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Verlagstext

Der Chemiker Dr. Rainer, das Alter ego des Autors, lernt 1940 auf dem Weg in den Sommerurlaub den Studenten Stephan kennen. Scheu und mit größter Vorsicht nähern sie sich einander an. Fernab des Kriegs und eingebettet in die idyllische Natur der Salzburger Alpen entwickelt sich eine einzigartige Liebesgeschichte.

Stephans Liebe gibt Dr. Rainer die Kraft, auch von seiner Verurteilung wegen homosexueller Kontakte, seiner Zeit im Gefängnis und seiner zunehmenden Entfremdung von den Nazis zu erzählen.

Der hier erstmals publizierte Roman aus den Jahren 1940/41 ermöglicht einen originellen Einblick in die Welt des pädagogischen Eros und eine schwule Liebe im Hitler-Deutschland. Darüber hinaus eröffnet er einen völlig neuen Blick auf eine kontroverse Persönlichkeit der deutschen Zeitgeschichte.

Rudolf Hanslian (1883-1954), Autor dieses stark autobiografischen Romans, war in der Weimarer Republik, während der NS-Zeit und in der frühen Bundesrepublik anerkannter Experte für chemische Waffen und Luftschutz. 1937 wurde er wegen § 175 StGB verurteilt, was er nach 1945 verbergen konnte.

In seinem Nachwort ordnet Detlef Grumbach die Persönlichkeit Hanslians und den Roman – auf Grundlage seiner Publikationen, der Prozessakten und Tagebücher – in ihren zeithistorischen Kontext ein.

Rudolf Hanslian

Stephan

Fragment einer Leidenschaft

Roman

mit einem Geleitwort von
Johann Jakob Daume

und einem Nachwort von
Detlef Grumbach

Männerschwarm Verlag

Hamburg 2018

Geleitwort

Auch Bücher haben ihre Schicksale. Mögen die Götter diesem Buche, dessen einziges Manuskript sie bereits zweimal vor dem Flammentode bewahrt haben, weiterhin ein freundliches Geschick bereiten!

Rudolf Hanslian in seinem Tagebuch, 14. Juni 1944

Dass der Roman «Stephan. Fragment einer Leidenschaft» fast achtzig Jahre nachdem er verfasst wurde nun als Buch erscheinen kann, ist einem Zufall zu verdanken. Vielleicht ist aber auch noch der Wille seines Autors wirksam gewesen, dem seine Veröffentlichung von größter Bedeutung war.

Dr. Rudolf Hanslian war weder Nationalsozialist noch leistete er aktiven Widerstand gegen das Regime. Als überzeugter Patriot hatte er anfangs noch Verständnis für die Politik der NSDAP. Durch seine Verurteilung nach § 175 StGB im Jahr 1937 und dann durch den aussichtslos geführten Krieg wurde er zu ihrem erklärten Gegner. Diese Entwicklung beschreibt er in seinen Tagebüchern und im Roman. Nachdem Hanslian das Manuskript seines Romans einige Jahre im Safe bei der Deutschen Bank versteckt hielt, nahm er es 1944, nach zweimaliger Ausbombung, mit auf seiner Flucht ins Brandenburgische Drossen und bereitete es für eine Veröffentlichung vor. Hanslian sah das Kriegsende nahen und glaubte, sein Buch nach der Niederlage der Nationalsozialisten veröffentlichen zu können. Dies glückte nicht und er vermachte das Manuskript seinem Neffen Martin, meinem Großvater, der in der DDR Pfarrer war.

Als vor einigen Jahren das Haus meiner Großeltern zwangsversteigert wurde, konnte ich noch einige Erbstücke vor einem ungewissen Ende bewahren. Die Altpapiertonne stand schon offen, als ich einen Hefter aus einem der Kartons griff und ihn näher in Augenschein nahm: Es handelte sich um eines der Tagebücher Hanslians. Ich blätterte und las, stieß darauf, dass es auch diesen Roman, sein «wildestes Pferd im Stall», wie er ihn nannte, geben musste. Bangend suchte ich weiter und hielt schließlich ein in Packpapier eingeschlagenes Paket in den Händen – «bestimmt für meinen Neffen Martin Minke, von deinem Onkel Rolf».

Auch wenn das Buch heute in einer anderen Art gelesen wird und eine andere Wirkung entfaltet als ursprünglich beabsichtigt, wirft es ein Licht auf einen facettenreichen Menschen und hilft dabei, ihn in seiner Zeit nicht nur in schwarz oder weiß zu sehen. Es erfüllt mich mit Freude, dass ich dazu beitragen konnte, den Willen Rudolf Hanslians zur Veröffentlichung des Romans doch noch Wirklichkeit werden zu lassen.

Johann Jakob Daume

Berlin, August 2018

Erdichten aber heißt, viele Menschen und deren Schicksale in einer Zeitspanne zu wenigen Menschen unter einem großen Geschick umzuformen, auf dass sie das Sterbliche überdauern und bleiben als ein Sinnbild und Gleichnis des menschlichen Herzens, das Himmel sein kann oder Hölle.

Nach Nietzsche

Begonnen im Juni 1940, beendet im Februar 1941, also geschrieben während der großen Konjunktion des Jupiters mit dem Saturn

in Goldegg im Pongau, Krimml im Pinzgau und Berlin.

Hier sind nun die Worte, die so wild

Wie ein Lavastrom, der dem Ätna entquillt,

Hervorgestürzt aus dem tiefsten Gemüt

Und rings viel blitzende Funken versprüht.

Nun liegen sie stumm und Toten gleich,

Nun starren sie kalt und nebelbleich –

Doch aufs Neue die alte Glut sie belebt,

Wenn der Liebe Geist einst über sie schwebt.

Heinrich Heine

vertont von Robert Schumann

Die Erzählung des Doktors beruht auf Tatsachen, über die wahrheitsgetreu berichtet wird. Bezüglich der Rahmenerzählung gilt grundsätzlich das, was Goethe einmal über seine reifste Prosa «Die Wahlverwandtschaften» gesagt hat: «Kein Strich ist in diesem Buche so, wie er erlebt wurde, doch auch kein Strich, der nicht erlebt wurde.»

Der Verfasser

1. Denkwürdige Begegnung

In früher Morgenstunde eines Junitages des bewegten Jahres 1940 entstieg der Doktor Rolf Rainer dem restlos belegten Schlafwagenzuge, den er am Abend zuvor im heißen Berlin unlustig und missgestimmt betreten hatte, und atmete, befreit von der bedrückenden Enge, die frische Luft Münchens in tiefen Zügen ein. Nachdem er seinen Handkoffer einem der wenigen Gepäckträger überantwortet, wandte er sich in der ihn stets etwas altväterlich anmutenden Bahnhofshalle nach links und erreichte mit wenigen Schritten das Hotel, in dem er sich als ein seit vielen Jahren häufiger und somit wohlbekannter Gast nach kurzen Aufnahmeformalitäten bald mit seinem Koffer in einem ihm vertrauten Zimmer des zweiten Stocks vereint sah. Er vervollkommnete unverzüglich die nur flüchtige Morgentoilette, zu der ihn eine Stunde zuvor die Beengung des Schlafwagens genötigt, wechselte die Kleidung und erschien kurz danach in der kleidsamen, luftigen Tracht des Gebirglers, die ihn für die bayerische Metropole unauffällig, wenn nicht gar ihr zugehörig erscheinen ließ, in dem geräumigen Frühstückssaal des Erdgeschosses, wo er an einem unbesetzten Tische seinen Platz einnahm.

Ein Blick aus dem Fenster belehrte ihn, dass ein sonniger Tag zu erwarten stand. So beeilte sich der Doktor mit der Einnahme seiner durch die vorgeschriebene und hier auch peinlich verlangte Abgabe von Essmarken aller Art beschnittenen und somit etwas frugalen Mahlzeit und verließ nach ihrer Beendigung sofort das Hotel in östlicher Richtung. Eine Zigarre rauchend, schlenderte er über Karlstor, Neuhauser – und Kaufinger Straße allmählich dem Marienplatz zu.

Der sonst so lebhafte Straßenverkehr des «Etappenhauptortes der Bergsteigergilde» – wie Rainer in Erinnerung an seine Kriegsjahre München zu nennen liebte – war recht spärlich. Das männliche Element zwischen zwanzig und dreißig Jahren fehlte nahezu völlig und trat lediglich als uniformierter Waffenträger des nationalsozialistischen Deutschlands in Erscheinung. Auch die weibliche Jugend war rar, denn auch sie, die sonst in ihren bunten Trachten das Straßenbild farbig belebte, war zum großen Teil «erfasst» und gemeinnütziger Arbeit zugeführt worden, die sie einer zwanglosen sommerlichen Erholung in den Bergen fern hielt. So erschien dem schreitenden Betrachter das Bild des ersehnten Münchens, dieser Stadt von Anmut und schwer vergessbarem Zauber, von der er sich auch in diesem Jahr als Auftakt zu seiner Ferienreise gleichzeitig Entspannung und Anregung und im weiteren Verlauf einer wohltuenden Einwirkung Geborgenheit und Frohsinn versprochen hatte, ausgesprochen dürftig und schal.

Diese erste Enttäuschung auf seiner Ferienreise traf den Doktor Rainer schwer; sie war nicht geeignet, den Missmut in seinem Inneren, der ihn bereits bei der Abreise befallen hatte, zu beseitigen. Stark beeindruckt, ja bedrückt durch den Krieg, in den sein geliebtes Deutschland erneut geraten war, hatte er sich erst nach längerem inneren Widerstreben zu dieser Reise entschließen können und suchte sich nun immer wieder mit der Frage auseinanderzusetzen, ob er wohl richtig gehandelt habe. Eine solche Zwiespältigkeit im Inneren war seinem Wesen fremd und ungewohnt, und während er am Marienplatz in die Dienerstraße einbog, versuchte er im Weitergehen die unerwünschte Unsicherheit seines Gefühls zu analysieren, ohne jedoch zu irgendeinem anderen Ergebnis als zu dem einer verstärkten inneren Unlust zu gelangen.

So erreichte er allmählich Residenzstraße und Max-Joseph-Platz, der ihm den Blick auf Nationaltheater und Maximilianstraße hinunter bis zum Maximilianeum freigab. Leicht entspannt begrüßte er das ihm wohlvertraute, ansprechende Bild und stellte mit besonderer Befriedigung eine durchaus geglückte farbige Erneuerung des Giebelbildes über der von acht korinthischen Säulen getragenen Vorhalle des Theaters sowie eine gleichartige Auffrischung im hallenartigen Flügelbau der benachbarten Hauptpost fest, wobei ihn namentlich das gut wiedergegebene pompejanische Rot um die Rossebändigergruppen anzog und einen blitzschnellen Gedankenflug zu einer Ruinenstadt am blauen Meer und zu einem rauchenden Berg auslöste, eine Regung, die er insofern begrüßte, als ihm ihre Verwirklichung unter den obwaltenden beengenden Verhältnissen unausführbar, aber gerade darum reizvoll, ja abenteuerlich erschien.

«Abenteuerlich?» – hatte dieses Wort für ihn nicht von jeher einen lockenden Klang gehabt, und war er ihm nicht immer wieder in allen Stadien seines wechselvollen, arbeitsreichen Lebens verfallen? – Was war denn schließlich auch diesmal seine trotz aller Unschlüssigkeit und Bedenken letzten Endes doch vorhandene Reiselust, sein Bergfieber anderes als abenteuerliche Regung? Die Lust am Abenteuer war zweifellos ein Produkt des Blutes und keineswegs nur ein Vorrecht der Jugend. Jedenfalls konnte er mit zunehmenden Jahren – im Frühjahr hatte er seinen 50. Geburtstag begangen – keinerlei Abnahme dieser Neigung bei sich verspüren, allerdings wohl dank seiner vortrefflichen Konstitution, die er sich trotz vier Kriegsjahren an der Front und klimatischer Beeinflussungen verschiedener strapaziöser Zonen zu erhalten verstanden hatte. In jedem Falle beruhte das Wort «abenteuerlich», wenn man es zutreffend charakterisieren wollte, auf zwei Voraussetzungen: es traf zu auf eine «ungewöhnlich spannende» und gleichzeitig «gefahrvolle» Situation, aber fehlte hier nicht zur eindeutigen Begriffsbestimmung noch ein drittes Wort, das eigentliche Charakteristikum für eine solche prekäre Lage? –

Der schrille Klingelton eines Radfahrers, der von rechts kommend einbog und wenige Schritte vor dem grübelnden Spaziergänger die Perusastraße herabrollte, klang auf. Unmittelbar vor sich erblickte der Doktor zwei schöngeformte braune Schenkel und Knie, zwei gleichgetönte, sehnige Arme und darüber das lachende Gesicht eines etwa 18-jährigen jungen Mannes, von dem er im Fluge nur zwei strahlend blaue Augen unter blondem Haarbusch erkennen konnte. Auch des Doktors Züge entspannten sich bei dem ihn nur kurz streifenden schalkhaften Blick des Jünglings zu einem Lächeln, und während er in den dunklen Gang des «Franziskaner Bräus» eintrat, fiel ihm jetzt auch das bisher vergeblich gesuchte charakteristische Beiwort für die Definition «abenteuerlich» ein: es lautete «abseitig». –

Während seines Mittagmahles, dessen allzu frühzeitige Einnahme bei den bereits recht begrenzten Vorräten der Speisehäuser dem Reisenden geraten schien, entwarf dieser das weitere Programm seines nur eintägigen Münchener Aufenthaltes und entschloss sich in Anbetracht der mangelhaften Nachtruhe im Schlafwagen zu einer Siesta in seinem Hotelzimmer und anschließender Jause im Hofgarten. Ein Spaziergang im Englischen Garten, wo er die Bombeneinschläge der englischen Flieger, die in der vergangenen Nacht München heimgesucht hatten, besichtigen würde, sollte ein weiterer Programmpunkt sein, und über den Abend würde er noch befinden. Irgendetwas Besonderes kam hierfür kaum in Frage, da seine morgige Weiterreise ein frühes Aufstehen verlangte. Somit ein Tag ohne Emotionen und Sensationen, ohne Beschwingtheit und Beeindruckung, angemessen der persönlichen Einstellung zur gesamten Situation, sagte sich der Doktor, als er das Mahl beendet hatte. Die aufkeimende Regung eines Vorwurfs, dass diesmal eine stille Huldigung vor dem Ägina-Fries in der Glyptothek unterbleiben würde, fand ihre schnelle Beschwichtigung in der Überlegung, dass dieser unersetzliche Schatz Münchens sicherlich abtransportiert oder aber in anderer Weise der Wirkung feindlicher Fliegerangriffe entzogen und somit auch nicht zu besichtigen sei. Demnach stand der Durchführung des nüchternen Tagesprogramms nichts im Wege, und wir können seine Abwicklung getrost unserem Reisenden selbst überlassen, ohne ihn dabei auf Schritt und Tritt zu begleiten. Zu verzeichnen wäre lediglich ein Kopfschütteln des Doktors bei seiner Besichtigung der kleinen Sprengtrichter britischer Fliegerbomben am Chinesischen Pavillon. Die herumstehenden Münchener nannten diese Einschläge geringschätzig «Löcher», und ein Halbwüchsiger äußerte sich sachverständig dahin, dass «unsere» Fliegerbomben hundertmal größere Löcher machten. Auf die Rückfrage eines gesetzten Bürgers mit Ordensschnalle und Spitzbauch, an welcher Front er denn diese seine Erfahrungen gemacht hätte, antwortete der Bengel «Im Kino» und löste mit diesem Eingeständnis helles Gelächter im Publikum und sichtliches Missfallen bei dem Weltkriegsteilnehmer aus. Äußerlich völlig unbeteiligt hatte Rainer dies alles mitangehört und war nach dem bereits verzeichneten Kopfschütteln, das nicht erkennen ließ, ob es den Bombentrichtern oder der beigewohnten Erörterung galt, wortlos gegangen. Die heiße Nachmittagssonne legte ihm nunmehr den Gedanken nahe, den hereinbrechenden Abend mit einem kühlen Trunke im Hofbräuhaus zu begrüßen.

Die unteren Räume des berühmten Bräus, die Doktor Rainer zunächst betrat, boten das altgewohnte Bild regen Zuspruchs. Zwar waren Fremde nur spärlich zu entdecken, aber die Einheimischen schienen ihrem breiten, behaglichen Gehaben nach nicht gewillt, sich in dem ergiebigen Genuss schäumender Maße, die von umfangreichen Kellnerinnen hurtig und vehement herangeschleppt wurden, durch die Kriegsereignisse irgendwie stören zu lassen. Alle Bänke waren vollbesetzt, und erst nach längerem Umherirren fand der Doktor schließlich Platz an einem Tische unter der offenen Vorhalle des Hofes und ließ sich dort mit kurzem Gruß nieder. Auf die ungezwungenen Gepflogenheiten dieser Gaststätte eingehend, sah er sich bald von seinen Tischgenossen, rundschädligen Bürgern von gedrungenem, kurvenreichem Habitus, ins Gespräch gezogen und fesselte schließlich deren Aufmerksamkeit durch Erzählung seiner Erlebnisse an gleicher Stelle vor nunmehr 26 Jahren, also im Jahre 1914, beim Ausbruch des Weltkrieges. Anschaulich schilderte er die damalige erhebende Stimmung im Hofbräuhaus und schloss mit einer Wiedergabe seines Erlebnisses im «Kaffee Fahrig», dessen Fensterscheiben und Inneneinrichtung in jener denkwürdigen Nacht der kochenden oder vielmehr – wie er mit leisem Sarkasmus äußerte – schäumenden Münchener Volkswut zum Opfer fielen.

Die Stimmung am Tisch wurde zusehends angeregter, und unverzüglich zogen die Tischgenossen Vergleiche mit der augenblicklichen Einstellung der Münchener zum neuen Kriege, wobei man sich zwar mit einer gebotenen Vorsicht äußerte, immerhin aber nach dem dritten und vierten Maß deutlich erkennen ließ, dass man keinesfalls mit allem einverstanden wäre. Der Doktor, der grundsätzlich derartige nutzlose und somit überflüssige Erörterungen zwischen Unbekannten mied, dachte bereits an einen schnellen Aufbruch. Schon willens sich zu erheben, wurde er im Blickfeld plötzlich durch das Erscheinen eines jungen Menschen gefesselt, der quer über den Hof auf den soeben an seinem Tisch freigewordenen Platz zustrebte.

Die Erscheinung des Jünglings bot dem ungeschulten Auge nichts Auffallendes oder Ungewöhnliches. Eine gutgewachsene, biegsame Gestalt in landesüblicher Tracht, gebräuntes Gesicht und nackte braune Oberschenkel sind Attribute vieler junger Bergsteiger, die damit in München keinerlei Sonderbeachtung oder gar Bewunderung erwecken können. Das, was den Doktor auf den ersten Blick fesselte, war eine diskrete Note in der Kleidung des Herannahenden, die von ausgesuchtem Geschmack zeugte und verriet, dass der Betreffende aus gutem Hause stammte und wohl auch nicht an der Isar beheimatet war. So begrüßte es Rainer mit innerer Zustimmung, als der junge Mensch tatsächlich seinen Tisch erwählte und mit kurzem «Verlaub» ihm gegenüber Platz nahm.

War der Doktor Rainer bisher nur von dem Gesamteindruck einer anmutig jugendlichen, gut angezogenen Erscheinung gefesselt worden, so stellte er jetzt mit Erstaunen fest, dass der ihm Gegenübersitzende von einer geradezu klassischen Schönheit war, die überdies, bewusst oder unbewusst, durch die kleidsame Tracht auf das Vorteilhafteste herausgehoben wurde. Dem Doktor fiel ein, dass Affinitäten auf den ersten Blick ihren Ursprung im Unterbewusstsein haben und durch unbewusstes Erfassen bestimmter äußerer Formen ausgelöst werden. Gewohnt zu analysieren, stellte er sich die Frage, worin wohl die Schönheit seines Gegenübers begründet sei, und bemühte sich verstohlen, Einzelheiten ins Auge zu fassen. Dieses Bemühen, das unauffällig geschehen musste, wurde ihm insofern erleichtert, als der Schöne, auf dem Ecksitz der Bank thronend, seinen Blick dem Leben und Treiben auf dem Hofe zuwandte, somit dem Schauenden sein Profil bot und dadurch eine vorsichtige Musterung wohl erlaubte.

Der Jüngling trug den Kragen seines weißgrauen, rotgestreiften Sporthemdes offen und ließ so ein Stück seines gebräunten Halsansatzes sehen. Aus dem Ausschnitt wuchs ein schlanker, gleichfarbiger Hals empor, den ein länglicher, nach hinten sich verjüngender Kopf krönte. Die griechisch geschnittene Nase sprang geradlinig hervor und wurzelte zwischen schmalen, über dunklen, etwas versonnen blickenden Augen schöngewölbten Brauen. Der Bronzeton der Gesichtsfarbe nahm nach den Wangen zu eine pfirsichfarbene Röte an und verriet dadurch eine gesunde Durchblutung der Gesichtshaut. Die zarte Verhaltenheit der Gesichtszüge wirkte überaus anmutsvoll und zeugte, wie der Blick der Augen, von Intelligenz. Eine zierliche Kinnpartie beendete das ovale Gesicht, Mund und Ohren waren auffallend klein, die schön geschwungenen Lippen etwas dünn. Über der klaren Jünglingsstirn lag, seitlich gescheitelt und natürlich gelockt, volles schwarzes Haar, dessen eine Locke zum Herabsinken neigte. Das ganze Antlitz verriet Zielbewusstsein und innere Geschlossenheit, das Kriterium und Geheimnis der reinen Selbstbewahrung.

Mit schwingendem Wohllaut in der Stimme, deren Klang den Beobachter aufhorchen ließ, bestellte der neue Gast bei der Kellnerin Bier und ließ hierbei eine Reihe schneeweißer, ebenmäßig geformter Zähne sehen. Die schmale, gebräunte Hand trug einen Siegelring mit Wappen in grünem Stein, augenscheinlich ein Familienerbstück, das die Vermutung nahe legte, dass der Jüngling einem alten Geschlecht entstammte und womöglich adeliger Herkunft war. Die Kleidung war betont hellfarbig und hob den Bronzeton der Haut besonders hervor: ein Jankerl aus weißem Lodenstoff mit sparsamer Verzierung und rotabgesetzten Taschen, eine kurze gamslederne Hose von gelbgrauer Farbe und gleichfarbige Hosenträger, weiße Zwirnstrümpfe mit erhabenem Muster und braune Halbschuhe mit Doppelsohlen, sogenannte «Haferl», dazu schließlich ein Hut von feinstem gelben Velours, wie es schien, mit geflochtenem Lederband, den der Jüngling bereits beim Niedersetzen leicht ins Genick geschoben hatte, sodass die glatte Stirn unbeschattet blieb.

Die ungezwungene Haltung des Sitzenden erinnerte den verstohlen Musternden an eines der größten Kunstwerke der Antike, an den ausruhenden Hermes des Lysippos. Auch hier war das rechte Bein gestreckt, das linke angezogen. Das schmale knabenhafte Knie zeigte in der Beugung eine schöne Rundung, von ihr stieg gleichmäßig anschwellend der wohlproportioniert lange, braune Oberschenkel empor, bis er in der Deckung der Lederhose verschwand. Auch die fest geformten Waden, die in makelloser Linie zu den schlanken Fesseln und kleinen Füßen verliefen, waren durch die Strümpfe dem Blick entzogen, ohne jedoch dadurch ihre schöne Form dem kundigen Auge zu verheimlichen. Insgesamt ergab die Prüfung ein harmonisch unterteiltes, in allen Einzelheiten ansprechendes Bild unberührter männlicher Jugend in passendem Rahmen, und mit innerer Bewegung, ja Beglückung nahm der Doktor dieses Ergebnis seiner Musterung zur Kenntnis.

Der Schöne, der bisher ohne jede Anteilnahme an seinen Tischgefährten dem Treiben im Hofe seine Aufmerksamkeit zugewandt hatte, begann jetzt plötzlich beim Auftauchen eines bekannten Münchener Originals, dessen Tagesarbeit ausschließlich im Leeren von Bierneigen aus verlassenen Maßkrügen bestand, zu lächeln und nannte, seinem Gegenüber halbzugewandt, den Namen dieses Genießers. So entwickelt sich allmählich ein Gespräch, das, vom Doktor geschickt gelenkt, nach und nach aus der Atmosphäre tastender Vorsicht und Reserviertheit zu einer Annäherung beider Teile führte. Dem scharfen Beobachter, wie dies der Doktor war, entging nicht, dass in dem offenen, klaren Mienenspiel des Jünglings ein Zug von Verschlossenheit, ja von Unlust zur Mitteilsamkeit lag, der zwar im Augenblick des Gesprächs zurückgedrängt wurde, danach aber immer wieder in Erscheinung trat. Geistige Schwerfälligkeit, Befangenheit oder gar Blasiertheit konnten hierfür kaum die Ursachen sein, dafür erschien der Betreffende zu intelligent, womöglich aber basierte diese innere Verdrossenheit auf einem gewissen Unbefriedigtsein, wie es leicht bei jungen Menschen durch äußere oder innere Unstimmigkeiten hervorgerufen werden kann, sich aber gerade hier mit dem harmonischen Äußeren des Jünglings nur schwer vereinbaren ließ.

«Mit der besonderen Rührung, die uns Schönheit und Jugend in vermuteter schwieriger Lebenslage erweckt –», diese Worte fielen dem Doktor jetzt plötzlich ein. Wo nur hatte er sie gelesen? – In Eile tasteten die Gedanken rückwärts. Plötzlich stockte ihr Lauf. Ja, so war es! Ein Olympier zeugte sie einst in ähnlicher Lage wie der seinigen hier in München. Im Frühjahr 1864 hatte sie Richard Wagner beim Betrachten eines Bildes des jungen Königs Ludwig II. formuliert und von der «unsäglichen Anmut dieser unbegreiflich seelenvollen Züge» geschwärmt. Und danach geschah das Wunder: der mädchenhafte Jüngling im Hermelin und der körperlich bereits verfallende Magier wurden nach griechischem Vorbilde Freunde, der blühend schöne Achtzehnjährige dem zweiundfünfzigjährigen Graukopf «Welt, Weib und Kind». – Unwahrscheinlich, grotesk, unmöglich und doch letzten Endes göttlich! Die Schönheit des Geistes besiegte die körperliche Schönheit. –

Der Doktor unterbrach seinen Gedankenflug und fädelte den inzwischen abgerissenen Faden des Gesprächs geschickt wieder ein. Im Laufe der weiteren Unterhaltung erfuhr er nach und nach die näheren Lebensumstände und schließlich auch den Namen seines Gegenübers.

Stephan von Valén entstammte einem rheinischen Adelsgeschlecht, dessen einer Zweig, der gräfliche, Grund und Boden in Deutschland und Österreich besaß und in seiner Geschlechterfolge verschiedentlich hohe Würdenträger für die katholische Kirche gestellt hatte. Sein Großvater, ein Mann mit ausgesprochen technischer Begabung, hatte bereits in seiner Jugend Deutschland den Rücken gekehrt und sich nach Studien in Paris als Herr de Valén in Luxemburg niedergelassen, wo er seinem Sohne, Stephans Vater, ein größeres industrielles Werk hinterließ, in dem bereits die beiden älteren Brüder Stephans tätig waren. Stephan als jüngster Spross war nach München gesandt worden, um seiner Neigung entsprechend Chemie – Doktor Rainer presste die Lippen zusammen – zu studieren. Trotz seiner Jugend – er war gerade 21 Jahre alt geworden – hatte er sein anorganisches Verbandsexamen bereits im vorigen Semester bestanden und arbeitete jetzt auf das organische hin, um alsdann mit seiner Doktorarbeit zu beginnen.

Hier unterbrach ihn der Doktor mit der Frage, ob ihm ein gewisser Krapp aus Luxemburg, mit dem er vor etwa dreißig Jahren in Leipzig studiert habe, bekannt sei? Der Student bejahte dies freudig und berichtete, dass der Betreffende seit vielen Jahren wohlbestallter und angesehener Professor der Handelswissenschaften in seiner Vaterstadt sei.

Es ist eine alte Erfahrungstatsache, dass zwischen zwei fremden Menschen der auftauchende Name eines Dritten, der beiden bekannt, blitzschnell eine Brücke schlägt, die noch vorhandene Hemmungen überwindet. Plötzlich ist eine Plattform gefunden, auf der man sich frei bewegen kann. So fühlte sich auch der junge Student durch den gemeinsamen Bekannten heimatlich berührt und lebte förmlich im Gespräch auf, während sich der Doktor innerlich beglückwünschte, dass ihm ausgerechnet der längst vergessene, reichlich unbedeutende gute Krapp als einziger Luxemburger, den er kannte, rechtzeitig eingefallen war. Zumindest würde er jetzt durch die neugewonnene, fesselnde Bekanntschaft um einen langweiligen Abend herum kommen und so unterbreitete er im weiteren Fluss des Gesprächs seinem Gegenüber den Vorschlag, mit ihm zusammen irgendwo, jedenfalls nicht hier, zu Abend zu essen.

Er hatte nicht geahnt, dass er den jungen Menschen durch diese harmlose Anregung in die tödlichste Verlegenheit stürzen sollte. Stephan fühlte sich bereits unbewusst zu der neuen Bekanntschaft hingezogen und wünschte sich im Augenblick nichts besseres, als mit diesem interessanten Manne noch einige Zeit zu plaudern. Infolge des Krieges war jedoch sein Wechsel von Zuhaus bereits seit zwei Monaten rückständig, und so musste er sich finanziell außerordentlich einschränken und auf Pump in der Mensa leben. Ein solches Eingeständnis dem Fremden gegenüber erschien ihm einfach untragbar. So schwieg er zu dem Vorschlage zunächst ratlos, konnte aber nicht verhindern, dass er blutrot im Gesicht wurde.

Naturgemäß entging dem Doktor die Wirkung seiner Anregung auf den Betreffenden nicht, unmöglich aber vermochte er den Zusammenhang zu erkennen. Er wollte jedenfalls den jungen Mann nicht verlieren, so entschloss er sich zu einem Gewaltstreich.

«Haben Sie keine Zeit oder kein Geld?», fragte er burschikos.

«Erstere schon», stotterte Stephan und gestand dann doch zögernd und verlegen seine prekäre Lage ein.

«Lieber, junger Freund», sagte der Doktor mit beruhigendem Lachen, «wenn Sie alle die gewichtigen und gelehrten Herren, die als Studenten bei normalen Zeitläuften kein Geld gehabt haben, auf einem Haufen sehen würden, so gewöhnten Sie sich die Befangenheit und das Erröten in einer solchen Situation ein für alle Mal ab. Dass Sie es noch können, spricht nur für Sie. Im Übrigen hätte ich Sie sowieso eingeladen.»

«Nein, das kann ich unmöglich annehmen, ich kenne Sie ja gar nicht!», protestierte Stephan.

«Nun, dieser Einwand ziert zwar ein junges Mädchen, aber doch wohl kaum einen Studenten. Setzen Sie einfach voraus, dass wir uns schon längere Zeit kennen, damit wird jeder Grund zu einer Ablehnung hinfällig. Denn hätte uns der Zufall schon einmal – beispielsweise im Speisewagen eines D-Zuges – zusammengeführt, so fühlten wir uns heute bei unserem neuen Treffen als alte Bekannte. Also ich bitte Sie: ‹Kränkeln› Sie nicht ‹der angeborenen Farbe der Entschließung des Gedankens Blässe› an und lassen Sie uns kurz entschlossen ‹zum lecker bereiteten Mahle› schreiten. – Haben Sie wenigstens Fleischmarken? Na also, das ist ja prächtig! – Resi, zahlen!» –

Bevor Stephan mit seiner Entschließung ins Reine kommen konnte, hatte der Doktor bereits bezahlt und sich erhoben. Stephan fühlte zwar eine merkwürdige Befangenheit in sich, gab aber durch sein Verhalten dem Doktor keinen Grund, an seinem nunmehrigen Einverständnis zu zweifeln. So brachen sie gemeinsam auf und erreichten nach viertelstündigem Anmarsch, während dem sich Rainer durch Nennung seines Namens dem neuen Bekannten kurz vorstellte, die dem jungen Studenten bisher noch unbekannten Schwarzwälder Weinstuben, wo sie einen gerade freigewordenen Tisch beschlagnahmen konnten. Der gehaltvolle Wein und das schmackhaft zubereitete Essen, bestehend aus Seezunge nach französischer Art, Wild und Nachtisch (und dies alles markenfrei!) mundeten vortrefflich, und Stephan atmete mit immer größerem Behagen die Atmosphäre dieser Gaststätte, zu deren äußeren Rahmen ihm allerdings die alpine Tracht, insbesondere die Lederhose, nicht so ganz passend erschien. Da sich aber sein Begleiter in der gleichen Aufmachung völlig ungezwungen und selbstverständlich an dieser Stätte gab und vor seinem blitzenden Einglas, das er zum Studium der hier noch immer reichhaltigen Weinkarte benötigte, jede gönnerhafte Anmaßung des Oberkellners bereits im Versuch verkümmerte, verlor auch Stephan jede Befangenheit und kam dem Milieu und der Sicherheit seines Tischgenossen immer näher. Und mit dem zunehmenden Behagen des Gastes wuchs auch sichtlich die Stimmung des Doktors, und seine munter witzige, oft sarkastische Art, die verschiedene durch den Krieg hervorgerufene Unzulänglichkeiten und Grotesken beleuchtete und dabei schlagartig reife Erfahrung und vielseitiges Wissen aufblitzen ließ, empfand Stephan geradezu als Offenbarung. Somit erwies sich der Doktor als ein vorbildlicher Gastgeber nicht nur bezüglich materieller Bewirtung, sondern auch, was seltener und nicht weniger genussvoll ist, als Gastgeber des Gesprächs, wobei er jedoch ständig bemüht blieb, auch den Gast voll zu Worte kommen zu lassen. So unterbrach er auch jetzt seine Ausführungen:

«Sie wollten etwas sagen, Herr von Valén?» –

«Ich wollte fragen», äußerte dieser etwas zögernd und nach Worten suchend, «wie Sie über die weitere Entwicklung im Großen denken?»

«Sie meinen, ob Deutschland diesen Krieg gewinnen wird?», präzisierte der Doktor die Fragestellung. «Das möchte ich wohl glauben, und zwar weniger, weil alle Truppengattungen vorzüglich sind, als vielmehr, weil eine Überlegenheit der Waffen und Kampfmethoden zur Zeit besteht, die der Gegner so bald nicht einholen wird. Aber der ausschlaggebende Faktor in diesem Ringen ist doch letzten Endes der deutsche Geistesarbeiter, den man im nationalsozialistischen Deutschland recht schlecht behandelt. Aus alledem ergibt sich jedenfalls eine zwingende Forderung, die man wohl auch oben erkannt hat, nämlich die, dass dieser Krieg möglichst schnell gewonnen werden muss.»

«Ja aber –», wandte der Zuhörer ein, «Italien zögert doch noch immer mit seinem Eingreifen?»

«Italien wird eingreifen. – Sie wissen ja nicht, ob nicht dieses Zögern von Deutschland ausdrücklich gewünscht wird. Wir Außenstehenden kennen freilich die Zusammenhänge nicht, aber nehmen wir doch einmal an, Italien erlitte einen Rückschlag – es hat ja die ganze britische und französische Mittelmeerflotte gegen sich –, so würde dies womöglich sofortige Hilfeleistung von unserer Seite und somit Kräfteabzug bedingen. Im Übrigen kenne ich die italienische Wehrmacht aus eigener Anschauung und habe im Jahre 1937 von ihrer Luftwaffe und Kriegsmarine sowie von ihren Spezialtruppen so ausgezeichnete Eindrücke gewonnen, dass man sie mir in Berlin nahezu verübelt hat.»

«Und wie denken Sie über Hitler?», forschte der junge Student weiter.

«Lieber Valén –», sagte der Doktor in leisem Frageton, «sind Sie sich eigentlich selbst über Ihre verfängliche Fragestellung klar, namentlich in Ihrer Eigenschaft als Ausländer und Gast dieses Landes? – Könnte ich nicht annehmen, dass Sie ein Agent Provocateur, ja geradezu ein Spion sind, der in mir ein taugliches Objekt für Spionage – so wurde ich einmal in einem polnischen Geheimbericht bezeichnet – wittert? – Aber werden Sie nicht ängstlich, ich weiß, Sie sind es nicht, und auch Ihre Frage will ich Ihnen jetzt beantworten: Man mag über Hitler im In- und Ausland denken, wie man will, man mag ihn hassen oder lieben, eines steht meinem Empfinden nach unzweifelhaft fest, nämlich, dass er kein Epigone ist und Intuition besitzt. Ob ihm schließlich Erfolg oder Untergang bestimmt sein wird, ändert nichts an dieser Tatsache. Erreicht er seine Ziele, so wird er auch unter den späteren Geschlechtern – denken Sie an Napoleon – Verehrer und Bewunderer haben und jedenfalls von diesen unter die großen Männer der Geschichte gezählt werden.»

«Das kann ich nie und nimmer glauben!», begehrte Stephan auf.

«Das nehme ich Ihnen auch gar nicht übel», erwiderte Rainer gelassen. «Aber meine Anschauung gründet sich nicht auf induktiver, sondern deduktiver Folgerung. Die Geschichte lehrt uns, dass der Erfolg in allen Ewigkeiten sichtbar bleibt. Was er an Opfern gekostet, was man gewagt hat, seinen Mitmenschen zuzumuten und aufzubürden, verschwindet erfahrungsgemäß aus dem Gedächtnis der nachkommenden Generationen völlig. Nur der Glanz bleibt, und hier fragt kaum einer danach, ob er echt oder falsch ist. Entscheidend ist lediglich der Tenor, in dem die Geschichtsbücher für die heranwachsende Jugend geschrieben werden. Aber wie gesagt, der Erfolg muss da sein, und vor ihm steht auch in diesem Falle noch immer das große Fragezeichen.»

«Auch ein hundertprozentiger Erfolg würde die Morde, die Misshandlungen, die Verbrechen, die in Hitlers Namen oder gar auf seinen direkten Befehl hin an der Menschheit begangen worden sind, niemals auslöschen können», wandte der junge Mensch in steigender Erregung ein. «Oder sind Sie hier anderer Ansicht?»

«‹Die öffentliche Meinung der ganzen Welt›, so sagte mir kürzlich eine bekannter deutscher Gelehrter wörtlich, ‹lehnt derartig Handlungen ab›, auch ich tue dies. Aber was ist heute schon die öffentliche Meinung? – ‹Eine käufliche Dirne›, sagen Sie? – Das war sie schon immer! – Heute ist sie lediglich ein Wechselbalg, eine von der staatlichen Propaganda gleichgeschalteter Presse, überwachtem Radio und Kino der Mehrheit des Volkes künstlich aufoktroyierte Anschauung. – ‹Die meisten Menschen haben nun einmal keine eigene Meinung, sie muss daher von außen in sie hineingepresst werden wie das Schmieröl in die Maschine›, lehrt der spanische Philosoph Ortega y Gasset. Und was ist Mehrheit? – Unser Nationaldichter Schiller hat sie vortrefflich gekennzeichnet, wenn er sagt:

‹Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn,

Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen.›

– Jedoch wollen wir uns wirklich diesen schönen Abend mit politischen Zitaten und Diskussionen verkümmern? – Als ich so alt wie Sie war, galt es in der guten Gesellschaft für geistlos und taktlos von Politik zu sprechen. Jetzt heißt es seit Jahren: Das ganze deutsche Volk muss politisch werden, was ihm ja auch, stramm ausgerichtet in nur einer Richtung, vorbildlich gelungen ist, und nun muss ich zu meiner Überraschung feststellen, dass selbst Luxemburg von der Politik angekränkelt zu sein scheint, und zwar gleich in einer so temperamentvollen Form, dass ich sie als beinah unvorsichtig empfunden habe.»

«Verzeihen Sie mir bitte meine Unbeherrschtheit, Herr Doktor», bat Stephan mit schwachem Erröten über die leise Zurechtweisung. «Es ist nun schon der zweite Fehler, den ich mir in der kurzen Zeit unserer Unterhaltung geleistet habe, aber ich möchte glauben, dass ich von Ihnen nicht gänzlich missverstanden werde.»

«Aber nein doch, Herr von Valén, Sie sind offen und meinen es ehrlich, das ist das Wesentliche, und im Übrigen gehen ja unsere Ansichten auch nicht so weit auseinander, als es Ihnen im Augenblick erscheinen mag. Ihre Einstellung dürfte mehr subjektiv, die meinige mehr objektiv sein. Aber ich denke, wir wechseln jetzt den Gesprächsstoff. Es ist ja geradezu eine Seuche in unserer Zeit, dass jede Unterhaltung über jedes Thema immer und immer wieder in das politische Fahrwasser gerät.» –

Ihr Gespräch wurde sowieso in diesem Augenblick durch den Eintritt neuer Gäste unterbrochen, die hart an ihnen vorüberschritten und am benachbarten Tisch, der gerade frei wurde, Platz nahmen, augenscheinlich ein Münchener Ehepaar nebst Tochter. Die letztere, ein zierlich blondes Geschöpf in duftiger Kleidung, war auffallend hübsch und machte einen sittsam erzogenen Eindruck.

«Gefällt Sie Ihnen nicht?», fragte Rainer leise seinen Tischgenossen, der sich nach kurzem Blick gleichmütig abgewandt hatte.

«Ja doch – sehr hübsch», lautete die etwas kühle Entgegnung.

«Sie haben wohl ihr Herz bereits in Luxemburg verloren und somit in ihm keinen Platz mehr für die Münchener Schönen?»

«Mein Herz ist noch frei», entgegnete Stephan etwas betont, «und ich fühle bisher auch keine Neigung, mich für den heiligen Ehestand, für den ich ja auch noch viel zu jung bin, irgendwie zu binden. Wenn ich richtig vermute, haben Sie dies auch nicht getan, jedenfalls tragen Sie keinen Ring.»

«Jedenfalls» – der Doktor übernahm das Wort, als er einen Blick vom Nebentisch aufgefangen hatte – «nimmt die junge Dame entschieden mehr Anteil an Ihnen als Sie an ihr. Und was mich betrifft, so haben Sie richtig gefolgert: Auch ich bin unverheiratet und ‹fühlte bisher auch keine Neigung, mich für den heiligen Ehestand irgendwie zu binden.›»

«Sie haben ja auch noch Zeit dazu», meinte Stephan überhöflich, «auch könnte ich mir Sie als Ehemann nicht recht vorstellen, jedenfalls gehören Sie nicht zu den ‹geborenen Ehemännern›.»

«Zu den ‹Ungeborenen› ebenso wenig! – Zwar behauptet der Pessimist Schopenhauer von der Ehe, ‹man verdoppelt seine Pflichten und halbiert seine Rechte›, aber jedes Ding im Leben hat nun einmal seine zwei Seiten, und mein Lehrer, ein berühmter Gelehrter, erhellte das Eheproblem einmal ebenso·schlagartig wie witzig, als er zu mir sagte: ‹Heiraten Sie oder heiraten Sie nicht, lieber Freund, Sie werden letzten Endes beides bereuen.›» –

Stephan lachte verschiedentlich bei dieser unbeschwerten, amüsanten Unterhaltung, die sich noch einige Zeit zwischen ihnen fortspann, fröhlich auf und wurde dafür wiederholt vom Nachbartisch her durch bezaubernde Blicke aus blauen Augen belohnt, die umso mehr an Häufigkeit und Intensität zunahmen, je weniger sie auf der Gegenseite Beachtung fanden.

«Verzeihen Sie, Herr Doktor», sagte Stephan plötzlich, «wie denken Sie darüber, wollen wir nicht noch einen kleinen Bummel durch das verdunkelte München machen? Wir haben Mondschein, und das Stadtbild ist reizvoll bei dieser Beleuchtung. Natürlich soll es nur ein Vorschlag von mir sein –?»

«Ein vortrefflicher Vorschlag!», bestätigte Rainer bereitwillig. «Unsere Neigungen stimmen ja verblüffend überein, denn auch ich liebe abendliche Spaziergänge durch leere Straßen und Gassen. Ich könnte Sie nach Hause begleiten und dann zurückfahren. In welcher Richtung wohnen Sie?»

«In der Nähe des Deutschen Museums, vor der Isarbrücke», antwortete Stephan.

«Also dann auf zum Lustwandel, aber Sie müssen mich führen!», rief der Doktor aufgeräumt und winkte den Kellner herbei.

Als sie die Straße betreten hatten, erwies sich der von Stephan angekündigte Mondschein lediglich als ein matter Schimmer, der gerade noch gestattete, die nähere Umgebung zu erkennen. Stephan schob, dazu aufgefordert, bereitwillig den Arm in den seines Begleiters und bedankte sich jetzt herzlich für die «fantastische» Einladung und die genussvolle Unterhaltung. So vereint bummelten sie durch die halbdunkle Stadt in lebhaftem Gedankenaustausch, der von wechselseitiger Herzlichkeit zeugte, über den Marienplatz der Isar zu.

Der Doktor erzählte von den Schönheiten Südosteuropas, vom Schwarzen Meer, das meist grün sei, vom blauen Bosporus und von den Mauerresten Trojas, von der klaren Silberluft der griechischen Landschaft, der es zum großen Teil zu verdanken sei, dass die griechischen Bildhauer «wirklich sehen» gelernt hätten, er sprach von den Inseln Kreta, Rhodos und Korfu, jede an sich eine Perle, ein Juwel in der besonderen Eigenart ihrer Naturschönheiten und ihrer Bewohner. In fesselnder Schilderung umriss er mit knappen Worten das·Stimmungshafte des dort Erlebten sowie das Seelische des Geschauten, und Stephan verspürte aus dem Klange seiner Stimme, mit welcher Wonne er dort geweilt haben musste. Als sie sich dem Isartor näherten, sprang der Doktor im Gespräch plötzlich auf sein nächstes Reiseziel über, das Pinzgautal, das er bereits seit drei Jahren jeden Sommer aufsuchte und in dessen Endstation Krimml, nur noch wenige Kilometer Luftlinie von der neuen italienischen Grenze entfernt, er sein Standquartier für Touren und Hochtouren in den Monaten Juli und August zu nehmen pflegte. Plastisch schilderte er die schöne Lage des Ortes, die Annehmlichkeit des Aufenthaltes, die genussvollen Spaziergänge und prächtigen Bergtouren, die sich von dort aus unternehmen ließen und dem Schauenden immer wieder eine Fülle ungeahnter Schönheiten offenbarten. Er sang geradezu das Epos jener Berge in der Venediger- und Reichenspitzgruppe, die er erstiegen, und jener Übergänge, die er dort in den verschiedensten Varianten unternommen hatte.

Stephan, der bereits zu wiederholten Malen die oberbayerische Bergwelt aufgesucht hatte, stimmte in das hohe Lob der Berge grundsätzlich ein und bekannte ferner, dass er lediglich infolge Fehlens eines ihm zusagenden Begleiters auf größere Bergtouren bisher verzichtet habe, denn er schlösse sich nun einmal außerordentlich schwer an einen Menschen an. Dem zu erwartenden Hinweis des Doktors, dass ihn dieses letztere Bekenntnis etwas überrasche, begegnete er mit der Behauptung, dass er heute von sich selbst «überrascht» sei. Aber er empfinde gefühlsmäßig – und dies sei ihm ja auch nahegelegt –, dass sie sich beide schon lange kennten oder schon einmal gekannt und sich jetzt nur erneut getroffen hätten. –

Überraschend kurz erschien ihnen unter diesen Gesprächen der Weg zur Isarbrücke, die plötzlich im silbernen Schein vor ihnen auftauchte. Der Mond hatte sich besonnen, war höher gestiegen und ergoss sein mildes Licht über das Flusstal. Stephan bog vor der ersten Brücke nach links ab und führte seinen Begleiter eine steinerne Treppe hinab zu den Isaranlagen, die jedoch einen freien Blick auf die Isar noch nicht gestatteten, da Bäume mit lang herabhängenden Zweigen die Aussicht nahmen. So schritten sie weiter und erreichten eine Bank mit – freier Aussicht auf den Fluss.

«Mit wenigen Schritten bin ich bereits zu Haus, wollen wir uns hier noch einen Augenblick niedersetzen?», schlug Stephan vor.

Schweigend nahmen sie Platz. Der Doktor ließ das mondbeschienene Bild einige Zeit auf sich wirken: Unter ihnen die silberne Isar, links die umnachteten Dächer des Maximilianeum, rechts die dunklen Bäume mit den tief herabhängenden Zweigen, alles dies vereinte sich im Mondenschimmer zu einer ungewöhnlichen, ja exotisch anmutenden Landschaft. Gedankenvoll wandte er sich ab und blickte auf seinen ebenfalls in Schauen versunkenen Begleiter. Wiederum entzückte ihn die entspannte Haltung des Sitzenden. Das magische Licht hob die klassische Linie seines Profils und den Umriss der Gestalt geradezu unwirklich schön hervor, sodass der Jüngling in·dem zauberhaften Rahmen der Umgebung mehr einem jungen Gotte in halkyonischem Glanz als einem Erdgeborenen glich.

Obwohl Stephan die Augen des Doktors auf sich ruhen fühlte, veränderte er seine Blickrichtung nicht, sondern sah mit schmalen, zusammengepressten Lippen weiterhin starr geradeaus. Der Doktor unterbrach die Stille:

«Eine anakreontische Landschaft», stellte er fest.

«Inwiefern anakreontisch?», fragte Stephan.

«Kennen Sie nicht Anakreons Dichtung ‹Ruheplatz› in der Übertragung von Mörike?

‹Hier im Schatten, o Bathyllos,

Setze dich! Der schöne Baum lässt

Ringsum seine zarten Haare

Bis zum jüngsten Zweige beben.

Neben ihm mit sanfte Murmeln

Rinnt der Quell und lockt so lieblich. –

Wer kann solches Ruheplätzchen

Sehen und vorübergehn?›»

«Ja, es stimmt auffallend», bestätigte Stephan sinnend. «Und wer war Bathyllos?», fragte er plötzlich.

«Anakreons junger Freund.»

«Sein Liebling also?!», ergänzte Stephan nicht ohne Schärfe in der Betonung dieses Wortes.

«Das wohl auch –», entgegnete Rainer und führte dann sachlich aus: Bathyll gehörte zur Knabengesellschaft am samischen Hofe und wurde infolge seiner Schönheit von Anakreon dichterisch verherrlicht. Polykrates nahm dies übel und schnitt dem Bathyll die vom Dichter besungenen Locken ab.

«Auf dem Gymnasium haben wir weder von Bathyll noch von seinen Locken etwas zu hören bekommen», bemerkte Stephan mit leisem Lachen im Ton.

«Auch in meiner Prima blieb uns gerade diese Episode durchaus vorenthalten.»

«Und was geschah weiter mit dem bisher blondgelockten, nunmehr kahlgeschorenen Bathyllos?», fragte Stephan, den Gesprächsstoff dehnend.

«Irrtum, Stephan», widersprach der Doktor lebhaft. «Bathylls Haare waren nicht blond, sondern schwarz. – ‹Dunkel schattend nach dem Grunde› besingt sie Anakreon, und der deutsche Grieche Graf Platen dichtete in Redondilien an seinen Freund Adrast:

‹Und dein Haar, das dunkel wallt

Gleich dem samischen Bathylle –›

– Also kein weißer, blonder Ephebe, wie Sie augenscheinlich annehmen, war Bathyll, sondern ein sonnengebräunter Jüngling mit schwarzen Augen und Augenbrauen ‹dunkler als des Drachen Farbe›» –

«Ich gewinne allmählich den Eindruck», meinte Stephan unter leichtem Absinken seiner melodischen Stimme, «dass Sie sich recht eingehend mit Bathyll und seinem Schicksal beschäftigt haben.»

«Beschäftigt?», griff Doktor Rainer das Wort auf, «ja gewiss! Die Beschäftigung mit dem Schönen in jeder Form ist göttlich, und Sokrates lehrt: ‹Was schön ist, ist auch gut – und was gut ist, ist auch schön.› Zwar ist Schönheit nichts weiter als ein Schein, der auf den unsichtbaren Wellen der Harmonie an uns herangetragen wird, aber ohne ihn verliert unser Dasein jeden verklärenden Glanz und jede erhabene Freude. Dabei ist Schönheit überall und immer, denn die Geburtsstunde des Phönix ist unbestimmt, zu jeder Zeit und an jedem Ort kann er sich mit rauschendem Flügelschlag aus seiner Asche verjüngt erheben. – Nur ihn sehen muss man gelernt haben, Stephan, sehen!» –

Der Doktor verstummte plötzlich, da ihm einfiel, dass nicht Bathyll, sondern ein anderer Liebling Anakreons – «Smerdis» mit Namen – auf diese Art seiner Locken beraubt worden war. Bei den zahlreichen Liebschaften des knabenfreudigen Sängers konnte solcher Irrtum einem schon einmal unterlaufen, aber es war doch wohl zweckmäßiger, ihn im Augenblick nicht zu korrigieren.

Das Gespräch brach somit ab, und wortlos blickten beide wieder geradeaus in die schweigende nächtliche Landschaft. Schritte klangen in der Stille auf und näherten sich. Ein Soldat und ein Mädchen gingen eng verschlungen an ihnen vorüber und nahmen schließlich auf einer entfernt liegenden Bank Platz.

Der Doktor sah erneut auf Stephan, dessen Augen noch immer in träumerischer Versunkenheit in die Weite gingen.

«Woran denken Sie wohl, Stephan?», fragte er nach einiger Zeit halblaut mit guter Stimme.

«An Ihre morgige Abreise», lautete die leise gegebene Antwort.

«Soll ich noch bleiben?»

«Nein!», sagte Stephan hart.

«Und wann besuchen Sie mich in Krimml?» –

Ein langes Schweigen trat ein. Nahezu unerträglich wurde die Gefühlsspanne, die zwischen beiden hin und her wogte. Endlich antwortete Stephan mit belegter Stimme:

«In vier Wochen beginnen die Ferien –.»

«So wollen wir jetzt scheiden», sagte Doktor Rainer tief aufatmend, «und zwar in dem beiderseitigen Bewusstsein, dass wir uns alles gesagt haben, wenn wir uns auch tatsächlich nichts gesagt haben. Aber ein Unterpfand Ihres Kommens fordere ich von Ihnen, und ich weiß, Sie werden es mir nicht abschlagen.»

Mit diesen Worten schlang er seinen Arm um Stephans Nacken und zog dessen Kopf sanft und allmählich an sich heran. Stephan wandte ihm sein Gesicht voll zu, nachtschwarz glänzten seine Augen, seine schmalen Lippen öffneten sich, sie blühten gleichsam auf und vereinigten sich dann mit denen des Doktors zu einem Kusse.

2. Analysen und Vorsätze

Der schrille Ton des Weckers riss Stephan aus tiefem, traumlosem Schlummer. Noch schlaftrunken taumelte er aus seinem Bett und stellte das rasende Läutewerk ab. Der Uhrzeiger verkündete die siebente Morgenstunde der neueingeführten Sommerzeit. Er zog den Fenstervorhang zurück und ließ die Frühsonne in das Zimmer scheinen.