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Thomas Kastning

Im Maulwurfstunnel

Roman

Kapitel 1

In der Küche einer Villa in einem Kölner Vorort zieht Kriminalhauptkommissar Dr. Alfons Priester, Leiter der bundesweit ermittelnden BKA-Sonderkommission die Vorhänge zu. Dabei denkt er daran, dass die Entführung von Hanns Martin Schleyer durch die RAF vierzig Jahre zuvor ganz in der Nähe stattgefunden hat. 120 Schüsse, allein 60 für Schleyers Fahrer. 43 Tage Gefangenschaft. Schleyers Haftfoto wird niemand vergessen, der damals Zeitung gelesen hat. Schleyer, das SS-Mitglied. Schleyer, der Wirtschaftsfunktionär. Am Ende der Entführung ist Schleyer hingerichtet worden. Oder wie es seine Entführer ausgedrückt haben: Seine »klägliche und korrupte Existenz« ist beendet worden.

Es hört niemals auf, das Morden und Bombenlegen, denkt Priester. Der Maulwurf der Gewalt taucht immer wieder auf, egal wie viele Gänge man zerstört. Er seufzt und wischt sich Schweiß von der Stirn. Ihm ist heiß.

Zu seinem Team sagt er: »So meine Herren, Oswalds Wagen ist mit einem Sender ausgestattet. Wir werden gewarnt, sollte er umdrehen. Unser erster Check hat ergeben: keine Alarmanlagen, keine Kameras. Sie wissen, wonach Sie suchen. Sie haben die ganze Nacht lang Zeit. Ich will Resultate. Scannen Sie Briefe, durchsuchen Sie Kleiderschränke, kopieren Sie Festplatten, klopfen Sie Wände ab.«

Im zu großen weißen Schutzanzug, den er wie alle hier trägt, um keine Spuren zu hinterlassen, sieht Dr. Priester noch verlorener aus als in dem dicken Wollpullover, den er darunter trägt. Seine grauen Augen hingegen funkeln angriffslustig im faltigen Gesicht. Diese Hausdurchsuchung ist ein Risiko. Die Anzüge und Gesichtsmasken sollen verhindern, dass Fingerabdrücke oder Haare zurückbleiben, die entdeckt werden könnten, denn

es liegt keine Genehmigung der Staatsanwaltschaft vor.

Sein Blick gleitet über Schränke und Bilder. Alles ist alt und gepflegt, mit der Patina, die nur auf echter Qualität entstehen kann. Europäische Geschichte, französische Malerei des 18. Jahrhunderts, Eichenschränke und Schalen aus Olivenholz. An prominenter Stelle hängt ein Porträt von Claus von Stauffenberg. Daneben steht eine große geschnitzte Statue des Zeus in Stiergestalt mit der geraubten Königstochter Europa auf dem Rücken des olympischen Gottes.

Priester nimmt einzelne Bücher aus einem Regal, in dem auf mehreren Metern unzählige Druckwerke stehen. Manche Erstausgaben, vor 150 Jahren und mehr gedruckt. Er stellt sie ehrfürchtig und vorsichtig zurück und hinterlässt dennoch kleine Spuren in der alles bedeckenden Staubschicht.

Er geht in den ersten Stock, wo einer seiner Mitarbeiter ihn zu sich winkt: »Hier ist Karl von Oswalds Zimmer, Chef. Ein Kinderzimmer mit Zigarettenstummeln«, sagt der Mann, der Notizzettel durchblättert.

»Irgendwas Interessantes bisher?«, fragt Priester.

»Alles. Von Einkaufslisten bis zu selbstgeschriebenen Gedichten lässt sich hier absolut alles finden. Nur bisher nichts für uns. Es ist schwierig, nicht aus Versehen aufzuräumen.«

Das Büro des Eigentümers des Hauses, Armin von Oswald, erinnert Priester an sein eigenes Arbeitszimmer. Hier kopiert der IT-Experte seines Teams soeben die Festplatte eines Computers. Priester kennt den Mann kaum. Man hat ihm gesagt, er gehöre zu den Besten der BKA-Abteilung Informationstechnik. Er muss auf diesem Feld der Meinung anderer vertrauen.

»Nichts Besonderes hier. Die Kiste hat einige Jahre auf dem Buckel. Altes Betriebssystem, kleine Datenmenge, kein Passwort.«

Der IT-Experte sieht selbst in dem weißen Schutzanzug aus wie ein typischer Computerfreak, denkt Priester. Die Brille, die Schweinsäuglein und der Fünftagebart. Der runde Rücken, die fehlende Eleganz, und schon habe ich ihn in eine Schublade sortiert, die mir nicht geheuer ist, denkt er.

»Herr Priester, hören Sie zu? Kann ich hier oben mit dem Standardprozedere weitermachen und dann in den Keller gehen? Tim hat gefunkt, da gäbe es Spannenderes als die Kiste von diesem Opa.«

»Armin von Oswald ist kaum älter als ich«, antwortet Priester, jedoch nicht so scharf, wie er es gegenüber anderen getan hätte. 

Der Techniker verunsichert ihn. »Arbeiten Sie ganz nach Ihrer Einschätzung. Sie haben freie Hand.«

Der Mann dreht sich zum Bildschirm und sagt nichts. Priester bleibt und blättert durch Bücher und Akten. Juris-

tische Fachliteratur, handschriftliche Briefe in verschiedenen Sprachen, Firmenunterlagen. Priesters Mitarbeiter in der BKA- Zentrale in Wiesbaden haben ihm einen langen Text über Armin von Oswald aus einer alten Zeitung ausgegraben. Er hat bis vor einiger Zeit ein Stahlwerk besessen und geleitet. Ein verhältnismäßig kleines Werk, spezialisiert auf Werkzeug- und Spezialstahl.

In dem Artikel war beschrieben, wie von Oswald in Rente gehen wollte. Bis eines seiner Kinder die Nachfolge hätte antreten können, hätte es noch Jahre gedauert. Und schließlich verkaufte er das Werk an eine chinesische Holding.

Die privaten Briefe werden, von Gummibändern gebündelt, in einer breiten Schublade unter der Platte des Schreibtisches aufbewahrt. Zuerst überfliegt Priester sie systematisch und schnell. Dann verlässt der Techniker den Raum. Es wird still, nur das Rascheln des Briefpapiers ist hörbar, und er verliert sich einige Minuten. Da knackt das Funkgerät: »Chef? Könnten Sie in den Keller kommen? Sofort?«

Als Priester den Kellerraum betritt, sitzt der Techniker mit seinem Laptop im Schoß auf dem Fußboden aus grauen Fliesen.

»Folgendes«, er räuspert sich und deutet auf einen digitalen Wecker, der neben Kabelrollen und verschiedensten anderen Instrumenten auf einer Werkbank steht. Der Raum ist fensterlos. Priester schaut nach etwas Auffälligem. Den Profilen zufolge, die seine Mitarbeiter im Vorhinein von den von Oswalds erstellt haben, müssen die Dinge der Tochter, Franziska von Oswald, gehören. »Das ist kein Wecker, sondern eine Kamera mit Bewegungssensor«, murmelt der Techniker und überprüft an Priesters Gesicht, ob der versteht. »Sie sehen ja selbst: Hier beschäftigt sich jemand mit Elektronik. Die Kamera ist angeschaltet.«

»Was bedeutet das?«, fragt Priester.

»Vermutlich sind Bilder von mir aufgenommen worden.«

»Bitte?« Priesters Stimme ist eine Spur lauter. »Können Sie auf den Speicher zugreifen?«

»Das wird nicht lokal gespeichert.« 

Priesters Gesicht ist steinern. »Heißt, wir kommen nicht ran?

Wie lange ist das her?«

Der Techniker schaut auf seinen Laptop. »Vier Minuten. Ganz ruhig. Die Frau, deren Technik das ist, ist in Hannover, haben Sie gesagt.«

Die Kälte, die der Kommissar ausstrahlt, scheint bei dem Techniker nicht anzukommen.

Der betrachtet unbeteiligt das Foto und fragt: »Also, was soll passieren?«

»Sind Sie jetzt mal still«, zischt Priester.

Er nimmt sein Funkgerät. Die Ausdauer, die er bei Ermittlungen zeigt, und die Aufklärungsquote, die er in seiner Karriere erreicht hat, sind die Gründe, weshalb seine Vorgesetzten ihn bei der momentanen Anschlagsserie als leitenden Ermittler eingesetzt haben. Er hat sein Leben lang Angefangenes mit einer gewissen Sturheit zu Ende gebracht. Diese Beharrlichkeit ist seine Stärke. Zudem war Priester auch einfach an der Reihe. Für Fälle mit einer solchen medialen Aufmerksamkeit wie diese Anschlagsserie eingesetzt zu werden, gilt unter Kriminalisten als Auszeichnung. Als eine Art Medaille nach 25 Dienstjahren.

»Allesamt Masken auf,« funkt er. »Ohne unnötige Gespräche weiterarbeiten. Höchste Alarmbereitschaft und Tempo! Im Keller wurde eine Überwachungskamera gefunden, möglicherweise gibt es mehr.« Anschließend beordert er seinen dienstältesten Mann vor das Haus. »Ziehen Sie sich eine Streifenuniform an. Sollten Kollegen auftauchen, klären Sie die Situation so gut Sie können. Sollte jemand anderes sich Zutritt zu dem Haus verschaffen wollen, verhaften Sie die Person.«

Er dreht sich unwillig zu dem Techniker um, dessen Namen er noch immer nicht kennt. Ob er will oder nicht, er braucht ihn.

»So. Sie und ich drehen jetzt in diesem Raum jeden Gegenstand um und Sie sagen mir, was ich sehe.«

Sie öffnen Schubladen und der Techniker identifiziert Magneten und Spulen in allen Größen für Lautsprecher, Membranen für Mikrofone und Materialien zur Herstellung von Computerchips. Fasziniert streicht er mit den Fingern darüber und sagt:

»Genug und von genügender Qualität, um Abhörmaterialien eines Geheimdienstes zu bauen. Oder aber ein Musikstudio.« 

Als sie in einer Schublade Reagenzgläser und Chemikalien entdecken, ist zwar des Technikers Begeisterung geringer, dafür glimmt in Priesters Augen Hoffnung auf. »Wenn das ausreicht, um Nervengift herzustellen, dann haben wir eine Spur. Ohnehin erscheint mir dieser Keller nicht normal. Werkzeuge und Materialien für so viel Geld.«

Der Techniker grunzt unter seiner Maske. »Wenn Ihr Verein mir mehr zahlen würde, sähe es bei mir zu Hause ähnlich aus. Das hier sind Bausteine, gut. Ich muss Ihnen wohl kaum erklären, dass das keine Beweise sind.«

Priester sagt nichts und schaut auf seine Uhr. »Sind wir hier ansonsten durch?« Dann funkt er: »Bitte hier unten im Keller noch Proben von allen Chemikalien und Spuren an den Werkzeugen nehmen. Dann langsam zum Abschluss kommen«, und steigt nachdenklich in den ersten Stock. Dabei reibt er sich über die Augen. Es ist spät. Der Mann hat vermutlich recht. Sie haben de facto wieder nichts Konkretes gefunden. Die Auswertung könnte selbstverständlich Anderes ans Licht bringen. Doch bisher: keine Pläne, keine Waffen. Es liegt gegen die von Oswalds nichts vor, außer den Anschuldigungen von Konstantin Berger. Priester reibt sich erneut die müden Augen. Gedanken, die heute Nacht nicht mehr zu Ende gedacht werden müssen.

Seine Mitarbeiter packen Geräte zusammen und ziehen die Vorhänge zurück. Als er als Letzter in das zunehmend heller werdende Dämmerlicht tritt, wartet dort bereits frierend das Team. Im Haus lassen sie außer einzelnen Spuren im Staub und einigen Wanzen nichts zurück.

Die Wolken hängen tief und schnüren die kalte Luft zwischen sich und der Erde ein, schon bevor der Tag gänzlich hervorgekrochen ist. Hundert Meter entfernt beobachtet eine alte Dame im Pelzmantel ihren Dackel, beachtet indes die Männer nicht, die aus der Einfahrt der Oswald’schen Villa huschen und in einem weißen Lieferwagen verschwinden.

Kapitel 2

Die Polizei im Haus der von Oswalds. Sie wühlt sich durch Unterwäsche und durchleuchtet privates Leben, das hinter Mauern stattfindet, die Eindringlinge abhalten sollen. Sie schnüffelt in Schubladen, öffnet Toilettenspülkästen. Und alles ist meine Schuld. Weil ich nicht meine Klappe halten konnte. Weil ich im Schlafanzug vor dem Kommissar saß. Weil ich meine Klappe nicht halten wollte.


Begonnen hat alles letztes Jahr kurz nach Ostern. Bei den großen Antikriegsdemonstrationen in Berlin. Damit von mir aus dieser Zeit kein falsches Bild entsteht: Ich verbrachte eigentlich meine Tage an einem grauen Schreibtisch mit Laptop und Topfpflanze. Ich arbeitete bei der größten europäischen Firma für Papierproduktion, Schmitzke & Co. Mein Universitätsabschluss war nicht besonders gut. Mein Studienfach – Geografie – nicht besonders gefragt. Mein Lebenslauf nicht besonders ausgefeilt. Ich habe nie im Ausland studiert. Und daher wurde ich bei der Papierproduktion eine Art besserer Sekretär. Meine Aufgabe war es, für meine Chefs Termine zu arrangieren und zu organisieren. Gelegentlich durfte ich auch Daten für sie aufbereiten und ihre Präsentationen  überarbeiten.

Was mich zu den Demonstrationen nach Berlin getrieben hat, war nicht mein dringender Wunsch nach Meinungsäußerung. Für gewöhnlich reicht es mir, meine Meinung alle vier Jahre an der Wahlurne zum Ausdruck zu bringen. Sicher, ich habe eine ungefähre politische Haltung, und es ist klar, dass ich nie konservativ wählen würde. Die Flüchtlingsthematik finde ich wichtig, Menschlichkeit auch. Während meines Studiums habe ich ein paar linke Demonstrationen besucht. Aber da hatte ich auch noch Freunde (rückblickend ist die Bezeichnung »Bekannte« treffender, damals nannte ich sie Freunde), die man dort erwartet. Wie bei solchen Bekanntschaften üblich, haben wir heute, ein paar Jahre nach meinem Abschluss, keinen Kontakt mehr. Im Universitätskosmos werden Menschen mit den unterschiedlichsten Hintergründen zusammengewürfelt. Sie sind in vielen Positionen unentschlossen und betrachten ihren Weg noch als grundsätzlich gestaltbar. Die Visionen ihrer eigenen Zukunft pendeln in dieser Zeit zwischen Aufsichtsratsmitglied in einem DAX-Konzern und Krabbenfischer in der Arktis. Dann verstreicht die Zeit, ich mache Praktikum nach Praktikum und lande schließlich als Sekretär bei einer Papierproduktion. Der andere hat sein Studium abgebrochen, ist Schreiner geworden und lebt in einer Wagenburg.

Vermutlich war es also Leyla, die mich nach Berlin fahren ließ.

Leyla war erst kurz zuvor in das Stockwerk unter die Wohnung gezogen, in der ich seit meinem Umzug nach Köln mein Zuhause hatte. Leyla Aydin und ihr Sohn Paul. Wir waren uns eine Woche vor den Demonstrationen vor ihrer Wohnungstür begegnet. Sie hatte eine große Kiste getragen, über deren Rand nur eben so ihre Nase ragte. Ich hatte mich als Nachbar vorgestellt.

»Hi, ich bin Konstantin. Von oben drüber.«

»Schön. Ich bin Leyla.« Sie hatte Sommersprossen auf der Nase. Ihre Stimme klang vibrierend und kratzig hinter der Pappe des Kartons hervor. »Und das ist mein Sohn Paul.« Sie deutete mit einem Kopfnicken hinter sich, wo ein gestapeltes Chaos zu erkennen war. Darin saß ein kleiner Junge mit strubbeligen und genauso schwarzen Haaren wie die der Mutter, von vielleicht sechs oder sieben Jahren, auf etwas, das aussah wie ein auf die Seite gelegter Kühlschrank.

»Kann ich dir den Karton abnehmen?«, hatte ich gefragt und sie hatte ihn in meine Arme plumpsen lassen und dankbar gegrinst. Sie hatte kleine Fältchen um die Augen. Ich war ihr in das Chaos gefolgt, wo sie erst Platz freischieben musste, damit ich das Wohnzimmer erreichen konnte, wo der Karton abgeladen werden sollte.

Sie arbeitete in einem Bioladen, er besuchte die erste Klasse der Grundschule.

»Ich bin in Eile. Muss noch mal los. Mein Ex-Freund wartet an der alten Wohnung. Und dann kommt meine Mutter später zum Abendessen. Ich weiß gar nicht, wie ich hier etwas kochen soll. Vielleicht bestelle ich Pizza.« Sie redete unglaublich schnell, so als ob sie ihre Eile zusätzlich unterstreichen wollte. »Wie wäre es, wenn ich morgen bei dir zum Tee vorbeischaue? So um fünf? Auf gute Nachbarschaft!«

Nicht ich lud sie ein, sondern sie sich selbst. Das weiß ich noch genau. Ich war von der ersten Sekunde an von ihr begeistert.

Zuerst war es eine Begeisterung, die keine konkreten Gedanken oder Wünsche beinhaltete. Vielleicht gerade, weil sie bei diesem ersten Kennenlernen wie eine erwachsene Frau wirkte, war ich zunächst der Überzeugung, sie spiele in einer ganz anderen Liga als ich. Sie war so viel geformter. Dabei war sie nur drei Jahre älter und sah zwar gut aus, aber auch nicht phänomenal außergewöhnlich gut. Es war wohl das Kind, das mich zunächst einen maßgeblichen Unterschied zwischen Leyla und mir vermuten ließ. Und auf sehr vielen Ebenen stimmte das damals. »Damals«, das klingt so lange her, dabei fand diese Begegnung vor weniger als einem Jahr statt. Jedenfalls stimmte das damals weitaus mehr als heute. Es fühlt sich so an, als hätten die Erlebnisse mich erwachsener gemacht. Sie haben mich auf jeden Fall gelehrt, meine Wünsche besser zu verstehen. Mich weniger willenlos gemacht.

Mein eigener Umzug nach Köln lag erst einige Monate zurück. Seitdem verließ ich morgens gegen acht Uhr das Haus und fuhr zu Schmitzke & Co. Dienstags und freitags ging ich nach der Arbeit zu einem Fußballverein. Nach dem Training aßen wir noch gemeinsam Currywurst und tranken zwei Bier. Mit den meisten der Jungs konnte ich ansonsten nicht viel anfangen – oder sie nicht mit mir. Im Übrigen hatten die Netteren unter ihnen eine sehr volle Woche, wohnten lange oder sogar schon immer in Köln und hatten entsprechend eingeschworene Freundeskreise. Wenn ich alte Tagebucheinträge aus der Zeit aufschlage, scheint es mir, als sei ich damals ziemlich einsam gewesen. Von kalten Abenden ist dort zu lesen. Der Hof still, die Küchenzeile leer und die Ablage gewischt. Und sonst passiert nichts.

Ich wusste, dass das Kind mitkommen würde. Was ich nicht wusste: Wie schwierig es ist, sich zu unterhalten, während ein kleines, lautes Wesen sich als das Zentrum des Universums begreift. 

Der Schaufelbagger drehte Runde um Runde durch das Wohnzimmer.

»Türkische Eltern. Interessant! Türkei, Türkei. Beşiktaş, Galatasaray. Meine Eltern waren da mal im Urlaub. Woher genau kommt deine Familie?«

Ein Stuhl fiel krachend zu Boden. Ich versuchte, ihren Sohn zu beruhigen, baute mit ihm eine Kissenburg und ging dann zurück zu der Couch und fragte, ob sie noch Tee wolle. Sie schaute von ihrem Handy auf, lächelte, lehnte sich in die Kissen zurück, schüttelte den Kopf und murmelte: »Nein, danke.«

Hinter meinem Rücken schrie der Junge, ich wirbelte herum. Er hatte sich im Burgverlies an der Tischkante gestoßen. Es war nicht sonderlich schlimm, doch ich hatte Mitleid. Also spielten wir zur Aufheiterung Verstecken, was damit endete, dass ich längere Zeit im Kleiderschrank stand. Interessanterweise machte mir das Spaß und wir spielten noch eine Runde. Als Leyla schließlich sagte, sie müssten jetzt gehen, hatte ich mit ihr noch immer nicht viel geredet, was sie nicht sonderlich zu stören schien. Aber ich hatte mich mit Paul angefreundet. Und auf eine um die Ecke gedachte Art schien mir das durchaus in Ordnung, denn ich begriff die beiden als eine Einheit.

In den folgenden Tagen musste ich bis spätabends im Büro bleiben, die Woche drauf hatte ich Urlaub und wollte vorgreifend einiges erledigen. Freitagnachmittag machte sich mein Fleiß dann bezahlt und ich kam pünktlich nach Hause. Da klingelte es und meine neue Nachbarin stand vor mir, ihren Sohn an der Hand. Sie fragte, ob ich für einige Stunden auf Paul aufpassen könne. Sie müsse dringend etwas erledigen, ihre Mutter käme erst morgen nach Köln zurück, ihre beste Freundin läge mit einer schweren Grippe im Bett und ihr unsäglicher ExFreund sei nicht erreichbar. Ich fühlte mich geehrt. Wow, dachte ich. Wenn sie mir ihren Sohn anvertraute, hieß das, dass sie mich mochte. Ich sagte: »Klar.«

Es sagt viel über Leyla aus, dass sie mich nur wenige Stunden erlebt hat und anschließend Paul in meine Obhut übergab. Was sie in meinen Augen nicht im Geringsten als schlechte Mutter kennzeichnet. Sie ist jemand, die sich blind auf ihre instinktive Menschenkenntnis verlässt. Und wen sie als »gut« klassifiziert, dem vertraut sie. Und das zeigt sie demjenigen auch. Von der ersten Begegnung im Hausflur an lag diese bestimmte Form von warmem Vertrauen zwischen uns, von dem man weiß, dass es außerhalb anderer Gefühle steht. Dass darauf Verlass ist.

Paul und ich gingen in den Park, lagen auf einer Decke im frühlingswarmen Gras und suchten  Figuren  in  den  Wolken am Himmel (»Ein Schaf? Was für ein Quatsch. Auto meinetwegen. Nen Löwen kann ich vielleicht auch noch sehen. Aber doch kein Schaf! Weißt du überhaupt, dass das Cumuluswolken sind? Nein? Siehst du. Du hast keine Ahnung. Das ist sicher kein Schaf. Höchstens ein Auto.«), als es neben uns laut auf dem Gehweg schepperte. Ein Mann mit zotteligem Bart war von seinem Fahrrad gestürzt und Pfandflaschen rollten in alle Richtungen über den Asphalt. Einige waren zu Scherben zerbrochen.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte ich.

Er nickte und untersuchte auf dem Boden sitzend seine aufgeschürften Hände. Sein dicker Parka schien den Sturz einigermaßen aufgefangen zu haben.

»Ist Ihnen nicht zu warm?«

Er schien mich nicht zu hören und ich wiederholte lauter: »Ist Ihnen nicht zu warm?« Vielleicht verstand er mich nicht. Er sah ausländisch aus. »Was ist denn passiert?«, wollte ich wissen und half ihm, die Flaschen zusammenzusammeln. Jetzt sah er mich an, lächelte und zeigte auf seine Ohren und seinen Mund und machte schnelle Bewegungen mit den Fingern. Stumm.

Ich schaute mir sein Fahrrad an und sah, dass die Kette gerissen war. »Ich wohne in der Nähe. Wollen Sie sich die Hände waschen?« Ich imitierte eine Händewasch-Geste. Ob er mich verstand, weiß ich nicht, aber er nickte.

Er schob sein Fahrrad hinter uns durch den Hausflur und parkte es im Hof. Seine Augen tasteten die Sammlung von alten Fahrrädern ab, die dort an die Mauer gelehnt standen.

Er zeigte auf mich und machte eine Geste, die wohl die Benutzung eines Schraubenschlüssels bedeuten sollte.

»Jetzt lass uns lieber erst einmal hochgehen und die Hände säubern«, beeilte ich mich zu sagen und formte die Buchstaben mit meinen Lippen überdeutlich.

In der Wohnung stand er unschlüssig im Flur. Ich dirigierte ihn in das Badezimmer. Nachdem er sich die Hände gewaschen und desinfiziert hatte, fragte er noch einmal nach einem Schraubenschlüssel. Ich ging und holte meinen Werkzeugkoffer.

Nach einer halben Stunde brachte er das Werkzeug ordnungsgemäß zurück, streichelte Pauls Kopf und schüttelte mir überschwänglich die Hand. Dann kramte er verschiedenste Sachen aus seiner riesigen Parkatasche, bis er einen Zettel und einen Stift in der Hand hielt. Darauf schrieb er etwas ungelenk: »Jürgen.« Ich schrieb schnell meinen und Pauls Namen darunter und ärgerte mich, uns nicht früher vorgestellt zu haben. Nachdem er gegangen war, sah ich, dass er eine Zeitung liegengelassen hatte.

Als Leyla ihren Sohn abholen kam, ließ sie sich leider nicht zu einem Abendessen einladen. »Aber wenn du möchtest, kannst du morgen mit zu einer Party kommen. Ein Freund feiert groß Geburtstag.« Ich ließ mich nicht zweimal bitten und sagte zu. Trotz dieses netten Angebotes zog es, nachdem sie gegangen war, ein wenig an der Stelle in der Brust, wo der Nerv der Einsamkeit sitzt. Ich griff mir die Zeitung, die der Landstreicher hatte liegen lassen, und ging ins Sternchen.

Das Sternchen ist nicht weit von mir entfernt. Es kommen vor allem Taxifahrer hierher, die zu jeder Tagesund Nachtzeit Kaffee und Spiegeleier bestellen. Frühstück wird praktisch ab null Uhr serviert. Je nachdem, ob die Schicht vor oder hinter ihnen liegt, trinken sie Bier.

In der Zeitung las ich lokale Geschichten aus Köln. Fußballer verlässt nach vielen treuen Jahren den FC und wechselt nach England. Schließlich kam ich im Politikteil an und fand eine kleinere Reportage über eine Hausbesetzung im Rahmen der zu der Zeit regelmäßig stattfindenden Antikriegsdemonstrationen in Berlin. Es handelte sich um eine leerstehende Fabrik in einem Berliner Vorort namens Zillow. Sie zitierten einen Wortführer der Besetzergruppe: Karl von Oswald. Er sagte Sätze über den Widerstand gegen den deutschen Rechtsruck, Flüchtlinge und über die Pflicht zu einer internationalen Solidarität. Anschließend ging es um die Perspektive der Polizei, die bisher noch nicht reagiert hatte, jedoch aus Sicht der Zeitung nur einen günstigen Moment für die Räumung abwartete. Dann stellte sich Mitch, einer der jüngeren Taxifahrer, neben mich an den Tresen und schimpfte auf den wechselbereiten Fußballspieler.

Als Bremen-Fan kannte ich das Problem, dass die besten Spieler immer abwanderten, und wir verloren uns in einem Gespräch.

Später, als ich in meinem Bett lag und die Uhr leise tickte, kam mir die Fabrik in Zillow erneut in den Sinn. Irgendwann musste die Polizei kommen und die Fabrik würde sich zurück in eine Ruine verwandeln. Schade, dachte ich, schaute ins Dunkel und träumte im Halbschlaf mit einem diffusen Abenteuergefühl von dieser Besetzung.


Abends holte Leyla mich ab und wir gingen gemeinsam zu der Party. Sie trug eine schwarze Lederjacke über einem weißen T‑Shirt, braune, kurze Stiefel und sie hatte ihre Mähne zu einem Dutt hochgesteckt.

Als wir ankamen, standen bereits viele Leute in einem abseits gelegenen Haus herum. Mit einigen war Leyla zur Uni gegangen und sie begrüßten sich überschwänglich und redeten schnell über alte Themen. Ich bekam ein Bier in die Hand gedrückt und stand etwas deplatziert und stumm daneben.

Dann hörte ich, dass sie Berlin und die Demonstrationen erwähnten. Ich erzählte von dem Zeitungsartikel über die besetzte Fabrik. Leyla lachte, wobei ganz süße Grübchen entstanden, und sie sagte: »Genau da will ich morgen hinfahren! Ich kenne Karls große Schwester aus der Schule. Und auch sonst sind in Zillow noch ein paar Freunde von mir. Wir wollen zusammen die Demo besuchen. Komm mit, wenn du willst.« Ich zuckte unsicher mit den Schultern.

Das Gespräch sprang zurück zu alten Geschichten und ich entfernte mich und drehte eine Runde durch das Haus. Sie sollte nicht denken, ich käme hier nicht alleine zurecht. Was sich allerdings in der Tat nicht als einfach erwies. Versuche, sich auf Partys mit einem Kommentar in Gesprächsrunden zu schieben, gehören zu den unschönen, aber leider notwendigen Momenten, wenn man neu in einer Stadt ist. Mich dabei selbst zu beobachten, war mir unangenehm.

Es verging etwas Zeit, in der ich mich bemühte, nicht auffällig lange alleine an einem Ort zu stehen.

Nach dem dritten Bier wurde es einfacher. In der Küche mischte jemand Cocktails. Ich wurde freundlich angelächelt und die Cocktailmischerin stellte sich als Marie vor und fragte, ob ich auch einen Bloody Mary wollte. Ich sagte Ja.

Wir blieben in der Küche stehen und erzählten eine Weile. Bis sie mir zuzwinkerte und mir ins Ohr flüsterte, sie kenne ein gut gehütetes Partygeheimnis. Im Keller gäbe es eine Tiefkühltruhe voll mit Jägermeister. Ich folgte ihr.

Der Jägermeister war kein allzu großes Geheimnis mehr und eine trinkfreudige Runde hatte sich im Raum mit der Tiefkühltruhe versammelt. Auch  Leyla sah ich  mit einem Pinnchen. Marie nahm mich an der Hand, wir tranken erst einen, dann noch einen und nach dem dritten küsste sie mich. Das passierte schnell und unvermittelt. Sie stieß mit mir an, beugte sich mit derselben Bewegung nach vorne und küsste mich ohne zu zögern auf den Mund. Und sie hörte nicht nach einer flüchtigen Berührung der Lippen auf, sondern machte weiter. Ich hatte nichts dagegen einzuwenden.

Dann musste ich pinkeln, sagte »Bis gleich« und auf der Toilette strahlte mich mein Spiegelbild begeistert an.

Es drängelten sich immer mehr Menschen in den Flur, der mit gelben und roten Lampions geschmückt war. Ich musste mich durchkämpfen, vor der Toilette war eine Schlange gewesen, und so brauchte ich ein bisschen, bis ich zurück im Keller war. Marie war nicht mehr dort. Ich schaute im dunklen Raum allen Leuten ins Gesicht. Sie war nicht dabei. Dann rannte ich hoch, suchte in der Küche, draußen vor dem Haus, in der Toilettenschlange. Ich fand sie nicht. Sie wird schon zu mir kommen, redete ich mir ein und stellte mich wieder in die Küche, wo sich die Unterhaltungen um Filme drehten, die ich nicht kannte. Es war verraucht dort und mir wurde ein wenig übel, daher wechselte ich ins Wohnzimmer. Die Musik hier war sehr laut, anscheinend wurde erwartet, dass man jetzt tanzen wollte. Ich machte einige Schritte vor und zurück. Lange hielt ich das nicht alleine durch. Ich drehte noch eine Runde durch alle Zimmer. Marie war nicht auffindbar. Stattdessen sah ich Leyla, die zwischen zwei Männern vor dem Haus stand und gestikulierend diskutierte. Sie registrierte mich. Das sah ich genau. Und dann wandte sie sich zur Seite. Weg von mir. Ich stellte mich neben sie, sie redete weiter, als sei ich Luft. Warum? In meinem Kopf wirbelte immer schneller ein Karussell. Der Rausch schien zuzunehmen. Ich verstand nichts von dem, was sie sagte, konnte der Unterhaltung nicht folgen. Der einzige Gedanke, der sich immer klarer manifestierte, war, dass ich dringend diese Party verlassen musste.

Schwankend machte ich mich auf den Heimweg. Frust überfiel mich wie eine Raubkatze ihr Opfer und ich schubste wütend zwei Mülltonnen um, die auf dem Bürgersteig standen. Kleine Mauern vor den Vorgärten. Drinnen glückliche Familien, die vom Urlaub in Thailand träumten. Hinter mir erklangen schnelle Schritte, rennende Schritte, und bevor ich mich vollends umdrehen konnte, sprang mir Leyla auf den Rücken.

Sie tanzte vor und zurück und zog mich am Arm über die Straße. Meine Schritte waren unkoordiniert. Aber ist okay, dachte ich. Ihre sind es auch. Dann drehte sie eine Pirouette. Ich merkte, davon konnte ich nicht viele tanzen, ohne zu fallen. In meinem Sichtfeld tauchte ihr Mund sehr nah vor mir auf, sie lachte. Ich nutzte die Gelegenheit, die nächste Pirouette abzuwehren, nutzte die Gelegenheit, keine Hemmungen zu haben, nutzte die Gelegenheit der Nacht. Und dieses Mal war ich es, der schnell war und sie küsste.


Kapitel 3

Das war ein Fehler. Sie wollte nicht, ich hielt sie fest, betrunken wie ich war. Sie geriet in Panik, versuchte sich zu befreien. Ich reagierte mit einiger Verzögerung.

Dachte vielleicht auch, das sei noch Teil des Spiels. Sie mobilisierte ihre Kräfte, vielleicht sogar für einen Moment voller Angst, und schubste mich mit Wucht von sich weg. Ich fiel nach hinten auf mein Steißbein. Dann rief sie die Worte, die ich trotz des Alkoholnebels nicht vergessen habe: »Was bildest du dir eigentlich ein? Gehst mit mir auf eine Party, knutschst mit dieser Idiotin rum und weil du bei ihr nicht landest, versuchst du es bei mir. Fick dich. Typen wie du kapieren einfach gar nichts. Wir sind Nachbarn und nett zueinander. Sonst nichts.«

Den nächsten Tag verbrachte ich verkatert und innerlich verletzt und wiederholte in meinem Kopf die Szenen des Abends wieder und wieder. Mir kam nicht in den Sinn, Leyla nach Berlin zu fragen. Weniger wegen der Zurückweisung, sondern mehr wegen meines allgemein miesen Zustandes. War es denn wirklich eine Zurückweisung gewesen? Drückten ihre Worte nicht viel eher Enttäuschung über mein Verhalten aus?

Am Sonntag saß ich dann morgens in meiner Wohnung vor einem gelösten Kreuzworträtsel und es zerrte und jaulte in mir. Eine Woche Urlaub lag vor mir und ich wusste nichts damit anzustellen. Sie würde vergehen mit Zocken und Fernsehen, fürchtete ich. Ich nahm lustlos eine Supermarktwerbung, blätterte auf der Suche nach Inspiration in ihr umher. Dagegen hämmerte es von der anderen Seite des Kopfes: »Dann tu doch was. Dann ändere doch was. Du bist frei, niemand hindert dich.« Ich hoffte, dass das Telefon klingeln würde. Es blieb stumm. Das Hämmern wurde penetranter. Tick, Tick, Tick. Ich startete den Laptop und schloss den Controller an. Die erste Runde Fifa half. Dann kam es wieder: Tick, Tick, Tick. Etwas musste geschehen. Jetzt. Plötzlich brach die Kapsel hinten in meinem Kopf. Die Gedanken »Berlin und Leyla« strömten heraus. Vor allem »Leyla«. Die Kapsel wäre da im Normalfall verrottet, wie das bei jedem von uns tagtäglich mit Millionen Gedanken geschieht. In diesem einen Moment, zu dieser Uhrzeit, bei dieser Temperatur, in dieser Jahreszeit, da zersprang die Hülle des Samens und rasend schnell wuchsen Stränge, wie bei einem Pilzmyzel im feuchten Spätsommer. Gefilmt im Zeitraffermodus. Sie überwucherten meinen Willen. So kam es, dass ich nach Berlin fuhr.


Ich schlug mit der Faust auf den aufgeräumten Küchentisch, knüllte die Supermarktwerbung zusammen und stand auf. Einen kleinen Rucksack gepackt, eine Zeitung gekauft, schon stand ich am Automaten der Deutschen Bahn und kurze Zeit später saß ich im Zug Richtung Berlin.

Die Schaffnerin kam: »Die Fahrkarten, bitte.« Sie bellte mehr, als dass sie sprach. Ich reichte ihr meine. Sie schaute, stempelte und merkte an: »Ohne BahnCard.« Dann lehnte ich den Kopf gegen das kühle Glas und dachte nichts und schaute in die vorbeifliegende Landschaft aus Wald und Heide. Der Himmel war wolkenverhangen.

Am Berliner Hauptbahnhof wechselte ich in einen Bus. Schließlich hielt er am Stadtrand und mit mir gemeinsam stiegen eine Frau und ein Mann mit Dreadlocks und indischen Wickelröcken aus. Brandenburg hatte soeben begonnen, von hier war es nicht mehr weit bis zu der besetzten Fabrik. Die beiden waren sicherlich dorthin unterwegs. Auf dem Bürgersteig kniete ich umständlich nieder und band mir meine Schuhe neu. Als sie ein Stück Abstand gewonnen hatten, folgte ich ihnen.

Wir gingen auf einer wenig befahrenen Landstraße und dann bogen sie in eine Fabrikeinfahrt ein. Das besetzte Gebäude wurde sichtbar. Es war ein Betonklotz mit einer ehemaligen Werkshalle im unteren Bereich und zwei Reihen Fenstern in den oberen Stockwerken, hinter denen vermutlich vormals Büroräume lagen. Einzelne Fenster waren mit Folie verklebt. Vom Dach wehten bunte Fahnen, drei hölzerne Windräder drehten sich. Banner flatterten an der Gebäudewand.

Die beiden, die mit mir den Bus verlassen hatten, waren verschwunden. Ich hätte Leyla anrufen sollen. Wie wirkte das denn, wenn ich hier einfach auftauchte? Wie ein Stalker.

Unbemerkt blieb ich erst einmal im Schatten von Bäumen stehen und verschaffte mir einen Überblick.

Schaufelzähne eines rostigen alten Baggers, der in einer Ecke des weitläufigen Hofes stand, blitzten silbern an den frisch zerkratzten Stellen. Die Arbeit der Maschine schien erledigt. Die Hälfte des brüchigen Asphalts war zur Seite gerissen und in geraden Ackerfurchen strebten hunderte kleine grüne Pflänzchen zur Frühlingssonne. Jemand stellte ihnen soeben Bambusstöcke zur Seite. Man schien sich für längere Zeit einzurichten. An der Flanke des Gebäudes saß eine Gruppe Menschen unter zwei verblichenen Coca-Cola-Sonnenschirmen. Von irgendwoher schallte metallenes Hämmern. Ich versuchte, die Schrift auf den Bannern zu entziffern. »Refugees Welcome!«, konnte ich lesen. »No Border, No Nation!« Und: »Keine Massentierhaltung!« Und: »Gegen den Neo-Imperialismus!«

Nun stand ich einige Minuten dort, dachte und hoffte, ich würde Leyla sehen. Besser noch: Sie würde mich bemerken und herüberkommen und sagen: »Toll, dass du da bist. Wir brauchen dich!«

Es kam natürlich niemand. Schließlich gab ich mir einen Ruck, marschierte durch die Einfahrt, vorbei an dem Feld und hin zu den Sonnenschirmen. Sie saß als Teil einer Runde mit dem Rücken zu mir. Alle beugten sich über ein großes Stück Papier, das zwischen ihnen aufgefaltet auf dem Boden lag und aussah wie der Bauplan von irgendwas Elektrischem.

»Ähm, hi«, sagte ich.

»Mensch Konstantin!« Leyla sprang auf und schien ehrlich erfreut. Erleichterung entspannte mein zu einem Grinsen verzerrtes Gesicht. Die Hürde war genommen. »Schön, dass du da bist!«

»Ja«, sagte ich. »Ich saß zu Hause und irgendwie hatte ich Lust und will ein, zwei Tage bleiben. Also auch helfen.«

»Schön!«, antwortete sie. »Das sind die Ingenieure Frida, Michi und Karl. Das hier ist Konstantin. Er ist mein neuer Nachbar in Köln.«

Frida und Michi standen auf und gaben mir die Hand. Karl hingegen löste kaum seinen Blick von dem Plan. »Hallo Konstantin«, sagte er. »Kennst du dich mit Solaranlagen aus?« Bevor ich Nein sagen konnte, fuhr er fort: »Egal. Hast du eine Isomatte dabei? Schon, oder? Du kannst dich überall hinlegen, bloß nicht in den Weg. Viele, Leyla auch, schlafen im ersten Stock im ehemaligen Aufenthaltsraum.«

Dann schaute er mich an, veränderte seinen Gesichtsausdruck, als würde er dafür innerlich einen Schalter umlegen, er hatte ein hübsches Gesicht mit dunklen Locken und lächelte breit.

Ich schaute Leyla an, sie nickte und sagte: »Wir lassen euch mal besser in Ruhe basteln. Bis später.«

»Bis später«, erwiderten die anderen.

Schweigend gingen wir in das Gebäude hinein. Es war der einzige Moment, in dem Freitagnacht und die Szene auf dem Bürgersteig Thema waren. Und das, ohne dass wir darüber redeten. Ich glaube ernsthaft, dass das eine Fähigkeit der zwischenmenschlichen Kommunikation ist, von der es sich lohnt, sie zu beherrschen: Einzelne Vorfälle aus der Kommunikationsgrundlage auszuradieren. Man kann sie zwar nicht aus dem Gedächtnis löschen, aber man kann beschließen, sie nicht weiter zu berücksichtigen. Also schwiegen wir durch diese Momente hindurch, die dafür gemacht waren, zu reden.

In der Halle schliffen zwei Männer mit elektrischen Schleifgeräten an einem Auto. Die Luft war staubverhangen. In einer anderen Ecke stand ein großes Huhn aus Pappmaché. Leyla deutete dorthin und rief gegen den Lärm des Schleifgerätes: »Auf diesem Gelände soll eine Hühnerzuchtanlage gebaut werden. Die Besetzung richtet sich auch dagegen. Wenn du magst, kannst du dich hier in der Halle später bestimmt nützlich machen. Nun komm erst mal deine Sachen wegbringen. Hast du Hunger?«

Der Nachmittag verlief gut. Ich stand auf einer Leiter und pinselte gemeinsam mit Frida und Michi den gigantischen Pappmachéhahn bunt. Die Leute waren nett, wir hatten Spaß.

Der Abend war ebenso angenehm. Wir kochten als Team in riesigen Töpfen und nach dem gemeinsamen Essen an einem langen Tapeziertisch machte ich den Abwasch und Leyla half mir beim Abtrocknen. Anschließend gab es Wein und Karl zeigte sich als Alleinunterhalter, indem er über die Gesellschaft und Politik monologisierte. Draußen am Feuer wurde Karl ruhiger, obwohl er, das fiel mir auf, neben mir als Einziger die Joints ablehnte, die durch die Runde kreisten.

Erst ging es um Nazis in Brandenburg, dann um Routen für die Demonstration gegen Rechts, die am nächsten Tag stattfinden sollte. Die Polizei hatte einen Sperrbezirk zwischen Demonstranten und Gegendemonstranten eingerichtet. Diejenigen, die sich in Berlin auskannten, überlegten, wie sich dieser umgehen ließe. Dann sprang man zu der Zukunft des Geländes.

»Deutschlands größter Geflügelproduzent will das bestehende Gebäude abreißen und hier eine Geflügelfabrik errichten«, sagte Frida. »Clever wie die sind, weiß die Öffentlichkeit nicht richtig, was das hier werden soll. Das zuständige Baudezernat hat natürlich nichts an die große Glocke gehängt. Jedenfalls soll noch dieses Jahr mit dem Bau begonnen werden.« Sie lauschte ihren eigenen Worten nach. »Allein, wenn ich mir diese Begriffe anhöre, kriege ich einen Hals. Produzent. Fabrik. Um die Aufzucht von Lebewesen zu beschreiben!«

»Und ihr wollt dagegen vorgehen?«, fragte ich.

»Ja, verflucht. Jetzt erst mal die Besetzung halten und dann schlagen wir Alarm. Sonst unternimmt die Politik nie was. Die wollen hier aus Küken Chicken Wings machen und es fand nie eine wie auch immer geartete öffentliche Diskussion darüber statt, ob die Bevölkerung dem zustimmt. Die Küken werden halb lebendig zu Brei gehäckselt, in Förmchen gegossen und gebacken. Naja, wahrscheinlich kennst du so Bilder aus dem Fernsehen.«

Die kannte ich nicht, trotzdem spürte ich mich nicken.

»Jedenfalls lehnen laut Umfragen mehr als fünfzig Prozent der Deutschen diese Form der Tierhaltung ab. Mehr als fünfzig Prozent wären auch damit einverstanden, sie in Deutschland zu verbieten.«

»Aha«, sagte ich und fügte vorsichtig hinzu: »Und trotzdem gibt es viele, die regelmäßig zu Burger King und KFC gehen? Ich sehe in meiner Mittagspause immer die Schlangen in diesen Läden.« Um ehrlich zu sein, sah ich diese Schlangen vor allem deswegen, weil ich regelmäßig Teil davon war. Aber das sagte ich nicht.

»Das ist es ja gerade. Die Leute fressen den Mist und finden es gleichzeitig im Prinzip nicht richtig. Gerade deswegen müsste hier die Politik regulieren. Satt und mit Vernunft stimmen die Menschen in Umfragen gegen diesen Dreck. Hungrig und auf den Preis schielend, kaufen sie im Laden das meiste Essen für das wenigste Geld. Eigentlich wollen sie es nicht. Für die Umsetzung des abstrakten ›eigentlich‹ müsste die Politik sorgen. Der Konsument ist dumm.«

Dann verließen wir die Hühnchenfabrik, scherzten, lachten und redeten. Grandioserweise passte der einzige Witz, den ich kenne: »Ein Opa sitzt in der Bahn. Ihm gegenüber, ein Punker mit rotem Hahnenkamm. Der Opa schaut den Punker lange an und schüttelt mehrmals mit dem Kopf. Dann reicht es dem Punker und der fragt: ›Alter, hast du früher nichts Verrücktes gemacht?‹ Darauf der Opa: ›Doch, doch. Ich habe Hühner gefickt. Jetzt überlege ich, ob du mein Sohn bist.‹« Diesmal lachten sowohl Frida als auch Leyla. Das war gut.

Nacheinander gingen Einzelne schlafen. Als zwei der Letzten saßen Leyla und ich am Feuer. Ihren deutlichen Worten vorgestern zum Trotz versuchte ich es noch einmal. Ich sagte so etwas wie: »Das ergibt keinen Sinn, dass so viele Leute in demselben Raum übernachten. Es stehen so viele Büros leer, in denen man schlafen könnte.« Und: »Man würde sicher viel besser in einem leeren Büro schlafen.« Und: »Ui, diese Büros sehen aber gemütlich aus.«

Wenig überraschend schlief ich dann allein in einem der kleinen Räumchen. Während ich meinen Kopf auf meine zusammengefaltete Jacke legte und versuchte, eine Stelle ohne Reißverschluss zu finden, nahm ich immer deutlicher einen Geruch wahr, der an alten Urin erinnerte, vermutlich jedoch aus dem sich wölbenden grauen Teppich kroch. Oder unter der abblätternden Wandfarbe dem Zement entfleuchte. Egal, dachte ich beim Einschlafen: Es ist ein schöner Tag gewesen.

Am nächsten Mittag brachen wir gemeinsam als Gruppe auf. Wir hatten Plakate dabei, auf denen standen Sätze wie »Bomben schaffen keinen Frieden!« und »Refugees-Welcome«. Außerdem einige Megafone. Als wir auf den Bus warteten, rief uns ein Mann aus seinem Vorgarten Beleidigungen zu. Ich sah, dass Karl an seinem Megafon fummelte. Er mühte sich, doch zum Glück klemmte der Schalter. Und dann kam der Bus und ich war froh, dass er den Mann nicht noch als Ratte oder Faschisten beschimpfen konnte. Es lag eine mir unangenehme Aggressivität in der Luft.

In Berlin wurden wir bereits mittags von der Polizei in Richtung des Demonstrationsplatzes dirigiert. Wir besorgten uns etwas zu essen und einige öffneten ihr erstes Bier.

Wir saßen auf dem Asphalt und warteten. Jemand hatte eine Frisbee mitgebracht, die wir hin und her warfen, bis es auf dem Platz zu voll wurde. Zu unserer Gruppe stießen noch einige Freunde und Bekannte, unter anderem auch Franziska und Armin von Oswald. Beide waren lang und dünn. Sie mit glatt fallendem Haar und sportlichem Multifunktionsshirt und er weißhaarig und trotz der sommerlichen Wärme in Hemd und Jackett. In seinem gut gebräunten Gesicht waren tiefe Furchen und einige ungesund aussehende weiße Flecken. Er sah aus wie jemand, der in seinem langen Leben konstant zu viel gearbeitet, vielleicht auch zu viel Alkohol getrunken hatte, aber seine Urlaube mit ausgedehnten Strandspaziergängen verbrachte.

Frida kletterte irgendwann mit einem Megafon auf einen Bauzaun, die Polizisten gingen in Habachtstellung.

Ich fand, sie sah gut aus, wie sie sich dort oben auf dem Zaun in Rage redete und über die Diskrepanz zwischen Moral und Handlung predigte.

Es war Karl, der dann laut dazwischenrief: »Auf die Fresse!« Mir wurde nicht klar, ob er die Polizisten oder die anderen Demonstranten  meinte.

Und leiser zu seiner direkten Umgebung sagte er mit Frust in der Stimme: »Das bringt doch niemanden weiter. Politiker interessieren sich nicht dafür, was hier passiert, solange ihnen kein ordentlicher Sturm entgegenweht. Grenzen aufmachen und schauen, was passiert. Das wäre spannend. Aber nein, Gesetze verbieten solche Experimente. Was schrieb Schiller? Aus etwas, das Adlerflug geworden wäre, hat das Gesetz Schneckengang gemacht.«

»Na dann, geh nach oben und halte deine schöne kleine Rede auf dem Zaun«, sagte seine Schwester und schubste ihn ein Stück nach vorne. »Was jetzt? Dafür bist du dir dann zu schade? Feigling«, ärgerte sie ihn.

»Na, na«, mischte sich ihr Vater ein. Er hatte eine Stimme, die mich spontan an einen ununterbrochen rauchenden Diplomaten denken ließ. »Und Sie, sind Sie heute aus Köln angereist?«, wendete er sich an mich, da ich neben ihnen stand.

Ehe ich etwas sagen konnte, antwortete Karl: »Der wohnt bei uns.«

»Ach, das letzte Mal, als ich in Zillow war, habe ich Sie gar nicht gesehen. Armin von Oswald«, stellte er sich vor. Seine Hand war faltig und kühl.

»Konstantin«, sagte wieder Karl.

»Nun lass den jungen Mann mal selbst sprechen, Sohn.« Das »Sohn« duldete keinen Widerspruch und von Oswald lächelte so, dass sein gesamtes Gesicht sich runzelte.

»Ja, ich bin Konstantin und für ein paar Tage zu Besuch. Es geht bald zurück nach Hause. Die Arbeit ruft.«

»Ah, Arbeit«, sagte er. »Was arbeiten Sie denn?«

»Ich bin Sekretär in einer Papierproduktion. Nichts Interessantes.«

»Das klingt für mich sehr interessant. Ich finde, Papier ist eine wunderbare Erfindung. Immerhin ist es das Medium für zig Millionen kluge Gedanken und gute Geschichten. Ich lese gerne, wissen Sie. Und an das Lesen am Computer kann ich mich nicht gewöhnen. Meine Tochter«, er deutete auf Franziska, die sich nach vorne beugte und mir stumm zunickte und die Hand reichte, ihr Händedruck glich in seiner Bestimmtheit dem ihres Vaters mit einer jüngeren, weniger faltigen Hand, »sie hat mir vor einiger Zeit einen E‑Book-Reader geschenkt. Der Bildschirm ist sehr gut. Aber auch da fehlt mir das griffige Papier zwischen den Fingern. Die schöne Textur, die Gewissheit, das Medium zu verstehen. Haben Sie ein Lieblingspapier bezüglich Textur und Gewicht?«

»Darüber habe ich nie nachgedacht.«

Armin von Oswald fragte weiter nach Vertriebswegen, Herstellung, Anbau von Holz und Marktentwicklung. Er war ein Meister der Unterhaltung. Konversation ist ein noch treffenderes Wort. Ich hatte das Gefühl, ich könnte als Schlachter arbeiten und er würde mich ebenso interessiert und kenntnisreich befragen. Als Frida ihre Rede beendete, unterbrach er unser Gespräch und skandierte die schlecht gereimten Kampfslogans mit, als wäre das seine liebste Beschäftigung. Nachdem diese verebbt waren, sprang er an denselben Punkt der Unterhaltung zurück. Als der Demonstrationszug nach längerer Verzögerung startete, verabschiedete er sich. 

»Dieses Gedränge in Bewegung – das ist nichts mehr für mich. Ich fahre zurück zu der Wohnung meiner Tochter. Euch wünsche ich einen guten Abend! Und vielleicht auf bald, Konstantin.«

Wir blieben nach einiger Zeit vor einem geparkten Polizeitransporter hängen und warteten auf Nachzügler aus unserer Gruppe. Wie Gestrüpp vor einem Stein in einem Fluss. Die Kommunikation war schwierig, denn das Handynetz war durch die vielen Menschen überlastet. Mir fiel die nervöse Stimmung der Polizisten auf, die dicht gedrängt in dem Auto saßen. Immer wieder streckten Demonstranten ihren Kopf zur geöffneten Schiebetür herein, sich am Türrahmen festklammernd. Sie fragten, wo die Route ende. Ob die Straßenbahn umgeleitet werde. Ausschließlich organisatorische Dinge und, soweit ich es mitbekam, durchweg freundlich.

Dann wurde ein Mädchen, so im jüngeren Teenageralter, neben uns von irgendeinem unvorsichtigen Trottel umgerannt. Sie war mir schon zuvor aufgefallen. Verzweifelt hatte sie immer wieder ihr Handy in die Höhe gehalten und offenbar gemeint, so Empfang zu bekommen. Sie war mit jeder Minute panischer geworden. Sie war allein und wusste in dieser Masse von Menschen nicht wohin. Derjenige, der sie angerempelt hatte, blieb nicht stehen, ob er es nicht gemerkt hatte oder ob es ihm schlicht egal war, konnte ich nicht sehen. Sie schrammte sich die Hände und das Kinn auf und blieb, endgültig verzweifelt, schluchzend auf dem Asphalt sitzen. Daraufhin streckte auch Leyla ihren Kopf durch die Tür, um nach Hilfe für das Mädchen zu fragen.

Und dann ging alles ganz schnell.

Ich sah aus dem Augenwinkel, wie eine rothaarige Polizistin Leyla aus dem Wagen schieben wollte und Leyla genau in diesem Augenblick unglücklich ihren Kopf drehte, um auf das verletzte Mädchen zu zeigen, und dabei die Polizistin mit ihrem Hinterkopf im Gesicht traf. Die schrie auf. Die anderen Polizisten sprangen aus dem Wagen. Die Rothaarige hielt sich mit der einen Hand die Nase und mit der anderen versuchte sie, Leyla festzuhalten. Karl wollte Leyla helfen. Es gab ein heftiges Gerangel und ich blieb wie angewurzelt stehen, halb  daneben,  halb  mittendrin,  und  rührte  mich  nicht  vom Fleck, bis ich mich plötzlich auf dem Boden liegend wiederfand. Mit dem Gesicht nach unten und den Armen auf dem Rücken.

Andere Demonstranten skandierten: »Bullenschweine, Bullenschweine.«

Die Polizisten umringten uns und das Auto. Sie trugen Schutzschilde aus Plexiglas vor ihren Körpern. Die Atmosphäre der Demonstration war binnen Sekunden gekippt. Ein Feind war gefunden und der Hass schallte aus dem rhythmischen »Bullenschweine, Bullenschweine«. Als man uns in den Transporter schob, das Fahrzeug sich langsam in Bewegung setzte und von außen Leute donnernd gegen das Blech schlugen, war ich einigermaßen froh, dort drinnen zu sitzen. Leyla neben mir hingegen schimpfte lauthals über den Polizeistaat. Karl mit zusammengepressten Lippen und einer Platzwunde über der Augenbraue. Nur Franziska schien die Ruhe selbst zu sein. Sie hatte den Kopf auf die Knie gelegt und hielt die Augen halb geschlossen, als würde sie jede Sekunde eindösen.

Auf der Polizeistation sperrte man uns gemeinsam in eine gekachelte Zelle, die außer zwei Holzpritschen nichts enthielt.

»Könnte ein bisschen dauern«, sagte der Beamte, bevor er die Metalltür zuzog.

»Wenigstens ein verdammtes Pflaster. Er hat eine Wunde!«, brüllte Leyla ihm hinterher. Daraufhin öffnete er die Tür noch einen Spalt und sagte: »So jemand wie er ist das ja wohl gewohnt. Oder?« Dann klickte die Tür endgültig in das Schloss.