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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2014

©2018 Edition Förg, Rosenheim

Titelfoto: © Bundesarchiv, Bild 101I-596-0398-4A /

eISBN 978-3-933-70875-5 (epub)

Inhalt

November 1943

www.rosenheimer.com

November 1943

Über der zerschossenen Stadt hängt ein trostlos grauer Himmel. Es hat tags vorher geschneit, doch der Schnee ist nicht liegengeblieben. Vom Fluss herüber streicht ein nasskalter Wind, der in den Trümmern herumstöbert und jammernd um schwärzliche Ruinen weht, über denen Brandgeruch liegt. Die zerwühlten Straßen bedeckt fußhoher Schlamm. Lehmfarbenes Wasser hat sich in den unzähligen Granattrichtern angesammelt und kräuselt sich unter den Stößen des Ostwindes.

Die Straßen sind gespenstisch leer.

Ab und zu, in unberechenbaren Zeitabständen, paukt es jenseits des träge dahinschiebenden Flusses, und wenige Augenblicke später fliegt mit hohlem Rauschen der Tod heran, das Endstück seines Weges pfeifend, kreischend zurücklegend. Der Rest ist ein schwärzlich kochender Rauchpilz, den der Wind zerweht.

Störfeuer auf Tscherkassy. Jeden Tag und jede Nacht.

Alles Leben scheint vernichtet, die Straßen zwischen den Trümmerstätten sind unheimlich leblos.

Wo sind die Menschen, die einstmals diese Stadt bewohnt haben; die ihre Häuser bauten; die Fenstersimse mit Blumen schmückten; die das Gärtchen liebevoll bepflanzten? Wo sind jene, die einstmals froh zur Arbeit gingen und müde zu ihren Familien heimkehrten? Wo ist das Lachen geblieben? Wo ist der Nachbar, mit dem man über den Zaun hinweg schwatzen konnte?

Der Krieg hat sie vertrieben, die Angst, die große Not. Was hiergeblieben ist, um lieber umzukommen als die Heimat zu verlassen; was noch lebt, hat sich in Kellerlöchern vergraben, unter den Trümmern der Häuser eingenistet. Sie wissen nicht, ob sie den nächsten Tag noch sehen werden; sie wissen nicht, wovon sie morgen leben sollen; sie hungern, frieren und bangen.

Es ist eine gemarterte Stadt.

Wo sind die Verteidiger von Tscherkassy?

Sie liegen zwischen geborstenen Mauern, in windgeschützten Ruinenwinkeln, in Löchern und in den zerschossenen Häusern; sie liegen am Rande der Stadt und starren zum Feind hinüber. Und die meisten liegen unter der Erde.

Der Dnjepr ist die Linie des Todes. Hüben und drüben ist man grimmig entschlossen, alles sich regende Leben zu vernichten. Es ist ein grausames, unerbittliches Hin und Her um diese verfluchte Stadt.

Die Toten sind ungezählt, die zwischen den Trümmern liegen, im Morast, die erstarrt im Fluss treiben und irgendwo versanden und vergessen werden.

Tscherkassy, die gemarterte Stadt, wird verbissen verteidigt. Da und dort kichert mit böser Hast ein deutsches Maschinengewehr. Ein Melder läuft geduckt an den zerschossenen Häuserreihen entlang und verschwindet plötzlich spurlos.

Auf dem Marktplatz, wo die Reste einer Rednertribüne stehen, geschmückt mit verblassten, roten Emblemen, liegen zwei Pferdekadaver, und unweit davon steht das Gerippe eines ausgebrannten Muni-Wagens. An der Ecke des von Maschinengewehrgarben zerfressenen Schulhauses, in dem kein Fenster mehr heil ist, in dem die Türen schief in den Angeln hängen, liegen seit Tagen vier tote Sowjets. Niemand hat Zeit sie zu begraben. Ihre Gesichter sind unkenntlich und erdfarben.

Am Westende der Stadt, in einem halb zerschossenen Haus, ist ein provisorischer Verbandplatz eingerichtet, wo ein hohlwangiger Arzt mit drei Sanitätssoldaten die schwersten Fälle betreut – diejenigen, die Tscherkassy nicht mehr verlassen werden … Wer verwundet ist und noch laufen oder sich aufrechthalten kann, wird notdürftig versorgt, zurückgeschickt und seinem Schicksal überlassen.

Erst wenn es dunkel wird, regt sich Leben. Dann rumpeln die Nachschubfahrzeuge in die Stadt, huschen Gestalten hin und her, werden die Verwundeten von den Verteidigungsstellungen zurückgebracht; wenn es dunkel wird, klappern die Kochgeschirre der Hungrigen und hört man ab und zu einen Fluch oder einen Zuruf.

Das ist dann aber auch die Zeit, die der Gegner nutzt, um Tscherkassy unter stärkeres Artilleriefeuer zu nehmen. Wahllos schießen die Sowjets herüber –; mal da, mal dorthin, auf die Straße, in die Trümmer hinein – tastend, streuend; darauf bedacht, den Verteidigern dieses Ruinenfeldes das Aushalten so schwer wie möglich zu machen.

Das Grenadier-Regiment unter dem Befehl des Majors Grätz hat sich in diese Stadt verbissen und verteidigt sie mit grimmiger Entschlossenheit. Der Gegner unternimmt alles, um den Widerstand der Deutschen zu zermürben, die Wachsamkeit zum Erlahmen zu bringen, die Trümmer immer und immer wieder von neuem zu beschießen und das Ausharren zu einer Hölle zu machen.

Das Drama von Stalingrad ist zu Ende gegangen. Stadt um Stadt wurde vom Feind zurückerobert; er wird auch Tscherkassy bekommen, denn er ist stark; dieser Gegner wird immer stärker und kann das in die Schlachten werfen, was die Deutschen nicht mehr oder nur noch in geringer Zahl besitzen: schwere Waffen, Panzer, ausgeruhte Soldaten.

Im Nordteil der Stadt, wo das alte Ziegelwerk liegt, hat sich der II. Zug der 2. Kompanie eingenistet und sichert gegen Nordosten. Wind und Wetter preisgegeben, ausgemergelt, hungrig und müde geworden, harrt der auf einundzwanzig Mann zusammengeschmolzene Kampfhaufen des Feldwebels Martin Hajek aus.

Der Zug liegt in der unmittelbaren Nähe des Ziegelwerkes, auf der lehmigen Böschung; er sichert zum Fluss hin ab, dem ein flaches, sumpfiges, mit Stauden und Baumgruppen bewachsenes Gelände vorgelagert ist. Da und dort ragt ein abgeschossener Baumstumpf wie ein Schwurfinger zum Himmel empor. Der Wind weht unablässig kalt und feucht aus Osten und schlägt die starrenden Gesichter wie mit nassen Lappen. Man friert bis in die Seele hinein. Unweit der in einer lehmigen Mulde stehenden Ziegelei, auf dem oberen Böschungsrand, ist ein MG-Stand angelegt, den man von unten her über ins Lehmreich gestochene Stufen erreichen kann.

In diesem MG-Stand ist der Obergefreite Hermann Klotz auf Posten; er hat den Mantelkragen hochgeklappt und den Stahlhelm tief in die Stirn gezogen. In der Scharte steht das MG auf einem Brett, zugedeckt mit einer schmutzigen, nassen Zeltbahn. Klotz starrt in die Dämmerung, die vor der Stellung dunkle Dunstfahnen vorbeiwandern lässt. Nichts rührt sich. Nur der Ostwind winselt und raschelt im Gras, bewegt ein paar Büsche geradeaus.

Seine Gedanken sind weit weg – daheim. Bei Elsa. Sie hat einen Brief geschrieben, der gestern angekommen ist. Über zehn Wochen war er unterwegs.

Elsa schreibt, dass sie den Buben gut zur Welt gebracht habe; acht Pfund und hundertzwanzig Gramm schwer! Ein Prachtexemplar. »Kannst Du nicht Urlaub kriegen, lieber Hermann? Wenn ich wüsste, dass Du kommst, würde ich mit der Taufe warten. Es wäre wunderbar, wenn Du kommen könntest …«

Ja, denkt Klotz und sucht einen Zigarrenstummel aus der Manteltasche. Ja, wunderbar wäre es, aber wie hier wegkommen? Wie Urlaub kriegen?

Klotz will den Zigarrenstummel in den Mund stecken, als es nebenan beim I. Zug zu prasseln anfängt. Trr … trr … trrrrrrr … Dauerfeuer. Dann tritt plötzlich wieder Stille ein.

Klotz hat fest mit den Zähnen auf den Zigarrenstummel gebissen, hat die Zeltbahn vom MG gerissen und die Waffe eingezogen; er schwenkt über das weit unten schon im Dämmerlicht liegende Gelände.

Nichts. Keine Bewegung. Nur der Regendunst wogt. Weit, weit drüben über dem Fluss wummert es wieder.

Klotz deckt wieder die Zeltbahn über das MG und fingert in den Taschen nach dem Feuerzeug.

Halb links werden Stimmen laut.

»Mensch, Greimel, was machst du für ’nen Radau mit deinem Zerstäuber?«

»Ich hab was gesehen, Herr Unteroffizier … dort drüben, bei dem dunklen Huckel.«

Unteroffizier Tischner schaut durch das Glas hinüber zum »Huckel«. Es ist ein schwarzer Wurzelstock. Daneben bewegen sich ein paar Sträucher im Wind.

»Du spinnst«, sagt der Unteroffizier. »Nischt zu sehen, mein Lieber. Wieder hundert Schuss zum Teufel, und wenn wirklich was los ist, dann ist der Bart ab.«

»Mir war’s aber so, Herr Unteroffizier«, sagt Greimel und reibt sich die brennenden Augen. »Es kam mir so vor …«

Es kam ihm so vor, dem Greimel. Die Nerven haben ihm einen Streich gespielt; man sieht überall den Feind heranschleichen, ihn sich irgendwo bewegen, einen dunklen Punkt über einem Grasbüschel auftauchen. Hinter jedem Strauch. Hinter jedem Baum. Zum Kotzen ist das! Mal ausruhen müsste man können. Schlafen. Eine Woche oder einen Monat schlafen! In einem Bett. Oder wenigstens in einem warmen Stall.

Von Mund zu Mund geht es, dass Greimel sich geirrt habe.

»Nischt, Kumpels! Nischt! – Hat wer ’ne Kippe für mich? – Mensch, wenn bloß die Nacht schon um wär …«

Der Obergefreite Klotz lehnt neben dem zugedeckten MG und hustet. Der Zigarrenstummel ist schauderhaft stark. Aber besser den als gar nichts. Klotz sucht den vorhin abgerissenen Gedankenfaden und ist nicht mehr in Tscherkassy sondern daheim in Oberdorf, in der Pelzergasse, wo das kleine Haus im Garten steht. Und die Elsa hat das Kind auf dem Arm und wiegt es. Klotz möchte gern den Brief noch einmal lesen, den er in der Brusttasche trägt. Aber es ist schon dunkel, und die Taschenlampe anmachen – nein, lieber nicht. Nicht mal rauchen sollte man hier. Drüben lauern Scharfschützen. Sie sind unsichtbar. Sie lassen sich Zeit, bevor sie den Zeigefinger krümmen. Wehe dem, der den Kopf zu hoch über den Grabenrand hebt oder an der Schießscharte steht und eine Zigarette raucht. Vor vier Tagen erst hat man den Grenadier Schorschl Blenk mit einem Kopfschuss hinter die Ziegelei getragen und in das Lehmgrab gebettet. Ohne einen Mucks fiel der Schorschl hintenüber, den brennenden Zigarettenstummel noch im Mundwinkel, als das Herz stillstand.

Vierzehn Gräber liegen im Windschatten der Ziegelei; nirgendwo anders lassen sich Gräber so mühelos ausheben wie hier am Stadtrand von Tscherkassy.

Es ist also kein Wunder, wenn einem der Landser die Nerven durchgehen und ein schwarzer Wurzelstock vor der Stellung für einen russischen Scharfschützen gehalten wird. Besser einen MG-Gurt verballern als zu dösen, einzuschlafen und aufzuwachen, wenn der Iwan in der Stellung ist und Rabatz macht.

Woher er kommt?

Über den Fluss, dort, wo er am seichtesten ist. Der Feind sickert durch die mehr oder weniger großen Lücken ein, die der Verteidigungsring aufweist. Nachts kommen die Spezialisten herüber, den Fluss durchschwimmend, wie Marder durch die dünn besetzten Stellungen schleichend und im Flussgelände Verstecke findend, die das moorige, oftmals unzugängliche Flussgelände ausreichend bietet. Je dunkler die Nacht, je nebeliger der Tag, umso gefährlicher ist das Postenstehen und Aufpassen. Jede Nacht, wenn es still ist, wenn der Wind schläft, kann man irgendwo nördlich jäh aufflammenden Gefechtslärm, Schüsse, fernes Geschrei und Bauzen von Handgranaten hören. Man weiß dann, dass der Russe wieder irgendwo in eine deutsche Bunker- oder Verteidigungsstelle eingebrochen ist und die Kameraden mehr oder weniger hohe Verluste erlitten haben.

Klotz raucht den Zigarrenstummel und steht seitlich neben dem MG. Er spitzt die Ohren und horcht hinaus ins sanft abfallende Vorgelände. Als er sich mit dem qualmenden Zigarrenstummel die Lippen verbrennt, ihn wegwirft und mit dem Fuß drauftritt, denkt er an das, was Elsa geschrieben hat. Ob ich vielleicht mal mit dem Leutnant rede? überlegt er. Wenn ich ihm den Brief zeige, wenn ich ihm sage, dass ich Vater geworden bin, und dass Elsa mit der Taufe warten will – ja nun, kann doch sein, dass der Leutnant den Urlaubswisch unterschreibt. Kann sein! Die Gedanken des Obergefreiten werden erneut unterbrochen; draußen ertönen Schritte. Eine steife Zeltbahn raschelt. Jemand kommt in den MG-Stand.

Es ist der Feldwebel Martin Hajek, der die Posten seines Zuges kontrolliert. Hajek ist Jahrgang 1918, Hesse, in Frankfurt am Main zu Hause. In seinen Papieren steht, dass er ledig und von Beruf Heizer ist. Bevor er zum Militär einrückte, war er Angestellter der Frankfurter Stadtwerke. Er ist einer der wenigen, die den Kompaniestamm darstellen. Ein alter, bewährter Kämpfer! Man hat ihn bereits vor drei Jahren mit dem EK I dekoriert. Hinzugekommen sind inzwischen die rumänische Erinnerungsmedaille, die Nahkampfspange und das Verwundetenabzeichen in Silber. Seit dem letzten Nahkampf sind Hajek und Klotz miteinander befreundet und duzen sich. Klotz schlug einen Russen nieder, als dieser die Nagan auf Hajek richtete.

Der Obergefreite meldet keine besonderen Vorkommnisse. »Was war nebenan los, Martin?«, fragt er.

Hajek sagt mit rauer Stimme, ein Landser habe geschossen. »Greimel vom ersten Zug. Er hat wiedermal weiße Mäuse gesehen.«

Er nähert sich vorsichtig der Schießscharte, hebt das Glas und schaut eine Weile ins Gelände hinaus. Der Obergefreite steht schweigend daneben.

»Du hast Post von daheim bekommen, wie?«, fragt Hajek und schiebt das Glas unter die klamme Zeltbahn.

»Ja.«

»Gute Nachrichten?«

»Bin Vater geworden, Martin.«

Hajek schlägt ihm auf die Schulter. »Mensch, das erfahre ich erst jetzt?«

»Ich wollte mich erst ’ne Weile ganz allein darüber freuen, Martin.«

»Was ist es denn, Bub oder Mädl?«

»Ein Bub. Acht Pfund und hundertzwanzig Gramm. Die Elsa hat bestimmt schwere Arbeit gehabt.«

»Mensch, ich gratuliere dir!« Hajek schüttelt Klotz die Hand. »Darauf müssen wir einen heben, Hermann.«

»Meine Ration ist alle«, sagt Klotz.

»Dafür hab ich noch was!« Hajek lacht. »Ein Püllchen Dreistern. Dem schlagen wir den Kopf ab, das ist doch klar!«

Sie reden eine Weile von dem Ereignis.

»Wie schaut’s mit Urlaub aus?«, fragt Klotz dann.

»Belämmert«, erwidert Hajek. »Der Alte lässt keinen weg. Und das ist irgendwie verständlich«, meine ich. »Wir sind wenig geworden, Hermann, jeder Mann wird doppelt gebraucht.«

»Ja, schon«, brummt Klotz, »aber nicht jeder ist Vater geworden, Martin. Wenn ich demnächst eine verpasst kriegen sollte, ärgere ich mich schwarz, weil ich meinen Jungen nicht gesehen hab. Ich würde mich ja auch nicht vordrängeln, wenn ich schon drei oder vier Kinder hätte … aber ’s ist halt das erste, Martin, und da möchte man doch …« Klotz bricht ab.

Draußen steigt auf der Feindseite eine gelbliche Leuchtkugel hoch.

»Achtung!«, ertönt es halblaut links und rechts in den Stellungslöchern.

Klotz stellt sich hinter das MG, nimmt die darüberliegende Zeltbahn weg und legt sie ohne Hast zusammen. Hajek steht daneben und späht angestrengt ins Vorfeld hinaus, das vom Feindlicht erhellt wird.

»Was die bloß vorhaben«, murmelt er. »Ich fress ’n Besen, dass sich da was zusammenbraut.«

Das Signallicht verlöscht. Die Dunkelheit gähnt wieder. Brennende Augen starren den grasigen Hang hinunter, der in Sumpf und dunkle Baumgruppen übergeht. Nichts regt sich. Auch die die feindliche Artillerie schweigt. Der Feind ist immer dann am gefährlichsten, wenn er schweigt. Hajek lehnt neben dem schussbereiten MG und sagt plötzlich: »Ich werde mal mit Warnicke reden, Hermann. Kann sein, dass ich ihn rumkriege. Du warst wann zuletzt daheim?«

»Januar.«

»Also vor knapp zehn Monaten«, murmelt Hajek.

»Du willst es wirklich probieren?«, fragt Klotz. Seine Stimme klingt heiser vor Freude, denn er weiß, dass Hajek beim Alten eine gute Nummer ist. Was Hajek sagt, gilt etwas.

»Ich werde es jedenfalls mal probieren«, sagt Hajek.

Klotz tastet nach Hajeks Hand und drückt sie dankbar. »Mensch, wenn dir das gelingt, Hermann … wenn du wirklich ein paar Tage Urlaub für mich rausschinden könntest, dann …«

»… tät’s mich selber wundern«, nimmt Hajek ihm das Wort vom Mund, klopft ihm auf die Schulter und schiebt sich aus dem MG-Stand. Das schmatzende Geräusch der sich im Schlamm entfernenden Schritte verliert sich in der Dunkelheit.

Klotz lehnt sich an den MG-Tisch und ist plötzlich hoffnungsfroh gestimmt; er möchte am liebsten singen, aber das lässt man besser bleiben.

Ein feiner Mensch, dieser Hajek, denkt er. Wenn er es schafft, dass ich heimfahren kann, werde ich es ihm nie vergessen. Ich werde Elsa sagen, dass wir den Jungen »Martin« taufen werden. Martin Klotz! Hm … klingt nicht schlecht. Elsa wird damit einverstanden sein.

Die Dämmerung hat sich in ein nasskaltes Dunkel verwandelt. Das ist die Zeit, in der es drüben in der Stadt zu rumoren anfängt. Verhalten nur, gedämpft. Irgendwo zwischen den Trümmern murrt ein Motor.

Die Russen haben ihr Störfeuer eingestellt, aber es kann jeden Augenblick wieder einsetzen.

Von der Ziegelei weg führt ein Trampelpfad zum Stadtrand. Es ist der Verbindungsweg zwischen den bei der Ziegelei liegenden Kompaniezügen und dem Kompaniegefechtsstand. Der Kompaniegefechtsstand ist in einem von MG-Garben und Granatsplittern zerhackten Haus untergebracht. Es kauert zwischen Ruinen und ausgebrannten Häusern. Die Haustür hängt schief in den Angeln, die Fensterlöcher sind mit Zeltbahnen verhängt. Neben dem Hauseingang steht ein langer Schatten, der manchmal hustet und ausspuckt.

Grenadier Otto Friemelt vom Nachrichtenzug ist heute zur Wache eingeteilt und steht seine zwei Stunden ab. Als in der Dunkelheit Schritte laut werden und aus dem Trümmerfeld herankommen, lässt er den Karabiner von der Schulter rutschen.

»Halt! Parole?«

»Sommernachtstraum«, erwidert eine bekannte Stimme.

»Ach, Sie sind’s, Herr Feldwebel«, sagt Friemelt und schultert den Karabiner.

»Ist der Leutnant da?«, fragt Hajek.

»Jawohl. Er hat sich hingelegt und schläft.«

»Wieder voll?«

»Nicht zu knapp«, sagt Friemelt. »Hat ’n Kochgeschirr voll Kartoffelschnaps getrunken.«

Leutnant Albert Warnicke, sechsundzwanzig Jahre alt, Sohn des Studienrats Alexander Warnicke, trinkt.

Er trinkt, seit er seinen Bruder, den Hauptmann Egon Warnicke, bei Charkow verlor. Hauptmann Warnicke fiel bei einem Stoßtruppunternehmen Partisanen in die Hände. Man fand ihn und ein paar seiner Leute als massakrierte, zur Unkenntlichkeit verstümmelte Leichen. Und seither trinkt Leutnant Warnicke. Alle drei Wochen passiert es, dass er die Landser um Schnaps angeht oder verlangt, ihm welchen zu beschaffen. Ein hohlwangiges Gespenst läuft dann umher, mit dem man nicht reden darf. Dann übernimmt der Kompaniespieß Wastl Wohler die Befehlsgewalt und überlässt den Leutnant sich selber.

Hat Leutnant Albert Warnicke, im Juni 1943 mit dem Ritterkreuz dekoriert, die Flasche Kognak oder das Kochgeschirr voll Kartoffelschnaps ausgetrunken, sich hingelegt und genau zwei Stunden geschlafen, dann steht ein neuer Warnicke auf: straff, sicher, soldatisch. Er ist das, was man im Kameradenkreis ein »armes Schwein« und einen »feinen Kerl« nennt. Jeder weiß, warum er zum Quartalstrinker geworden ist, und jeder versucht, ihm dann das Betäubungsmittel zu beschaffen. Das Ritterkreuz erhielt er, als er während der Kämpfe im Donezraum mit seiner Kompanie einen Stützpunkt hielt und somit die Absetzbewegungen der ganzen Division ermöglichte. Über hundert Tote lagen vor den Stellungen, elf verkohlte Sowjetpanzer; die Höhe, die er tagelang hielt, räumte er erst als der Befehl dazu kam.

Im Gefechtsstand brennt ein Hindenburglicht auf dem wackeligen Tisch. Höhn, der Funker, bastelt eine neue Batterie in das Gerät, die beiden Melder liegen in der Ecke auf muffigem Stroh und schlafen. Am Tisch sitzt Spieß Wastl Wohler, ein bulliger Bayer, und schreibt eine Liste.

In der hintersten Ecke des trüb erhellten Raumes liegt eine Gestalt auf dem Feldbett und schnarcht. Der Raum riecht nach Spiritus oder so etwas Ähnlichem.

Als Hajek hereinkommt, schaut Wastl Wohler auf, grinst und sagt halblaut: »Servus, Martin. Was gibt’s?«

Hajek wirft einen Blick zu dem Feldbett, sieht Wohler an, vollführt stumm die Geste des Trinkens, worauf Wohler nickt.

»Wie schaut’s bei euch aus?«, fragt Wohler gedämpft. »Vorläufig herrscht noch Pause«, erwidert Hajek und setzt sich auf eine Kiste. Er deutet mit dem Kopf in Richtung des schnarchenden Kompaniechefs: »Wollte mit ihm was bereden, aber das wird wohl noch ’ne Weile dauern, wie?«

Wohler schaut auf die Armbanduhr. »Er wird bald aufwachen. Schläft jetzt schon fast zwei Stunden.«

»Nachrichten eingetroffen?«, fragt Hajek.

»Ja. Das zweite Bataillon meldet verstärkte Feindtätigkeit. Bei der Furt sind Übersetzversuche abgeschlagen worden. Der Iwan macht sich wieder mausig.« Wohler grinst stoppelbärtig. »Es kommt mir vor, als gäbe es in den nächsten Tagen wieder eine Mordsschweinerei.«

Einer der beiden schlafenden Melder lallt etwas im Traum und dreht sich auf die andere Seite. Höhn klappert mit seinem Gerät, worauf Wohler »Psssst …« zischelt.

»Du, Urlaubsmöglichkeiten gibt es wohl keine?«, fängt Hajek nach einer Weile an.

»Du spinnst wohl!«, erwidert Wohler. »Oder wolltest etwa du selber …?«

»Ich nicht, nein!« Hajek schüttelt den Kopf und holt das Päckchen Feinschnitt und das Zigarettenpapier unter dem nassen, lehmverschmierten Mantel hervor. »Klotz hat von daheim Nachricht gekriegt. Er ist Vater geworden. Ein Junge ist es. Acht Pfund und hundertzwanzig Gramm schwer.«

Der Spieß verzieht sein rundes Holzschnittgesicht. »Respekt«, grinst er. »Acht Pfund sind ein schönes Gewicht. Als ich zur Welt gekommen bin, hab ich bloß sechs Pfund gewogen.«

In diesem Augenblick ertönt ein hohles Rauschen. Fast gleichzeitig wummst es, und dann ein fürcherlicher Knall, ein Luftstoß löscht das Licht. Dreck rieselt von der Zimmerdecke herab. Die Granate muss ganz in der Nähe eingeschlagen haben.

Die Dunkelheit riecht nach Pulvergestank und Staub. Irgendwo prasselt etwas, als würfe man eine Handvoll Kies gegen die Hauswand.

Dann folgt Stille.

»Hallo!«, ertönt eine heisere Stimme. »Hallo, Jungs, ist was passiert?«

»Nix passiert, Herr Leutnant«, sagt Wastl Wohlers tiefes Organ.

Ein Streichholz flammt auf. Staub wirbelt im kargen Lichtschimmer. Der Funker zündet das Hindenburglicht wieder an und geht dann hinaus. Vor dem Feldbett steht eine lange, hagere Gestalt im zerknitterten Mantel, einen grauen Wollschal um den Hals gewürgt. Aus einem knochigen, stoppelbärtigen Gesicht schauen ein Paar helle, auffallend klare Augen. Vor zwei Stunden stierten sie noch. Jetzt sind diese Augen wach. Sie schauen unter dichten, schwarzen Brauen hervor.

»Liegt was Besonderes vor, Wohler?«, fragt Warnicke und geht zu dem winzigen Holzkohlenofen, den der Funker Höhn aus einem Marmeladeneimer gebastelt hat, und hält die knochigen Hände darüber.

»Nichts Neues, Herr Leutnant«, sagt Wastl Wohler.

An der Tür ertönt Gepolter. Der Funker Höhn kommt herein, klappt lasch die Hacken zusammen und meldet, dass die Granate schräg gegenüber in die Trümmer eingeschlagen habe. Mit einem kurzen Blick auf den Leutnant geht Höhn in die Ecke, wo ein zweiter Tisch steht, und gießt Tee in einen Trinkbecher.

»Bitte, Herr Leutnant«, sagt der Funker freundlich.

Warnicke nimmt den Trinkbecher, murmelt ein »danke« und schüttet den kalten, dünnen Tee in sich hinein.

»Aaaah …« macht er dann und wischt sich mit dem Handrücken über den stoppelbärtigen Mund.

Warnicke scheint erst jetzt Hajek zu bemerken. Er nickt ihm zu und sagt:

»Ach, Sie sind ja da, Hajek. Was ist los bei euch drüben?«

Hajek steht auf. »Nichts Ungewöhnliches, Herr Leutnant.«

Der Leutnant reibt sich die Hände und starrt in die Glut des kleinen Holzkohlenfeuers.

Soll Hajek jetzt von Urlaub reden? Ist Warnicke schon so weit, dass man mit ihm reden kann und dass er begreift, worum es geht? Hajek wirft einen fragenden Blick auf den Spieß. Dieser nickt ihm aufmunternd zu.

»Herr Leutnant«, sagt Hajek ohne Schwung.

Warnicke blickt schief herüber. »Na …? Was ist?«, fragt er und grinst.

Hajek gibt sich einen Ruck. »Der Klotz ist Vater geworden, Herr Leutnant. Das erste Kind. Seine Frau schreibt, sie will mit der Taufe warten –«

Schweigen.

Einer der beiden Melder richtet sich auf und reibt sich die Augen. Leutnant Warnicke starrt in die Glut und reibt sich noch immer die langen Hände.

»Ich bin dafür, dass wir den Klotz für ein paar Tage heimschicken, Herr Leutnant. Ich befürworte den Sonderurlaub. Klotz … ich meine, man sollte bei ihm eine Ausnahme machen.«

»Hm …« Mehr antwortet Warnicke nicht. Dann lässt er die vorgestreckten Hände sinken, knöpft den zerknitterten Mantel auf. Am Hals funkelt etwas, halb verdeckt von dem langen grauen Schal. Noch bevor Hajek etwas erwidert, rasselt das Feldtelefon. Höhn nimmt den Hörer ab und meldet sich unter dem Decknamen der Zwoten. »Jawohl«, murmelt er, und legt den Hörer wieder hin. »Ein Melder zum Bataillon«, sagt er dann. Und sich zu den beiden im Stroh liegenden Leuten umdrehend: »Max, mach dich auf die Socken zum Bataillon!«

Der Landser rappelt sich hoch und legt die graue Decke zusammen. Leutnant Warnicke hat eine Weile in die Glut des Holzkohlenofens gestarrt, ist sich einmal mit der Hand übers Gesicht gefahren. Jetzt sagt er entschlossen zum Spieß:

»Wohler, machen Sie die Urlaubspapiere für den Klotz fertig. Vom fünfzehnten elften bis siebten zwölften. Sonderurlaub. Grund: Regelung wichtiger Familienangelegenheiten. Ich unterschreibe dann gleich.«

Wohler grinst, und Hajek geht zu Leutnant Warnicke, haut die Hacken zusammen und sagt:

»Danke, Herr Leutnant. Im Namen meines Kameraden Klotz!«

»Schon gut«, murrt Warnicke, geht zur Wand, nimmt den Stahlhelm und das Pistolenkoppel vom Nagel, schnallt um, stülpt den Stahlhelm auf das kurzgeschorene, bürstenartige Haar und verlässt den Gefechtsstand mit der gemurmelten Bemerkung: »Ich bin beim ersten Zug.«

Die lange Gestalt geht gebückt aus dem Raum. Man hört draußen Stimmen. Friemelt meldet etwas, dann wird es wieder still.

»Feiner Kerl«, sagt Hajek. »Hätte nie gedacht, dass er den Klotz weglässt.«

»Es geschehen halt noch Zeichen und Wunder, mein lieber Freund«, erwidert Wastl Wohler. »Du kannst dem Klotz sagen, dass er morgen früh abhauen kann.«

Hajek nickt, wirft die selbstgedrehte Zigarette in den Holzkohlenofen und verlässt den Gefechtsstand.

Die Nacht ist still. Kein Schuss fällt. Weit in der Ferne, nordöstlich von Tscherkassy, rumort die Symphonie des Todes, grollt die Kriegsfurie.

Es nieselt, und die Dunkelheit ist kalt und feucht. Friemelt, der Posten, lehnt neben dem Hauseingang und fragt Hajek, wie spät es ist.

Hajek sagt ihm die Uhrzeit.

»Danke, Herr Feldwebel«, erwidert Friemelt. »Das ist vielleicht ein Mistwetter, wie? Die Stunden ziehen sich wie Kaugummi.«

»Mach’s gut«, sagt Hajek.

»Wünsche angenehme Nachtruhe, Herr Feld«, erwidert Friemelt.

Hajek schlägt den Trampelpfad zur Ziegelei ein. Unterwegs denkt er an den Leutnant. Das ist ein Mensch, oh ja! Ein prima Kerl! Da weiß man immer, wofür man da ist, und warum man sich mit Leib und Seele einsetzt! Nicht nur fürs sogenannte Vaterland, nicht nur für die daheim! Für den, der neben dir geht – für so einen, wie Warnicke es ist! Hut ab vor Warnicke!

Hajek stolpert über ein Hindernis und flucht halblaut. Als er das Gleichgewicht gefunden hat, ist es ihm, als patsche irgendwo geradeaus, in Richtung der Ziegelei, ein Schuss.

Hajek stapft durch den Dreck zur Ziegelei zurück, vorbei an der Stelle, die von drüben eingesehen wird. Jetzt, im Dunkeln, kann man sie gefahrlos passieren.

Es ist so dunkel, dass man kaum die Hand vor den Augen sieht. Und ein Sauwetter! Brrr. …!

Hajek denkt an seine Männer, die draußen liegen. Im offenen Graben! Im Dreckloch!

Hermann wird sich vor Freude überschlagen, denkt er. Der Glückliche! Morgen kann er abhauen! Fort aus dieser Hölle! Heim! – Wann war denn ich das letzte Mal daheim? überlegt er. Es ist auch schon wieder fast ein Jahr her … als ich den Beinschuss erhielt! Wenn es nur immer bei einem Beinschuss bliebe! Aber meistens kommt es schlimmer!

Die Umrisse der Ziegelei tauchen auf. Der abgeschossene Schornsteinstummel ragt wie ein schwarzer Riesenfinger zum Himmel; und dieser Himmel ist finster und vergießt Nässe.

Ich werde Hermann meine aufgesparte Schnapsration mitgeben, denkt Hajek, als er auf die Ziegelei zustolpert. Für die Taufe! Ja, für die Taufe! Oder soll ich das Püllchen lieber für Warnicke aufheben, wenn er wieder seine Tour kriegt? Das wird in drei Wochen sein! – Ach, was wird in drei Wochen sein! Hermann kriegt das Püllchen! Hajek schlittert auf dem Lehmboden zur Ziegelei. Im ehemaligen Ofenraum ist es gut trocken, dort kann man einigermaßen gemütlich hausen. Hier halten sich die wachfreien Landser des II. Zuges auf. Eine Stalllaterne steht am Boden und leuchtet trübe. Ein Dutzend in Decken gewickelte Gestalten liegen da und schlafen. Nur Epel, der Gefreite und Gruppenführer, ist wach und sitzt im Lichtkreis der Stallfunzel, um einen Brief zu schreiben.

»Guten Abend, Feld«, grüßt er, als Hajek hereinkommt. »Was Neues?«

»Der Klotz fährt morgen auf Sonderurlaub«, erwidert Hajek und geht zu seinem Lager, holt das Sturmgepäck hervor, kramt darin herum und bringt eine kleine Flasche Dreistern hervor.

»Junge, Junge«, hört er Epel sagen, »so ein Schwein müsste man wieder mal haben: Sonderurlaub.«

Draußen peitschen Schüsse. Die am Boden liegenden Gestalten sausen hoch.

»Los – raus!«, schreit Hajek und rennt, die Maschinenpistole an sich reißend, hinaus.

Über der Ziegelei liegt kreidiges Licht. Zwei MG 42 rasen im Dauerfeuer. Geschrei in Richtung der Zug-Stellungen. greift der Russe an? Oder was ist sonst los?

Hajek, gefolgt von ein paar Leuten, stolpert in den Laufgraben hinein, prallt plötzlich mit jemandem zusammen.

»Herr Feld, sind Sie’s?«, keucht eine Stimme.

»Ja. Was ist los?«

»Den Klotz hat’s erwischt! So ein Schweinehund von Scharfschütze hat ihn abgeknallt.«

»Was sagst du da?«, brüllt Hajek und stößt den Mann zur Seite, stolpert in den MG-Stand.

Drei Erdstufen, die hinunterführen, nimmt Hajek mit einem Satz. Er reißt die Taschenlampe vom Mantelknopf. Blaues Licht tastet über den feucht schimmernden Boden. Hinter Hajek schieben sich die anderen heran und keuchen.

Am Boden liegt, vom Blaulicht der Taschenlampe erhellt, Klotz. Er stöhnt. Er windet sich hin und her und presst beide Hände gegen das Gesicht. Blut rinnt durch seine Finger. Schauderhaft viel Blut!

Hajek kniet neben ihm nieder.

»Hermann«, bringt er hervor. »Du armes, armes Luder …«

Klotz brüllt jetzt dumpf und wälzt sich hin und her. Blut spritzt auf den Erdboden.

»Sprenggeschoss«, sagt jemand und will Klotz die Hände vom Gesicht ziehen.

»Sani her!«, keucht Hajek. »Schnell den Sani!«

»Ist schon da!«, ertönt es vom Eingang, und der Sanitäter kommt herangehastet, wirft seine Tasche hin und versucht, den sich am Boden windenden Klotz festzuhalten.

»Bleib ruhig, Hermann …« Hajeks Stimme klingt heiser. »Ich bitte dich, Hermann, bleib doch liegen, wir wollen dir doch helfen.«

Klotz liegt jetzt still. Man hat seine Hände heruntergezogen. Zwischen den Brauen klafft ein riesiges Loch, aus dem es dunkel und unaufhaltsam quillt. Schweigen herrscht. Kein Schuss fällt. Die Landser knien oder stehen mit zuckenden Gesichtern um den Sterbenden.

»Nicht mehr viel zu machen«, murmelt der Sani und öffnet seine Tasche.

Hajek verspürt ein Würgen in der Kehle. Er schluckt es weg. Er nimmt Klotz’ Kopf in den Arm, streichelt ihm das blutverschmierte Haar aus der zerschossenen Stirn. »Martin«, ächzt der Sterbende, »bist du’s?«

»Ja, ich bin bei dir, Hermann.« Und denkt: Stirb doch! Stirb doch schon! Das ist ja entsetzlich … das ist das Entsetzlichste, was ich in den vier elenden Jahren erlebte!

»Er liegt … liegt draußen … in der Nähe der Bachmulde«, sagt Klotz mit verlöschender Stimme.

Der Sani zieht eine Spritze auf. Er wechselt mit Hajek einen Blick. Hajek runzelt die Stirn, dann nickt er.

»Komm, Kamerad«, murmelt der Sani und sticht die Nadel durch Mantel und Uniformtuch in den Oberarm des Sterbenden.

Klotz liegt ganz ruhig. Er atmet stoßhaft. Das Blut rinnt und rinnt, und die Spritze wirkt so langsam.

Das kreidige Licht ist erloschen. Ein MG fängt kurz und böse zu prasseln an. Stille folgt.

»Martin …« Klotz spricht so leise, dass Hajek sich tief an den flüsternden Mund beugen muss. »Martin … hörst du mich?«

»Ja, Hermann.«

Klotz’ Hand krallt sich in Hajeks Arm. »Gib’s dem Kerl, Martin …« Klotz richtet sich zitternd auf. Er flüstert mit geschlossenen Augen. »Schreib du es der Elsa … mein Bub … du, der Bub …”

Er sinkt mit einem matten Seufzer zurück.

»Aus«, murmelt der Sani und packt die Spritze ein. Die Landser stehen stumm um den Toten. Sie weinen nicht, sie ahnen, dass das Sterben die Erlösung ist.

Einer bleibt am MG zurück, die anderen tragen den Toten aus dem Bunker und legen ihn hinter der Ziegelei unter das überhängende Dach. Klotz liegt in einer Zeltbahn. Vom Dach tröpfelt es leise auf das steife Tuch.

Drinnen, im Ofenraum, brennt die Stalllaterne. Die Männer reden nichts, setzen sich oder legen sich hin, doch sie können nicht schlafen. Hajek, steinern ruhig, hat das Püllchen wieder ins Sturmgepäck getan, schnürt es zusammen, verharrt ein paar Augenblicke in tiefem Nachdenken, steht dann auf und geht zum Fernsprecher.

Das Surren des Apparates stört die Stille. Hajek wartet starr auf den Gegenruf. Dann kommt er.

»Hier ist Dotterblume, Hajek. Klotz ist von einem Scharfschützen abgeschossen worden. Sprenggeschoss.«

Am Drahtende bleibt es eine Weile still. Dann ertönt Warnickes heisere Stimme:

»Der Klotz? – Tut mir leid. Wachsamkeit erhöhen, Hajek. Feind ist durch die Linie gesickert. Es müssen ein paar Russen vor unserer Stellung liegen.«

»Möchte nachschauen, Herr Leutnant«, sagt Hajek.

Die Landser heben die Köpfe und schauen erschrocken zu ihm auf.

»Kommt nicht in Frage, Hajek«, ertönt es im Hörer. »Kommt nicht in Frage, hören Sie!«

»Ich hab’s Klotz versprochen, Herr Leutnant.«

Warnicke brüllt: »Nein! Sie bleiben bei Ihrem Zug! Das ist ein dienstlicher Befehl, Hajek, verstanden!«

»Ich will den Burschen haben, der Klotz umgelegt hat, Herr Leutnant.«

»Sind Sie taub?«, brüllt es im Apparat. Hajek hält den Hörer von sich weg. »Ich verbiete Ihnen, die Stellung zu verlassen und etwas auf eigene Faust zu unternehmen! Hören Sie, Hajek, ich verbiete es Ihnen!« Kurzes Schweigen. Dann Warnickes ruhige Stimme: »Lassen Sie das, Hajek, es ist zu dunkel, Sie erwischen den Kerl sowieso nicht. Außerdem könnten es mehrere sein.«

»Dann warte ich bis zum Hellwerden, Herr Leutnant.«

»Hajek, ich habe Ihnen einen dienstlichen Befehl erteilt, ist das klar?«

Hajek legt den Hörer auf den Apparat. Sein steinernes, bartstoppeliges Gesicht verrät nichts. Er steht auf, überlegt kurz, geht in die Ecke, schnürt das Sturmgepäck noch einmal auf, reißt die kleine Kognakflasche heraus, schlägt ihr den Hals ab und trinkt. Der bräunliche Saft rinnt ihm in die dunklen Bartstoppel. Und dann – ganz plötzlich und mit einem wüsten Fluch – schleudert er die Flasche an die rötliche Lehmwand.

Die Landser reagieren nicht. Sie wissen, was in Hajek vorgeht; er war mit Klotz sehr gut befreundet. Was Hajek jetzt vorhat – nun, davon kann ihn niemand zurückhalten. Auch Warnicke nicht.

»Herr Feldwebel«, sagt einer, »es schneit jetzt.«

Hajek nickt, zerrt das schmutzig-weiße Tarnhemd hervor und zieht es über; dann nimmt er vier Eierhandgranaten aus der Kiste und steckt sie ein, geht zur Wand, an der eine russische MPi hängt, schiebt ein Magazin ein und lädt durch. Der Sicherungsvorgang knackt wie ein Schuss durch die Stille.

»Jungs«, sagt Hajek, am Ausgang stehend und jeden ansehend, »ich hab’s dem Hermann versprochen. Ihr wisst es doch, oder …?«

»Ja, wir haben es gehört«, sagt Epel. »Kommen Sie gut zurück, Herr Feldwebel.«

»Obergefreiter Ebner!«

»Hier«, meldet sich die untersetzte Gestalt des Oberschnäpsers und nimmt, was er sonst selten tut, militärische Haltung an.

»Sie übernehmen während meiner Abwesenheit den Zug.«

»Geht in Ordnung, Herr Feldwebel.«

»Komm mit«, murmelt Hajek und geht hinaus.

Der Obergefreite folgt ihm wortlos.

Nichts rührt sich draußen. Es schneit dünn. Die Flocken fallen in ihre Gesichter und werden zu Wasser.

Mit raschen Schritten gehen sie zum MG-Stand, zwängen sich durch den schmalen Zugang, tappen die drei Erdstufen hinunter und treten an die Schießscharte.