uns immer tiefer hineinführt in den Grund unserer Seele, in dem Gott seine Wohnung aufgeschlagen hat.

Nach seinen Gedanken über die Verborgenheit des Betens führt Matthäus das Vaterunser mit der Begründung ein, dass die Jünger Jesu anders beten sollen als die Heiden: »Wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden, die meinen, sie werden nur erhört, wenn sie viele Worte machen. Macht es nicht wie sie; denn euer Vater weiß, was ihr braucht, noch ehe ihr ihn bittet. So sollt ihr beten: Unser Vater im Himmel ...« (Mt 6,7–9)

Im heidnischen Umfeld Jesu war es üblich, Gott durch möglichst viele Worte gleichsam dazu zu zwingen, den Beter zu erhören. Und man wollte mit den vielen Namen, mit denen man die Gottheit ansprach, auch den treffen, der für den jeweiligen Gott zutraf, zu dem man betete. Dadurch erhoffte man, Macht über Gott zu gewinnen. »Dahinter steht der magische Gedanke des Namenszwanges: Die Gottheit wird durch Nennung ihres Namens zum Handeln gezwungen, um den Wünschen des Menschen gefügig zu werden.« (Grundmann, Matthäus 198)

Die Jünger Jesu sollen anders beten. Sie haben es nicht nötig, viele Worte zu machen. Sie brauchen Gott nicht zu zwingen, denn Gott ist ihr Vater. Er weiß, was sie brauchen.

Im Matthäusevangelium lehrt Jesus seine Jünger, was sie beten sollen. Doch in der Einleitung zum Vaterunser zeigt er ihnen auch, wie sie beten sollen: Sie sollen im Vertrauen auf Gottes väterliche Liebe beten. Sie sollen sich beim Beten nicht unter Leistungsdruck stellen und möglichst lange beten. Vielmehr geht es darum, die wenigen Worte, die Jesus uns lehrt, mit ganzem Herzen zu beten. Mit diesen Worten drücken Christen Gott gegenüber aus, worum es in ihrem Leben geht: dass das Reich Gottes komme und der Mensch durch Gottes heilende Nähe heil werde und ganz, richtig und aufrecht, Gottes geliebter Sohn und geliebte Tochter.

Das Vaterunser

Vater unser im Himmel

Jesu intime Beziehung zum Vater

Das Vaterunser beginnt mit der vertraulichen Anrede »Vater«. Das griechische »pater« ist wohl eine Übersetzung der für Jesus typischen Anrede Gottes mit »Abba«, die »lieber Vater« bedeutet.

Die Anrede Gottes als Vater war sowohl bei den Juden wie auch bei den Griechen üblich. Und doch hat dort niemand Gott so persönlich und zärtlich angesprochen wie Jesus. Indem wir seine Anrede des Vaters nachsprechen, haben wir teil an seiner intimen Beziehung zum Vater. Wir werden hineingenommen in seine Gottesbeziehung, in seine zärtliche Nähe zu seinem und unserem Vater. Indem wir mit Jesus diese Worte sprechen, tauchen wir in seine Liebe zu Gott ein. Und so wächst im Beten auch unsere Liebe zu Gott.