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Worum geht es im Buch?

Christian Huber

Vom Himmel in die Hölle

Zeitzeugenbericht eines Nachtfernaufklärers

Gerhard Ehlert gehört zu den wenigen Überlebenden der Elite-Flugeinheit der Nachtfernaufklärer für den Bereich Russland im Zweiten Weltkrieg. Obwohl er aus einem Elternhaus kommt, das sich gegen das Nazi-Regime ausspricht, meldet er sich freiwillig. 22 Feindflüge besteht er, landet sein Flugzeug oft blind mitten im Nebel. Im Juni 1944 wird er abgeschossen und gerät in russische Kriegsgefangenschaft. Die Zeit in dem Lager wird sein Leben für immer verändern. Dieser Zeitzeugenroman beruht auf den Erinnerungen eines überlebenden deutschen Fliegerleutnants.

Ein staunender Blick in meine Vergangenheit
Gerhard Ehlert

Meiner Frau Angela

Der Ablauf des militärischen Geschehens entspricht der geschichtlichen Wahrheit. Die Namen der handelnden Personen sind größtenteils authentisch. Irrtümer bleiben vorbehalten.

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Inhalt

I. Flug ohne Wiederkehr

II. Asche

III. Sümpfe

IV. Gefangen

V. Schlaraffenland

VI. Verlorene Jahre, verlorener Kompass

VII. Eisige Hölle

VIII. Der Letzten einer

IX. Fremder in der Heimat

Nachwort

Der Autor

I. Flug ohne Wiederkehr

Ruhig zieht der junge Pilot den Steuerknüppel zu sich heran. Die schwere Maschine bewegt ihre Nase leicht nach oben, und die beiden Daimler-Benz-Motoren zeigen, was in ihnen steckt. Die warme Sommerluft fährt unter die Flügel der zweimotorigen Maschine und hebt sie sachte an. Die Schwerkraft drückt die Männer in ihre Sitze, und sie fühlen sich ganz sicher, als sie das Einrasten des Fahrwerks hören. Sie spüren jetzt den Lärm, den die Propeller verursachen, an ihrer Fliegerkombi, einem leichten Anzug aus hellem Sommerstoff, den sie in diesen heißen Tagen in den Pripjetsümpfen lieben lernen, weil sie darin viel weniger schwitzen als ihre Kameraden in den dicken grauen Uniformen. Das Brummen der Motoren dringt bis auf ihre Haut, sie spüren es am ganzen Leib. Und so geht es laut dröhnend hinein in die Dämmerung. Die letzten Strahlen der russischen Sonne fliegen ihnen nach und verglühen, ehe sie und ihr Flugsaurier ganz von Nacht umhüllt werden. Für sechs Stunden reicht der Treibstoff ihres schwarzen Vogels, den man nachts vom Boden aus so gut wie nicht erkennen kann. Drei Stunden hin, drei Stunden wieder zurück.

»Rechtskurve. Gerade. Da vorne leichte Linkskurve. Gerade!«, raunt der Beobachter im Sekundentakt in sein Kehlkopfmikrofon. Er kauert in der riesigen Glaskanzel unter dem Piloten und hat die beste Sicht nach unten. »Das is’ wie mit ’nem Mercedes-Silberpfeil mit 300 Sachen auf der Autobahn. Hurra! Bloß mit ’ner schwarzen Binde vor den Augen«, feixt der Bordschütze, der ganz hinten in der engen Maschine sitzt und wie immer nichts zu tun hat. Nachts heben die russischen Jäger nicht von ihren Flugplätzen ab, sie haben, anders als die Tommies, auch jetzt noch, im Sommer 1944, kein Radar.

»Ist direkt ein bisschen einsam hier oben. Musik wär’ jetzt nicht schlecht«, kracht es kehlig in den Kopfhörern der vier Männer in ihrem dröhnenden Fernaufklärer. Dann schaut der Schütze auf seine Armbanduhr. »Mann, Professor, was ist denn mit dem Funkspruch? Verdammt. Die daheim müssen doch wissen, dass wir noch am Leben sind.«

Der Professor heißt eigentlich Karl-Heinz Williges, Unteroffizier Williges. Er ist das Küken der Besatzung und absolviert gerade seinen ersten echten Feindflug. Die Männer nennen ihn Professor, weil er eine Nickelbrille trägt und damit ungemein intelligent wirkt. Er kämpft schwer mit seiner Müdigkeit und mit seinen Gedanken an Zuhause, an seine Mutter. Er hat den ganzen Tag wieder schlecht geschlafen, weil ihm die Angst vom letzten Übungsflug nahe der Front noch im Nacken sitzt.

»Mensch, nicht pennen hier. Wer’s nicht verträgt, soll’s eben lassen«, schimpft der Flugzeugführer, und Williges weiß, dass er nicht viele Fehler machen darf, sonst ist er wieder raus. Raus, das heißt raus aus der Flugzeugkanzel und ab zu den Grabenkriegern. Grabenkrieger, so nennen die »Herren von der Luftwaffe« die Soldaten der Infanterie, denen in diesen Tagen der Untergang droht – zumindest hier, am Pripjet, südöstlich von Minsk – dort, wo drei Jahre zuvor Hitler und seine hörigen Generäle einen Sieg nach dem andern errungen hatten. Die großen Kesselschlachten bei Kiew, bei denen die Rote Armee Hunderttausende von Soldaten durch Tod oder Gefangenschaft verloren hatte, die Eroberung der Rollbahn Minsk-Smolensk-Moskau, der rasche Vormarsch im Süden auf die Krim dicht vor die kaukasischen Erdölfelder, das alles hatte auf deutscher Seite zur Hybris geführt; einer Hybris, die ein Jahr und zwei Winter später an der eiskalten Wolga in die Katastrophe von Stalingrad mündete, wo die deutsche 6. Armee von der Roten Armee vernichtend geschlagen wurde. Es war der Wendepunkt des Krieges im Osten, nein, des gesamten Vernichtungskrieges, in den Hitlerdeutschland Europa und die halbe Erdkugel gezogen hatte.

An der Ostfront stehen die Zeichen in diesen Sommertagen des Jahres 1944 auf Sturm. Eine zusammenhängende Front der Deutschen Wehrmacht existiert nur mehr auf dem Papier. Die einst so siegreiche Heeresgruppe Mitte ist zwischen Moskau und Minsk verblutet. Die Rote Armee sammelt sich gerade zur alles entscheidenden Offensive und das mit einem ganz neuen, bedrohlichen Unterton. Zum ersten Mal seit dem Überfall der Wehrmacht auf Sowjetrussland kommt zur zermürbenden Artillerievorbereitung der Russen auch noch ein nervenzerreißendes Brummen aus der Luft: 1000 sowjetische Bomber nehmen tagelang die Reste der deutschen Front ins Visier. 40 einsatzfähige Jäger kann die Luftflotte 6 zu diesem Zeitpunkt der Heeresgruppe Mitte noch zur Verfügung stellen. 40 Maschinen gegen 1000. Mitten hinein in die Bereitstellung der Roten Armee fliegt am 13. Juni, abends gegen 21.30 Uhr, ein einzelnes deutsches Flugzeug, einer der letzten Nachtfernaufklärer der Luftwaffe. Der Auftrag lautet: Eisenbahn- und Straßenaufklärung im Bereich der 2. Armee.

Was die Männer in dieser Nacht auf ihrem Flug sehen, überrascht sie längst nicht mehr und lässt ihnen dennoch das Blut in den Adern gefrieren. Es sind die Vorzeichen des Untergangs. Zug um Zug rollt gegen Westen, von schweren, dampfenden Lokomotiven gezogen, bepackt mit Panzern und Geschützen. In den Bereitstellungsräumen der Russen stehen so viele der gefürchteten T34-Panzer, Sturmgeschütze und Katjuschas, dass es aussieht, als würden die Felder aus purem Stahl bestehen. Äcker aus Eisen, Wiesen aus Blei. Auf den Straßen sehen sie nachts Lkw-Kolonne um Lkw-Kolonne. Sie fahren mit voller Beleuchtung, so sicher fühlen sie sich. Die Männer im Aufklärer wissen, dass die Transporter an der Front Rotarmisten ausspucken werden, Tausende, eine Million und mehr. Und sie wissen, dass ihre Kameraden auf dem Boden dieser Flut nicht werden standhalten können. Keinen einzigen Tag. Bis Ostpreußen sind es für die Russen nur mehr dreihundert Kilometer.

Leutnant Gerhard Ehlert, der Pilot der Maschine auf Feindflug »K7 + FK« Richtung Osten, fühlt sich schlecht. Auch wenn er konzentriert den Anweisungen seines Beobachters folgt, hat er doch immer wieder Zeit, nachzudenken. Und nachdenken ist das, was er am allerwenigsten braucht. Es macht ihn fahrig. Er sorgt sich um Riele, sein Mädchen zu Hause, ruft sich ihre Gesichtszüge in Erinnerung, wieder und immer wieder. Dabei lächelt er vor sich hin. Er denkt an ihr braunes, langes Haar, riecht daran in Gedanken und kann sich nicht erklären, warum er zwei Wochen nichts von ihr gehört hat. Es liegt bestimmt an der gottverdammten Feldpost, beruhigt er sich und schreckt auf.

»Steile Linkskurve, Herr Leutnant, steiler. Gerade. Da vorne Rechtskurve. Achtung. Jetzt. Gerade!«, brüllt der Beobachter wieder und wieder. Sie fliegen nach Karte. Das heißt, der Beobachter gleicht das, was er am Boden mit bloßem Auge erkennt, mit seiner Karte, die vor ihm liegt, ab. Sekunde für Sekunde. Und das mitten in der Nacht. Er hat keine Zeit, sich während des Fluges Gedanken zu machen. sonst verfliegen sie sich gnadenlos und geraten womöglich in ein Gebiet mit starker Luftabwehr. Das können sie gar nicht gebrauchen. Und genau, während er diese zwei Sekunden abschweift, dringt Oberfeldwebel Hanns Schlotter, so heißt der drahtige, langgewachsene Bordbeobachter aus Frankfurt am Main, die Stimme seines Piloten kalt und vibrierend ins Ohr: »Schlotter. Alles klar? Ich hör zu wenig. Mensch, Augen auf, sonst verfranzen wir uns noch«, schreit Ehlert hart.

Schlotter ist sofort wieder hellwach. »Jawoll, Herr Leutnant. Flusslauf, gerade, Rechtskurve. Gerade. Da vorne noch mal enge Rechtskurve. Achtung: jetzt! Gerade!« Schlotter funktioniert sofort wieder wie eine Maschine, wie ihre zweimotorige Dornier Do 217.

Der junge Leutnant am Steuerknüppel aber spürt, dass die ganze Besatzung heute eine besondere Spannung befallen hat. Vielleicht ist es da ganz gut, ein bisschen Ruhe reinzubringen, denkt er sich. »Williges! Wissen Sie eigentlich, woher das Wort ›verfranzen‹ kommt? Fliegersprache aus dem Weltkrieg.« Er sagt keine Nummer zum Weltkrieg, denn Ehlert weiß nicht, dass der, in dem sie gerade kämpfen, die Nummer zwei bekommen wird. »Bei den Fliegern im Weltkrieg saß einer vorne und einer hinten. Die Bezeichnung für die beiden Flieger war Emil und Franz. Emil flog, Franz navigierte, wie Schlotter eben, nur ein bisschen langsamer. Wenn man sich verflog, hatte Franz einen Fehler gemacht. Man hatte sich verfranzt. Kann uns nicht passieren, was Schlotter?«

»Jawoll, Herr Leutnant. Rechtskurve. Gerade. Da vorne leichte Linkskurve. Gerade!«, gibt Schlotter zurück.

Ganz schöner Klugscheißer heute, unser Kutscher, denkt sich Willi Burr, der gelangweilte Bordschütze am Heck der Maschine. Die zieht Ehlert jetzt gerade ein bisschen nach oben, weil ihn Schlotter vor einer Hügelkette gewarnt hat. »Waren ganz schöne Luftschaukeln, damals. Tauchten reihenweise in den Bach. Uns kann der Himmel nicht verlieren, was, Burr? Keine Maschine ist so lufttauglich wie die unsere, wenn man sie richtig fliegt.«

»Jawoll, Herr Leutnant, keine!«, gibt der Bordschütze versöhnt zurück.

Flughöhe 200 Meter. Schatten ziehen in irrem Tempo unter den vier Männern in der Do 217 hindurch, malen bizarre Gebilde auf Straßen, Wiesen und Felder. Manchmal wirft der Mond das Flugzeug der Nachtfernaufklärer von Gerhard Ehlert an einen Waldrand, und sie überfliegen sich selbst. Immer wieder sehen sie die Lichter von Lastwagen. Ein Lichtermeer, das zu einem einzigen hellen Glimmen verschmilzt. Längst haben die Russen die absolute Luftherrschaft und müssen sich über deutsche Kampfflieger den Kopf nicht mehr zerbrechen. Zumindest kaum noch. Deshalb gibt es auch keine Verdunkelung. »Ist wie an Weihnachten«, brüllt Burr, und Williges setzt gleichzeitig seinen halbstündigen Funkspruch an den Flugplatz ab.

Die deutsche Heeresleitung weiß in diesen Tagen längst, was die Stunde geschlagen hat, was die Rote Armee plant: einen Großangriff in Richtung Ostpreußen, der am 22. Juni 1944 starten soll. Um die Vorbereitungen zu stören, greifen die letzten Maschinen der Luftwaffe seit Wochen in kleinen Gruppen oder in verzweifelten Einzelaktionen hauptsächlich Bahnhöfe an. Einer davon ist der Bahnhof Sarny, der am 13. Juni von den wenigen verbliebenen Maschinen der Luftflotte 6 bombardiert wird. Sarny liegt auf der Bahnstrecke Kiew-Warschau, rund 300 Kilometer westlich von Kiew und genauso weit entfernt von Minsk.

Bei der Einsatzbesprechung gegen 17 Uhr werden Ehlert und seine Besatzung eingeteilt, die Gleisanlagen in der Nacht nach der Bombardierung zu fotografieren. Der Staffelkapitän zeigt mit einem langen, dürren Holzstab auf eine riesige Karte vor ihnen an der Wand. Er zeichnet die Flugroute entlang von Flussläufen, Bahnlinien und Straßen nach. Wie leicht das ist, auf der Karte und mit dem Holzstab, denkt Ehlert und schaut auf den Schatten, den der Stab wirft. Er zielt über Warschau nach Deutschland hinein. Kein gutes Zeichen! Flieger sind abergläubisch. Niemand setzt sich gern in eine Maschine mit der Kennung dreizehn. Manche Geschwader spritzen sie vor dem ersten Einsatz zur Zwölfeinhalb um.

Für ihren Einsatz heute Nacht bekommen Ehlerts Männer das Flugzeug des Staffelkapitäns zugeteilt, das mit einer speziellen ISCO-Kamera ausgestattet ist. Mit ihr können sie aus großer Höhe weite Gebiete fotografieren.

Zwei Stunden später sitzt der junge Leutnant zusammen mit seinem Offizierskollegen Kurt Schuffert vor einem Zelt auf dem Feldflugplatz Baranowitschi beim Abendessen. Beiläufig sprechen die beiden darüber, dass schon längere Zeit keine Maschine mehr verlorengegangen ist. Ehlert ahnt da noch nicht, dass es seine Besatzung sein wird, die in dieser Nacht nicht zurückkehrt. Wir sind noch nicht lange genug dabei, uns kann es noch nicht erwischen, glaubt Ehlert an das Gesetz der Serie. Und er weiß, dass seine Mannschaft bis auf Küken Williges trotzdem schon jede Menge Erfahrung hat, besonders Schlotter, der alte Haudegen. Der ist ja schon über 30. Ehlert wundert sich nicht, dass im Krieg eigentlich noch junge Männer als alt gelten. Schlotter, Burr und ich, das sind beste Voraussetzungen für ein langes Leben, grinst er zuversichtlich in sich hinein. Das ist für ihn wie ein Gesetz. Doch der Krieg hält sich nicht an Gesetze – außer an die des Todes.

Um 21 Uhr wird ihr Vogel, eine zweimotorige, dreitausend PS starke Do 217-M betankt. Dann geht es los in Richtung Sarny. Der Anflug verläuft zunächst reibungslos. Tief gleiten sie über das Schlachtfeld, das heute besonders ruhig scheint. Nur ab und an sehen sie das Aufblitzen von Mündungsfeuer. Dann wird es ruhig, und der Funk wird leiser. Sie sind über Feindesland, dringen in jeder Sekunde fast 100 Meter tiefer hinein. Wenn es so weitergeht, werden sie Sarny in einer halben Stunde erreicht haben. Doch vorher erlauben sie sich – wie in den letzten Tagen immer – noch einen kleinen Spaß. An einer auffälligen Waldlichtung an der Bahnlinie Kowel-Sarny stehen vier russische Flakgeschütze, fein säuberlich aufgebaut im Karree. Das Besondere daran: Die Geschütze werden von Frauen bedient. Dreimal haben Ehlert und seine Männer schon das Weiße in den Augen der weiblichen Besatzung gesehen, weil sie jedes Mal kurz vor der Stellung ganz nach unten gehen. Je tiefer sie fliegen, desto kürzer ist die Vorwarnzeit, desto weniger lange sind sie direkt über der Stellung.

Der dichte Überflug der deutschen Fernaufklärer führt dazu, dass bei der russischen Frauen-Flak jedes Mal helle Aufregung ausbricht. Die Soldatinnen laufen wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen durcheinander und schaffen es kein einzige Mal, rechtzeitig einen Schuss in den Himmel zu schicken. Und Ehlerts Männer johlen, weil es ihnen einen Heidenspaß macht, die Frauen unten in ihren erdbraunen Uniformen hin und her flitzen zu sehen. Sogar der sonst so kühle Flugzeugführer lässt sich dazu hinreißen, beim Abflug von der Flak-Stellung kurz mit den Tragflächen zu wackeln. Er winkt mit den Flügeln seiner Maschine – unblutige Höchststrafe für die weiblichen Grabenkrieger unten an der Waldlichtung. Denn das Flügelwackeln heißt nichts anderes als: Ihr könnt uns mal. Die Frauen werden sich etwas einfallen lassen. Noch in dieser Nacht.

Schnell kühlt sich die Stimmung in Ehlerts Maschine wieder ab. Denn sie können ihren ersten Auftrag nicht erfüllen. Kurz vor dem Bahnhof Sarny steigen sie auf 1500 Meter hoch, um Bilder mit Blitzlicht zu schießen. Doch die Bombenklappe, aus der die Blitzlichtbomben abgeworfen werden sollen, lässt sich nicht öffnen. Burr verlässt seine Kanone am Heck des Fliegers und klettert hinunter.

»Ich schau mal, was da los ist, Herr Leutnant«, krächzt der Feldwebel in sein Mikrofon.

Doch alles Zerren, Treten und Schieben hilft nichts. Der verdammte Schacht will einfach nicht aufgehen. Kopfüber fällt dem Bordschützen ein Bleistift aus seiner Brusttasche. Der Aufschlag des kleinen Stiftes auf den unteren Teil der Glaskanzel des Fliegers ist nicht zu hören. Er tanzt auf dem Glas und wird noch eine halbe Stunde dort tanzen.

»Bombenklappe lässt sich auch von Hand nicht öffnen. Ist mit Bordmitteln nicht klar zu kriegen, Herr Leutnant«, setzt Burr an seinen Piloten ab. Also keine Fotos aus großer Höhe. Es wird nicht die letzte Panne des Fluges »K7 + FK« bleiben.

In einer weiten Schleife bringt Ehlert den Vogel langsam in den Sinkflug. Sie gehen auf 200 Meter herunter, ihre typische Aufklärungshöhe. Ab sofort gilt: Autos zählen, Züge zählen, Panzer zählen. Oberfeldwebel Schlotter sagt die Richtung an und zählt, Unteroffizier Williges funkt alle halbe Stunde Richtung Feldflugplatz und zählt mit, Feldwebel Burr hält ihnen wie immer mit seinem MG 131 den Rücken frei, Leutnant Ehlert, der Kutscher, wie sie ihn nennen, fliegt den Vogel stur und ganz nach Vorschrift. Jetzt sind sie alle vier eine Maschine in der Maschine, ein Räderwerk, in dem sich ein Zahn auf den anderen verlassen kann und muss. Eine Kampfgemeinschaft. Und obwohl der zappelige Professor, der lange Oberfeldwebel mit den scharfen Augen und seiner krummen Nase, der lässige Feldwebel mit seinem MG und der kühle, fast immer ein bisschen zu vornehm wirkende Flugzeugführer als Menschen unterschiedlicher nicht sein könnten, verbindet sie ein Gedanke – der an Zuhause. Da sitzt in Frankfurt am Main Hanni Schlotter mit ihren beiden Söhnen. Fritz ist drei, Max erst ein knappes Jahr alt. Der Vater der beiden Buben ist an der Front. Nein, noch schlimmer, hinter den feindlichen Linien. In einem fliegenden Sarg.

Da sitzt in Mergelstetten bei Heidenheim die blonde Linda am Ufer des kleinen, romantischen Flüsschens Brenz. Sie hat ein weißes ärmelloses Sommerkleid an, ist braungebrannt. Sie ist zwanzig und hat ihr ganzes Leben noch vor sich. Ihre langen blonden Haare hat sie sich hinter die Ohren gestreift, nur eine Tolle fällt ihr ins Gesicht. Mit ihrem strahlenden Lächeln, das eine weiße Zahnreihe freigibt, zieht sie die anderen um sie herum in ihren Bann. Mit ihren hohen Wangenknochen, dem kantigen und dennoch schön geschnittenen Gesicht und ihrer schlanken, aber weiblichen Taille könnte sie jeden hier in Mergelstetten haben. Aber sie will nur diesen einen, diesen verrückten Feldwebel der Luftwaffe, der nachts durch die Gegend fliegt und der seinen Kameraden in der Do 217 mit seiner Kanone, wie er sein MG nennt, den Rücken freihält. Und dann ist da noch Riele, das ganze Glück von Gerhard Ehlert, dem strengen Flugzeugführer mit seiner fein herausgeputzten Uniform.

Riele hält genau in dieser Minute, in der die Männer im Fernaufklärer über Sarny abdrehen, sein Bild in Händen. Die Schirmmütze macht ihn größer, als er ist, denkt sie. Er ist schlank und rank, und seine Uniform hat keine Schnörkel. Für besonders lässige Accessoires wie Tücher oder Spangen, wie sie Piloten gerne tragen, hat ihr Gerhard keinen Sinn. Das passt nicht zur Dienstvorschrift, also lässt er es weg.

Und dann ist da noch die Mutter. Williges Mutter. Sie hat ihren Mann schon im Frankreichfeldzug verloren. Er war einer der ersten Gefallenen, hat »für Führer, Volk und Vaterland« sein Leben gelassen. Diese Worte aus der Todesnachricht gehen ihr nicht mehr aus dem Sinn, brennen sich ein wie die klar gespielten, einzelnen Töne einer Fuge. Todesfuge! Gerade dann, wenn sie an ihren jüngsten Sohn denkt, den Karl-Heinz, der bei der Luftwaffe nachts über Russland fliegt, hört sie die Fuge klar. Gut, dass sie nicht weiß, wie ihr Mann wirklich gestorben ist, dort an der Marne. Es war ein Granatsplitter. Als ihn der Sanitäter fand, dachte er erst, die Franzosen würden mit Tomaten schießen. Überall war Rot mit vielen kleinen gelben Punkten. Der Splitter hatte den Schädel zerfetzt. Williges Mutter würde nach diesem Verlust den Tod eines ihrer drei Söhne nicht ertragen, schon gar nicht den ihres Jüngsten, der vom ersten Tag an der Mutter so sehr zugeneigt war – mehr als je dem Vater.

Höhe 200 Meter. Alle Instrumente funktionieren. Der Bleistift tanzt in der Kuppel. Die Motoren brummen gleichmäßig und ruhig. »Gerade, Rechtskurve. Gerade. Da vorne noch mal Rechtskurve. Achtung. Gerade!« Schlotter liest die Karte, gibt die Richtung vor, Ehlert fliegt und denkt an Riele.

»Machen wir uns noch mal den Spaß, Herr Leutnant?«, fragt Burr durch den Bordfunk. »Die Russenweiber flitzen so schön.«

Doch Ehlert hat jetzt keinen Sinn mehr für Späße. Er will nach Hause. Gut fünf Stunden in der Luft zu kutschieren, zehrt an den Kräften. Als Pilot hat er die anstrengendste Aufgabe von allen Vieren. Auf den Navigator hören, konzentrieren, Instrumente im Blick behalten, den Vogel fliegen, die Mannschaft befehligen. Und er hat die Verantwortung, die ihm verbietet, irgendetwas in diesem verdammten Krieg nur so aus Spaß zu unternehmen. Über diese Regel setzt er sich so gut wie nie hinweg. Heute hat er sich schon einmal hinreißen lassen und sich sofort über sich selbst geärgert. Ein zweites Mal wird ihm das auf diesem Flug nicht passieren, hat er sich gleich nach seinem Flügelwackler über der Frauen-Flak geschworen. Ehlert will heim, nur noch heim. Heim auf den staubigen Feldflugplatz bei Baranowitschi, den Film zur Auswertestelle bringen, sich aufs Ohr hauen und bis morgen, bis übermorgen, bis in tausend Tage schlafen, einfach nur schlafen.

»Wir fliegen kürzeste Strecke. Zweimal grün, wenn wir über der Hauptkampflinie sind, verstanden, Burr?«

»Jawoll, Herr Leutnant, zweimal grün«, gibt der Bordschütze zurück. Er bedient die fest eingebaute Signalpistole unten am Rumpf der Maschine. Zwei grüne Leuchtkugeln soll er über der Front beim Eintritt in den eigenen Luftraum abfeuern. Das ist die Kennung, damit die Infanterie unten weiß, dass es ein eigenes Flugzeug ist, das über sie hinwegschwebt.

Noch zehn Minuten, denkt Burr, dann haben wir den Mist hier wieder hinter uns. Gleich geschafft. Und alles ruhig. Zu ruhig. Burr hört die Stimme von Schlotter, der nach wie vor eine Richtungsangabe nach der anderen ausspuckt. Irgendetwas scheint Schlotter zu beunruhigen. Er zögert manchmal eine Zehntelsekunde, räuspert sich. Verstummt für ein paar Sekunden. Das ist man von ihm gar nicht gewohnt.

»Schlotter«, schreit Ehlert, »ich brauch die Richtung, verdammt! Zusammenreißen, Mensch!«

Alle drei merken jetzt, dass mit dem Oberfeld etwas nicht stimmt. Williges, dem Professor, tanzen kleine Schweißperlen der Angst auf der Stirne, im gleichen Takt, wie unten der Bleistift auf der Glaskanzel.

»360 Grad, Herr Leutnant«, stößt Schlotter hervor. »Verdammter Mist! Hab die Orientierung verloren, Herr Leutnant.«

360 Grad, das heißt: Der Pilot soll kreisen, so lange, bis der Beobachter den Kurs wieder hat. Kreisen, das bedeutet nichts Gutes. Ein Flugzeug ist dann am wenigsten in Gefahr, erkannt und heruntergeholt zu werden, wenn es rasch Kilometer zurücklegt und in Bewegung ist. Kreisen ist Stillstand. Unten sausen die Lichterketten der Lkw-Kolonnen vorbei. Es wird nicht lange dauern, dann wird man auf das Brummen des deutschen Fliegers in der Luft aufmerksam werden. Und höher ziehen nützt auch nichts, dann verliert Schlotter ganz die Orientierung.

Es dauert eine, zwei Minuten, eine ganze Ewigkeit, in der Schlotter verzweifelt und immer hektischer zwischen seiner Karte und dem Erdboden hin- und herblickt. Verdammt, denkt er sich. Seine Augen schmerzen. Das ständige Hin und Her zwischen Licht unten und Dunkelheit oben strengt die Pupillen zu sehr an. Verdammt, hier muss doch der See kommen. Nichts, wieder nichts. Wald, kein See.

»Ich schlag noch mal einen Haken. Oder sagen wir besser, ein Häkchen«, sagt Ehlert mit ruhiger Stimme. Es nützt nichts, wenn er jetzt auch noch nervös wird. »Vielleicht treffen wir auf etwas Bekanntes.«

Und tatsächlich, da! Da vorne ist die Bahnlinie, die zurück nach Baranowitschi führt. Ist sie es wirklich? Ja, sie erahnen die Waldlichtung und die leichte Hügelkette. Dort muss auch ganz in der Nähe die Frauen-Flak sein. Deren Geschütze wollte Ehlert eigentlich umfliegen. Na gut, denkt er sich, bevor Schlotter nochmals die Orientierung verliert, bleiben wir lieber drauf. Die da unten werden ohnehin gerade wieder pennen.

Doch damit liegt der Flugzeugführer diesmal schief. Längst hat die russische Batteriechefin von ihrer Infanterie gemeldet bekommen, dass ein großer schwarzer Vogel in der Nähe ihrer Stellung herumkurvt. Es muss der Deutsche sein, der sich ein paar Stunden zuvor über sie lustig gemacht hatte. Jetzt werden sie sich mal ein bisschen über ihn amüsieren, denken die Rotarmistinnen unten, die feuerbereit an ihren Geschützen hängen und auf einen Befehl warten. Und Ehlert weiß noch etwas Wichtiges, etwas Tödliches nicht. In wenigen Sekunden wird es ihm wie Schuppen von den Augen fallen. Zu spät registriert er, dass sie diesmal nicht im direkten Überflug die Flakstellung in Ost-West-Richtung passieren, sondern quer zur Stellung über den ganzen Flak-Gürtel der Russen fliegen. Als sie die ersten weißen Explosionswölkchen am Nachthimmel um sich herum erkennen und die Maschine das erste Mal von einer heftigen Druckwelle erfasst wird, sind sie noch kilometerweit vor der Frauen-Flak. Ehlert ahnt, dass hier gleich die Hölle losbrechen wird. Er denkt an Riele und an Zuhause. Der Bleistift in der Glaskuppel macht wilde Sprünge.

II. Asche

Ehlerts Flugzeug wird gleich in Flammen aufgehen und zu Asche verbrennen. Seltsamerweise denkt er gerade an Asche – an die Asche, auf der sein Heimatdorf Meiersberg gegründet ist, nachdem jahrhundertelang in Glashütten Holz verfeuert worden war. Dort würde er jetzt gern sein. Vier Jahre – so lange liegt sein letzter Besuch schon zurück. Er denkt an den Bruder, seinen Spielkameraden der jüngsten Jahre, an den strengen, aber liebenswerten Vater, der Militärmusiker war, und an die Mutter, die ihn und alle, die es hören wollten, immer vor den Nazis gewarnt hatte und der man dafür in ihrem Heimatort aus dem Wege ging. Ehlert denkt daran, wie es war, in jenem letzten Sommerurlaub in Meiersberg vor seinem Eintritt in die Wehrmacht.

Damals fuhr er nach Ferdinandshof, den nächsten größeren Ort bei Meiersberg, um Ahnenforschung zu betreiben. Den eigenen Vorfahren nachzustöbern, war im dunklen Reich eines Heinrich Himmler arg in Mode. Der Reichsführer-SS hatte sogar ein eigenes Amt aus der Taufe heben lassen, in dem sich hohe SS-Führer mit ihren Gehilfen die Zeit aus weltanschaulichen Gründen mit Rassenkunde und Ahnenforschung vertrieben. So war es nicht verwunderlich, dass im ganzen Nazi-Reich die Menschen begannen, sich für ihre Familiengeschichte zu interessieren. Deshalb stöberte auch der junge Gerhard in den Kirchenbüchern in Ferdinandshof herum, wozu man ihm zuvor von Amts wegen und aus der Pfarrei die Erlaubnis erteilt hatte. Da einige seiner Vorfahren zu den Meiersberger Gründerfamilien von 1749 gehörten, väterlicherseits bei den Bauern, mütterlicherseits bei den Glasmachern, fand Gerhard seitenweise Material über seine Vorfahren in den Kirchenbüchern von Ferdinandshof. Tagelang durchforstete er die Bücher und wurde trotz des wunderbaren Spätherbstes in der Uckermark blass vom vielen Stubenhocken. Hinterher aber wusste er, woher er stammte, und das gab ihm ein beruhigendes Gefühl.

Meiersberg. Breite Straßen führen durch das kleine Dorf, viel zu breite Straßen, die Fahrtrichtungen getrennt durch einen noch breiteren Streifen aus Grün, der von großen Bäumen unterbrochen wird – eine Art Mittelallee, wie man sie sonst nur in Prachtstraßen großer Städte findet. Wegen der breiten, leeren Straßen stehen die gegenüberliegenden Häuser weit auseinander. Denn Grund gibt es hier genug. Daran muss nicht gespart werden. Meiersberg liegt in Vorpommern am südlichen Rand des Waldgebiets der Ueckermünder Heide. Nachdem sich die Gletscher der Eiszeit vor 10 000 Jahren zurückgezogen hatten, hinterließen sie eine Landschaft, wie sie freizügiger kaum sein könnte: Seen, Findlinge, und vor allem große Sandflächen, zwar nicht überall, aber vorwiegend. Bevor sich dort Menschen niederließen, bestand die Gegend nur aus Urwald, durchsetzt mit Mooren, Sümpfen und vielen kleinen Wasserläufen.

Das Dorf selbst wurde erst im Jahr 1749 gegründet. Ursprünglich waren es zwei getrennte Siedlungen. Im Frühjahr 1749 nahm eine Glashütte ihren Betrieb auf, im Sommer darauf kamen Bauern, die gleich im Anschluss an der westlichen Grenze der Glasmachersiedlung ihre Gehöfte errichteten. Bereits vor der Gründung von Meiersberg gab es 1730 in der Nähe eine Kuhmelkerei mit dem merkwürdigen Namen Besserdran. Die zwei Häuser des Milchwirtschaftsbetriebes standen dort, wo der Flossgraben in die Zarow mündet. Die Einheimischen sagen dazu: »Wo de Flettgrobn int Beek schütt’t«. Bei der Einrichtung der Glashütten Ferdinandshof und Meiersberg waren Angehörige einer Familie namens Gundelach maßgeblich beteiligt, die Vorfahren von Albert Ehlert und seinen Söhnen Konrad und Gerhard.

Eines Abends machte der Krieg, der ein Jahr zuvor mit dem Überfall auf Polen begonnen hatte, mehr aus Zufall denn aus bösem Willen Halt in Meiersberg. Gerhard hatte sich ein paar Bücher zum Forschen ausleihen können, denn der Küster der Ferdinandshofer Pfarrei vertraute ihm mittlerweile, nachdem sich Gerhard und er bereits zu dem einen oder anderen Plausch verabredet hatten. Er hörte den Krieg als Erster und blickte mürrisch von seinem Kirchenbuch auf. Ein leises Brummen näherte sich vom Osten her und wurde immer lauter.

Zu dieser Zeit stand lange fest, dass er in die Luftwaffe eintreten würde, ein Entschluss, zu dem er von niemandem getrieben wurde und der sich hauptsächlich aus der Literatur speiste, die der junge Ehlert damals seitenweise verschlang. Er las Bücher wie »Ein Kampf um Rom«, nicht wie seine Freunde Abenteuerschmöker von Karl May. Dann waren es Bücher über den Ersten Weltkrieg, auch Fliegerbücher, die ihn am meisten beeindruckten. Doch das war zu dieser Zeit noch nichts weiter als jugendlicher Überschwang. Die echte Leidenschaft fürs Fliegen und Soldatsein wurde erst durch die euphorischen Wehrmachtsberichte in den ersten Kriegsmonaten in ihm geweckt. Die polnische Armee war durch die deutschen Stuka-Verbände »zermalmt« worden, die »Luftschlacht über England« war im vollen Gange und »praktisch nicht mehr zu verlieren«. Deutschland würde die englischen Städte eine nach der anderen »coventrieren«, versprach Propagandaminister Josef Goebbels, nachdem die deutsche Luftwaffe ein englisches Städtchen namens Coventry mit einem Bombenteppich eingedeckt und praktisch »ausradiert« hatte. Sieg über Sieg, errungen von den Fliegern!

Gerhard wollte Pilot werden. Kampfpilot. Niemals zuvor war er in einem Segelflugzeug geflogen wie viele seiner späteren Kameraden. Nur dann hätte man annehmen müssen, dass die Begeisterung fürs Fliegen ein folgerichtiger Schritt gewesen wäre. Bei Gerhard Ehlert war es die Sprache, die Wörter in den Büchern, die ihn zum Fliegen brachte. Er teilte seine Absicht, zur Luftwaffe zu gehen, seinen Eltern an einem Sonntagmorgen im Frühjahr 1940 beim Frühstück mit. Vater und Mutter hatten keinen Einwand. Das Thema war nach nur einer Minute durch, der Entschluss gefasst und bestätigt.