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www.lenos.ch

Gabrielle Alioth

Gallus, der Fremde

Roman

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Autorenbiografie

Gabrielle Alioth, geboren 1955 in Basel, war als Konjunkturforscherin und Übersetzerin tätig, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. 1990 publizierte sie ihren ersten, preisgekrönten Roman Der Narr. Es folgten zahlreiche weitere Romane, Kurzgeschichten, Essays sowie mehrere Reisebücher und Theaterstücke. Daneben ist sie journalistisch tätig und unterrichtet an der Hochschule Luzern. Seit 1984 lebt Gabrielle Alioth in Irland.

www.gabriellealioth.com

E-Book-Ausgabe 2018

Copyright © 2018 by Lenos Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Hauptmann & Kompanie, Zürich, Dominic Wilhelm

Umschlagillustration: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 602, p. 33 – Deutsche Heiligenleben

ISBN 978 3 85787 969 2

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1Bangor

2Chalon-sur-Saône/Cabillonum

3Luxeuil-les-Bains/Luxovium

4Besançon/Vesontio

5Tours/Civitas Turonum

6Nantes/Portus Namnetum

7Metz/Divodurum

8Zürich/Turicum

9Tuggen/das heillose Dorf

10Arbon/Arbona

11Bregenz/Brigantium

12St. Gallen/Einsiedelei

13Bobbio/Bobium

Seit langer Zeit beschäftigt mich das Schicksal des heiligen Gallus, und als ich Irland vor ein paar Jahren verlassen musste, begann ich seine Geschichte zu erforschen. Ich wollte herausfinden, wie es ihm in der Fremde ergangen war, warum er sich von seinen Gefährten getrennt hat und warum er nie auf die Insel zurückgekehrt ist. Doch je mehr ich über ihn erfuhr, umso rätselhafter erschien mir sein Leben, und am Ende stieg ich die Schlucht zu seiner Einsiedelei hinauf.

Er träumt von dem Hund. Die Sonne scheint auf die Bucht, und der Hund jagt mit freudigen Sprüngen den weissen Schaumrändern nach, die von den Wellen über den Sand gespült werden.

»Vater?«, flüstert es vor der Hütte.

Er versucht, den Traum festzuhalten, das Licht – Vater, so nennen sie ihn jetzt; oder den Alten, wenn sie meinen, er höre sie nicht. Seine Glieder sind starr vor Kälte. Ist es möglich, dass es immer kälter wird in diesem Wald?

»Seid Ihr wach, Vater?«

Er dreht sich auf den Rücken.

»Wir haben ohne Euch gebetet.« Magnoald klingt schuldbewusst.

Er hat die Glocke nicht gehört, und sie haben ihn schlafen lassen. Aus Vorsicht, Rücksicht, Angst, ihn tot auf seinem Lager zu finden. Ein Unbehagen gärt in ihm, die ganze Nacht schon, und plötzlich weiss er wieder, warum: die Frau. Sie behauptet, sie komme von der Insel und sei in Luxovium gewesen, in Brigantium, Arbona, auch dem heillosen Dorf am See womöglich. Nun will sie mit ihm reden. Magnoald wird ihr in der Scheune ein Lager bereitet, ihr Brot, Mus und vielleicht auch von dem Honig, den sie für Gäste aufbewahren, gegeben haben. Es gehört zu ihren Pflichten, Pilger aufzunehmen, ihr Essen und ihre Gebete mit ihnen zu teilen. Er öffnet die Augen und blickt in das feuchte Hüttendach. Es gehört nicht zu seinen Pflichten, seine Erinnerungen mit jemandem zu teilen.

Eine Krähenschar fliegt aus den Baumwipfeln, als Gallus aus der Hütte kommt. Der Himmel über dem Wald ist grau wie seit Wochen. Auf den Pfaden, die von den Behausungen der Männer zum Bethaus führen, stehen Pfützen, der Boden dazwischen ist sumpfig. Als habe der Frühling sie vergessen. Die Männer unter dem Vordach des Esshauses beobachten ihn, während er das Knie vor dem Kreuz in der Mitte der Lichtung beugt; sie wissen, dass er das Gebet verschlafen hat. Siebenmal am Tag singe ich Dein Lob, und nachts stehe ich auf, um Dich zu preisen, heisst es im Psalm. Columba hatte unwillig den Kopf gereckt: Betet ohne Unterlass!, schrieb Paulus an die Thessalonicher. Siebenmal am Tag war Columba nicht genug, nichts war ihm genug. Der vertraute Schmerz zuckt Gallus von der Hüfte in den Oberschenkel und bringt ihn ins Schwanken. Die Männer vor dem Esshaus rühren sich nicht; die Frau steht neben ihnen. Manchmal wünscht er sich, es wäre möglich, allein in diesem Wald zu leben.

Ich fürchte, er stürzt, aber die Männer neben mir rühren sich nicht. Während ich am Tag zuvor die Schlucht hinaufgestiegen bin, habe ich mich gefragt, ob mich hier der Tod erwarten wird. Wie ein Pilz scheint die Einsiedelei aus der Feuchtigkeit des Waldes im Steinachtal gewachsen und kann im nächsten Moment zu Fäulnis zerfallen. Gallus schwankt, dann fängt er sich und geht mit gesenktem Kopf ins Bethaus.

Öffne meine Lippen, damit mein Mund Dein Lob verkünde. Gallus steht im leeren Bethaus und wiederholt die Worte in seinem Kopf. Er hat schon lange nicht mehr von dem Hund geträumt. Öffne mein Herz – Die Sonne glitzerte auf den Wellen, die an den Strand spülten, Grasnelken blühten vor seinen Füssen, ein rosarotes Polster. Es war Sommer. Im Wind, der über das Dünengras strich, hing der süsse Duft der Wiesen und verwischte das Läuten der Glocke – sie läutet tatsächlich. Die Tür des Bethauses öffnet sich, und Gallus hört, wie sich die Männer in seinem Rücken zur Terz versammeln.

An dem Morgen am Strand sprang er auf, als er die Glocke hörte, und lief die Düne hinauf, so schnell er konnte mit seinen siebzehn Jahren. Oben auf der Kuppe hielt er inne und schaute zurück. Auch der Hund war stehen geblieben. Für einen Moment sahen sie sich an, dann wandte der Hund sich ab und jagt weiter den Wellen nach. Als Gallus die Kirche der Abtei betrat, hatten die Gebete längst begonnen. Er versuchte, sein lautes Schnaufen zu unterdrücken. Die Mönche beachteten ihn nicht, und er überlegte, welche Busse sie ihm auferlegen würden: Fasten, Schweigen, Schläge?

Dass wir preisen Deine Güte und Deine Gerechtigkeit, singen die Männer im Bethaus hinter ihm.

Er hatte Glück gehabt damals. Als die Mönche die Kirche verliessen, dachte keiner mehr an eine Busse für ihn. Sie dachten alle nur daran, dass der Abt in den Fürbitten um göttlichen Schutz für die dreizehn Gefährten auf ihrer bevorstehenden Reise gebetet hatte. Also hatte Columba seinen Willen durchgesetzt: Er würde Bangor verlassen.

Gallus ist älter, als ich mir vorgestellt habe, seine Schultern sind gebeugt, als drücke sein halbgeschorener Schädel ihn nieder, und seine Glieder hängen lose unter seiner Kutte wie die einer Puppe. Aber sein Geist scheint klar. Ich werde mit ihm sprechen können und aus seinem Mund erfahren, was ich wissen möchte. Ich habe eine Liste meiner Fragen gemacht, chronologisch geordnet, als seien alle von gleicher Bedeutung, und ich werde mit Columbanus beginnen, der sein Lehrer war, sein Wesen und seine Haltung geformt haben muss. Gallus wird ins Erzählen geraten, alte Männer erzählen gern, und ich kann zuhören. Einsam steht er nun vor dem Altar im schnarrenden Gesang der Männer, die sich lieber an die Wände des Bethauses drängen, als ihm zu nahe zu kommen. Würde er den Kopf heben, würde er sie alle überragen.

»Ihr wart ein Schüler von Columbanus.«

Die Frau wartet vor dem Bethaus. Die Männer haben sich bereits zerstreut. Die Tage sind immer noch kurz, und zwischen Morgen- und Abenddämmerung bleibt kaum Zeit für die Arbeit. Auch Magnoald ist nicht zu sehen. Gallus zögert, aber er findet keinen Vorwand, die Frau zu vertrösten, und sie folgt ihm zum Esshaus.

»Ein Schüler von Columba«, wiederholt Gallus.

»Ihr habt ihn gekannt.«

Die Frau setzt sich am Tisch ihm gegenüber. Sie hat ein Heft in der Hand und einen Stift. Sie will aufzeichnen, was er sagt, so wie der Gelehrte vor ein paar Jahren, der die Lebensgeschichte von Columba niederschrieb – Columbanus, wie sie ihn nun nennen, als sei er in dem Land, in dem er begraben liegt, auch geboren worden. Die Frau hat kurzes Haar, und ihre Nase ist von der Kälte gerötet. Sie muss in warmen Räumen aufgewachsen sein, aus vollen Tellern gegessen haben, und sie hat gelernt, geduldig zu sein.

»Niemand hat Columba gekannt.«

»Aber Ihr habt mit ihm die Insel verlassen. Ihr wart von Anfang an zusammen.«

Wartet! Gallus lief hinter Columba her. Der Wind, der vom Strand heraufwehte, schmiegte die Kutte an seinen Rücken, Gallus sah die knochigen Schulterblätter unter dem Stoff. Was willst du? Columba wandte sich um und musterte ihn. Mitkommen. Wohin? Dorthin, wo Ihr hingeht. Die Sonne stand in Gallus’ Rücken, und er sah, wie die Haut sich über Columbas Wangenknochen spannte, seine dünnen Lider und die kleinen Kerben über den Lippen. Warum? Ich will Euch folgen. Gallus versuchte sich an die Bibelstelle zu erinnern: So wie Abraham Gott folgte, als der ihn hiess, sein Vaterland zu verlassen, um in das Land zu ziehen, das er ihm zeigen werde. Columba schnaubte. Abraham war ein erwachsener Mann. Gallus schob die Schultern zurück, er überragte Columba. Erwachsen im Geist, entgegnete er. Ich werde von Euch lernen. Columbas Miene verhärtete sich. Er musste wissen, wie sehr die Schüler, die er in der Abteischule unterrichtete, ihn fürchteten. Du wirst deine Familie nie wiedersehen, sagte Columba. Ich habe keine Familie. Dein Vater? Ich kenne ihn nicht. Deine Mutter? Tot. Um Columbas Mund zuckte es, und einen Moment überlegte Gallus, ob die eisblauen Augen ihn erkannten. Er war ein Kind gewesen damals im Turm, keine sieben Jahre alt. Aber Columba schwieg. Ich werde Euch dienen, versicherte Gallus, und einen Augenblick dachte er an den Hund am Strand. Du kannst nichts, was uns in der Fremde von Nutzen sein wird. Gallus zögerte einen Moment: Ich kann Fische fangen.

Gleich bei meiner Ankunft in der Einsiedelei habe ich den modrigen Geruch bemerkt, und nun, da ich neben Gallus sitze, wird er stärker. Das Esshaus, wie sie es nennen, ist ein langer, niedriger Raum, in dem Leute kommen und gehen. Es dauert eine Weile, bis ich Gallus zum Sprechen bringe, aber ich bin vorbereitet. Ich kenne die Orte, die Personen, ich habe eine Karte von seinem Weg gezeichnet, auf der alle Ereignisse eingetragen sind, und als er endlich zu erzählen beginnt, ist mir jedes Wort vertraut: Nach langen Jahren im Kloster gestand Columbanus dem Abt von Bangor sein Verlangen, die Insel zu verlassen, und schweren Herzens erteilte ihm dieser die Erlaubnis, versprach, ihn in seinem Vorhaben zu unterstützen und ihm zwölf Reisegefährten mitzugeben. Nur das Knirschen in Gallus’ Stimme befremdet mich, als habe die Zeit die Sätze verkrustet. Sie verliessen die Insel, sagt er, im Wissen, sie niemals wiederzufinden.

Als die Glocke zum Mittagsgebet läutet, klappt die Frau ihr Heft zu; sie hat kein Wort aufgeschrieben. Während sie zum Bethaus gehen, schaut sie sich um, und Gallus überlegt, was sie sieht. Mit seinen Zweigen, seinem Dornengestrüpp rückt der Wald immer näher, und nachts hört Gallus sein Knurren. Der Blick der Frau gleitet über den verwüsteten Küchengarten. Kurz vor Weihnachten sind Wildschweine durch den Zaun gebrochen, und bis die Männer sie mit Stöcken und Steinen vertreiben konnten, war die Erde aufgewühlt. Der Garten muss noch einmal umgegraben, die Steine herausgelesen werden.

»Habt Ihr nie daran gedacht, eine Kirche zu bauen?«

Die Frau betrachtet das hölzerne Bethaus. Gallus erinnert sich, wie der Baumeister des Herzogs verständnislos den Kopf schüttelte. Zwei Pfund Gold und zwei Pfund Silber reichten, um eine Kirche aus Stein zu errichten, ein Refektorium, Werkstätten, eine Küche, ein Backhaus und eine Mauer, die sie vor allen Eindringlingen schützte. Ich habe meine Heimat nicht verlassen, um hinter Mauern zu leben, entgegnete Gallus dem Baumeister und verschenkte die Goldstücke.

»Andere werden es tun. Nach meinem Tod«, antwortet er.

Die Frau mustert ihn von der Seite. »Columbanus war über siebzig Jahre alt, als er mit dem Bau der Kirche in Bobium begann.«

»Er war mir in allem überlegen.«

Gallus senkt den Kopf und betritt das Bethaus. Sobald er an seinem Platz steht, beginnen die Männer zu singen, und nach wenigen Worten verschmelzen ihre Stimmen, als kämen sie aus einer einzigen Kehle. Die Frau muss hinten neben der Tür bei den Mägden stehen. Von Anfang an, sagte sie, sei er mit Columba zusammen gewesen.

Eine Gunst nannten sie es, dass Gallus in die Abtei Bangor aufgenommen wurde, der Sohn einer Unfreien, einer Fremden, deren Ahnungen man fürchtete und benützte. Anstatt dem Besitzer seiner Mutter würde er dem Allmächtigen dienen. Eine Gunst, mit der sich der Herr einen Platz im Himmel erkaufen wollte, so wie mit dem Vieh und den Fässern, die er der Abtei jedes Jahr schickte. In den ersten Wochen glaubte Gallus, er werde es nicht ertragen. Columba war strenger als die anderen Lehrer, und die Klosterschüler ängstigten sich vor seinem Hohn noch mehr als vor seiner Rute. Es hiess, er habe sich beim Abt für Gallus’ Aufnahme eingesetzt, aber nun sauste seine Rute auf dessen Kinderarme und bedeckte sie mit blutigen Striemen. In den Nächten träumte Gallus, er hocke wieder in dem Turm und rieche den süsslichen Geruch der sterbenden Mutter. Man sprach schon lange davon, dass Columba die Insel verlassen wolle. Die Betten im Kloster waren ihm zu weich, das Essen zu reichlich und die Wälle nicht hoch genug. Keiner sprach davon, dass Columba der Sohn des Herrn war, aber alle wussten es. An Ostern besuchte ihn seine Mutter, eine blasse, schmale Frau, die vom Abt die Erlaubnis hatte, mit den Mönchen in der Kirche zu beten. Fische fangen, wiederholte Columba an jenem Morgen, und seine eisblauen Augen ruhten auf Gallus. Simon und Andreas waren Fischer, entgegnete Gallus. Simon, der Petrus genannt wurde. Gallus versuchte, dem eisigen Blau standzuhalten. Der Fels, auf dem Christus seine Kirche baute, fuhr Columba fort, und einen Moment lang war es Gallus, als hätten sich ihre Blicke ineinander verfangen. Mit einer abrupten Bewegung drehte Columba sich um und ging davon. Nach einer Weile bemerkte Gallus, dass die Sonne immer noch schien, und im Schutz der Klosterwälle blühten die Apfelbäume, für die Bangor auf der ganzen Insel berühmt war.

Während die Männer im Bethaus ihre Psalmen singen, überlege ich, was mich hierhergebracht hat. Mehr als dreissig Jahre sind vergangen, seit ich die Insel betrat. Ich dachte stets, dass ich meine Heimat einmal verlassen würde, und die Insel unterschied sich am meisten von dem, was wir kannten. Bereits im siebzehnten Jahrhundert, sagte Andres, habe ein irischer Erzbischof versucht, die Ereignisse der Bibel zeitlich zu ordnen, um den Beginn der Welt festzulegen. Ein paar Wochen nach unserer Ankunft stand ich zwischen den Erlen am Ufer des Baches, nicht weit von dem verfallenen Turm entfernt. Die Sonne war eben aufgegangen, sie glitzerte auf dem Wasser, und ich wusste, dass ich so lange an diesem Ort bleiben würde, wie ich konnte.

Als sich der Abt von Bangor an jenem Abend nach dem Essen erhob, wussten alle, dass er nun die Namen der zwölf Brüder, die Columba begleiten sollten, nennen würde. Es war vollkommen still im Refektorium. Auch von den Alten, die sonst die Breireste aus ihren Zahnlücken saugten, war kein Laut zu hören. Columba, der neben dem Abt sass, starrte auf den Tisch. Domoalis, Cominius, Eunocus … nach jedem Namen ging ein Stöhnen durch den langen, niedrigen Raum, Gallus wartete … Libranus, Romanus. Columba blickte auf. Der Abt sprach den Segen, und das Refektorium füllte sich mit Geflüster. Gallus sass wie gelähmt an seinem Platz.

In der Nacht packte ihn die Verzweiflung. Er würde hierbleiben, in der Abtei mit der düsteren Kirche, den überfüllten Hütten, der stinkenden Latrine, und die immer gleichen Psalmen singen. Eine Weile würde er zwischen den Gebetszeiten noch heimlich über die Wälle klettern und in die Dünen laufen, um auf das Meer zu schauen, das an Ufer spülte, die er niemals betreten würde. Er würde Columba nie wiedersehen. Die beiden Klosterschüler, mit denen Gallus das Lager teilte, unterhielten sich darüber, wer die Betten der Abreisenden bekommen würde. Als sie eingeschlafen waren, stand Gallus auf, nahm seinen Beutel vom Dachbalken, legte seine Decke um die Schultern und verliess die Hütte.

Es war eine windstille Nacht, Gallus konnte die Apfelblüten riechen. Im Schein des Mondes ging er an den Werkstätten vorbei, als er die Stimmen hörte. Columba und Domoalis unterhielten sich vor der Küche. Was kümmert mich sein Wunsch?, sagte Columba. Er wird dir überallhin folgen, antwortete Domoalis, und zudem – Columba liess ihn nicht ausreden. Er wird nicht mitkommen, zischte er, und es traf Gallus wie ein Schlag: Sie redeten von ihm. Als er wieder auf die Stimmen achtete, war der Streit vorbei. Wir werden andere sein an einem anderen Ort, sagte Columba gelassen. Wir tragen unsere Vergangenheit mit uns, entgegnete Domoalis.

Gallus verharrte im Schatten der Werkstätten, bis die beiden gegangen waren. Er kam sich mit einem Mal albern vor mit seinem Beutel, seiner Decke. Hoffte er, ein Kaufmann würde ihn auf seinem Schiff mitnehmen, oder er könnte Arbeit bei einem Bauern finden? Mit seinem halbgeschorenen Kopf wäre er überall als Novize zu erkennen, und es würde nicht lange dauern, bis man wüsste, wo er weggelaufen war. Auf der Insel blieb nichts verborgen.

Aus der Vergangenheit Vorbilder für die Zukunft zu schaffen sei seine Absicht, erklärt Jonas von Bobbio im Vorwort seiner Vita Columbani. So wie ich hat er Gallus in der Einsiedelei besucht, damit der ihm seine Fragen beantworte; und dann schreibt er von unruhigen Zeiten, einer sich wandelnden Welt, in der die Wahrheit durch falsche Lehren entstellt zu werden drohe. Ich kenne die Beschreibungen von Gallus’ Leben, die eine aus dem siebten Jahrhundert, die nur zum Teil erhalten ist, und die beiden anderen aus dem neunten Jahrhundert, die auf der Insel Reichenau geschrieben wurden. Ich habe Bücher, Aufsätze, Vorträge gelesen, die Orte besucht, an denen Gallus sein Leben verbrachte, und jetzt bin ich trotz aller Warnungen die unwegsame Schlucht hinaufgestiegen. In unruhigen Zeiten, in einer sich wandelnden Welt aus dem Vergangenen ein Bild für die Zukunft zu schaffen, das ist auch meine Absicht. Denn jedes Ereignis ist Teil eines folgenden, und jede Gegenwart findet in der Vergangenheit die Antworten, die sie sucht. Während ich vor der Tür des Bethauses auf Gallus warte, spüre ich die Blicke der Männer auf mir. Sie müssen aus den Siedlungen am See unten stammen, kennen nur diesen Wald, und ich verstehe ihr Misstrauen. Aber es beunruhigt mich auch. Magnoald, der Diakon, verlangsamt seinen Schritt, als er an mir vorbeigeht, und einen Augenblick denke ich, er werde anhalten und mir erklären, dass ich hier nicht erwünscht sei.

»Es ist Zeit, die Bittsteller anzuhören«, sagt Gallus, als er aus dem Bethaus kommt. Die Enttäuschung fällt wie ein Schatten auf das Gesicht der Frau, und sie sieht mit einem Mal verletzlich aus. »Du kannst mitkommen«, fügt er halbherzig hinzu und wendet sich zum Esshaus.

Am Morgen von Columbas Aufbruch hatten sich die Mönche im Refektorium versammelt. Ihre Habe und den Proviant hatten sie bereits in ihrem Boot verstaut. Jetzt erhielten sie noch die Bücher: Abschriften der vier Evangelien, in Ziegenleder gebunden, die Paulusbriefe, ein Messbuch, ein Psalter und Teile des Alten Testaments, die man zwischen zwei Holzdeckel genäht hatte. Gallus beobachtete, wie der Abt die Bände in Leinentücher hüllte. Er zauderte, schlug das Markusevangelium nochmals auf, blätterte darin, betrachtete die mit Ranken und Tieren verzierten Initialen, als hoffe er, Gott werde ihn im letzten Moment daran hindern, die kostbaren Schriften wegzugeben. Zum Schluss lagen alle Bücher in dem Ranzen, den der Kürschner dafür aus braunem Rindsfell gefertigt hatte, und der Abt überreichte ihn Columba.

An der Spitze seiner Gefährten trug Columba den Ranzen durch die Siedlung. Hinter ihm ging Cominius, die Glocke in den Händen, deren Läuten sie in der Fremde vor dem Teufel beschützen würde. Gallus stand inmitten der Zurückbleibenden. Die Enttäuschung würgte ihn in der Kehle. Da bemerkten sie es. Elf, sagte einer. Es sind nur elf, wiederholte ein anderer lauter, und alle begannen zu zählen. Cominius, Libranus, Eunocus – Columba blieb stehen. Romanus fehlt, sagte Domoalis. Die Männer schauten sich um, als könnte der Vermisste sich versteckt haben, manche riefen seinen Namen, einer lief zu seiner Hütte, und von dort erklang ein Heulen.

Romanus lag mit verrenkten Gliedern auf seinem kotverschmierten Lager. Er musste seit Stunden tot sein; in der Aufregung über die Abreise hatte niemand sein Fehlen bemerkt. Gallus drängte sich hinter den anderen in die Hütte. Er musste sich die Nase zuhalten. Der Abt begann von der Unergründlichkeit des göttlichen Willens zu sprechen, der die Besten von ihnen zu sich nahm. Romanus war nie einer von uns, wandte einer der Mönche ein. Er kam aus Britannien oder von noch weiter her, als Sklave, und weil er Lateinisch schreiben konnte, übergab sein Herr ihn der Abtei; deshalb haben wir ihn Romanus genannt. Domoalis strich mit der Hand über das Gesicht des Toten und schloss dessen Lider. Gallus spürte die Feuchtigkeit der Lehmwände durch seine Kutte dringen. Er betrachtete die Eibennadeln, die auf dem Hüttenboden zerstreut lagen. Alle mussten sie sehen, aber niemand sprach davon. Romanus war ein Fremder hier, fuhr der Mönch fort, warum hätte er in eine andere Fremde ziehen sollen? Er wird in unserer Erde ruhen bis zum Jüngsten Gericht, sagte der Abt rasch. Das Herz schlug Gallus bis zum Hals, als er zu sprechen begann. Wie konnte Columba mit nur elf Gefährten dem Vorbild Christi folgen? Würde man ihn nicht verlachen, ihn gar der Gotteslästerung bezichtigen? Die Mönche blickten zum Abt. Der Ranzen mit den heiligen Schriften in Columbas Händen zitterte.

Gallus weiss nicht mehr, was er an jenem Morgen sonst noch sagte, aber er sprach nicht lange, und dann war es entschieden: Er würde Columba an Romanus’ Stelle begleiten. Eine Fügung des Himmels nannte es der Abt. Er ist der Sohn einer Unfreien, wandte Libranus ein, er hat sein Gelübde noch nicht abgelegt, sagte ein anderer. Es ist die beste Lösung, sagte der Abt. Columba schwieg. Gallus glaubte Wut in seinen blauen Augen zu sehen. Dann drehte Columba sich um und ging zu dem wartenden Boot. Gallus folgte den aufbrechenden Mönchen mit dem Abstand, der sich für einen Diener gehörte. Bevor er den Klosterwall verliess, blickte er zurück zu den Krähen, die auf dem Dach von Romanus’ Hütte sassen. Er muss glücklich gewesen sein in diesem Moment.

Das Esshaus hat sich während des Mittagsgebets mit Menschen gefüllt. Zwei liegen auf Bahren, andere werden von ihren Verwandten gestützt. Der Gestank treibt mir Tränen in die Augen, und ich sehe die blutigen Verbände, die verstümmelten Glieder durch einen Schleier. Einem Knaben mit einem schiefen Gesicht läuft der Speichel aus dem Mund. Gallus wird von einer Schar Frauen umringt. Mit ihren ausgestreckten Händen gleichen sie den Verdammten in Darstellungen des Jüngsten Gerichts, und ich denke an die Grenze, die ich irgendwo auf meinem Weg durch die Schlucht überschritten haben muss. Magnoald ist daran, die Gaben der Bittsteller zu ordnen: Säcke mit Mehl, Kohl, Käse, gedörrte Früchte, Krüge mit Bier und Wein, eine Weste aus Schaffell – alles, so scheint mir, bereits vom Moder des Ortes befallen.

Gallus wartet, bis die Frauen, die ihn umringen, verstummt sind, dann wendet er sich zu einer Vermummten, die in einer Ecke kauert. Während er sich mit ihr unterhält, steht die Fremde hinter ihm. Gallus hört die Beklemmung in ihrem Atmen. Als die Vermummte ihr Tuch öffnet und ihre zerschnittenen Brüste entblösst, hält sie die Luft an.

»Könnt Ihr das heilen?«, flüstert die Frau ungläubig, als Gallus die Hand auf die eiternden Wunden legt. Er tut, als habe er die Frage nicht gehört. In der ersten Zeit, in der er dem Abt von Bangor auf seinen Runden folgte, meinte er auch, die Gelähmten würden aufstehen, die Blinden wieder sehen, so wie es in der Bibel steht. Gott schickt uns die Kranken, um uns zu prüfen, erklärte ihm der Abt, als er seine Enttäuschung sah, und später verstand Gallus, dass er nicht von den Heilungen, sondern von der Hoffnungslosigkeit sprach. Er geht weiter, streicht über verstümmelte Glieder, wischt dem Knaben mit dem Ärmel seiner Kutte den Speichel vom Kinn. Die Frau folgt ihm, und als die Mutter eines greinenden Kindes nach ihrer Hand greift, nickt sie ihr zu. Nach und nach leert sich das Esshaus. Als die Glocke zur Vesper läutet, sind nur noch zwei Bittsteller übrig. Sie sind besser gekleidet als die anderen und gleichen sich wie Brüder.

»Ihr wisst, dass ich euch nicht helfen kann«, herrscht Gallus sie an. »Geht nach Hause.«

»Was ist mit den beiden?«, fragt die Frau auf dem Weg zum Bethaus.

»Ein Handel, der Gott nicht kümmert«, brummt Gallus.

»Und die anderen?«

Gallus weicht einer Pfütze aus. »Manche werden wiederkommen, andere nicht.«

»Weil sie geheilt sind?«

»Oder weil sie den Glauben verloren haben.«

Ich beobachte, wie der Alte die zerschnittenen Brüste der Frau berührt. Man hat mich in der Einsiedelei aufgenommen, ohne Fragen zu stellen, mir eine Salbe für die Prellungen gegeben. Ich war auf dem nassen Fels in der Schlucht unten ausgerutscht. Der Schmerz, der mir vom Nacken in die Schultern fuhr, dauerte nur einen Augenblick, aber meine linke Seite ist von roten Flecken bedeckt. Die Vorstellung, sie könnten unter Gallus’ Hand verschwinden, beunruhigt mich, und ich ahne, was die Kranken, die sich im Esshaus versammelt haben, verbindet. Nach der Vesper frage ich Magnoald, und er bestätigt, dass die Zahl der Besessenen unter den Pilgern immer grösser wird, seit Gallus die Tochter von Herzog Gunzo geheilt hat. Ich habe davon gelesen: ein aussergewöhnlich hübsches Mädchen, das von einem Dämon befallen wurde, der Gallus beim Namen nannte, bevor er als riesiger pechschwarzer Vogel aus dem Mund des Kindes fuhr. Gallus verteilte die Geschenke, die er zum Dank für die Heilung bekam, an die Armen. Auch einen schön ziselierten silbernen Kelch, erinnert sich Magnoald, den man für die Messe hätte brauchen können.

Das steinerne Kirchdach verschwand in den Dünen, diese verschmolzen mit dem Strand, und hinter der Bucht tauchten Hügel auf, die Gallus noch nie gesehen hatte. Er konnte den Blick nicht von der Küste wenden. Columba hatte ihm eines der Ruder zugewiesen, und eine Weile kämpften er und die drei anderen Ruderer gegen die Wogen, die sie ans Ufer zurücktreiben wollten. Dann spürten sie, wie die Strömung das Boot erfasste, Columba liess die Segel setzen, der Nordwestwind blähte sie, und sie zogen die Ruder ein. Gallus blickte noch immer zu der Bucht von Bangor, und mit einem Mal begriff er, dass er die Abtei nie wiedersehen würde. Er würde die Kirche nie mehr betreten, nie mehr im Refektorium essen oder über den Erdwall klettern – er würde nie mehr in den Dünen sitzen. Der Hund fiel ihm ein. Später, als es dunkel war und er zwischen den anderen unter der Plane lag, hörte Gallus, wie der Mönch neben ihm schluchzte, und da liefen auch ihm die Tränen über die Wangen.

Am nächsten Morgen weckte ihn der Regen. Er prasselte auf die Plane, sickerte in seine Kutte und sammelte sich unter den Planken im Rumpf des Bootes. Die Männer hatten die Segel eingeholt. Die Küste war nicht mehr zu sehen, auf allen Seiten verlor sich der Blick in grauen Schwaden. Wir könnten rudern, schlug einer der Männer vor. Wohin?, fragte Columba höhnisch. Eunocus brummte etwas vom Rande der Welt. Wenn Romanus hier wäre, begann Domoalis, aber er brachte den Satz nicht zu Ende. Nie wieder wird der Name dieses Verräters ausgesprochen. Columbas Stimme überschlug sich. Bilder tauchten vor Gallus auf: der Turm, der Bach, die Sonne in den Erlen. Wir sind verloren, sagte einer nach einer Weile. Wir sind in Gottes Hand, widersprach Columba. Er hielt die Arme an seinen Körper gepresst, der Regen lief ihm übers Gesicht, und das lange Haar klebte in Strähnen an seinem Hinterkopf, aber in seiner Stimme schwang Genugtuung, als habe er auf diesen Augenblick gewartet. Dann stimmte er einen Psalm an: Zeige mir Herr, Deine Wege, lehre mich Deine Pfade! Nach und nach sangen alle mit.

Es war Abend, als der Regen nachliess, Gallus merkte es an seinem Hunger. Doch Columba dachte nicht ans Essen. Von allen Entbehrungen fiel ihm das Fasten am leichtesten, und es hiess, seine Vorfahren hätten sich ihre Freiheit erhungert, wenn sie in Gefangenschaft gerieten. So wie der Stand der untergehenden Sonne hinter den Wolken auszumachen war, liess er das Boot ausrichten und befahl ihnen, gegen Süden zu rudern. Nach einigen Zügen verschwand das bohrende Gefühl in Gallus’ Magen. Er überlegte, wie weit sie sich schon von Bangor entfernt hatten. Lag die Insel noch immer im Dunst neben ihnen, oder hatte die Strömung sie aufs offene Meer hinausgetrieben? Er dachte an Brendan, der mit seinen Gefährten aufgebrochen war, um das Versprochene Land zu finden. Er war Seeungeheuern begegnet, einem Greif, einem äthiopischen Teufel, Schmieden, die sie von der Küste aus mit Schlacke bewarfen, und einem Eremiten, der allein auf einem Eiland lebte, und ein Otter brachte ihm zu essen. Nach sieben Jahren fand Brendan das Land, das er suchte. Mit etwas Obst und so vielen Edelsteinen, wie sein Boot fassen konnte, kehrte er in die Heimat zurück und starb. Gallus liess das Ruder fahren. Columba hatte den Ranzen mit den Büchern zu der Habe der Mönche unter die Planken ins Heck gelegt. Mit einem Satz war Gallus an der Luke, riss die Plane hoch und sah die Säcke und Beutel in einem braunen Tümpel schwimmen. Im gleichen Moment war Columba an seiner Seite, stiess ihn weg. Das Boot schlingerte, Gallus prallte mit dem Hinterkopf gegen den Mast. Die Mönche hielten sich aneinander. Als sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatten, sahen sie Columbas Füsse in den neuen Sandalen aus der Luke ragen. Sie griffen nach ihnen, zerrten an den knochigen Beinen, und nach einer Weile gelang es ihnen, Columba aus dem Heck zu ziehen. Die braune Brühe rann ihm aus dem Mund und übers Gesicht; in der rechten Hand hielt er den Riemen des Fellranzens.