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Über den Autor

Hannes Hofbauer, geboren 1955 in Wien, studierte Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien und arbeitet als Publizist und Verleger. Im Promedia Verlag sind von ihm u.a. erschienen: »EU-Osterweiterung. Historische Basis – ökonomische Triebkräfte – soziale Folgen« (2008), »Die Diktatur des Kapitals. Souveränitätsverlust im postdemokratischen Zeitalter« (2014, 2. Auflage 2015) und »Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung« (2016, 5. Auflage 2017).

Vorwort

Es war das sprichwörtliche Tüpfelchen auf dem »i«, als die Chefin der deutschen Regierung, Angela Merkel, unter aufmunternden Zurufen aus Unternehmer- und Kirchenkreisen im Hochsommer 2015 die Migrationsschleuse für Muslime aus dem Nahen Osten öffnete. Das Kapital hoffte auf billige Arbeitskräfte und die Kirchen lieferten das ideologische Beiwerk der Menschlichkeit. Einem kritischen Beobachter fiel sofort auf, dass an dieser Inszenierung etwas nicht stimmen konnte.

Die Not von Kriegsflüchtlingen wurde im europäischen Zentralraum der Wirtschaft zum Nutzen und dem Gewissen zur Beruhigung angeboten. Mit diesem genialen Schachzug gelang es, die Diskussion über die auslösenden Faktoren für Migration sowie ihren zerstörerischen Charakter für die Herkunftsländer, aber auch die Zielländer der Auswandernden zu verdecken.

Die medial und politisch dominierende Darstellung von Migration als Zeichen von Weltoffenheit und Diversität prallt allerdings zunehmend auf die Wirklichkeit der gesellschaftlichen und politischen Kosten. Weil eine strukturelle sozioökonomische Kritik an Mobilität insgesamt – mit Ausnahme ökologischer Ansätze, die allerdings in der Migrationsfrage nicht vorkommen – fehlt bzw. bewusst hintertrieben wird, konnte die politische Rechte an ihrer Stelle das Opfer der weltweit zunehmenden ungleichen Entwicklung, den Migranten bzw. die Migrantin, zum Sündenbock stempeln. Sie befeuert damit einen rassistischen Diskurs.

Die politische Linke wiederum schwankt zwischen Schockstarre und der Übernahme liberaler Postulate. In diesen wird Migration, getreu ihrer Verwertbarkeit und in multikultureller Blauäugigkeit, zu einem nicht hinterfragbaren positiven Bekenntnis. Die ihr zugrunde liegende weltweite Ungleichheit bleibt ausgeblendet bzw. wird dem karitativen Denken untergeordnet. Damit verstellt der einzelne, von Krieg, Krise oder Umweltzerstörung gezeichnete Migrant den Blick auf die Funktion von Migration. Tatsächlich bildet diese den Schlussstein im Mosaik globalistischer Interventionen, deren wirtschaftliche und/oder militärische Ausgriffe Millionen von Menschen ihre Lebensgrundlage entziehen. An die Abfolge Schießen-Flüchten-Helfen und ihre ständige Wiederkehr haben sich nicht nur die Zyniker dieser Welt bereits gewöhnt. Sie zu durchbrechen, hat sich der vorliegende Text zur Aufgabe gemacht.

Wer es moralisch und politisch verwerflich findet, dass bengalische Näherinnen in einsturzgefährdeten Fabriken zusammengepfercht um einen Hungerlohn für den Weltmarkt roboten, kann den ständigen Import von Menschen aus dem »globalen Süden« in die Zentralräume dieser Welt nicht positiv konnotieren. Zu sehr ähneln einander die Auslagerung von Arbeitsplätzen an Billiglohnstandorte und die Massen­einwanderung entwurzelter Arbeitskräfte in den »globalen Norden« in ihrer Ausbeutungsstruktur.

Migration war immer. Eine Bedingung menschlichen Lebens, wie es uns die neue Migrationsforschung weismachen will, ist sie allerdings nicht. Von grenzüberschreitenden Wanderungen waren in den vergangenen Jahrzehnten jährlich zwischen 0,6% und 0,9% der Weltbevölkerung betroffen. Die Norm ist der Sesshafte.

Um Struktur und Funktion aktueller Migrationsbewegungen besser einschätzen zu können, ist ein Blick in die Geschichte hilfreich. Die Zerstörung von Lebensgrundlagen, Kriege und Vertreibungen sowie Umweltkatastrophen gehören seit Jahrhunderten zu den entscheidenden Ursachen für Wanderungen. Die meisten von ihnen sind von Menschen gemacht und Ausfluss ökonomischer und/oder geopolitischer Interessen. Wir verfolgen die Migrationsgeschichte zurück bis zur weißen/schwarzen Besiedelung Amerikas, dem mutmaßlich langwierigsten und brutalsten Migrationsgeschehen, betrachten in weiterer Folge die europäischen Arbeitswanderungen des 18. und 19. Jahrhunderts, beschäftigen uns mit den Flucht- und Zwangsarbeiterregimen der beiden Weltkriege, den »Gastarbeiter«-Wellen seit den späten 1950er-Jahren und der Mobilisierung von OsteuropäerInnen im Gefolge von politischen Zusammenbrüchen und Jugoslawienkrieg in den 1990er-Jahren, um mit einem Befund der großen Wanderung der Muslime zur Mitte der 2010er-Jahre zu enden.

In einem weiteren Schwerpunkt widmet sich das Buch den gesellschaftlichen Auswirkungen von Migration sowohl in den Herkunfts- als auch in den Zielländern der ein (besseres) Überleben Suchenden. Dabei stehen insbesondere wirtschaftliche, soziale und kulturelle Verwerfungen im Fokus.

Die Entstehung des Buches wäre ohne jahrelange Vorarbeiten zu Themenkreisen ungleicher regionaler und sozialer Entwicklung nicht möglich gewesen. Dass sich diese unter dem Titel »Kritik der Migration« bündeln, ist nicht zuletzt der Brisanz und Bedeutung des Wanderungsgeschehens geschuldet, das zunehmend auch die Gesellschaften der Europäischen Union erfasst. Speziell zu danken habe ich meiner Lebensgefährtin Andrea Komlosy und insbesondere deren Arbeiten zum Thema Grenze, die mich als einer ihrer ersten Leser für das vorliegende Buch inspiriert haben. Sehr gut getan hat dem Buch vor seiner Drucklegung dann noch der detektivische Blick des Lektors Stefan Kraft, dem Fehler und Ungereimtheiten zum Opfer fielen.

Hannes Hofbauer
Wien, im August 2018

Zur Begrifflichkeit

Wer im Deutschen Wörterbuch der Brüder Jakob und Wilhelm Grimm den Begriff Migration sucht, wird diesen, wenig verwunderlich, nicht finden. Lateinische Bezeichnungen haben dort nichts verloren. Das Wort »Wanderung« hingegen gibt einige beredte Hinweise, worum es auch im vorliegenden Buch gehen wird. »Der alte wanderungstrieb und kriegerische unternehmungsgeist setzte sich zugleich religiöse zwecke«,1 wird der große deutsche Historiker Leopold von Ranke in Grimm’scher Kleinschreibweise zitiert. Krieg als zwangsweise Mobilisierung stellt über die Jahrhunderte eine der Hauptantriebskräfte von Migration dar. Krieg treibt Menschen in die Flucht. Die Erwähnung von »religiösen Zwecken« weist auf kultische Ursprünge von Massenwanderungen hin, die in unseren religiösen Breiten als Pilgerreisen bekannt sind.

Mit Adalbert Stifter nahmen die Nachfolger der Brüder Grimm einen bekannten Schriftsteller des 19. Jahrhunderts zum Stichwort »Wanderung« in ihr Wörterbuch auf. Der Romantiker erinnert an ein im europäischen Westen seit dem Mittelalter auftretendes Wanderungsphänomen, wenn er schreibt: »er hatte dann von seinem vater das handwerk gelernt, ist auf wanderung gegangen und ist endlich wieder zurückgekehrt.«2 Hunderttausende zogen zur Schulung in die Fremde, um ihre gewerblichen Fähigkeiten durch externe Impulse zu verbessern. Diese Art der freiwilligen, von Lernbegierde und persönlicher Neugier getriebenen Migration war auf Handwerker beschränkt. Sie benötigten dafür eigene passähnliche Genehmigungen, die sogenannten Wanderbücher oder Kundschaften, die ihnen von den Zünften ausgestellt wurden. Das Stifter’sche »endlich wieder zurück« kann als für die Mitte des 19. Jahrhundert typisch verklärender Blick auf Heimat interpretiert werden, die als Hort sozialer Sicherheit angesehen wurde; es zeigt aber zugleich auch, dass Wandern bzw. Migrieren nicht als Dauerlösung betrachtet wurde, sondern als ein zeitlich begrenzter Zustand, den es letztlich mit der Heimkehr zu überwinden galt.

In dieselbe Kerbe schlägt auch Johann Wolfgang von Goethe, den das Grimm’sche Wörterbuch aus seiner Iphigenie auf Tauris schreiben lässt: »Du stießest mich vielleicht, eh’ zu den Meinen frohe Rückkehr mir und meiner Wanderung Ende zugedacht ist, dem Elend zu.«3 Dieser Satz atmet die allermeisten auch der aktuellen Migrantenschicksale. Ausgestoßen bzw. ausgezogen, um in der Ferne bessere Chancen zu finden, die dereinst eine frohe bzw. finanziell ertragreiche Rückkehr sichern sollten, findet sich der Ausgewanderte stattdessen im Elend wieder. Versprechungen von Millionen Menschen auf ein besseres Leben in der Fremde endeten als persönliches Scheitern, das der Umgebung nicht eingestanden wird. Die entsprechenden negativen gesellschaftlichen Auswirkungen bleiben indes unübersehbar.

Das heute gebräuchliche Wort Migration wurzelt im lateinischen »migrare«, wandern. Im Duden des Jahres 1987 kommt es ausschließlich als »Wanderung (der Zugvögel)«4 vor, während 15 Jahre später dem Duden zufolge auch bereits der Mensch migriert. Dort ist unter dem Stichwort Migration »Biol., Soziolog., Wanderung«5 vermerkt.

Wir beschäftigen uns mit der menschlichen Wanderung. Eine allgemeingültige Definition, welche Bewegungen damit gemeint sind, gibt es nicht. Deswegen blühen in der einschlägigen Literatur alle möglichen (und unmöglichen) Typen von Migration, die neben der räumlichen auch die soziale Mobilität und zeitliche Faktoren als solche beschreiben. Lehrbuchhaft umfassend sind die unterschiedlichen Klassifikationen u.a. bei Felicitas Hillmann6 dargestellt, die Migrierende nach Distanz, Richtung, Dauer und Frequenz der Wanderungen unterscheidet, auch den Grad der Freiwilligkeit zu bestimmen versucht und die Gründe in ökonomische, soziale, politische, kulturelle und religiöse unterteilt. Wenn sie an anderer Stelle Migration allgemein als »gelebte Geographie« definiert, so klingt das im ersten Moment interessant, weist aber bereits in Richtung einer kritikwürdigen Auffassung, die Migranten als wirtschaftliche und/oder geopolitische Verschubmasse versteht.

Im neoklassisch-ökonomistischen Diskurs7 werden »Wanderungsbewegungen als Reaktion auf räumliche Ungleichgewichte« affirmativ gesehen, mehr noch: In dieser Wahrnehmung braucht es ständige Migration, um soziale Unterschiede auszugleichen. »Ähnlich wie Kapital auf der Suche nach profitablen Investitionsmöglichkeiten sollen Menschen auf der Suche nach besseren Verdienstmöglichkeiten regionale und internationale Arbitrageprozesse in Gang setzen und so zur regionalen und internationalen Integration beitragen.«8 Migration wird hier als unabdingbar notwendige Mobilität dargestellt, die überhaupt erst die unterschiedlichen Lohn-, Preis- und Zinsunterschiede – die sogenannte Arbitrage – generiert, auf deren Basis möglichst risikofreie Gewinne für Investoren möglich sind. Zum Um und Auf der Arbeitsmobilität äußert sich der Autor erfreulicherweise offen und ehrlich: »Wenn ökonomische Integration die Anreize zur lokalen Konzentration wirtschaftlicher Produktionstätigkeiten verstärkt, sollten Arbeitskräfte vermehrt in die Zentren ziehen, damit Agglomerationsvorteile ausgenützt werden können. Sind die Arbeitskräfte hingegen immobil, müssen Firmen durch entsprechende Lohnsenkungen dazu gebracht werden, in der Peripherie zu bleiben. Immobilität fördert so regionale Unterschiede …«9 Laut diesem Befund kann es der Mensch als Arbeiter drehen und wenden wie er will, er wird ausschließlich als Kostenfaktor betrachtet. Eine Zusammenballung von Migrierenden im Zentralraum macht es dem Unternehmer leicht, aus dem großen Angebot am Arbeitsmarkt die günstigsten Arbeiter auszuwählen und erspart ihm zusätzlich Overhead-Kosten. Mobilitätsunwillige an der Peripherie kann der Investor mit niedrigeren Löhnen abstrafen, so lange, bis sie sich zur Migration entschließen. Dass Immobilität regionale Unterschiede fördert, ist freilich vollkommen verquer gedacht, dann müsste ja im Umkehrschluss Mobilität soziale und regionale Differenzen einebnen. Das Gegenteil ist der Fall.

Worum es in diesem Buch nur am Rande gehen wird, ist das Thema Asyl. Schon die Bedeutung des griechischen Wortstammes zeigt, dass es dabei nicht um Wanderungen geht, sondern um eine spezifische Form der Aufnahme von Geflüchteten. Ásylon steht für das Unverletzliche, den Zufluchtsort, der in seiner ursprünglich religiösen Form eine Kultstätte oder ein Tempel war, wo sich ein Fliehender unter den Schutz einer Gottheit stellen konnte. Auch Kirchen und Klöster gewährten seit dem 4. Jahrhundert Flüchtenden Asylrecht, bis die katholische Kirche 1983 das Kirchenasyl nicht mehr in den überarbeiteten Kodex des kanonischen Rechts aufnahm, was seiner unausgesprochenen Abschaffung gleichkommt.10 Die Französische Revolution gab dann dem weltlichen Asylrecht entscheidende Impulse; einzelne Staaten begannen, politisch Verfolgten Schutz zu gewähren. Zu einer völkerrechtlichen Verbindlichkeit eines Rechts auf Asyl ist es allerdings bis heute nicht gekommen. Es existiert keine allgemeingültige UN-Resolution zum Thema. Einem Flüchtlingsschutz am nächsten kommt die Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951, die ursprünglich für politisch Verfolgte aus kommunistischen Ländern Verwendung fand. Diese verpflichtet die Unterzeichnerstaaten, dem anerkannten Asylbewerber gewisse soziale Sicherheiten zuzugestehen, ein Anspruch auf Asyl ist darin allerdings nicht festgeschrieben. Als Fluchtgründe gelten politische, religiöse und rassische Verfolgung sowie die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Krieg ist in der Genfer Flüchtlingskonvention kein Kriterium. 145 Staaten (von 193) haben bis 2018 diese Konvention unterzeichnet.

Die Vermengung von Migrationsbewegungen, die meist wirtschaftlichen oder geopolitischen Umbrüchen folgen, mit der speziellen Aufnahmeform von politisch, rassisch oder religiös Verfolgten soll hier tunlichst vermieden werden. Gleichwohl wird das Thema Asyl schon wegen dieser medial oft bewusst oder unbewusst vorgenommenen Vermischung nicht völlig ausgeklammert werden können.

Wanderung als menschliche Konstante

Migration war immer. Mit dieser zweifellos richtigen Feststellung reagieren links- und rechtsliberal gesinnte Medien, Politiker und Wissenschaft­lerInnen auf die seit Jahren zunehmende Kritik an der im Zuge der großen Fluchtbewegung des Sommers 2015 entstandenen »Willkommenskultur« für syrische, afghanische und andere Flüchtlinge. Migration verursachte auch immer soziale Verwerfungen. Dieser ebenso richtige Gemeinplatz der Erkenntnis wird hingegen in vielen meinungsbildenden Milieus ausgeblendet. Zu Unrecht, denn jede Massenwanderung ist bereits eine Reaktion auf gewaltige regionale oder soziale Katastrophen in den Herkunftsländern der Migrierenden, die mit ihnen logischerweise auch die Zielländer erreichen. Wer davor die Augen verschließt, endet im Extremfall bei der Position, Migration sei zu begrüßen. Die Antwort auf die Frage, für wen diese gut sei, führt uns bereits mitten hinein in die Geschichte eines weltweiten Verteilungskampfes, bei dem Mobilität zugleich Instrument und Ausdruck globaler Ungleichheit ist.

»Wanderungen gehören zur Conditio humana wie Geburt, Fortpflanzung, Krankheit oder Tod.«11 Mit diesem Satz leitet der Migrationsforscher Klaus Bade sein viel gelesenes Buch Europa in Bewegung ein. Was auf den ersten Blick selbstverständlich erscheint, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als pure Ideologie der globalistisch-liberalen Moderne. Denn anders als Geburt, Fortpflanzung oder Tod, die dem Menschen wie anderen Lebewesen naturgesetzlich eingeschrieben sind, kann man das von Wanderungen keineswegs behaupten. Die Tatsache, dass Menschen zu allen Zeiten migrierten, heißt natürlich nicht im Umkehrschluss, dass Migration – wie Geburt und Tod – Bedingung des menschlichen Lebens ist. Örtlich, zeitlich und dem sozialen Stand nach unterschiedlich gab es in den vergangenen Jahrhunderten Milliarden von Lebensläufen, die keine Wanderung kannten. Wer also Wanderung zur menschlichen Lebensbedingung erklärt, konstruiert damit ein nicht hinterfragbares Dogma, das eher seinen eigenen Blick auf die Gesellschaft als die Wirklichkeit abbildet. Der Titel von Bades Buch, »Europa in Bewegung«, unterstreicht dieses Wunschbild. Die neuere Migrationsforschung folgt allesamt, bis auf ganz wenige Ausnahmen, dem Dogma von Mobilität als Normalfall menschlicher Lebensform.12

Die Herstellung von wirtschaftlichen Großräumen wie jenem der Europäischen Gemeinschaft bzw. der späteren Europäischen Union mobilisiert Menschen als Arbeitskräfte oder Studierende über ihren vormals kleinräumigeren Lebensraum hinaus. Diese Mobilisierung ist, wie wir noch sehen werden, beabsichtigt. Man kann sie als Chance begreifen oder beklagen, unredlich ist es allerdings, in dieser Tatsache eine gottgegebene oder genetisch verankerte »Conditio humana« zu sehen. Gleichwohl hält sich ein großer Teil der neueren Migrationsforschung in schlechtester, aber gewohnter herrschaftsapologetischer Tradition an dieses Dogma. Der entsprechende Bekenntniszwang in der Forschergemeinschaft scheint nahezu lückenlos. Migration wird als Lebensbedingung gesehen, eine Alternative soll damit undenkbar gemacht werden. Da fällt es schon gar nicht mehr auf, wenn im Eifer des Gefechtes um die Meinungshoheit übertrieben wird. »Unseres Erachtens ist Migration als Normalzustand menschlicher Gesellschaften zu verstehen«, schreiben die zwei Gewerkschafter Hartmut Tölle und Patrick Schreiner wohl in der Hoffnung, damit dem Einstiegs­credo in die herrschende Migrationsdebatte genügend Tribut gezollt zu haben. Die Transformation vom Marx’schen »variablen Kapital« (für den ausgebeuteten, allzeit flexiblen Arbeiter) zur migrierenden Gesellschaft als Norm lässt große Kapitalgruppen frohlocken. Sie profitieren von Mobilisierung und Flexibilität, die nicht nur auf dem Arbeitsmarkt positiv zu Buche schlagen. Warum allerdings zwei DGB-Männer in den Chor des »There Is No Alternative« einstimmen, erschließt sich einem nicht sogleich.

Auffallend ist jedoch, dass es weite Teile der Linken sind, die der Mobilisierung von Arbeitskräften und Wanderungsbewegungen generell vorbehaltlos positiv gegenüberstehen, weil sie den sozialökonomischen Kontext von Migration zwar erkennen, diesen aber hinter genetischer oder gottgewollter menschlicher »Wesenseigenheit« verstecken. »Sich räumlich zu bewegen ist eine ›Wesenseigenheit‹ des Menschen, ein Bestandteil seines ›Kapitals‹, eine zusätzliche Fähigkeit, um seine Lebensumstände zu verbessern«, schreibt etwa der italienische Migrationsforscher und Abgeordnete des »Partito Democratico«, Massimo Livi Bacci.13 Er verklärt die »Anpassungsfähigkeit des Migranten« zur »fitness«, die er als Gemisch aus biologischen, psychologischen und kulturellen Eigenschaften beschreibt. Kein Wort von den sozioökonomischen Zwängen, kein Wort von Krieg oder Klimakatastrophe, die Menschen zum Wandern zwingen. Migration ist in dieser globalistisch-liberalen Vorstellung das Reine, in die menschliche DNA Eingeschriebene, nichts Gemachtes, nichts der wirtschaftlichen Verwertung Zugetriebenes.

Den Vorwurf solcher Verharmlosung braucht sich der slowenische Philosoph Slavoj Žižek nicht gefallen zu lassen. Was die Gründe für die heutigen Massenfluchtbewegungen betrifft, spricht er Klartext. »Die Hauptursache für die Flucht liegt im globalen Kapitalismus und seinen geopolitischen Spielen selbst. Und wenn wir ihn nicht radikal ändern, werden sich zu den afrikanischen Flüchtlingen bald welche aus Griechenland und anderen europäischen Ländern gesellen«14, schreibt er in bekannt flapsiger Manier und bringt auf den Punkt, worum es geht: um einen weltweiten Verteilungskampf. Warum Žižek dieser Klarsicht zum Trotz an gleicher Stelle schreibt, dass »Migrationen im großen Stil unsere Zukunft (sind)«, liegt an seiner eingestandenen – und berechtigten – Furcht vor der Alternative, die er »neue Barbarei« nennt. Dass diese allerdings mit der Politik einer Willkommenskultur, wie er sie befürwortet, aufzuhalten wäre, scheint angesichts der real herrschenden politischen Kräfteverhältnisse unrealistisch. Da beruhigt es dann doch, dass Žižek als einer der wenigen Denker unserer Zeit als die schwierigste Aufgabe nicht die Integration von MigrantInnen oder gar deren Abwehr versteht, sondern die Durchsetzung eines »radikalen ökonomischen Wandels, der die Verhältnisse abschaffen sollte, die zu den Flüchtlingsströmen führen.«15

Der wissenschaftliche Mainstream will sich mit einem solch notwendigen radikalen Wandel nicht beschäftigen. Er verschließt die Augen vor den Verhältnissen und versteift sich darauf, deren Auswirkung – die Migration – positiv zu konnotieren.

Stellt man dieser ideologischen Einstellung die Wirklichkeit entgegen, wird Erstere eindrucksvoll enttarnt. Das »Vienna Institute of Demography« hat in einer jahrelang durchgeführten, aufwändigen Studie weltweite Wanderungsbewegungen dokumentiert und dabei errechnet, dass die grenzüberschreitende Migration zwischen 1960 und 2005 jährlich 0,6% der Weltbevölkerung betroffen hat; im Zeitraum zwischen 2005 und 2010 ist sie auf 0,9% gewachsen. In absoluten Zahlen waren das in den Jahren 2005 bis 2010 41,5 Millionen Wanderungsbewegungen, denen 7 Milliarden Menschen gegenüberstehen, die dieses Schicksal nicht teilen.16 Die Norm ist der Sesshafte, Migration weicht davon ab.

Allerdings ist die zwischenstaatliche Migration in den vergangenen Jahren schneller gewachsen als die Weltbevölkerung, wie ein UN-Bericht aus dem Jahr 2015 belegt. Ihm zufolge erhöhte sich der Gesamtbestand der als MigrantInnen lebenden Menschen zwischen 2000 und 2015 von 2,8% auf 3,3%.17 Im Jahr 2015 waren dies 244 Millionen, die fern ihrer Heimat lebten, 2017 stieg die Zahl auf 258 Millionen.18

Warum die tatsächlichen Wanderungsbewegungen den globalistisch imaginierten so weit hinterherhinken, erklärt der Historiker Jochen Oltmer im Fall der Süd-Nord-Migration interessanterweise gerade mit der Armut der sesshaften Menschen, ihren fehlenden Netzwerken … und der restriktiven Migrationspolitik möglicher Zielländer: »Für den Großteil der Bewohner der Welt ist die Umsetzung eines solchen Migrationsprojektes illusorisch.«19 Enttäuscht stellt der Migrationsforscher Peter Fischer20 fest, dass die von ihm herbeigesehnten ökonomischen Möglichkeiten, die massenhafte Mobilisierung mit sich bringen könnte, an menschlichen Gewohnheiten und Sehnsüchten scheitern. »Deutlich höhere Wanderungsneigungen als der Durchschnitt hatten zwischen 18 und 28 Jahre junge Leute und kürzlich zugewanderte Ausländer«, beschreibt er die positive Seite seines Forschungsgegenstandes, um dann festzustellen zu müssen: »Allgemein jedoch gilt, daß immobiles Verharren die Regel und Migration die absolute Ausnahme ist. Geschlechtsspezifische Unterschiede scheint es dabei kaum zu geben. Praktisch völlig immobil sind Partner, die beide verdienen und/oder Kinder haben«, schließt er resigniert vor einer ökonomisch tragfähigen Familienstruktur.

1 Leopold von Ranke, Werke – 2,14,27 in: Deutsches Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm, Bd. 27, Leipzig 1922, S. 1707

2 Adalbert Stifter, Werke 1901f. 5, 1, 210 in: Deutsches Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm, Bd. 27, Leipzig 1922, S. 1702

3 Zum besseren Verständnis wurde hier die Kleinschreibweise aufgehoben. Johann Wolfgang von Goethe 10, 14, Weimar ausg. (Iphigenie 1,3) in: Deutsches Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm, Bd. 27, Leipzig 1922, S. 1702

4 Duden, Leipzig 1987

5 Duden, Mannheim–Leipzig–Wien–Zürich 2000

6 Felicitas Hillmann, Migration. Eine Einführung aus sozialgeographischer Perspektive. Stuttgart 2016, S. 17

7 siehe z.B.: Peter A. Fischer, Richtige Antworten auf die falschen Fragen? Weshalb Migration die Ausnahme und Immobilität die Regel ist. In: Achim Wolter (Hg.), Migration in Europa. Neue Dimensionen, neue Fragen, neue Antworten. Baden-Baden 1999, S. 86

8 Ebd.

9 Ebd., S. 86/87

10 de.wikipedia.org (25.4.2018); siehe auch: www.domradio.de (20.5.2017)

11 Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München 2000, S. 11

12 Vgl. dazu auch: Dirk Hoerder/Leslie Page Moch (Hg.), European Migrants. Global and Local Perspectives. O.O. (Boston) 1996

13 Massimo Livi Bacci, Kurze Geschichte der Migration. Berlin 2015, S. 8

14 Slavoj Žižek, Der neue Klassenkampf. Die wahren Gründe für Flucht und Terror. Berlin 2015, S. 82

15 Ebd.

16 Studie des »Vienna Institute of Demography«, siehe: www.global-migration.info. Siehe auch: Jochen Oltmer, Globale Migration. Geschichte und Gegenwart. München 2016, S. 114

17 UNO (Hg.), Trends in International Migrant Stock. The 2015 Revision, siehe: www.un.org (17.4.2018)

18 www.un.org (11.3.2018)

19 Oltmer, S. 115

20 Fischer in: Wolter 1999, S. 86