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Der Ablauf des militärischen Geschehens entspricht der geschichtlichen Wahrheit. Die Namen der handelnden Personen sind frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten sind daher rein zufällig.

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2013

©2018 Edition Förg, Rosenheim
www.rosenheimer.com

eISBN 978-3-933-70882-3 (epub)

Inhalt

Die Höhenstellung

Befehl von oben

Der neue General

Meldung für die Front

Roter Stern am Schwarzen Meer

Ratas und geborgte Stunden

Das Wiedersehen

Rückkehr zum Regiment

Fernruf vom Kuban

Panzeralarm

Der Gegenangriff

Roter Stern im Pulverqualm

Die Überfahrt

Das Ende

Die Höhenstellung

Ein Leutnant trat durch den niedrigen Eingang in den Bunker. Sein Gesicht war auf eine erschreckende Weise entstellt. Es bestand nur noch aus Flicken seidiger, rosiger Haut und einem Gewirr von Narben und Nähten, aus dem zwischen wimperlosen roten Lidern zwei Augen blickten, deren Iris von einem unwahrscheinlich leuchtenden tiefen Blau war. Es war Leutnant Lemke. Der Bataillonsadjutant hatte ihn durch den Fernsprechdraht angemeldet, der zufällig seit zwei Tagen intakt war. Lemke war als mein Nachfolger vorgesehen. Ich sollte ihn in die Stellung einweisen und ihm dann die Kompanie übergeben.

Der Befehl meiner Versetzung zum Divisionsstab kam völlig überraschend für mich. Denn ich hatte mich nicht um den Posten eines dritten Ordonnanzoffiziers beworben, der, wie es so schön hieß, »infolge Feindeinwirkung« frei geworden war.

Leutnant Lemke nahm die Tropenmütze ab. Er trug an der Khakifeldbluse seiner neu verpassten Tropenuniform neben dem EK I das goldene Verwundetenabzeichen. Ich nahm nicht an, dass es ihm ein auch nur annähernd hinlänglicher Ersatz für den Verlust seines menschlichen Gesichtes war; mir selbst genügte im Übrigen vollauf das in Silber.

Wir begrüßten uns nach dem noch immer gültigen Komment: »Leutnant Lemke« – »Oberleutnant Emser.« Gegenseitige Verbeugung, kurz angedeuteter »deutscher« Gruß.

»Da bin ich also«, sagte Lemke mit seltsam knarrender Stimme, wobei er seine dünnen, vernähten Lippen angestrengt schief zog. Seine rechte Gesichtshälfte zuckte, als führe sie ihr eigenes Leben. »Hübsche Gegend«, fügte er hinzu.

»Leider ist die Luft stark eisenhaltig«, sagte ich und ergriff seine Hand. Erst jetzt merkte ich, dass ihm der Mittelfinger fehlte.

»Ich bin es noch dicker gewöhnt«, meinte er mit verkrampftem Lächeln. Er war aus Stalingrad entkommen – einer der wenigen vom Schicksal begünstigten Schwerverwundeten, die noch vor Torschluss ausgeflogen worden waren. Ich wies auf eine Munitionskiste, die als Sitzgelegenheit diente.

»Wie gefällt Ihnen die Villa?«, fragte ich.

»Ganz groß«, sagte er und sah sich um. Was er erblickte, war nicht gerade erhebend. Der Bunker, der in eine Hangstufe geschachtet war, maß etwa drei Meter im Geviert. Es gab einen roh zusammengenagelten Tisch aus Kistenbrettern, eine Holzpritsche mit Strohauflage und eine an der Bohlendecke hängende Petroleumlampe. An einem in die Wand getriebenen hakenförmigen Granatsplitter hingen mein Stahlhelm, die Gasmaske, das Koppel und eine Maschinenpistole.

»Sehr wohnlich«, meinte Lemke anerkennend. »So ein Heim habe ich mir schon immer gewünscht.«

»Hatten Sie eine angenehme Überfahrt?«, fragte ich. Vom Bataillonsadjutanten hatte ich erfahren, dass er geradewegs von Cherson am unteren Dnjepr kam, wo die Führerreserve der Heeresgruppe lag.

Lemke zeigte wieder sein karges Lächeln. »Meinen Sie die Überfahrt über die Straße von Kertsch? Na, ein Fest war es gerade nicht. Die Russen flogen mit gepanzerten J L zwo drei Angriffe auf unsere Fähre. Aber die Marine-Flak war auf Draht.«

»Muss sie ja auch«, sagte ich. »Schließlich kommt der Nachschub für eine ganze Armee übers Wasser.«

»Hoffen wir, dass er nicht eines Tages ausbleibt«, erwiderte Leutnant Lemke. »Im Übrigen ist ja das Kriegführen im Sommer leichter. Macht mehr Spaß. Finden Sie nicht auch?«

»Spaß?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Herr Lemke, ausgesprochen spaßig ist das hier nicht. Aber im Grunde haben Sie schon recht. Ich habe den ersten Russland-Winter im Donezgebiet mitgemacht. Wenn es auch sicher nicht zu vergleichen ist mit dem, was Sie erlebt haben, sind wir auch da nur knapp einer Katastrophe entkommen.«

»Donezgebiet«, murmelte Lemke. »Mein Haufen lag damals bei Bjelgorod – ostwärts Charkow, Sie wissen ja. Muss ziemlich übel gewesen sein, der russische Durchbruch bei Isjum. Zu dieser Zeit kam ja der großartige Befehl, keinen Fußbreit Boden aufzugeben, bis zur letzten Patrone zu kämpfen, Unterkünfte in Brand zu stecken als loderndes Fanal für die Kameraden in entfernteren Stützpunkten. Himmelschreiender Quatsch vom militärischen Standpunkt aus gesehen.«

»Kann man wohl sagen«, stimmte ich zu. »Mein damaliger Regimentskommandeur hat es abgelehnt, sich daran zu halten. Er hat teuer dafür bezahlt.«

»Wieso das?«, fragte Lemke. »Götz-Zitat frei nach Goethe oder so?«

»Nein«, sagte ich, »so einfach war das nicht. Es ging bei uns um rund 400 Verwundete, die mit uns eingeschlossen waren. Mein Kommandeur – er hieß Oberst Metzelbrod – gab den Ausbruchbefehl, um die Verwundeten zu retten. Und weil wir Gespanne für die Schlitten zum Abtransport brauchten, ließ er die schweren Waffen sprengen. So war das. Mein Kommandeur ist daran zugrunde gegangen. Kriegsgericht, Verurteilung, Degradierung, Bewährungsbataillon. Das war sein Weg. Vor Kurzem, als wir nach ein bisschen Ruhe wieder in die Stellung vorrückten, habe ich meinen Oberst wiedergesehen. Er lag auf einer Krankentrage – ohne Rangabzeichen, ohne Orden, ein menschliches Wrack, dem irgendein Iwan den Gnadenschuss gegeben hatte.«

Lemke räusperte sich, als säße ihm ein Kloß im Hals. »Es ist nicht zu fassen«, murmelte er. »Und wir? Für eine Führung, die so etwas gutheißt, lassen wir uns die Knochen polieren. Wissen Sie, was mir kürzlich ein Veteran von 14/18 gesagt hat? ›Wir haben uns wohler gefühlt in unserem grauen Rock als ihr Soldaten des Führers.‹ Ist schon was dran, Herr Emser, hol’s der Teufel! Und ich sage Ihnen, die da oben wissen recht gut, was viele – vielleicht die meisten – von uns denken. Trotzdem verlassen sie sich auf uns. Es ist ein Rätsel. Ich kann es nicht lösen, und Sie vermutlich auch nicht. Was haben Sie denn getan, als Sie Ihren Oberst so wiedersahen?«

»Ich habe die Kompanie nach vorn geführt«, sagte ich. »Was hätte ich denn anderes tun sollen?«

»Da haben wir’s ja«, versetzte Leutnant Lemke. »Wir sind schon wirklich Glückspilze, dass wir in dieser großen Zeit unsere Haut zu Markte tragen dürfen. Und hier – was wird hier eigentlich geboten? Kubanbrückenkopf sagt nicht viel. Ist es eine Ausgangsstellung für einen neuen Vorstoß ins Ungewisse, oder ist man hier einfach sitzengeblieben, weil der hohen Führung nichts Besseres eingefallen ist?«

»Ich weiß es genauso wenig wie Sie«, entgegnete ich. »Kürzlich war der Chef des Stabes vom Jägerkorps hier vorn bei mir. Ein ehrgeiziger, noch junger Generalstabsoberst – Blutordensträger, aber trotzdem kein sturer Parteimann. Er schaute durchs Scherenfernrohr hinaus ins Feindgebiet. Das einzige Sehenswerte, mit dem ich ihm aufwarten konnte, war eine Kolonne deutscher Kriegsgefangener, die sozusagen vor unseren Augen drüben, nordostwärts Krymskaja, für den Iwan eine Straße bauen – eine Panzerstraße, wie mir scheint.«

Leutnant Lemke knurrte einen Fluch. »Verdammt weit haben wir’s gebracht. Was meinte denn der Herr Oberst? Hat er sich nicht überlegt, was man für die armen Teufel tun könnte?«

»Er hat zähneknirschend seine Machtlosigkeit verwünscht. Gut gesagt, was?«

Lemke lachte hart auf. »Sehen Sie, da liegt der Hund begraben. Er möchte gern, aber er kann nicht. Ich bin im Übrigen kein Defätist. Wenn es vorwärtsgeht, bin ich der Erste an der Spritze. Aber ich sehe keine allzu großen Möglichkeiten mehr. Ich glaube, wir können auf die Dauer froh sein, wenn es uns gelingt, den Frontbogen von Noworossijsk bis zum Asowschen Meer zu halten. Wie sieht’s denn augenblicklich aus?«

»Mehr als mulmig«, sagte ich. »Der Feind greift jetzt fast täglich an. Was hier am Kubanbrückenkopf in unseren Kampfgräben liegt, sind lauter Experten, lauter Spezialisten für die Nahverteidigung. Der Einzelkämpfer hat hier das Licht der Welt erblickt. Die Kompanie, die Sie übernehmen, ist ein wilder Haufen. Kaum einer ist darunter, der sich nicht schon von einem T 34 oder einem der neuen Shermans hat überrollen lassen. Klänge es nicht allzu makaber, würde ich sagen, mancher macht sich einen Spaß daraus, so einen Russenpanzer über sich wegfahren zu lassen und dann wie Phönix aus der Asche mit Handgranaten oder MG aufzustehen, wenn die lehmbraune Welle nachkommt. Man könnte mit einer großen Kiste voller Eiserner Kreuze durch die Stellung gehen und jedem eines anhängen. Hier ist ja schon manchmal der Weg zur Latrine eine Ritterkreuzangelegenheit. Sie werden es erleben. Man sitzt auf dem Balken, und ringsherum kracht es, dass die Fetzen fliegen.«

»Wirklich ein freundlicher Ort«, sagte Lemke ungerührt.

Im Bunkereingang erschien der Melder, der den neuen Kompanieführer vom Kompanietross heraufbegleitet hatte. Er baute sein Männchen und brachte dann eine Krankentrage als Schlafplatz und das Gepäck des Leutnants, einen Rucksack mit aufgebundenem Stahlhelm, einen grauen Wäschebeutel und einen nagelneuen Schlafsack aus der Heereskleiderkammer. Dazu die Maschinenpistole, die der Leutnant beim Tross empfangen hatte. Lemke nahm den Wäschebeutel auf die Knie und kramte darin herum. Er förderte eine Kognakflasche zutage, eine Hunderterpackung Krim-Zigaretten und ein in Wachstuch eingeschlagenes Päckchen. »Jetzt wollen wir zum Einstand einen trinken«, sagte er. »Oder sind Sie Abstinenzler, Herr Emser?«

»Bewahre«, sagte ich. »Bin jederzeit dabei, vorausgesetzt, dass uns der Iwan in Ruhe lässt.«

Leutnant Lemke legte den Wachstuchpacken auf den Tisch. »Wissen Sie, was da drin ist? Aufzeichnungen. Im Lazarett habe ich angefangen, Buch zu führen – das persönliche Kriegstagebuch des Leutnants Lemke. Cherson war für meine Studien ein äußerst interessanter Platz. Es gab dort ein paar Goldfasane, die alle im Osten dick und fett geworden sind, dunkelbraune Herren von der Zentraleinkaufsgenossenschaft: Ost, ZO genannt, Landwirtschaftsführer, die in Butter, Eiern und Honig schwelgten, und es gab ein Wiedersehen mit einem ›Ausflieger‹, der in Gumrak, dem letzten Flugplatz von Stalingrad, in die gleiche Maschine wie ich geriet. Der Unterschied war nur, dass wir hineingehoben wurden, während er mit einem Pflästerchen am Ohr auf seinen beiden Beinen die Treppe hochkam. Sie werden es nicht glauben, Herr Emser: ein ausgewachsener General. Natürlich hat er mich nicht wiedererkannt. Er saß noch in Cherson, als ich abfuhr, und wartet dort wohl auf ein neues Kommando. Vielleicht hofft er ja auch, dass der Krieg aus ist, bis sich etwas Neues für ihn findet. Die Verluste unter der Generalität sind ja bei Weitem nicht so hoch wie die unter den Landsern, schätze ich. Ich möchte übrigens seinen Namen nicht nennen. Vielleicht sollte man auf keinen, der Stalingrad mitgemacht hat, einen Stein werfen. Die Panik und der Schock waren unbeschreiblich! Da konnte man schon die Nerven und das Rückgrat verlieren. Aber es hat auch solche gegeben, die ihre Haltung bewahrt haben – bis zum Untergang. Ja, sehen Sie, und auf diesen losen Blättern hier habe ich meine Beobachtungen niedergelegt. Vielleicht könnte später einmal ein Erinnerungsbuch draus werden. Wer weiß?«

Leutnant Lemke entkorkte die Kognakflasche, und ich holte von dem Wandbrett über meiner Schlafpritsche zwei von den Gläsern, die ich sorgsam gehütet hatte, als ich noch Regimentsadjutant gewesen war. Es waren die beiden Letzten. Der Kognak stammte aus Frankreich, Marke »Hennessy«, in jeder besseren Wehrmachtsmarketenderei des Hinterlandes zu finden.

Wir stießen miteinander an. »Auf den Kubanbrückenkopf«, sagte Lemke, bevor er trank, »auf dass er wachse und gedeihe!«

Vom Nachbarbunker, in dem der Kompanietrupp untergebracht war, kam Feldwebel Suhrmann. Leutnant Lemke füllte sein Glas erneut und reichte es dem Kompanietruppführer. Doch ehe der Feldwebel das Glas ansetzte, meldete er mit ernster Miene, die Gefechtsvorposten hätten wieder einmal verdächtige Truppenbewegung auf der Straße Krymskaja-Kiewskoje beobachtet. Ich stand auf, ging zum Kompanietrupp und läutete den Artilleriebeobachter an, einen frisch beförderten Wachtmeister, der seit zwei Wochen auf unserer Höhe saß.

»Weiß schon, Herr Oberleutnant«, sagte der vorgeschobene Beobachter am anderen Ende der Leitung. »Leider nichts zu machen. Die Muni-Zuteilung für Störungsfeuer ist bereits verschossen. Fragen Sie doch mal beim Batteriechef an. Vielleicht gibt er im Vorgriff auf morgen ein paar Schuss frei.«

»Besten Dank«, sagte ich. »Und wenn dann morgen früh die Russen angreifen, hat das Sperrfeuer so viele Lücken, dass man drüber lachen kann.«

»Zum Kotzen, Herr Oberleutnant«, gab der Wachtmeister zu. »Aber Munition für die Ari ist nun mal Mangelware.«

Ich hängte ein, läutete ab und ging in meinen Gefechtsstand zurück. Der Feldwebel saß bei Leutnant Lemke am Tisch. Ich setzte mich zu den beiden. Mein Glas war wieder voll.

»Überall ist das Hemd zu kurz«, sagte ich.

»Wie immer«, meinte Feldwebel Suhrmann und lachte. Er war ein Kerl wie ein Baum, hünenhaft und unerschütterlich. Trotz seiner Länge war er noch niemals verwundet worden, obwohl er seit Beginn des Krieges am Feind war.

Lemke und Suhrmann tranken abwechselnd. Der Leutnant mit dem zerstörten Gesicht schien unendliche Mengen vertragen zu können. Suhrmann dagegen wurde sehr rasch blau. Ich bat ihn, sich etwas zurückzuhalten. Mit Betrunkenen ist schlecht Krieg zu führen, und alles deutete darauf hin, dass die Russen zu meinem Abschied noch einmal auf die Pauke schlagen würden.

Suhrmann stand sofort auf. »Sie haben recht, Herr Oberleutnant. Zu tief ins Glas geschaut, kostet mitunter die Haut. Lieber als einen zu heben, bleib ich am Leben.«

Er sprach, wenn er in Stimmung war, gern in Versen, die freilich zuweilen beachtlich unanständige Wendungen brachten.

Er verließ uns, und Leutnant Lemke drückte den Korken in den Flaschenhals. »Wollen wir nicht jetzt gleich mal einen Gang durch die Stellung machen?«, schlug er vor. »Sie können dann, wenn’s dunkel wird, Ihr Päckchen nehmen und gehen.«

»Sehr freundlich gemeint«, versetzte ich, »aber ich bleibe doch lieber bis morgen und zeige Ihnen, wie man hier den Laden schmeißt, wenn die Russen kommen.«

Wie jeden Nachmittag gegen fünf Uhr begann auf russischer Seite ein schweres Geschütz zu feuern. Die Landser nannten es aus unerfindlichen Gründen »Frau Stalin«. Die Einschläge hallten, als ob ein gigantischer Vorschlaghammer auf einen Riesenamboss niederfällt. Sie lagen – wie stets – weiter rückwärts auf der Nachschubstraße, auf der allerdings am hellen Tag nur wenig Verkehr war. Die Straße, die man nach dem Kommandierenden General des Jäger-Korps de Angelis benannt hatte, war deutsche Wertarbeit. Baupioniere hatten sie geschaffen, nachdem die Stellungen von Krymskaja auf den westlich davon ansteigenden Höhenzug zurückgenommen worden waren. Es war eine Straße mit festem Unterbau, dem auch keine Regenperiode etwas anhaben konnte. An Regen allerdings herrschte hier ebensolcher Mangel wie an schwerer Munition. Seit vielen Wochen war kein Tropfen gefallen. Staubtrocken wellte sich das Hügelland unter dem strahlenden Sommerhimmel. Es schien völlig unbewohnt. Nur Selbstmörder präsentierten sich hüben und drüben offen in der Landschaft. Alles Leben in der Hauptkampflinie bewegte sich in mannstiefen Laufgräben, von denen Sappen abzweigten, an denen die Bunker angelegt waren. Auch meine Behausung sowie der Unterstand des Kompanietrupps und der Sanitätsbunker lagen an einem solchen Stichgraben.

Zur vordersten Linie waren es kaum mehr als fünfzig Meter. Normalerweise war die Entfernung in Sekunden zu bewältigen. Wenn jedoch die russische Artillerie trommelte, dehnte sich die kurze Strecke ins Endlose. Einmal, zu Beginn eines Überraschungsangriffs, hatte ich eine halbe Stunde gebraucht, bis ich von meinem Bunker in den Kampfgraben gekommen war.

Obwohl der Laufgraben so tief war, dass nicht einmal Feldwebel Suhrmann darüber hinwegschauen konnte, bewegten wir uns geduckt wie Indianer auf dem Kriegspfad. Leutnant Lemke war hinter mir. Als Letzter folgte Suhrmann, auch er mit dem Geländehut, der für seinen großen Kopf zu klein war und draufsaß wie ein Karnevalshütchen.

Ich erklärte Lemke die Gegend: »Wenn Sie den Kopf ’rausstrecken, sehen Sie eine Art Mondlandschaft – Krater an Krater. Auch vorn vor der Stellung hat der Iwan, wie Sie gleich sehen werden, ein Trichterfeld geschossen, das sich wie ein Sturzacker mit Leichenteilen ausnimmt. Nacht für Nacht müssen unsere Pioniere den Draht neu aufrichten, denn auch das Drahthindernis trommelt er in den Dreck. Augenblicklich scheint er es auf uns abgesehen zu haben. Seitdem ihn die 97er Jäger von der Höhe 114,1 wieder ’runtergeboxt haben, versucht er es bei uns. Sie werden bewegte Zeiten vor sich haben, Herr Lemke.«

»Schade«, sagte der Leutnant aus Stalingrad, »und ich dachte, ich käme in eine Sommerfrische. Vielleicht ist das Beste, ich gebe den Russen eins auf die Nase, damit sie sich einen anderen Abschnitt aussuchen.«

»Und wie denken Sie sich das?«, fragte ich belustigt.

»Kleiner Spaziergang hinüber«, sagte er. »Vielleicht mal nachts, wenn ein Wölkchen vor dem Mond schwimmt.«

»Wir haben jetzt Neumond«, warf ich ein.

»Umso besser«, sagte er mit jener Gelassenheit im Tonfall, die nur diejenigen zustande brachten, die hundertfach abgebrüht waren und längst das Fürchten verlernt hatten. Ich konnte ihn mir vorstellen, wie er sich im Frost jenes verdammten Januars zwischen den Trümmern bewegte, die von Stalingrad übriggeblieben waren. MG-Feuer mochte für ihn nicht mehr als ein Platzregen sein. Wäre er nicht in der Geisterstadt auf eine Mine getappt, würde er sicherlich zu denen gehört haben, die sich dann am Schluss doch noch durchgeschlagen hatten – kleine, verlorene Trupps armseliger Gestalten, die sich mit der Verbissenheit versprengter Wölfe den Weg aus dem Massengrab an der Wolga ins Leben gebahnt hatten.

Wir suchten an den Abzweigungen die Mannschaftsbunker auf, in denen die Männer meiner Kompanie – insgesamt drei schwache Züge nebst einem Granatwerfer- und einem SMG-Trupp – auf ihrem Strohlager dösten. Sie standen auf, als wir eintraten. Lemke gab jedem Einzelnen die Hand. Sie musterten ihn mit kalten, prüfenden Blicken. Seine entstellende Verwundung schien sie weder zu stören noch zu beeindrucken. Wichtig war für sie nur, ob er den Ansprüchen genügte, die sie an einen Kompanieführer stellten. Sie waren hart, zynisch und ohne jede Spur von Sentimentalität. Der Begriff Kameradschaft war nur noch bedingt auf das Zusammengehörigkeitsgefühl anwendbar, das sie wie eine eiserne Klammer verband. Ein jeder wusste, dass der Einzelne nichts war, dass sie den verdammten Krieg nicht überleben konnten, wenn sie nicht zusammenhielten. Von den Vorgesetzten, die es im ursprünglichen Sinne gar nicht mehr waren, erwarteten sie, dass sie stets im richtigen Augenblick die einzig mögliche Entscheidung trafen. Ihre Illusionen, die ihnen vielleicht einmal vorgeschwebt haben mochten, waren in den rauen Stürmen des Ostens erloschen wie Kerzenflammen, die noch eine Zeit lang flackern, bis ein allzu heftiger Windstoß sie ausbläst. Sie glaubten nicht mehr an die verschwommenen Ideale, die ihnen in langen Jahren eingetrichtert worden waren. Ihr neues Evangelium war die Feuerkraft des MG 42. Ein schwerer, verlustreicher Rückzug lag hinter ihnen, der Rückzug aus dem westlichen Kaukasus. Und nun hatten sie einen überlegenen Feind vor sich, der alles daransetzte, Malaja Ssemlja – die Kleine Erde, wie die Russen den Kubanbrückenkopf nannten – einzudrücken. Im Rücken aber war ein Streifen Meerwasser – die Straße von Kertsch.

Leutnant Lemke fand zu meiner Genugtuung sofort Kontakt zu den rauen, oftmals bockigen, verschlossenen Landsern. Als wir dem Kampfgraben zustrebten, sagte er: »Ein brauchbarer Verein. Ich seh’ schon, mit diesen Burschen kann man den Teufel tanzen lassen.«

Die Prüfung war also von beiden Seiten vorgenommen worden. Ich war zufrieden. Lemkes günstiges Urteil bedeutete, dass er sich schon jetzt nicht mehr als Fremder fühlte.

Der Graben, der sich auf der Höhenrippe hinzog, war tief, aber so schmal, dass jeweils nur ein Mann darin Platz hatte. Selbst bei schwerstem Artillerie- und Granatwerferfeuer bot er ausreichenden Splitterschutz, und gegen Volltreffer war ohnehin kein Kraut gewachsen. An der vorderen Grabenwand waren in kurzen Abständen Stufen in den steinigen Boden geschachtet, die den Posten als Podest dienten und im Gefecht die sonst üblichen hölzernen Sturmleitern ersetzten. Zehn leichte MGs, das SMG und der schwere Granatwerfer waren eingebaut.

Die Posten beobachteten aufmerksam den von Granateinschlägen zerwühlten, leicht abfallenden Hang, der keine Spur von Gras mehr aufwies. Der Hang war bis hinunter zur Niederung Niemandsland. Tote Rotarmisten verwesten in der Sommersonne. Am Saum der Ebene, die sich weit bis zum Kuban und darüber hinaus hinzog, erstreckte sich ein Wäldchen, in dem sich der Gegner oftmals nachts bereitstellte, bevor er im Morgengrauen den Hügel heraufkam. Das Städtchen Krymskaja, in dem im späteren Frühjahr mörderische Kämpfe getobt hatten, war durch einen Vorsprung des Höhenzuges verdeckt.

Der Nachmittag war föhnig klar. Der Himmel, an dem vereinzelte linsenförmige weiße Wolken segelten, leuchtete türkisblau im Sonnenlicht. Ich stieg zu dem Posten hinauf, der am Scherenfernrohr stand. Er überließ mir seinen Platz. Die Straße, die hinter dem Wäldchen hervorkam, zog sich unter einem Staubschleier nach Norden. Der Staub allein bestätigte die Wahrnehmungen, die Feldwebel Suhrmann gemeldet hatte. Welche Frechheit, am hellen Tag vor unseren Augen die Straße zu benützen! Der Nachrichtendienst des Feindes arbeitete verteufelt gut. Die drüben wussten genau, dass unsere Artillerie erst dann Schießerlaubnis erhielt, wenn der Ofen schon beinahe ausgegangen war.

Ich stellte die Gläser etwas höher ein. Im öden graugrünen Brachland der Niederung, das kaum Wald und nur stellenweise kärgliche Büsche trug, sah man einen hellen Streifen, auf dem sich graue Gestalten mit marionettenhafter Betriebsamkeit bewegten. Sie karrten Steine, ebneten sie ein, schleppten Walzen und schwangen Schaufeln und Pickel. Man hörte förmlich das »Dawai! Dawai!«, mit dem die russischen Posten die Gefangenen antrieben, die im Widerspruch zum geltenden Völkerrecht in der Kampfzone eine Straße für Kriegszwecke bauen mussten. Aber was war in diesem Krieg schon noch »Recht«?

Ich trat zurück und winkte Leutnant Lemke an die Schere. »Dort drüben sind sie«, sagte ich. »Es dürften ein paar hundert Mann sein.«

Leutnant Lemke stieg hinauf, spähte eine Zeit lang durchs Scherenfernrohr, wie um sich den Anblick der gefangenen Landser für immer einzuprägen, und beobachtete dann mit bloßem Auge das Vorgelände. In einer Tiefe von etwa zehn Metern war es mit einem unentwirrbaren Geschling von Stacheldraht gesichert. Aber auch das war kaum mehr als eine Illusion. Wenn die Russen zu trommeln begannen, rissen die Granaten breite Breschen in das Drahthindernis.

Schweigend kam Leutnant Lemke herunter auf die Grabensohle, und der Posten nahm wieder seinen Beobachtungsplatz ein. Wir kehrten zum Gefechtsstand zurück. Feldwebel Suhrmann begab sich zum Kompanietrupp, wo gerade der Fernsprecher läutete.

»Das Bataillon«, sagte Suhrmann, indem er mir, als ich hinzukam, den Handapparat reichte. Am anderen Ende der Leitung war Leutnant Stapf, der Adjutant.

»Wie sieht’s bei Ihnen aus?«, fragte er.

»Mittelkomisch«, antwortete ich. »Bin gerade mit Leutnant Lemke durch die Stellung gegangen. Aber akut braut sich da wohl nichts zusammen.«

»Dann können Sie ja übergeben«, meinte Stapf. »Die Division hat schon wieder nach Ihnen gefragt. Wenn Sie jetzt losmarschieren, sind Sie in ’ner Stunde bei uns.«

»Herr Stapf«, warf ich ein, »ist es denn wirklich so eilig? Ich habe so ein Gefühl in den Knochen, dass mit Besuch zu rechnen ist. Ein Neuer, der diesen Zinnober noch nicht durchgestanden hat, könnte da leicht in Teufels Küche kommen. Haben Sie was dagegen, wenn ich noch bis morgen früh bleibe, Herr Stapf?«

»Augenblick mal«, sagte der Adjutant, dann meldete er sich wieder. »Der Herr Major ist einverstanden. Wird zwar vermutlich Stunk geben, aber er teilt Ihre Befürchtung, Herr Emser. Ihr Nachbar zur Linken hat auf der Straße nach Kiewskoje Marschkolonnen und Fahrzeugverkehr beobachtet. Die starke Staubentwicklung lässt allerdings keine Einzelheiten erkennen. Da müsste man ein paar Lagen hinüberpfeffern.«

»Müsste man«, bestätigte ich. »Aber ist nun mal nicht, Herr Stapf. Die Ari könnte sich als Sparverein eintragen lassen.«

»Halten Sie uns auf dem Laufenden, Herr Emser«, sagte Leutnant Stapf, ohne auf meine bissige Bemerkung einzugehen. »Wenn erforderlich, durch Funk. Wir gehen für alle Fälle ab sofort auf Empfang. Ende.«

Ich nahm den Stahlhelm ab und betrat den kleinen Bunker, in dem ich lange Zeit zu Hause gewesen war. Leutnant Lemke griff zur Kognakflasche und füllte die Gläser. »Vorzüglicher Anschauungsunterricht«, sagte er. »Hier hat man sozusagen ständig vor Augen, was einem blüht, wenn man sich vom Iwan schnappen lässt. Vielleicht sind die armen Teufel Überlebende von Stalingrad.« Er hob gedankenvoll sein Glas.

»Warum sind Sie eigentlich wieder herausgekommen an die Front?«, fragte ich. »Sie hätten es doch nicht mehr nötig gehabt.«

Er blickte an mir vorbei zum Bunkereingang. »Ja – warum? Denken Sie einmal ein bisschen nach, Herr Emser. Schauen Sie mich doch an! Hätten Sie Lust, mit einem solchen Gesicht nach Hause zu gehen? Ich bin ja – Gott sei Dank – nicht verheiratet. Meinem Mädel habe ich was vorgemacht. Hat keinen Zweck mehr mit uns und so. War sicher ein böser Schlag für sie. Aber was hätte sie erst empfunden, wenn sie mich so gesehen hätte? Mitleid – nein, Mitleid könnte ich nicht ertragen.« Er leerte sein Glas mit einem Schluck, wie um einen bitteren Geschmack hinunterzuspülen. »Ave Adolf«, sagte er ironisch, »morituri te salutant.«

Ich hatte selten einen Offizier getroffen, der mit solchem Freimut lästerte. Auf einmal begann er zu lachen. »Alles Quatsch. Schließlich leben wir ja noch, nicht wahr? Versuchen wir also, das Beste draus zu machen.«

Ich ging hinüber zum Kompanietrupp, um den letzten Schreibkram zu erledigen. Seit September 42 hatte ich die Kompanie geführt, zuerst in den Waldbergen des pontischen Kaukasus, dann auf dem Rückzug durch die teils verschlammte, teils gefrorene Steppe. Die Kompanie hatte ihr Gesicht verändert in dieser Zeit. Viele Gräber hatten wir zurückgelassen auf unserem Weg. Zahlreiche Verwundete waren abtransportiert worden und nie wiedergekehrt. Aber ein großer Teil vom alten Stamm war noch vorhanden. Wir hatten miteinander Weihnachten und Neujahr gefeiert. Die Not hatte uns aneinandergekettet, und nun sollte ich davongehen, während sie alle zurückblieben in der Hauptkampflinie.

Nachdem ich die letzte Unterschrift als Kompanieführer geleistet hatte, fragte Feldwebel Suhrmann: »Soll Sie jemand von uns bis zum Tross begleiten, Herr Oberleutnant?«

»Vorerst bin ich ja noch hier«, entgegnete ich. »Und wenn ich gehe – meinen Rucksack kann ich gut allein tragen.«

»Wollen Sie denn noch bleiben?«, fragte Suhrmann erstaunt.

»Ja«, sagte ich, »wenigstens über Nacht. Sozusagen als Schutzengel.«

Der Feldwebel schüttelte den Kopf. »Das müsste mir mal passieren! Wenn ich mal versetzt werden sollte, dann nichts wie ab durch die Mitte.« Doch nachdenklich fügte er hinzu: »Für die Männer ist es sicher ’ne Beruhigung, Herr Oberleutnant. Nichts gegen Ihren Nachfolger. Er sieht bestimmt nicht so aus, als ob er eine Niete wäre. Aber die Leute kennen Sie schon so lange. Wir haben so viel miteinander durchgestanden. Glauben Sie, dass der Iwan kommt?«

»Ja«, sagte ich, »es ist wohl anzunehmen.«

Bewegung auf der Straße bedeutete Bereitstellung von Angriffstruppen. Günstigsten Falles betraf es einen benachbarten Abschnitt. Doch auch, wenn es so käme, müsste ich zur Stelle sein, um Leutnant Lemke die nötigen Tips zu geben. Hatte er das erst einmal hinter sich, war alles einfacher für ihn.

Als ich in meinen Bunker kam, lag Leutnant Lemke in seinem Schlafsack auf der Krankentrage. Er schlief fest. Der Inhalt der Kognakflasche hatte sich beträchtlich verringert. Wenn der neue Kompanieführer, der so unbekümmert schlief, als befände er sich irgendwo in Sicherheit und nicht in einem vom Krieg überzogenen, von Granaten zerwühlten Land, von der langen Reise übermüdet war, bestand für mich umso mehr Anlass, auf dem Posten zu bleiben und die Augen offen zu halten. Als ich die Kompanie übernommen hatte, damals, 42, im September, war alles anders gewesen. Mein Vorgänger war gefallen. Oberfeldwebel Schlemm, der dann später während eines Nachtgefechts in den Waldbergen spurlos verschwand, hatte die Kompanie drei Wochen lang geführt und war erleichtert gewesen, die Verantwortung loszuwerden. Ich fragte mich, ob es wirklich die Sorge war, die mich in der Stellung festhielt, oder ob ich mich so sehr an meinen Haufen gewöhnt hatte, dass es mir nun schwerfiel, ihn von einer Stunde zur anderen zu verlassen. Wäre es übrigens nicht diese Kompanie gewesen – wäre ich nach meiner Verwundung bei der Mai-Offensive des Jahres 1942 am Donez zu meinem alten Regiment zurückgeschickt worden, würde vermutlich die letzte Station meiner militärischen Laufbahn Stalingrad geheißen haben. Denn dort war mein altes Regiment mit allen geblieben. Es berührte mich seltsam, dass Leutnant Lemke, mein Nachfolger, ausgerechnet von dort herkam – vom Schlachtfeld an der Wolga, wenn auch auf dem Umweg über das Lazarett und die Führerreserve der Heeresgruppe.