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Nadine Roux

Schneeflockenwalzer in Paris





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Prolog

„Bitte finden Sie sich in Paris ein, 15. Dezember um 16 Uhr am Gare du Nord. Die Adresse ist diesem Umschlag zu entnehmen. Hochachtungsvoll, Aurélie Marchand.“

In der Tat fand sich hinter dem Nachnamen ein Punkt und das „Hochachtungsvoll“ wirkte wie fehl am Platz in dieser weißblauen Landschaft aus Papier und Füllfederschrift, die mit aller Hast gezeichnet worden war. Anna las diese kurzen Sätze erneut und alles um sie herum wurde unwichtig. Das hier war ein Ereignis, das ihren Alltag durchbrach und jenseits ihrer Vorstellungskraft lag. Dass es ein solches überhaupt geben konnte, brachte sie aus der Fassung. Es half auch nicht, dass sie wie jeden Abend Heißwasser für Kamillentee aufsetzte und sorgsam einen gestrichenen Löffel Honig abmaß, zweimal, dreimal tunken und drehen, bis die stets identische Menge darauf haften blieb. An diesem Abend musste sie den Hebel des Wasserkochers dreimal umlegen, um das kalte Wasser wieder neu zu erwärmen, denn während sie darauf wartete, drehte sie immer wieder die Karte in den Händen. Ein Umschlag aus Paris, unzweifelhaft, Poststempel logen nicht. Eine schief aufgeklebte blaue Marianne, eine Adresse am Montmartre als Absender. Es war alles wahr. Trotzdem schien es ihr unmöglich und geradezu absurd. Warum sollte sie, Anna, hier in ihrem winzigen Haus in der Einöde der Elbmarsch an einem windigen Dezemberabend einen Brief aus Paris bekommen? Einen, der unvorsichtig auf eine amerikanische „Happy Thanksgiving“-Karte gekritzelt war. Und von einer Fremden stammte. Alles war rätselhaft, äußert rätselhaft. Bis auf ein Detail. Marchand – der Name war ihr nicht unbekannt und als ihr langsam dämmerte, dass diese ganze Sache wohl genau damit zu tun hatte, wurde ihr ungemütlich in der Magengegend und als sie das vierte Mal das Wasser zum Kochen brachte, tauschte sie den Kamillentee gegen Anis-Fenchel-Kümmel aus. Sicher war sicher, vielleicht war es eine Magenverstimmung. Hoffentlich war es nur eine Magenverstimmung. Und hoffentlich verschwand der Brief in der Nacht und stellte sich als Albtraum heraus. Zu sehr hatte sie im Laufe eines Jahres versucht, die Erinnerungen an letzte Weihnacht auszulöschen, sie zu überwinden wie einen Berg, den es hier im Flachland natürlich nicht gab. Es gelang ihr nur so halbgut und schuld daran war tatsächlich ein französischer Name.

 

Erstes Kapitel

Letztes Jahr

 

Im Jahr zuvor hatte Anna nicht einmal einen Gedanken an französische Namen verschwendet und hätte man sie nach einem gefragt, wären ihr mit Glück jene von Präsidenten oder Schriftstellern eingefallen und sie wäre ganz besonders stolz darauf gewesen, sich noch an den der Familie aus ihrem Schulbuch zu erinnern. Sorel. Grünes Buch, mit einem Chanson pro Schuljahr am Ende. Gelächter der Schüler, wenn die Schmonzetten aus dem Kassettenrekorder schallten. Das war fast fünfzehn Jahre her. In der Zwischenzeit hatte sich Anna die Zeit vertrieben mit Studieren, Jura, und Arbeiten, als Rechtsanwältin für Verkehrsrecht. Ihre Kanzlei lief gut, an Unfällen und Rasereien mangelte es hier auf dem Land nie. Das Büro war ein Dorf weiter strategisch an einer Landstraße gelegen, direkt hinter dem fest installierten Blitzer. Das jedoch war schon Annas einziger Coup, ihre einzige gerissene Idee, die sie je gehabt hatte. Sie machte Verkehrsrecht, weil es nach festen Mustern ablief. Einspruch einlegen, Messung anzweifeln, Einstellung erwirken. Oder Unfälle: Akte anfordern, mit Kunden besprechen, Geld von Versicherungen erhalten oder eben nicht. Selbst Gerichtsverhandlungen waren stets gleich. Sie liebte es.

Am Freitag vor Weihnachten war ihr letzter Arbeitstag und nur wenige Mandantengespräche standen in ihrem Terminkalender. Dafür sorgte sie immer und es machte ihr ausnahmsweise nichts aus, Termine abzulehnen, wenn es um Weihnachten ging. Ein Glück, dass sie keine Sekretärin hatte, die es sich womöglich noch erlaubte, auf Bitten und Flehen verzweifelter Kunden ein Gespräch am Freitag vor Weihnachten und nach 15 Uhr in den Plan zu schreiben. Während Anna selbst überaus anfällig war für derlei Maschen und immer Mitgefühl mit ihren Mandanten hatte, war sie in Bezug auf Weihnachten rigoros.

Gedankenverloren zupfte sie an dem kleinen Gesteck aus Tannenzweigen herum, das sie zwischen die ordentlich Ecke-auf-Ecke gelegten Papierstapel gestellt hatte. Draußen schneite es seit Stunden. Die Vorgärten des kleinen Dorfes wurden eins mit der Straße, nur hin und wieder versuchte sich ein Fahrzeug daran, Reifenspuren auf das Weiß zu bannen. Zehn Minuten später als geplant traf der letzte Mandant des Tages ein und schüttelte schon draußen angenervt Schneeflocken von seiner Mütze.

„Hey Willy“, flüsterte Anna dem Rauhaardackel zu, der faul in seinem Körbchen in der Ecke des Büros lag. „Kundschaft! Und danach geht es nach Hause.“ Bei den letzten Worten fiepte Willy ganz aufgeregt und klopfte mit dem Schwanz auf das kuschelige Polster seines Korbs.

Anna machte sich auf ein Klopfen gefasst und setzte schon an, um „Herein“ zu rufen, als die Tür aufflog.

„Ich habe keine Zeit und dann schneit es auch noch wie blöde. Ein Sauwetter.“ Arno Matthis aus Hamburg, las Anna in ihren Unterlagen. Verkehrsunfall mit Blechschaden. Das Auto, das vor ihrer Kanzlei parkte, sah jedoch intakt und neu aus. Jedenfalls war er gleich bei ihr unten durch, denn Anna liebte Schnee. Der Mandant ließ sich auf den Stuhl fallen und Schneebrocken spritzten aus seiner Jacke heraus. Erst dann fiel ihm auf, dass er die gebotene Hand seiner Anwältin zur Begrüßung annehmen sollte.

„Haben Sie gut hergefunden, Herr Matthis?“

„Ja ja, alles bestens.“ Er musterte sie und Anna sah, dass er schwankte, sie als kompetent oder inkompetent zu beurteilen. „Is‘ ja nicht weit von Hamburg hier in die Provinz. Ihr Mandant Stefan Winkelmann hat Sie empfohlen.“

Die Empfehlung überhörte sie. Provinz. Typisch Großstädter. Anna hätte mit den Augen gerollt, wäre sie nicht bei der Arbeit gewesen. Immerhin war das hier ein zahlender Kunde.

„Sie hatten den Unfallhergang am Telefon schon kurz geschildert. Sie waren auf dem Weg nach Lüneburg zum Weihnachtsmarkt, als Ihnen auf der Landstraße bei Glatteis ein Kleinwagen ins Heck fuhr. Ist das korrekt?“

„Ja, so war es. Ich möchte auch gar keine Welle machen deswegen, wissen Sie, Frau...“ Er las das Namensschild, das für Fälle wie diesen auf ihrem Tisch stand. „...Windt. Der Schuldige hat gestanden und schon alles seiner Versicherung gemeldet, es sollte kein Problem geben.“ Er versuchte sich an einem gewinnbringenden Lächeln, aber es wurde schief und verhuscht.

Anna nahm die Lesebrille ab und faltete die Hände. „15.000 Euro Sachschaden sind nicht gerade wenig.“ Sie suchte sein Gesicht nach Spuren des Ärgers ab, den ein solcher Unfall unweigerlich mit sich brachte, aber Fehlanzeige. Seine Genervtheit schien sich nur darauf zu beziehen, dass es draußen schneite und er wohl auch etwas Besseres vorhatte, als hier bei ihr in der Kanzlei zu sitzen.

„Ach, das passiert.“ Er machte eine abwehrende Geste. „Alles halb so schlimm. Er hat ja gestanden“, betonte er erneut.

„Zeugen?“

„Nein. Er hat gestanden. Das reicht doch.“

„Post von der Versicherung?“

„Noch keine.“

Anna sah auf ihre Uhr. Es war längst drei und sie wurde nervös. Noch nie hatte sie am letzten Arbeitstag vor Weihnachten so lange in der Kanzlei gesessen. Der Gedanke an warmen Kakao und Vanillekipferl drängte sich in ihr Bewusstsein.

„Gut, Herr Matthis. Ich kümmere mich um alles. Bitte unterschreiben Sie die Vollmacht hier und überlassen alle Korrespondenz mit der Versicherung und Sachverständigen mir. Ich boxe Sie da raus.“ Anna hatte zu Beginn ihrer bescheidenen Karriere als Wald- und Wiesenanwältin einen Kommunikationskurs gemacht, um ihre Schüchternheit zu überwinden, die in ihrem Beruf keinen Platz hatte. Dort hatte sie allerhand Metaphern gelernt, die sie stets in ihre Gespräche einstreute und die verblüffenderweise immer Wirkung zeigten, wo sie sich selber als unempfänglich für derlei Plattitüden bezeichnen würde.

„Großartig!“ Das Lächeln auf Arno Matthis‘ Gesicht war endlich echt und er verabschiedete sich beinahe überschwänglich.

Anna faxte in aller Eile ihr Anspruchsschreiben an die gegnerische Versicherung und löschte dann alle Kerzen. Nichts war weihnachtlicher als der herbe Geruch erloschener Kerzen. Sie schloss die Tür ihres Büro und seufzte. Jahresende. Weihnachten. Pause.

 

Zweites Kapitel

Heute

 

Nun war es ein Jahr später, Weihnachten stand vor der Tür und die Dekoration ihres kleines Häuschens schien Anna plötzlich viel zu grell und kitschig zu sein. Der mit einer Lichterkette geschmückte Korbschlitten im Garten. Die Paillettenkugeln am Fenster. Die Wattebäusche im Fensterkreuz. Alles erschien ihr dumpf, die Weihnachtsstimmung wollte in diesem Jahr nicht aufkommen. Das hing nicht nur mit dem ominösen Brief zusammen, sondern auch mit dem anderen, den sie auf ihrem Schreibtisch im Schlafzimmer seit einigen Tagen hin- und herschob und der immer noch wirkte, als würde er brennen. Egal wohin sie ihn schob, immer drängte er sich in ihre Augenwinkel. Es war das Protokoll ihres Scheiterns, ihr Ende, ihr Tod. Gegen diesen Giftbrief von der Staatsanwaltschaft war die Thanksgivingkarte aus Paris nichts. Natürlich hatte sie sofort Einspruch eingelegt und in einer sehr persönlichen Antwort dargelegt, weshalb sie unschuldig war. Aber leider war ihr eigener Beweis nur eine Beteuerung, die wie eine Ausrede wirkte. Wegen Weihnachten. Sie habe ihren Job schlecht gemacht, nicht aufgepasst. Wegen Weihnachten. Weil sie nach Hause wollte und natürlich auch, weil diese Unfallgeschichten immer gleich waren, wer denke denn da an Böses? Und Herr Matthis habe so freundlich gewirkt (Das war gelogen, das wusste sie), dass sie es nicht für möglich gehalten habe, dass er ein Betrüger sei, mit dem sie unter einer Decke stecken sollte. Es war wie im Film, ihr fiel nichts anderes ein, als der Spruch „Ich war es nicht, ich bin unschuldig.“ Das war eine unfassbar dünne Argumentation und in noch schwächeren Momenten als sowieso schon, seitdem der Brief ins Haus geflattert kam, sah sie sich vor ihrem geistigen Auge in einer Zelle sitzen und als Highlight des Tages Jutebeutel zusammennähen. Matschige Eintöpfe aus Blechnäpfen essen. Mit Blick in den Hof nur durch Eisenstäbe hindurch. Dabei war das nicht die übliche Strafe für Versicherungsbetrüger, aber zur Sicherheit musste man vom Schlimmsten ausgehen. So war Anna. Das Beste hoffen, vom Schlimmsten ausgehen.

Draußen stürmte es ununterbrochen. Die letzten Herbstblätter wehten durch den Garten und nichts deutete darauf hin, dass Weihnachten vor der Tür stand. Grüne Festtage waren hier im Norden mehr als üblich, aber Anna hatte eine blühende Fantasie und das Abhandensein von Schnee trübte ihre Weihnachtsfreude eigentlich nie. Aber irgendwann kam immer die Veränderung mit einem Hammer und das war wohl jetzt der Fall. Sie war nicht nur eine Versicherungsbetrügerin wider Willen, sie hatte auch noch eine Aufforderung zur Reise, ja geradezu einen Reisebefehl aus Frankreich vor sich liegen. Dabei wollte sie das vergangene Jahr, letzte Weihnacht, so schnell wie möglich vergessen. Die Weihnacht, an der sie so glücklich gewesen war, die kitschigste, schönste Weihnacht aller Zeiten, als sie nicht alleine gewesen war. Als jemand hier war, dessen Nachnamen sie jetzt auf dieser lächerlichen Karte sah, in der Schrift einer Frau und mit dem Vornamen einer Frau. Sie hatte keine Ahnung, was das sollte, und nicht im Traum würde sie daran denken, diesem Reisebefehl Folge zu leisten. Ihr Verstand sagte ihr, dass Eifersucht dahinter stand, als habe da jemand ihre Gedanken gelesen, die sie das ganze Jahr über nicht losgelassen hatten und die wohl auf magische und tragische Weise bis nach Paris gedrungen waren, obwohl sie selbst geschwiegen hatte. Dabei war das allzu lächerlich. Doch was wollte sie dann, Aurélie Marchand vom Montmartre? Rache? Rache für nichts? Die Ehefrau mit dem feinen Gespür für den Hauch einer anderen Frau im Leben ihres Ehemannes? Das war absurd. Natürlich würde sie nicht nach Paris fahren. Es gab hier Wichtigeres zu tun, sie musste ihren Hals retten und auch ihre bescheidene Karriere.

Willy drückte seinen kleinen Hundekörper durch die Schlafzimmertür und hatte seine Leine im Maul. Anna seufzte. Wenigstens einer im Haus, der wusste, was er wollte. Sie musste einen Schlussstrich ziehen, das war klar. Also zerriss sie die Karte und war überrascht, wie einfach das ging. In zwei Hälften landete sie im Papierkorb und es fühlte sich befreiend an.

„Na dann raus in den Sturm, Willy!“

Begeistertes Bellen.

 

Drittes Kapitel

Letztes Jahr

 

„Jingle bells, jingle bells, jingle all the way...“ Anna hatte einen Ohrwurm und das musste mit ihrem Rentierpullover zusammenhängen, den sie in diesen Tagen immer anzog, wenn sie von der Kanzlei nach Hause kam. Alles folgte einem festen Ritual. Kanzlei abschließen, den Schlüssel zweimal drehen und damit einmal mehr als sonst. Aus rein symbolischen Gründen, weil Weihnachten war und sie weit weg sein wollte von Arbeit. Dann nach Hause fahren und Willy auf der Rückbank einen Keks geben, den er begeistert zerkaute und in der Folge das Auto mit Keksgeruch füllte. Dann nach Hause kommen, Kaminfeuer anzünden und nach und nach alle Kerzen. Und Singen nicht vergessen. Gerade dieses Jahr würde Weihnachten ein Traum werden, es schneite immer noch in dicken Flocken. Anna fragte sich kurz, ob ihr Mandant Herr Matthis es unbeschadet zurück nach Hamburg schaffen würde, bei diesen Straßenverhältnissen. Er sah nicht aus wie jemand, der gemächlich durch die Landschaft tuckerte, denn sonst hätte er auch kaum einen solchen Unfall gehabt und so eine Routine dabei. Aber so waren sie eben, ihre Mandanten, und dennoch kämpfte sie gerne für sie. Das Honorar, das die Rechtsschutzversicherungen zahlten, stimmte auch meistens.

Als die letzte Weihnachtskugel poliert war, die sie an die Holzdecke des Wohnzimmers gehängt hatte, machte sich Anna daran, den Weg von ihrem Haus zum Briefkasten freizuschaufeln. Sie kam mit dem Schippen gar nicht hinterher in diesem Tagen, aber sie genoss die sportliche Abwechslung.

Es klingelte an der Tür.

„Lucy! Ich hatte dich nicht erwartet.“ Anna war hin- und hergerissen zwischen der Vorfreude auf das Schneeschippen und der Freude, ihre beste Freundin zu sehen.

„Musst du auch nicht, mein Engelchen. Dorfmädchen verabreden sich nicht, sie kommen einfach vorbei. Lass dich drücken.“

Lucy war eine kleine Frau mit beeindruckenden roten Locken, die sie selber hasste und wie jedes Mal, wenn es regnete oder schneite, würde sie Anna gleich um ihre glatten, flachsblonden Haare beneiden, die sich bei Feuchtigkeit nicht kräuselten und vom Kopf abstanden.

„Du siehst gut aus heute. Kein Vergleich zu meinem Feuerstroh.“ Bingo. So sagte sie es immer. Feuerstroh.

Anna machte einen Schritt nach draußen und gab so den Blick auf den Schneeschieber in ihrer Hand frei. Lucy legte die Stirn in Falten.

„Ich hoffe, du hast nicht hinter der Tür auf mich gewartet, mit dem Ding da. Du weißt doch, ich hab‘s im Kreuz.“

„Ach was! Das mache ich selbst. Tut mir leid, aber ich fürchte, ich muss das jetzt sofort machen, so lange es noch geht. Es soll ja noch mehr runterkommen.“

„Da sagst du was.“ Lucy setzte sich auf die Stufe vor der Haustür und legte den Kopf auf ihre behandschuhten Hände. „Der Schnee wird uns erdrücken.“

„Ich find‘s klasse!“ Anna war begeistert. Sie versteckte ihre Haare unter einer Mütze. „Du kannst schon ins Haus gehen, wenn du willst. Ich beeile mich.“

„Ich schaue dir lieber bei der Arbeit zu und freue mich, dass ich das nicht machen muss. Übrigens“, Lucy sah zweifelnd auf die Schneeschippprozedur ihrer Freundin, "meinst du, das muss so gründlich? Ich meine, man kann doch zumindest ein bisschen über Schnee gehen.“

„Nein! Räum- und Streupflicht, siehe §15 Satzung der Gemeinde. Wenn hier etwas passiert, bin ich dran.“

Lucy seufzte. So war sie, Anna. Immer alles systematisch und gründlich machen, immer wie es das Recht vorsah. Sie bewunderte die Struktur, die Anna ihrem Leben gegeben hatte und fürchtete den Zwang, der dahinter stand. Kippte ein Dominostein in Annas Leben, würde alles umfallen.

Später im warmen Wohnzimmer saßen die beiden Frauen in den alten Ohrensesseln vor dem Kamin, in dem das Holz knackte und einen orangenen Schimmer in den Raum warf. Es war hinreißend gemütlich.

„Du hast dich mal wieder selbst übertroffen, Anna. Das hier ist tausendmal besser als bei den Griswolds. Kann ich noch ein bisschen Zimt in den Kakao haben?“

Anna war sich sicher, dass die Gewürzmischung perfekt gewesen war und ihr schmeckte sie. „Aber natürlich“, überwand sie sich zu sagen und nahm die Tasse mit in die Küche. Letztes Mal hatte Lucy es so geschmeckt und es war exakt so gewesen wie diesmal. Aber so war sie halt, Lucy. Ein bisschen chaotisch und spontan.

„Dein Rentierpulli ist übrigens klasse!“, rief Lucy aus dem Wohnzimmer.

„Es sind Hirsche. Ich weiß, dass es Rentiere sein sollen, aber die Leute, die so was entwerfen, haben überhaupt keine Ahnung von Weihnachten.“

Annas Empörung belustigte Lucy, aber sie verkniff sich das Lachen. Weihnachten war für Anna schließlich eine ernste Sache. Sie wechselte das Thema, zumindest halb. Denn egal was ihr einfiel, es lief immer auf diese fünfte Jahreszeit hinaus. „Was machen deine Eltern diesmal? Karibik-Kreuzfahrt? Skifahren im Himalaya?“

„Nein, sie sind in Tasmanien auf Safari. Einheimische Tierarten entdecken und ansonsten am Pool erholen.“ Annas Eltern waren beide Biologen und Tierschützer,  im Dezember vor allem aber Atheisten. Weihnachten existierte nicht für sie und so war Anna auch aufgewachsen. Der Gedanke daran machte sie wieder traurig und sie schaute gedankenverloren ins Feuer. Als damals in der Schule in der Adventszeit alle eine Kerze und einen Tannenzweig mitbringen sollten, hatte Anna von ihrer Mutter einen Blumentopf mit Kresse mitbekommen.

„Das ist das pure Leben, schau mal. Innerhalb nur weniger Tage wächst die Kresse und versorgt uns auch im Winter mit wertvollen Vitaminen. Das ist besser als Weihnachten, Anna. Und vergiss nicht: Es gibt kein Christkind.“

Willy tapste über den Teppich, sprang auf Lucys Schoß und rollte sich mit einem wohligen Seufzen zusammen. Mit einem Auge schielte er zu ihr hoch, um zu prüfen, ob er willkommen war, bevor er die Schnauze auf Lucys Arm legte und in Traumwelten davondämmerte. „Wieso riecht der Hund nach Keksen? Hast du ihm wieder Plätzchen gegeben?“, fragte Lucy streng.

„Anna, dein Hund wird noch zur Tonne, wenn du so weitermachst. Ein Wunder, dass du so eine schlanke Linie bewahren kannst, bei der ganzen Butter, die du via Weihnachtsgebäck in dich hineinschaufelst.“ Ein halbneidischer Blick traf Annas flachen Bauch.

„Atheistengene für Weihnachtsplätzchenverträglichkeit? Ach übrigens: Machen wir‘s so wie jedes Jahr? Wenn die Familie im Bett ist und Hinnerk glühweintrunken unterm Baum eingeschlafen ist, komme ich an Heiligabend zu dir rüber und wir essen den restlichen Stollen auf, ja?“

„Wenn du Zeit hast, gerne. Aber wo Jonte doch jetzt schon zwei ist, dachte ich, du solltest die Festtage ganz mit der Familie verbringen.“

„Nein, alles gut. Ich sag ja, wenn meine beiden Männer schlafen, machen wir zwei uns einen netten Abend. Ich werde sie so mit Gans mästen, dass sie wie Steine ins Bett fallen noch bevor die Tagesschau anfängt.“

„Ich sollte jetzt gehen, sonst zerlegen Hinnerk und Jonte das ganze Haus. Männer bleiben eigentlich immer Kinder. Hinnerk hat seine alte Eisenbahn hochgeholt und in Jontes Zimmer aufgebaut. Das kann nur Chaos geben.“