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Ebook Auflage © 2018

Umschlaggestaltung: Silke Bunda Watermeier, www.watermeier.net

Nachdruck und fotomechanische Wiedergabe, auch auszugsweise,

eISBN 978-3-947508-03-7

THOMAS GESSNER

WIE

UND WAS WIR ALLES

WIR

AUS LIEBE TUN

LIEBEN

ODER VERMEIDEN

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Inhalt

Vorbemerkung

I. Teil: „Damals“

1. Wie das Ungeborene liebt. Die körperliche Symbiose

Das Paradies von innen

Das Paradies von außen – wie die Mutter liebt

Die Geburt oder die Entstehung des Ideals

2. Wie das Kind liebt. Die emotionale Symbiose

Das emotionale Gewissen

Die abhängige Liebe und das, was wir fühlen

3. Wie Jugend liebt: Die gedankliche Symbiose

Die abhängige Liebe im rationalen Modell

Sieben Verbündete der Symbiose

Die Peergroup und die Liebe zu ihr

Die erste Liebe bzw. der erste Sex

Vom Denken

4. Die kollektive Seite der symbiotischen Liebe

Natur

Gruppe

Ich

II. Teil: „Jetzt“

1. Wie Erwachsene lieben

Von der Gegenwärtigkeit

Die innere Geburt

2. Wie die Reife liebt

Von der Selbstverwirklichung zur Hingabe

Ich muss nicht mehr alles machen

3. Wie das Alter liebt

4. Vom Tod

Tod und Liebe

Tod und Form

III. Teil: „Echos“

Die Vermeidung der Gegenwart: Identifizierung und Übertragung

Es darf nicht wahr sein: Gewissen und Neurose

Kindliche Liebe im Erwachsenen: Sucht

Überlebt haben, ohne es zu spüren: der Opferstatus

Lebendigkeit als Gefahr: Depression und Trauma

Du und Ich: Fünf Thesen zur Paarliebe

Ich lasse es gut sein: Vom Nehmen und Verlassen der Eltern

Schlussbetrachtung

Über den Autor

Literatur zum Thema

Von der Liebe

Du kannst sie nicht beschreiben.

Sie beschreibt dich.

Du kannst sie nicht verstehen.

Sie versteht dich.

Du kannst sie nicht machen.

Sie macht dich.

Du kannst sie nicht töten.

Sie tötet dich.

Du kannst sie nicht beleben.

Sie belebt dich.

Du kannst sie nicht fesseln.

Sie fesselt dich.

Du kannst sie nicht denken.

Sie denkt dich.

Du kannst sie nicht retten.

Sie rettet dich.

Du kannst sie nicht halten.

Sie hält dich.

Du kannst sie nicht befreien.

Sie befreit dich.

Du kannst sie nicht gestalten.

Sie gestaltet dich.

Die Liebe ist alles, was es gibt.

Vorbemerkung

Wie die meisten Menschen nehme ich die Liebe wahr, indem ich sie fühle. Wie sollte ich sie im Alltag auch anders bemerken können. Ich „fühle“ es, wenn ich jemanden liebe oder wenn jemand mich liebt. So dachte ich jedenfalls lange.

Die Aufstellungsarbeit hat mein Bild der Liebe verändert und erweitert. Staunend begann ich zu sehen, wie wir in dem Gefühl von Liebe nur einen winzigen Ausschnitt dessen spüren, was wir tatsächlich alles aus Liebe tun oder auch vermeiden. Das betrifft sowohl unsere Partner, Kinder, Geschwister, Eltern, Großeltern, Freunde als auch uns selbst. Der größte Teil der Liebe vollzieht sich unterhalb der Wahrnehmungsschwelle.

Im vorliegenden Buch nähern wir uns diesem unbewussten Teil, oder anders gesagt, den Innenseiten der Liebe. Damit öffnet sich eine Welt, die über das, was wir fühlen können, weit hinausreicht. Wir sehen, wie unbewusste Liebe das Leben aus einer inneren Notwendigkeit heraus gestaltet, wie und auf welche Weise sie in uns wirkt und wie sie unser Fühlen, Denken und Handeln erst hervorbringt. Darüber hinaus sehen wir, wie unser Leben sich entspannen und erleichtern kann, wenn wir beginnen wahrzunehmen, was wir alles aus Liebe getan oder vermieden haben.

Was ich hier schreibe, kommt aus dem, was ich in vielen Aufstellungen sehen durfte. Ich schaue dabei gemeinsam mit den Menschen, die bei mir Rat suchen oder die Aufstellungsarbeit lernen wollen, auf die Innenseite ihres Lebens. Mir fällt vor allem auf:

.Im inneren Leben eines Menschen gibt es keine Schuldigen. Nichts von dem, was uns zu Handlungen, Gefühlen oder Gedanken bringt, was uns „versagen“ oder „erfolgreich sein“ lässt, ist falsch.

.Das Leben meiner Klientinnen und Klienten spiegelt auch mein Leben, und zwar in genau dem Aspekt, der sie zu mir geführt hat.

.In allen Konflikten, Symptomen oder Krisen begegnet mir ein innerer Antrieb, der aus der Liebe kommt, genauer, der selbst Liebe ist.

Wenn wir menschliche Krisen, Symptome und Konflikte in der Tiefe anschauen, begegnen wir unbewusster Liebe und ihren Echos. Sie verlangen nach Würdigung, nicht nach Beurteilung. Den oft beklagten „menschlichen Makel“ gibt es nicht. Er ist nichts anderes als ein Ausdruck unbewusster Liebe. Ich frage daher: „Wie liebt ein Mensch? Wie verändert sich die Art und Weise des Liebens im Laufe eines Menschenlebens? Was macht die fortwährende Wandlung der Liebe mit unserem inneren Erleben, also mit dem Verhältnis zu uns selbst, zu anderen Menschen und zur Welt? In anderen Worten: Was macht die Liebe mit unserem Bewusstsein?“

Ich kenne keine wirksamere Unterstützung für Menschen, die ihren Leiden entwachsen wollen, als ihre unbewusste Liebe darin zu würdigen und mit ihr zusammenzuarbeiten. In einem jahrzehntelangen erbarmungslosen Kampf mit mir selbst hatte ich darunter gelitten, dass sich meine sogenannten „Muster“, also Denk-, Fühl- und Handlungsweisen, die ich als hinderlich, störend, schmerzhaft oder auch katastrophal empfand, nicht besiegen ließen. Dasselbe fiel mir bei den Menschen auf, mit denen ich als Seelsorger im Pfarramt zu tun hatte. Ich fand einen Widerstand, der jede Bemühung ins Leere gehen lässt, jede Intervention verdampft, jede Therapie unterläuft. Mit Hilfe meiner Arbeit verstand ich allmählich, dass es dabei nicht um Unwilligkeit, sondern um die Abwendung von innerer Lebensgefahr geht. Die Leute sind ja nicht blöd. Ich konnte den Zusammenhang ihrer Konflikte, Symptome und Krisen mit unbewusster Lebensgefahr nur undeutlich fühlen, aber nicht klar benennen.

Dann kam die Aufstellungsarbeit. Bert Hellinger1 hatte in den Phänomenen des menschlichen Miteinanders etwas gesehen, das er „Ordnungen der Liebe“ nannte. Er schaute beim Aufstellen darauf, wo ein Mensch im Verborgenen liebt. Wenn diese Liebe gesehen und gewürdigt wird, bewegt sich etwas Richtung einer Entspannung oder Lösung. Ich kann das bestätigen, ich erlebe es jeden Tag.

Mein Lehrer Wilfried Nelles führte die Aufstellungsarbeit weiter: vom systemischen Schauen auf problematische Beziehungen hin zum existentiellen Schauen auf sich selbst. Aus seinem Bewusstseinsmodell vom Leben in Stufen2 entwickelte er die Aufstellungsarbeit mit dem Lebensintegrationsprozess (LIP). In dem, was sich in dieser gegenwartsorientierten Perspektive auf das Leben, die Seele und die Psychologie zu zeigen beginnt, sehen wir etwas von der „Sehnsucht des Lebens nach sich selbst“.3

Vor einigen Jahren entdeckte ich bei der Arbeit in der Nelles-Sommerakademie, dass es Liebe ist, welche die „Muster“, also unsere Denk-, Fühl- und Handlungsweisen im Innersten erzeugt und am Leben erhält. Ich konnte plötzlich sehen, wie unbewusste Liebe die Stufen unseres Bewusstseins hervorbringt, gestaltet, ausstattet, limitiert und ineinander übergehen lässt. Ich begriff, dass unbewusste Liebe nicht nur die Art und Weise entwickelt, wie wir uns, die anderen und die Welt erleben, sondern umgekehrt auch mit Hilfe von Bewusstseinsstufen ihre eigene Gestalt immer neu findet.

Natürlicherweise steht Wilfried Nelles‘ Bewusstseinsmodell Pate für dieses Buch. Es liefert eine grundlegende Perspektive darauf, wie das Leben uns bewegt. Ich bin Wilfried Nelles zutiefst dankbar für die Freiheit, die er jedem einräumt, der sich ernsthaft auf diese Perspektive einlässt. Und ich freue mich von Herzen an seiner Freundschaft und an der gemeinsamen Arbeit. Die Art und Weise, auf das Leben zu schauen, welche er mit seinem Bewusstseinsmodell vertritt, steht nach meinem Eindruck erst am Anfang ihrer Möglichkeiten. Sie öffnet die Tür zu einer zeitgemäßen „Psychologie des Gegenwärtigen“.

Mein Buch hat drei Teile. Die ersten beiden Teile „Damals“ und „Jetzt“ beschreiben je eine Seite der Liebe. Der dritte Teil, „Echos“, untersucht, wie beide Pole der Liebe heute in uns zusammenkommen. Der eine Pol der Liebe bezieht sich auf jede Umgebung, von der wir uns einmal als abhängig erlebt haben. Ich beschreibe ihre Wirkungen in der Zeit des Ungeborenen im Mutterleib, in der Zeit der Kindheit und in der Pubertät. Die „abhängige Liebe“ gehört zu unserem „Damals“. Man kann das „Damals“ erst sehen, wenn man wahrgenommen hat, dass es vorbei ist.

Der andere Pol der Liebe bezieht sich auf unsere innere Lebendigkeit. Von ihr, der „Selbstliebe“, schreibe ich im zweiten Teil. Wenn sie das Zepter übernimmt, wird man innerlich frei, also erwachsen. Sie öffnet uns für die unmittelbare Gegenwart, für das „Jetzt“. Ich beschreibe ihre Wirkungen in den Lebensstufen des Erwachsenseins, der Reife und des Alters. Auf den Tod, das Ende unseres Daseins, schauen wir dann als Spiegel, Begrenzung und Projektionsfläche.

Im dritten Teil, „Echos“, zeige ich an einigen typischen Vorgängen, wie wir belastende Umstände unserer Vergangenheit mit Hilfe ihrer inneren „Echos“ gegenwärtig aufrecht erhalten. Wir folgen darin dem Sicherheitsbedürfnis der abhängigen Liebe im „Damals“. Gleichzeitig vermeiden wir damit das Leben im „Jetzt“. Ich beschreibe, was dabei körperlich, emotional und gedanklich passiert. Wir können uns dem „Jetzt“, also unserer inneren Lebendigkeit, öffnen, indem wir unsere „Echos“ von damals als solche erkennen und sogar lieben lernen.

Die Schlussbetrachtung versucht, erste Umrisse einer Psychologie der Gegenwärtigkeit zu zeichnen. Ich lege dabei keine geschlossene Theorie vor (das wäre auch nicht möglich), sondern ich nehme die Perspektive der Gegenwart ein und schaue, wie weit ich von da aus sehen kann.

Natürlich begrenzt die Liebe jeden Versuch, über sie zu schreiben dadurch, dass sie sich den Wörtern entzieht. Sie reicht weit über die Sprache hinaus. Aber, wie soll ich sagen, ich sehe sie einfach. Die Liebe lässt mich nicht in Ruhe. Immerzu kommt sie, in dem, was in mir selbst stattfindet, in dem, was mir meine Kinder zeigen, in dem, was meine Liebste tut, in dem, wie meine Freunde sind, und nicht zuletzt in dem, was mir meine Klientinnen und Klienten bringen. Sie öffnet mir eine gelassenere und freiere Sicht auf das Leben, so wie es mir gegeben ist, mich selbst nicht ausgenommen.

Dieses Buch kann Sie darin unterstützen, sich mit dem eigenen Leben zu entspannen, in der Folge auch mit „den Anderen“ und mit „der Welt“. Ebenso lässt es sich lesen als Anregung und Herausforderung für die Haltung in der professionellen Begleitung von Menschen. Alle Beispielgeschichten sind entweder sorgfältig anonymisiert, von den darin Erwähnten freundlich genehmigt oder in öffentlichen Medien zugänglich.

Ich danke den vielen unterschiedlichen Menschen, die mir als Klientinnen und Klienten, als Lernende, als Kolleginnen, Kollegen und als Veranstalter ihr Vertrauen schenken. Dies ist nicht selbstverständlich, ich darf sehen und lernen. Ich danke meiner Frau und Kollegin Melanie für zahllose Anregungen zu diesem Buch und für ihre Geduld mit einem schreibenden Mann. Ich danke meinen Freunden und Kollegen Dr. Torsten Kastner und Coen Aalders für ihre Unterstützung beim Korrekturlesen.

Ein Hinweis zur Lektüre: Im Alltag bewegen wir uns abwechselnd in mehreren Sprachwelten. Die juristische, politische, philosophische, journalistische und die alltägliche Sprache haben jeweils ihren eigenen Bereich, in dem sie etwas aussagen. Der eine Bereich ist nicht ohne weiteres in den anderen übertragbar. Im Folgenden versuche ich, mit Wörtern die Bewegungen unseres inneren Lebens, also der Seele, zu bezeichnen. Dabei kommt die Sprache immer wieder mit eigentlich Unsagbarem in Berührung. Je näher wir des Pudels Kern kommen, um so weniger richten die Wörter aus. Sie werden zu bloßen Zeigern, nicht zu verwechseln mit dem Geheimnis, auf das sie verweisen.

Viel Freude beim Lesen!

1. Bert Hellinger hatte verschiedene etablierte Therapieformen in der Aufstellungsarbeit zusammengeführt und sie in den 80ger und 90ger Jahren des letzten Jahrhunderts als das Familienstellen bekanntgemacht. Siehe als grundlegendes Dokument seiner Anfänge: Weber, Zweierlei Glück. Hellinger ist in den 2000er Jahren dann hart kritisiert worden. Ich arbeite anders als er, aber natürlich wäre auch meine Aufstellungsarbeit ohne seine Entdeckungen nicht möglich. Präzise Differenzierungen zur Kritik an Hellinger finden Sie in: Nelles: Die Hellinger-Kontroverse.

2. Wilfried Nelles: Das Leben hat keinen Rückwärtsgang.

3. Wilfried Nelles, Thomas Geßner: Die Sehnsucht des Lebens nach sich selbst.

I. Teil

„Damals“

Morgens im Bad begegnet mir ein mittelalter Mann mit wenig Haupthaar und einem überraschend grauen Bart. So sehe ich im Spiegel aus. Das war einmal anders. Es gibt ein Foto von mir, da bin ich ungefähr fünf Jahre alt. Ich sitze neben meiner Mutter am Küchentisch und schnippele eifrig Bohnen. Gewisse Unterschiede zwischen jetzt und damals finde ich unübersehbar.

Wenn Sie in den Spiegel schauen, geschieht Ihnen im Grunde das Gleiche: Sie stehen jemandem gegenüber, den Sie nicht selbst gemacht haben. Wir können uns nur entgegennehmen, so wie wir eben im Laufe des Lebens geworden sind. Die gute Nachricht ist: Wir sind genau richtig so. Das Leben macht keine Fehler. Die schlechte Nachricht hat denselben Wortlaut. An sich ist das Leben nicht persönlich gemeint. Es geschieht einfach.4 Es hat uns jeweils hervorgebracht als eine seiner unendlich vielen Formen. Diese Lebensform schaut uns nun morgens aus dem Spiegel heraus an.

Im ersten Teil dieses Buches geht es darum, wie uns das Leben in seiner Bewegung mitgenommen hat, wo wir uns dagegen gewehrt haben, welche wesentlichen inneren und äußeren Vorgänge uns also zu dem Menschen gemacht haben, der oder die wir nun sind. Wir schauen dazu vom gegenwärtigen Moment aus zurück auf unsere Zeit im Mutterleib, auf die Kindheit und auf die Jugend. Sie haben den großen Vorteil, dass sie vorbei sind. Sie kommen nicht wieder, sie können uns nicht mehr schrecken. Sie haben daneben auch den großen Nachteil, dass sie vorbei sind. Sie kommen nie wieder, wir können also nichts mehr daran ändern.

In jedem von uns, in jeder Frau, jedem Mann, bleiben die vergangenen Lebensstufen und die zu ihnen gehörende Art des Liebens aktiv. Wir bestehen ja aus ihnen. Da gibt es einen Jugendlichen, ein Kind, ein Ungeborenes. Alles, was diese „früheren Ichs“ von uns einmal erlebt, gedacht, gefühlt, gespürt, getan oder gelassen haben, ist heute noch in uns lebendig. Das „Damals“ lebt in unserem Innern weiter. Oft ist das wunderbar, es liefert ja die Grundlagen unseres inneren wie äußeren Lebens.

Zuweilen jedoch bestimmen die „früheren Ichs“ der Vergangenheit unser Denken, unser Verhalten, unser Empfinden, gar unser Körpergefühl in einer Weise, die die aktuelle Gegenwart empfindlich stört oder auch zerstört. Sie übernehmen einfach das Steuerrad, ohne zu fragen. Wir spüren es daran, dass wir am Leben leiden, dass Beziehungen nicht gelingen, Symptome sich entwickeln, Krisen endlos werden.

Was machen sie da, unsere früheren Ichs? Was wollen sie und was versuchen sie zu vermeiden? Wo haben ihre Eindrücke und ihr Verhalten einmal Sinn ergeben? Oder: Wie lieben sie? Welche „Ordnungen der Liebe“ gelten für ein Ungeborenes, welche für das Kind, welche für die Jugendlichen?

Ich bin nicht daran interessiert, irgendwelche Ordnungen oder Regeln zu verkünden. Das wäre sinnlos. Liebe hält sich nicht an Ordnungen, sie ist die Ordnung. Ich beschreibe daher, wie die Liebe als gestaltende Kraft in den jeweiligen Lebensstufen wirkt und dabei gleichzeitig selbst ihre jeweilige Gestalt findet.

Wenn man tiefer hinschaut, findet man in jedem einzelnen Geschehen am Ende nichts als die eine Liebe. Jedoch scheint die Liebe in sich selber eine Polarität zu sein, eine Kraft mit zwei Polen. Sie enthält die Spannung zwischen Überleben und Wachsen, außen und innen, Materie und Geist, Formlosem und Form. Wenn wir nun schauen, wie wir lieben und wie sich Liebe und Bewusstsein von Anfang an gegenseitig erzeugen, sehen wir gleichzeitig, wie wir selbst uns mit den Polaritäten der Liebe bewegen, genauer, wie die Liebe uns bewegt.

Die eine Erscheinungsweise der Liebe erlebt sich als abhängig von ihrer Umgebung. Verbunden mit der daraus entstehenden Ohnmacht lebt sie unter dem Eindruck permanenter Lebensgefahr. Sie richtet sich daher völlig auf die Umgebung aus. Diese „abhängige Liebe“ wirkt persönlich, auf Personen gerichtet.

Die andere Erscheinungsweise der Liebe reagiert gar nicht, auch nicht auf irgendeine Umgebung. Sie scheint selbst ein Agens zu sein. Von ihr geht immerzu etwas aus. Der Eindruck von Bedrohung oder gar Lebensgefahr ist ihr unbekannt. Diese „Selbstliebe“ ist unpersönlich, also nicht auf eine bestimmte Person gerichtet. Abhängige Liebe und Selbstliebe entwickeln gemeinsam unser Bewusstsein in auseinander hervorgehenden Stufen5. Beide Erscheinungsweisen oder Polaritäten der Liebe beginnen im Moment der Zeugung eine Resonanz miteinander. Sie endet erst im Moment des Todes. Zwischen beiden Polaritäten der Liebe scheint sich unser Leben abzuspielen.

4. Siehe Wilfried Nelles‘ neues Buch: Das Leben geschieht.

5. Wilfried Nelles: Das Leben hat keinen Rückwärtsgang. Hier finden Sie ein detailliertes Evolutionsmodell des menschlichen Bewusstseins in sieben Stufen.

1. Wie das Ungeborene liebt. Die körperliche Symbiose

Vor vielen Jahren vertraute mir eine über achtzigjährige Dame ein Geheimnis an, als wir über Kinder sprachen: „Wissen Sie, meine Söhne sind groß, es gibt Enkel und Urenkel. Ich freue mich an ihnen. Aber es gibt eine schmerzvolle Sehnsucht, die nie ganz vergeht: Die Sehnsucht danach, die Kinder wieder in sich zu haben, ihre Bewegungen zu spüren, ungetrennt zu sein. Ich glaube, diese Sehnsucht teilen alle Mütter der Welt.“

Ich habe das nie vergessen. Schauen wir uns an, wie es da drinnen aussieht, bei den Kindern im Mutterleib. Wir waren ja alle einmal dort. Das Folgende erschließe ich aus dem, was mir zahlreiche Stellvertretungen für ungeborene Kinder in der Aufstellungspraxis gezeigt haben.

Im Mutterleib entwickeln wir die erste Gestalt der abhängigen Liebe, indem wir beim Wachsen mit der Frau mitschwingen und alles aufnehmen, was in ihr geschieht, körperlich wie seelisch. Und umgekehrt: So wie wir mit ihr mitschwingen, entwickelt die abhängige Liebe uns. Im Austausch von Nährstoffen und Stoffwechselabfällen nehmen wir all das von dem Frauenkörper, was wir zum Herausbilden von Organen, Knochen, Haut und Haaren brauchen. Das geschieht von allein. Gleichzeitig stellen wir uns von Anfang an darauf ein, unsere Wirtin nicht zu überfordern oder gar zu gefährden. Denn: Wir können nicht weg. Stirbt die Frau, sterben wir mit ihr. Gerät die haltende und nährende Umgebung in Gefahr, dann auch wir, solange wir in ihr leben und noch ungeboren sind. Das ungeborene Kind richtet sich daher darauf aus, auch energetisch Kontakt zur umgebenden Mutter zu finden. Falls einer Frau die Bombennächte im Krieg noch in den Gliedern stecken, wird das Ungeborene sie genau dort antreffen und sich mit ihr „in den Keller begeben“. Falls eine Frau sich innerlich entspannt und sicher fühlt, trifft das Ungeborene sie eben dort an. Es entspannt sich selbst. Es bildet nicht nur seine körperliche, sondern auch seine psychische Gestalt in abhängiger Resonanz mit der Umgebung namens „Mutter“.

Alles, was wir im Mutterleib in abhängiger Resonanz mitbekommen, sind wir in dem Maße, wie es in uns hineinwächst. Wir sind der verkörperte Stoffwechsel mit der Mutter. Wir sind die fleischgewordene Anpassungsleistung an die mütterliche Umgebung. Wir sind die Verkörperung der Lebensgeschichten unserer Eltern und deren Familien. Wir sind abhängige Liebe in Form eines kleinen Menschen aus Fleisch und Blut.

Man kann ein Ungeborenes natürlich nicht fragen: „Wie ergeht es dir gerade da drinnen?“ Erst Jahrzehnte später, wenn der zeitliche Sicherheitsabstand groß genug ist, scheint unser Körpergedächtnis seine Inhalte offenlegen zu können. Dann erst kann sich zeigen, was das Ungeborene damals getan hatte, um seine Umgebung „Mutter“ zu stützen.

Das Gefühl, irgendwo zuhause zu sein im Sinne von Heimat, Haus und Eigentum, ist mir nahezu unbekannt. Ich bin oft umgezogen, es gab und gibt Orte, wo ich sehr gerne lebe, aber wirklich zuhause angekommen bin ich letzten Endes dann bei mir selbst, sozusagen in meinem Herzen. Ein Stellvertreter für mich als ungeborenes Kind sagte einmal vor vielen Jahren in einer Aufstellung: „Ich weiß nicht, ob ich hier richtig bin.“

Damit sprach er genau das aus, was ich lange als Lebensfrage mit mir herumtrug. Meine Mutter hatte als Kind die Flucht vor dem Kriegsgeschehen überlebt. „Ich weiß nicht, ob ich hier richtig bin“, benennt den natürlichen und notwendigen Orientierungsversuch von Flüchtlingen in der Fremde.

Ich hatte mich mit der Mutter identifiziert, genauer gesagt, mit ihrer kindlichen Erinnerung an die Schrecken der Flucht. Ich habe dann einfach für sie weitergefragt. Diese Verwechslung erscheint unausweichlich, denn die neunmonatige Sym-biose (griechisch für „zusammen leben“) in demselben Organismus führt dazu, dass mindestens der abhängige Teil, also das Ungeborene, nicht unterscheiden kann: „Bin ich’s, oder ist es meine Umgebung, die so fühlt?“ (sich etwa gehetzt, unsicher oder fremd fühlt, wie eben Flüchtlinge). Es weiß von keinem Unterschied zwischen sich und der warmen Mutterhöhle. Das Ungeborene spürt nur: „Gehetzt sein“, und baut diese innere Anspannung in seinen wachsenden Körper mit ein. Auf dem Wege dieser Anpassung hat sein Körper den Eindruck, sicherer da drinnen bleiben zu können, bis die Zeit der Geburt gekommen ist.

Etwas allgemeiner gesprochen: Jedes Ungeborene im Mutterleib trifft seine Eltern dort an, wo diese sich innerlich aufhalten. Es erreicht die Mutter unmittelbar über die körperliche Resonanz. Den Vater erreicht es mittelbar über die Resonanz zwischen den Elternteilen. Dies gilt auch, wenn er nicht da ist.

Wir Menschen bleiben innerlich oft am Ort eines tiefen Schmerzes oder einer großen Angst. Wir halten unbewusst daran fest, um künftig darauf eingestellt zu sein und also besser überleben zu können. Wenn unsere Eltern darin noch immer den eigenen Eltern folgen, also den Großeltern des Ungeborenen von damals, entsteht eine Kette des Schmerzes über mehrere Generationen. Ereignisse mit hoher Energie, wie etwa ein Krieg oder eine Naturkatastrophe, werden oft noch nach vielen Generationen von den ungeborenen Kindern erspürt und aufgenommen, um ihre Eltern zu entlasten. Das währt exakt so lange, bis jemand sich ein Herz fasst und hinschaut, sich also dem öffnet, was da im eigenen Inneren vor sich geht.

Keine Mutter und kein Vater haben Einfluss darauf, wo ihre Kinder innerlich andocken, womit sie in Resonanz gehen, wo ihre kindlich-abhängige Liebe einen Handlungs- und Anpassungsbedarf entdeckt. Sie sind daran unschuldig. Man kann seinen Kindern nichts Schweres „ersparen“ oder „vererben“. Wenn es auch äußerlich so aussehen sollte: Innerlich sind die Akteure dabei immer die Kinder bzw. ihre abhängige Liebe, nicht die Eltern.

In der abhängigen Liebe findet unser Überlebenstrieb seine Gestalt. Abhängige Liebe sagt zu ihrer Umgebung: „Für dich tue ich alles, egal was es mich kostet. Denn wenn es dir gut geht, bin ich sicher.“ Allgemeiner gesprochen: Abhängige Liebe kümmert sich um das Fortbestehen der Form. Sie ist jedoch nicht die einzige Kraft, die im Inneren der Mutter an uns wirkt.

Als etwa achtjähriger Junge habe ich aus einfachen Legosteinen das detailgetreue Modell eines Überschallflugzeuges gebaut, einer russischen TU 144, etwa halb so lang wie ich selber. Einfach so. Niemand in meiner Umgebung verstand, was ich da machte, ich selber auch nicht. Es kam mir ganz natürlich vor: Ich konnte innerlich empfinden, wie diese komplizierte Maschine aufgebaut war und baute sie einfach nach. Meine Eltern erkannten sich darin nicht wieder, aber sie ließen mich machen.

Auch an meinen Kindern entdecke ich Eigenschaften, Fähigkeiten und Verhaltensweisen, die sie weder von ihrer Mutter noch von mir noch aus unseren jeweiligen Familien haben können. Da leuchtet etwas auf, was ich das „Selbst“ nenne. Ich sehe darin eine jeweils einmalige Mitgift des Lebens an uns. Sie wird heute oft „Wesenskern“ oder „Ruf des Lebens“ oder „innere Vision“ genannt, je nach sprachlichem Versuch, dieses eigentlich unfassbare Phänomen zu bezeichnen.

Der amerikanische Psychoanalytiker James Hillmann sagt dazu: Ein Kind „versucht zwei Leben gleichzeitig zu führen, das, mit dem es geboren, und jenes der Leute und Orte, bei denen es geboren wurde.“6 Das Leben, „mit“ dem wir geboren werden, wohnt uns inne als ein „bestimmendes Bild“7 dessen, wozu wir in der Welt da sind. Es äußert sich als unsere innere Lebendigkeit. Ich nenne es hier unser Selbst, denn es enthält unser ureigenstes Wesen, wie eine Eichel den ganzen Baum.8

Beim Werden im Mutterleib beziehen wir uns auf dieses Selbst als inneren Kristallisationsort. Das Selbst ist dabei kein physischer Ort, den man anatomisch darstellen könnte, sondern die Innenseite unseres Lebens.9 Jedoch wirkt das Selbst sich aus, indem sein „bestimmendes Bild“ von uns die Grundrichtung unserer körperlichen und psychischen Gestalt vorgibt. Die Beziehung zu unserem Selbst nenne ich „Selbstliebe“. Sie spielt eine ebenso entscheidende Rolle in unserer Entwicklung, wie die abhängige Liebe, nur auf völlig andere Weise.

In der Gestalt der Selbstliebe erscheint unser Wachstumstrieb. Die Selbstliebe fühlt sich immer sicher. Sie kümmert sich nicht um’s Überleben. Sie passt sich keiner Umgebung an, sie stützt niemanden, sie ist einfach. Sie ist da als der unaufhörliche Impuls, sich selbst zu vollziehen, zu entfalten und sich dabei wahrzunehmen. Dazu braucht sie die Form, also uns Menschen aus Fleisch und Blut. Selbstliebe tut nichts für ihre Umgebung, sie tut nie etwas, sie hat keinen Zweck. Sie ist, indem von ihr Leben ausgeht. Sie ist pure Freude und Lebendigkeit. Es gibt eigentlich kein Wort für sie. Sie scheint von ganz weit her aus dem Leben selbst zu kommen bzw. das Leben selbst zu sein. Die Selbstliebe hat keinerlei Schutzinteresse, sie will einfach frei fließen und wachsen. Sie sucht und hat keinen Sinn irgendwo außerhalb, sondern in sich, im puren Dasein. Sie bewahrt keine Form, sie bringt jedoch die Form hervor und wandelt sie immer weiter, völlig unbekümmert von den Zerstörungen und Veränderungen, welche mit jeder Wandlung einhergehen.

Während die abhängige Liebe sich um unsere Form kümmert, gilt die Selbstliebe unserer formlosen Essenz. Wir sind die Resonanz von abhängiger Liebe und Selbstliebe, von Essenz und Form. In dieser Resonanz bildet sich im Mutterleib das symbiotische Einheitsbewusstsein heraus, die erste Stufe nach Nelles‘ Bewusstseinsmodell.10 Unser Verhältnis zu uns selbst und zur Umgebung, unser Bewusstsein also, findet zunächst als körperliches Spüren statt. Es bleibt auf den Körper begrenzt.

Das Körper-Bewusstsein des ungeborenen Kindes hat vollen Zugang zu den Erfahrungen, inneren Zuständen und Erinnerungen der Mutter und der Menschen, mit denen sie verbunden ist, also des Vaters und deren beider Familien. Die Welt der ersten Bewusstseinsstufe ist der Leib der Mutter in Einheit mit dem eigenen Körper. Man könnte es daher auch „Mutter-Bewusstsein“ nennen. Das „Mutter-Bewusstsein“ kann „außen“ und „innen“ nicht unterscheiden, auch nicht „ich“ und „du“. Innen und verbunden sein ist das Einzige und daher das Selbstverständliche. „Draußen sein“ ist tödlich für jede Symbiose, daher unbedingt zu vermeiden.

Die symbiotische abhängige Liebe weiß nichts von ihren eigenen Anpassungsleistungen. Sie lebt in ihnen und durch sie, denn alles, was ein ungeborenes Kind „für“ die Mutter tut, tut es für sich. Alles, was der mütterliche Organismus für das Kind tut oder ihm vorenthält, erlebt ein Ungeborenes als von sich selbst ausgehend und sich selbst zustoßend in einem. Ein ungeborenes Kind kann Schmerz fühlen, aber es „weiß“ nicht, ob es nun ihm oder der Mutter wehtut. „Es tut weh“, das ist alles. Unser Körpergedächtnis hält die Anpassungsleistungen des ungeborenen Kindes lebenslang in Bereitschaft. Später erleben wir sie als Charaktereigenschaften, als Teile der eigenen Identität. Dabei sind sie „nur“ in Fleisch und Blut übergegangene abhängige Liebe.

Das Paradies von innen

Vor ein paar Jahren erhielt ich per Whatsapp die Aufnahme einer Ultraschall-Untersuchung. Man sah ein etwa fingerlanges menschliches Wesen in einer Höhle. Der Kopf, der Leib, die Arme und Beine waren schon zu erkennen, auch eine bestimmte Form der Nase. Offensichtlich war jemand schwanger geworden. Das Kind läuft heute herum und hat dieselbe Nase wie auf dem Ultraschallbild.

Vom ersten Moment an, also der Zeugung mittels Verschmelzung der Zellkerne von Ei- und Samenzelle, ist das Kind da. Es verhält sich sofort deutlich anders als etwa eine neugebildete Leber- oder Nervenzelle der werdenden Mutter. Der Organismus der nunmehr schwangeren Frau stellt sich auf die frisch vereinigte Keimzelle ein und verändert sich, oft noch bevor sie von ihrer Schwangerschaft etwas weiß. Solange von Seiten der werdenden Mutter alles, was der Keimling braucht, in ausreichender Qualität und Menge zur rechten Zeit bereitgestellt werden kann, lebt das Ungeborene im Paradies.

Die Symbiose im Mutterleib ist eine kollektive Erfahrung, die von allen Paradiesgeschichten und -Sehnsüchten der Menschheit aufgerufen wird. Das Kind bekommt über die Nabelschnur die Nährstoffe, wann immer es sie braucht, es bekommt Wärme und Sicherheit, es wird getragen, es hört das Herz und die Stimme der Mutter, es spürt ihr Wesen und ihre Erwartung. So ist es im Idealfall. Nun, Idealfälle kommen im richtigen Leben selten vor, sondern, wie das Wort es sagt, nur in unserer Vorstellung vom Leben.

Im richtigen Leben kann eine schwangere Frau krank werden, sie bekommt Durchfall, Grippe oder muss erbrechen. Möglicherweise erlebt sie eine Trennung oder empfindet die Schwangerschaft selbst als bedrohlich. Sie geht wie alle Menschen durch körperliche und seelische Belastungen. Nicht nur in Kriegs- und Katastrophengebieten erleben schwangere Frauen Unfälle oder Gewalt, Bedrohung und sexuelle Übergriffe. Trotzdem halten es mehr als die Hälfte aller gezeugten Kinder bis zur Geburtsreife im Leib der Mutter aus. Sie werden geboren und überleben.

Wie machen sie das? Wie überstehen sie im Inneren ihrer Wirtin die Störungen und zum Teil ernsthaften Bedrohungen, denen sie gemeinsam mit ihr ausgesetzt sind? Kurz gesagt: mit Liebe. Mit ihrer abhängigen Form. Die ungeborenen Kinder versuchen, den Organismus ihrer Mutter zu stabilisieren. Ob als millimetergroßer Keimling, als daumenlanger Embryo oder als Fötus kurz vor der Geburt. Sie verhalten sich wie kooperierende Parasiten: Sie sichern ihr eigenes Überleben, indem sie die Belastungen der Wirtin ausbalancieren und alles unternehmen, damit sie möglichst stabil am Leben bleibt.

Einige Beispiele:

.Wenn die Mutter Hunger leidet, nimmt der kindliche Körper weniger Nährstoffe von ihr. Man sieht es daran, dass der Embryo langsamer wächst.

.Wenn die Mutter krank wird, verhält es sich ebenso.

.Wenn die Mutter einen Unfall oder Gewalt oder einen wie auch immer gearteten Schock erleidet, folgt ihr das Kind darin, indem es sich weniger bewegt. Es folgt ihr in die Starre. Diese Anpassungsleistung geht so weit, dass sie die Lebensfähigkeit des Ungeborenen selbst in Frage stellt. Dann entscheidet es sich für das Leben seiner Wirtin und geht. Es kommt zur Fehlgeburt, zum natürlichen Abbruch.

Auf Seiten des Kindes heißt das Grundmuster der abhängigen Liebe: „Ich tue alles für dich, egal was es mich kostet. Denn ich bin auf Leben und Tod von dir abhängig. Ich werde besser überleben und wachsen können, wenn es dir gutgeht.“

Dieses Muster hat eine kaum zu überschätzende Macht. Es sorgt für unauslöschliche Bindungen, es lässt uns während der Kindheit ohne Rücksicht auf unsere persönlichen Grenzen alles dafür tun, dass unsere Familie stabil bleibt und wir uns ihr zugehörig fühlen können. Es betreibt umgekehrt während der Pubertät die Lösung von den Menschen, auf die es sich bezieht, und es läuft ins Leere, wenn wir erwachsen sind, also den Tatsachen nach von keinem anderen Lebewesen mehr auf Tod und Leben abhängig.

Das Grundmuster der abhängigen Liebe hält alle kleinen und großen menschlichen Systeme zusammen, es ermöglicht sie überhaupt erst. Es ist der Kitt „des Systemischen“, es lässt uns Gruppen bilden, Sippen, Vereine, Religionen, Nationen. Es führt uns in die Leiden des Leibes und der Psyche, es führt uns in Kriege, in Mord und Totschlag sowie gleichermaßen in Hilfsbereitschaft, Selbstlosigkeit und Güte.

Das Paradies von außen – wie die Mutter liebt

Eine Frau erzählte mir neulich, sie habe ihre Schwangerschaft so lange wie möglich vor ihrer Herkunftsfamilie verbergen wollen, da sie sich nicht sicher war, das Kind bekommen zu wollen. Ihre Freunde kannten sie als lebensfrohe Partygängerin. Bei einer Familienfeier im Elternhause hätte man ihr zur Begrüßung wie üblich einen Martini gemixt. Sie ließ ihn stehen und griff zum Bananensaft. Ihre Schwester begriff als Erste.

Das Phänomen der abhängigen Liebe kann man sich gut als eine wechselseitige Angelegenheit vorstellen. Die Seite des Kindes trägt die Inschrift: „Ich bin von dir abhängig auf Leben und Tod.“ Die Seite der Mutter heißt entsprechend: „Du bist von mir abhängig auf Leben und Tod.“11 Aus der Perspektive der Eltern sagt die abhängige Liebe zu dem Kind im Mutterleib: „Wir tun alles für dich, egal was es uns kostet. Unsere Art wird besser überleben und wachsen können, wenn es dir gut geht.“