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Michael Seitz

Der Psychiater des Königs





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Widmung

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Psychiater des Königs

 

Bernhard von Gudden und seine Zeit

 

Historischer Tatsachenroman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Alle Rechte beim Autor – Vervielfältigung und Verwertung jeglicher Art verboten – auch auszugsweise! Wien, im Juni 2016, 5. überarbeitete und durchgesehene Ausgabe, Korrektorat erfolgte. Rückmeldungen der TeilnehmerInnen der Leserunde auf Lovelybooks wurden in dieser Ausgabe berücksichtigt.

ISBN-13: 978-1536821178
ISBN-10: 1536821179 

Cover by: http://coverdesign.bookweyers.de/

 

 

 

Widmung

Für Elke,

die Otto und all die anderen Irren

sofort in ihr großes Herz

geschlossen hat

 

 

Vorbemerkung

 

Die Eigenart adeliger Personen, von sich selbst in der Mehrzahl zu sprechen, entspricht dem Pluralis Majestatis. Die Pronomen „Wir“, „Seinem“, „Ihr“ etc. werden in diesem Zusammenhang groß geschrieben. Dies gilt auch für „Er“, „Ihm“, „Sie“ etc., sofern eine Person, die sich als gesellschaftlich höherstehend betrachtet, eine andere Person anspricht, z. B. „Wenn Er nicht will, dann möge Er einfach hingehen, wo der Pfeffer wächst.“

Ergänzend gilt es, auch noch den sogenannten Bescheidenheitsplural zu erwähnen. Im 19. Jahrhundert galt es als unfein, das Wort „Ich“ zu benutzen. Menschen sprachen daher ebenfalls häufig in der Mehrzahl von sich selbst. In diesem Zusammenhang werden die Pronomen „wir“ und „uns“ jedoch klein geschrieben. Diese Eigenart zu sprechen, finden wir vor allem bei gebildeten Menschen wie Professor Gudden wieder.

Pronomen, welche sich auf Gott beziehen, werden groß geschrieben („Wenn zwei oder drei in Meinem Namen versammelt sind …“).

Ich habe in diesem Buch die Sprech-(Schreib-)weise auf oben erwähnte Besonderheiten zugunsten eines optimaleren Leseflusses soweit als möglich an heutige Verhältnisse angepasst. Jedoch habe ich sie bei den Personen Ludwig, Otto, Elisabeth und Spera von Truchseß der Authentizität wegen beibehalten. Ich denke, die „LeserInnen“ des historischen Romans wissen dies zu schätzen.

Jede Epoche hat wohl ihre sprachlichen Besonderheiten!


Die Namen Kneismeier und Gerstmeier sind meine Erfindung, da die Identitäten der Guglmänner bis in heutige Zeit der Geheimhaltung unterliegen.


Die Geschichte, die ich hier in romanhafter Form wiedergebe, beruht auf wahren Tatsachen. Bereits die Probeleserinnen haben mir immer wieder die Frage gestellt: „Ist das wirklich so passiert?“ – In der Regel konnte ich ihre Fragen mit einem „Ja“ beantworten.

Derart verrückte Geschichten schreibt eben nur das Leben!

Hier eine kleine Bibliografie an Büchern, auf die ich während meiner Recherchen zurückgegriffen habe:

Franz Herre: Ludwig II. – Bayerns Märchenkönig: Wahrheit und Legende (Heyne, 1. September 1994)

Philipp Fürst zu Eulenberg-Hertefeld: Das Ende König Ludwigs II. und andere Erlebnisse (tredition GmbH Hamburg, ohne Jahresangabe)

Konstantin von Grunwald: Ludwig II. – Die dramatische Geschichte eines Märchenkönigs (Edition Minerva, Genf-Paris, 1986)

Alfons Schweiggert: Der Mann, der mit Ludwig II. starb (Husum, Husum 2014)

H. Hippius und R. Steinberg (Hrsg.): Bernhard von Gudden (Springer, Heidelberg 2007)

Das geheime Tagebuch König Ludwigs des II. von Bayern (Nymphenburger Verlag, München 2. Auflage 2000)

Peter Glowasz: Der Tod am Starnberger See – Die Aufklärung der Todesursache König Ludwig des II. von Bayern (Glowasz Verlag, Berlin 1. Auflage 2008)

 

Ich bedanke mich bei den oben genannten Autoren und Fachleuten für ihre Pionierarbeit auf dem Felde der Ludwigsforschung bzw. ihrer Forschung in der Geschichte der Psychiatrie. Für Fehler in diesem Roman oder historische Ungereimtheiten trage ich ganz allein die Verantwortung!


 


Prolog

 

Die Baronin

 

 

Wahrhaftig, ein Shakespeare hätte keinen groteskeren, schauerlicheren Abschluss für sein Königsdrama in seiner Dichterphantasie erfinden können.“

 

(Philipp Fürst zu Eulenberg-Hertefeld – Zeitzeuge und Beobachter der Ereignisse, die zum Tod König Ludwigs des II. und des Psychiaters Bernhard von Gudden führten)

 

 

 

 

 

 

 

Der Pfleger zieht seinen letzten Trumpf in dem Moment, als die Baronin Spera von Truchseß zu Wetzhausen aus ihrem Traum erwacht. Seit Stunden langweilen sich die Männer. Auf einem Fass, das ihnen als Tisch diente, spielen sie eine Partie Schafkopf. Der ärztliche Leiter der Anstalt hat den Pflegern verboten, mehr als zwei Maß Bier während der Arbeit zu trinken – besonders in den Nächten! Und so sitzen sie seit Mitternacht auf dem Trockenen. Der Vollmond leuchtet durch die Gitter an den Fenstern der Anstalt. Das bayrisch-barocke Blatt halten die Männer wie Fächer vor ihren schweißnassen Gesichtern.

Die Kranken in der 1. Klasse liegen in Einbettzimmern. Große Schlafsäle bleiben ihnen in der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts erspart, immerhin gehören sie zu den „zahlenden Kranken“. Die „armen Irren“, wie die anderen genannt werden, liegen im 2. und 3. Trakt in Schlafsälen, in denen oft Dutzende Kranke nebeneinander untergebracht sind. Auch gibt es in der 1. Klasse mehr Personal, das sich um die Kranken kümmert, deswegen haben die Pfleger Zeit, miteinander Karten zu spielen, wenn die Patienten schlafen – also keine besonderen Vorkommnisse ihren Dienst erschweren.

Die Tür zum Zimmer der Baronin steht offen in dieser Nacht. Die Baronin hält die Luft an. Sie orientiert sich allein anhand der Geräusche, die die Männer im Raum verursachen. In ihrer Kindheit hatte sie sich gefragt, wie Fledermäuse es schaffen, sich bei Nacht und Nebel im finsteren Dachgewölbe der Schlosstürme zurechtzufinden. Oftmals war sie hinaufgeschlichen in das obere Stockwerk. Rosen und Efeu rankten an den Mauern des elterlichen Schlosses. Die Baronin lächelt jetzt bei der Erinnerung: Sie kann sich selbst vor ihrem inneren Auge sehen – als dreizehnjähriges Mädchen, im weißen Nachthemd, mit nackten Füßen. Erfüllt von einer Mischung aus Ekel und Zärtlichkeit nahm sie eines der Tiere von der Wand und drückte ihre Lippen auf den behaarten Körper. Ein leises Quieken folgte als Antwort auf ihren Kuss – ein Geräusch, das sie angst und bang werden ließ. Vor Schreck ließ sie das Tier fallen. Wut und Enttäuschung erfassten sie. Sie packte das Tier und warf es gegen die Mauer, bis alles Leben aus ihm gewichen war. Anschließend spürte sie eine Schwäche über sich kommen, die ihr die Kraft in den Beinen raubte. Als die Gouvernante sie fand, kauerte sie auf dem Boden und weinte. – Das war noch in St. Petersburg gewesen, bevor sie einen bayerischen Baron geheiratet hatte.

 

Jetzt tritt ein Pfleger an ihr Bett. Die Berührung seiner Hände, dicke, fleischige Finger, löst Ekel in ihr aus. Der Mann prüft dienstbeflissen den Sitz der Ledergurte an ihren Armen und Beinen. Sie braucht die Augen gar nicht zu öffnen, um zu sehen, wie der Mann nickt: Meier – sie hat ihn an der Feuchtigkeit seiner Hände erkannt und an seinem Geruch, einer Mischung aus Weizenbier und Tabak. Als er mit den anderen spricht, hegt sie keinen Zweifel mehr. Sie träumt sich fort. Das Spiegelbild einer fernen Welt entsteht in ihr: Die Fontäne eines Springbrunnens ergießt sich über nackte, goldene Leiber, denen auf dem Rücken Flügel gewachsen waren. Vor einem Schloss schlagen Pfauen ihr Rad, um die Anwesenheit ihres Herrn zu würdigen. Auf einem Berg thront ein Schloss aus Marmor in der Nähe eines Gebirgssees. Sie sieht einen Tempel, entsprungen einem Märchen aus Tausend und einer Nacht. Zu all diesen Bauwerken gesellt sich das Bild einer Winterlandschaft. Voran galoppieren Schimmel, vor deren Nüstern sich durch ihren Atem eisige Wolken bilden. Sie ziehen einen Schlitten. Hinter dem Kutscher sitzt ein Mann mit einem schwarzen Kinnbart, an seinen tiefblauen Augen unschwer als der König zu erkennen.

Ludwig …

Der geliebte Vetter, der eine seiner Schlittenfahrten durch den schneebedeckten Tannenwald unternahm …

Es handelt sich um das Motiv einer Postkarte.

Seit ihr Mann sich vor drei Jahren endgültig von der Baronin getrennt hat, sehnt sie sich nach keinem anderen Mann mehr als dem König. Der Pfleger Meier löst die Gurte an ihren Armen und Beinen und flößt ihr eine Flüssigkeit ein, die widerlich schmeckt: Wasser! – Gänsewein.

Spera von Truchseß öffnet die Augen.

Und hustet.

Der Geruch ihrer eigenen Ausscheidungen steigt ihr in die Nase. Sie fragt sich, wie lange sie schon im eigenen Urin gelegen hat.

„Wünsche einen angenehmen Morgen, Frau Baronin“, sagt einer der Pfleger. Seine Kameraden nannten ihn Jennerwein – nach dem Wildschützen, der vor zehn Jahren im Gebirge erschossen worden war. Zwei Pflegerinnen hatten sich letzte Woche über Jennerwein unterhalten, während sie Spera gebadet hatten. Die Frauen hier in der Anstalt liebten es, über Jennerwein zu sprechen. Sie hatten dabei verträumte Blicke.

„Dies ist kein Ort für eine Dame, meine Herren“, sagt Spera von Truchseß. Sie betrachtet die Abdrücke an ihren Hand- und Fußgelenken.

Jennerwein deutet eine höfische Verbeugung an. „Vielleicht wünschen Madame ja, ein wenig an die frische Luft zu gehen“, ahmt er den Ton der feinen Münchener Gesellschaft nach.

Sie ignoriert den Spott in seiner Stimme und fragt: „Wo ist überhaupt Unser Leibstuhl?“

Der Pfleger antwortet: „Wenn Madame es wünscht, so wird es möglich sein, Sie zu einem Spaziergang nach draußen zu begleiten, wo Sie Ihr Gedärm erleichtern kann.“

„Wir haben es immer gewusst, in Ihm schlägt das Herz eines Edelmannes.“ Spera steht auf und hakt sich bei dem Pfleger ein.

„Mit Verlaub“, sagt Jennerwein, „Madame sollte sich frisch machen. Vorgestern – in der Aufregung – hatten Sie ja nicht mehr die Zeit …“

„Vorgestern?“ Sie schüttelt den Kopf. Im Bett festgebunden, erscheinen einem ein Tag und eine Nacht wie ein Monat. „Es kommt Uns vor, als wäre Unser Tobsuchtsanfall schon vor einem Jahr gewesen“, sagt sie. Das Morphin, mit dem sie ruhiggestellt worden war, verursachte meist eine Verstopfung. Jennerwein hatte ihr beim letzten Mal einen Darmeinlauf mit einem Rohr gemacht.

„Mit Verlaub, Madame haben nicht getobt“, sagt Jennerwein. „Sie haben halluziniert, wie der Herr Professor bemerkte. Von Seiner Majestät haben Madame immerzu gesprochen. Von einem angeblichen Hochverrat gegen den König Ludwig … Sie haben den Professor aufs Übelste beschimpft, Baronin von Truchseß!“

Sie streicht über das blaue Nachthemd, das aus dem Fundus der Anstalt stammt. „Verzeiht, edler Jennerwein“, sagt sie, „aber Er wird wohl Verständnis dafür haben, wenn eine Dame von Stand in Zeiten wie diesen nicht länger ihre Hände untätig in den Schoß legen darf. Und jetzt führe Er Uns endlich zum Abort, ehe ein Unglück geschieht!“

„Gerne begleiten wir Madame hinaus. Der Herr Professor wird bei Bedarf auch einen Darmeinlauf anordnen – falls es nicht aus eigener Kraft möglich …“

„Ein Preuße!“, protestiert sie. Spera spürt unsägliche Wut in ihrer Brust. „Wie kann Er nur so blauäugig sein … Dabei weiß doch jedes Kind, dass der preußische Reichskanzler Bismarck zu den Verschwörern gehört! Alle Preußen sind die Feinde des bayerischen Volkes …“

Der Pfleger errötet.

„Soweit Wir wissen, bevorzugt der Herr Professor ausschließlich ehemalige Soldaten als Pfleger – und keine Wildschützen!“, sagt Spera und lacht höhnisch. Sie betrachtet ihre nackten, zierlichen Füße. Herrgott, wie eine Magd vom Lande steht sie diesen Männern gegenüber! Das Bier, das Kartenspiel und die Lust nach einer Frau spiegeln sich in ihren Gesichtern. Sie blickt an sich hinab. Ihre Brüste scheinen ihr selbst ein wenig klein. Vielleicht lag dies an dem Umstand, dass ihrer Ehe keine Kinder beschieden gewesen waren. Sie hatte von Frauen gehört, bei denen sich dieser Makel mit dem ersten Milcheinschuss gelegt hatte. Gott, wie sehr sehnt sie sich nach den starken Armen eines Mannes!

„Vielleicht ist es besser, wenn Madame die hohen Geschäfte und die Politik den Männern überlassen“, sagt Jennerwein.

„Wir können Uns denken, wonach euch Bauernschädeln der Sinn steht“, sagt sie.

„Dann besitzen Madame ein zweites Gesicht“, sagt Jennerwein.

Spera von Truchseß durchschaut seinen Versuch. Die Irrenpfleger und der Professor stecken mit den Verschwörern unter einer Decke! Und hatten dabei überhaupt keine Ahnung von den Dingen, die sich draußen in der Welt ereigneten. Es war ein Fehler gewesen, hierher zu kommen und um Hilfe zu bitten. In der Irrenanstalt wurde man ja erst recht irre, wenn man es nicht schon war!

Spera von Truchseß befiehlt: „Geleiten Sie Uns nach draußen, mein Lieber!“

Sie schreitet an seiner Seite. „Alle haben Wir sie durchschaut, diese ungehobelten Bauern ...“, sagt sie und reißt sich im nächsten Moment von dem Pfleger los. Weder die Pfleger, noch die Baronin selbst konnten sich ihre Reaktion später erklären. Die schwarzen Winde, wie Spera von Truchseß diese Regungen selbst bezeichnete, hatten in diesem Moment Besitz von ihr ergriffen. Die Nähe zu dem Pfleger, den sie einerseits begehrte, zugleich als einen Bauerntölpel verachtete, verstärkte diesen Gefühlssturm jedes Mal in ihr. Es war, als ob ihr Verstand die Kontrolle über das körperliche Verlangen verlöre. Spera streift ihr Nachthemd über den Kopf. Die Blicke der Männer sprechen Bände. Ihr vierzigjähriger Körper passt noch immer in dieselben Korsetts, die sie mit siebzehn getragen hatte.

„Eine Baronin – die Cousine des König Ludwig des II. von Bayern – so wie Gott sie schuf …“, verkündet sie. Spera lacht und wirft das Nachthemd auf das Bierfass, auf dem die Pfleger eben noch Karten gespielt haben. Eine Narbe auf ihrem Bauch, die von einem chirurgischen Eingriff stammte, tat ihrer Schönheit keinen Abbruch. Zu jener Zeit versprachen Ärzte ihren Patientinnen, die Entfernung der Gebärmutter könne eine Besserung bei Frauen bringen, die unter heftigen Gefühlsregungen litten. Besonders wenn die Gebärmutter nicht regelmäßig mit Sperma „gefüttert“ würde, sei das Symptom der Gefühlslabilität in besonderer Ausprägung vorhanden, hatte man ihr erklärt. Spera hatte den Eingriff bereits vor zehn Jahren über sich ergehen lassen – in einem Krankenhaus in Paris. Sie hatte gewusst, dass ihr Kinderwunsch dadurch ein Traum blieb, jedoch hatte sie gehofft, ihre Ehe und ihren Ruf zu retten. Nichts von all dem, was die Ärzte ihr versprochen hatten, hat sich jedoch erfüllt. Ihr Mann will nichts von ihr wissen, und sie verbringt die besten Jahre ihres Lebens in einer Irrenanstalt!

„Hat dieser Tölpel Jennerwein jemals in das Schmuckkästchen einer echten Baronin geschaut?“, fragt sie und wälzt sich auf dem Boden. Sie spreizt die Beine und ignoriert dabei die Bauchschmerzen; ihr Darm schreit danach, endlich entleert zu werden! Jennerwein wirft eine Decke über sie. Sie tritt mit den Füßen nach den Männern. Sie bekommt Jennerweins Hand zu fassen und beißt zu. Sein schmerzerfüllter Aufschrei löst ein Gefühl tiefer Befriedigung in ihr aus.

 

Sein Kamerad Meier, so stand es im Protokoll, eilte Jennerwein zu Hilfe. Er packte die Baronin an ihrem dunklen Haar, worauf diese ihre Beißattacke beendete. Jennerwein sah blass aus, berichteten seine Kollegen. Die Zahnabdrücke der Baronin gaben sein Fleisch zwischen Daumen und Zeigefinger frei – bis auf den Knochen. Der selbsternannte Wildschütze – der offenbar kein Blut sehen konnte! – brach vor aller Augen zusammen.

Seine Kollegen banden die Baronin an ihren Armen und Beinen im Bett fest. Die Baronin beschimpfte sie in einer vulgären Weise, die überhaupt nicht zu dem Bild passte, das sie dem Professor und den Ärzten gegenüber tagsüber darbot. Die Pfleger wussten sich nicht zu helfen. Sie ließen die in ihren Augen verrückte Baronin allein in ihrem Zimmer zurück, in der Hoffnung, dass sie sich mit der Zeit von selbst beruhigen möge.

 

Eine Stunde später war endlich Ruhe eingekehrt. Der Pfleger Meier schaute in das Zimmer der Baronin. Der Gendarmerie gegenüber gab er am Tag darauf beim Verhör zu, er habe lediglich die Fenster schließen wollen, da die Hitze der Juninacht einem aufkommenden Regen gewichen war. Im Trakt für zahlende Kranke, in dem sich der Vorfall ereignet hatte, gab es ein einzelnes Fenster, an dem sich keine Gitter befanden. Es handelte sich um ein Versäumnis der Pfleger, dass dieses in dieser Nacht nicht abgeschlossen worden war. Den Schlüssel hatte an diesem Tag der Pfleger Jennerwein in einer Tasche an seinem weißen Dienstrock verwahrt. Von dem Schlüssel fehlte jede Spur. Pfleger, Ärzte und Pflegerinnen durchsuchten das Anstaltsgelände. Sie schreckten dabei auch die Kranken in der 2. und 3. Klasse aus ihrem Schlaf. Der Zeitpunkt der Flucht der Baronin ließ sich nicht exakt ermitteln. Die Pfleger widersprachen sich bei der Frage, wann zuletzt nach ihr gesehen worden war.

 

Es war der 9. Juni 1886 gegen 6 Uhr morgens. Es regnete. Auf dem Gutshof, der zur Anstalt gehörte, hatte das Korn bereits begonnen, zu faulen – für viele Menschen in diesem Jahr ein dunkles Vorzeichen biblischer Art. Vier Tage später trieb die Leiche des bayerischen Königs Ludwigs des II. im Starnberger See. Er war unter mysteriösen Umständen gestorben. Von Schüssen in der Todesnacht war die Rede. Neben der Leiche Seiner Majestät trieb die des Psychiaters und ärztlichen Leiters der Anstalt des Bezirks Oberbayern im Wasser des Sees: Professor Bernhard Aloys von Gudden.

Spera von Truchseß war untergetaucht, um Seiner Majestät zu Hilfe zu eilen, wie sich zu einem späteren Zeitpunkt herausstellte.

Was mit einem alltäglichen Bedürfnis begonnen hatte, endete in einer Staatsaffäre.

 

 

 

Erster Teil

 

 

 

1. Ende März, 1886, München

Der Bruder des Königs beobachtet die Flamme eines Streichholzes zwischen seinen Fingern.

„Ich habe gehört, Seine Majestät Prinz Otto hätten am Freitag beinahe die Schlosskapelle niedergebrannt“, sagt der Psychiater zu ihm. Gudden vermeidet es, durch die Nasenlöcher zu atmen. Das Parkett ist – wie immer – mit Brandflecken übersät. Der Kranke lässt das Streichholz fallen. Die Flamme erlischt. Entsetzlicher Gestank herrscht im Schlafzimmer des Prinzen. Speisereste hängen in seinem Bart fest. Wann hat der Prinz sich zuletzt gewaschen?

Der Prinz lächelt ihn an. „Wir nehmen mit Bedauern zur Kenntnis, dass der Herr Professor über drei Wochen hinweg mit Abwesenheit geglänzt hat.“

Prinz Ottos Augen mustern ihn von oben bis unten, als wollten sie ihn ausziehen wie eine begehrenswerte Frau. Es handelt sich um dieselben tiefblauen Augen, durch die auch der König in die Welt blickt. Professor Bernhard von Gudden räuspert sich. Seine Kontrollbesuche führen ihn einmal im Monat ins Schloss Fürstenried. „Die Pfleger berichten mir, Seine königliche Hoheit rauchen wie ein Indianer, nur dass Majestät anstelle der Pfeife Seinen geliebten Zigaretten frönen.“

„Wir fragen Uns, wo der Herr Professor wohl die Zeit Seiner Abwesenheit verbracht haben mag“, sagt Otto.

Gudden ignoriert die Frage des Wittelsbachers. „Seine Majestät, so die Pfleger, husten sehr viel und, mit Verlaub, Majestät mögen einmal Seine Hände betrachten.“

Gudden beäugt die nikotingelben Finger und Nägel Ottos und wünscht sich, der königliche Patient hätte nur niemals seine erste Zigarette probiert. Das Rauchen war zu Ottos einziger Beschäftigung geworden. Wie gewöhnte man einem Kranken nur das Rauchen wieder ab? Gudden versucht es mit einem Scherz: „Mit Verlaub, Majestät, ich stelle fest, dass hier in Schloss Fürstenried sogar die Hirsche den Eindruck erwecken, als würden sie dem Tabakgenuss frönen.“

Von den Wänden des ehemaligen Jagdschlosses glotzt ihn Ausgestopftes mit trauriger Miene an. Im Laufe der Zeit haben die Geweihe und Jagddarstellungen die Farbe des Nikotins angenommen.

Otto hebt die Schultern. „Wir brauchen Uns nichts vorzumachen, lieber Professor Gudden. Denn Wir haben es in Unserer Schande nicht besser verdient. Wir sind eine jämmerliche Kreatur von einem bayerischen Prinzen. Eine Schande!“

Gudden antwortet: „Majestät gewinnen vielleicht ein glanzvolleres Bild von sich, wenn Sie eine Rasur zulassen und ein Bad nehmen!“

Die Pfleger hatten Gudden berichtet, dass sie vor einer Woche versucht hatten, den Bart des Prinzen zu stutzen, während dieser geschlafen hatte. Der Patient war aufgewacht und hatte mit einem Sessel einen der Pfleger am Rücken verletzt.

Otto murmelt: „Der Herr Professor ist mutig!“ Gudden lässt dem Kranken Zeit, das Gespräch, das er mit sich selbst führt, zu beenden.

„Er mag wissen, wie sehr Wir mit Uns gerungen haben“, sagt Otto dann, „doch es ist jedes Mal dasselbe. Er kennt Uns ja inzwischen lange genug, um zu wissen, dass Wir die Schlosskapelle tagsüber nur höchst selten verlassen, so wie in diesen Augenblicken, wenn Sie Uns besuchen kommen.“ Otto holt tief Atem und fährt fort: „Wir müssen zugeben, Er kennt Uns wirklich zu Genüge!“

„Seit beinahe fünfzehn Jahren“, sagt Gudden.

Im Laufe der Jahre drehten sich Ottos Gedanken immer um die gleichen Inhalte. „Wie oft habe ich Seiner Majestät Otto geraten, in der Schlosskapelle nicht zu rauchen?“ Im Dezember hatte eine Bibel Feuer gefangen, weil Otto eine Zigarette darauf ausgedrückt hatte. Otto liebte es, sich aus dem Papier der Heiligen Schrift Zigaretten zu drehen, wenn die Pfleger ihm keine mehr aushändigten, weil er seine Tagesration bereits verbraucht hatte. Gott sei Dank existiert von derartiger Literatur in einem erzkatholischen Land wie Bayern stets genug, denkt Gudden.

Otto stupst sich mit einer Hand gegen den Hinterkopf, murmelt unverständliche Worte vor sich hin. Gudden wartet ab, bis Otto ihm wieder empfangsbereit erscheint.

„Kein Verbrechen wiegt so schwer, dass Seine Majestät dazu verdammt sind, wie ein Gefangener zu leben. Majestät war ohnehin nur am Rande in Regierungsgeschäften tätig und hat sich nichts zuschulden kommen lassen!“

„Wir werden es Uns nie vergeben, dass Bayern auf österreichischer Seite gegen die Preußen in einen Krieg gezogen ist – und Wir daran teilhatten!“ Otto zündet sich die nächste Zigarette an. Er schmeißt das Streichholz zu Boden. Seine Hände zittern. „Die Preußen haben die Allianz aus Bayern und Österreich besiegt, Professor. Die Preußen sind bessere Menschen, weil sie über eine härtere Disziplin verfügen. Deswegen steht Gott auf ihrer Seite!“

Heilsame Gespräche zu führen, gehörte zu einer der Möglichkeiten, die Symptome der Melancholie – oder auch die Schwarze Wut genannt, zu behandeln. Bevor Gudden die Verantwortung für die Behandlung des Prinzen übernommen hatte, hatten Kollegen es mit eiskalten Bädern versucht. Otto wäre dabei fast an einer Lungenentzündung gestorben, hatte ein Kollege in Zürich ihm erzählt. Gudden hatte dort die Anstalt Burghölzli geleitet, als der Ruf aus München ihn ereilt hatte. Ständige Streitereien mit dem Verwaltungsdirektor hatten Gudden dort zermürbt. Er hatte sein dreijähriges Gastspiel in Zürich beendet und war dem Ruf nach München gefolgt. Der bayerische König selbst hatte Gudden zur medizinischen Betreuung seines Bruders auserkoren. Dafür war er zum Leiter der Kreisirrenanstalt Oberbayern ernannt worden.

Gudden unterdrückt ein Seufzen. Wie oft hatten sie dieses Gespräch in den letzten fünfzehn Jahren geführt? Mit dem Prinzen zu reden, erinnerte ihn jedes Mal an Geschichtsunterricht. „Wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, dann wurde der offizielle Waffenstillstand am 2. August des Jahres 1866 erklärt, Hoheit.“ Und dann fügt er hinzu: „Wann haben Majestät sich zuletzt rasiert?“

„Vor drei Jahren.“

„Wann haben Majestät zuletzt gebadet?“

„Vor zwölf Monaten.“

„Vielleicht sollten Majestät in Erwägung ziehen, sich am 2. August von den Pflegern rasieren zu lassen – um den Waffenstillstand feierlich zu begehen.“

Otto Wilhelm Adalbert von Wittelsbach lächelt. „Er versteht es immer wieder, Uns zum Lachen zu bringen. Und dabei soll Ihnen selbst das Lachen vergangen sein, Professor, wie Uns zu Ohren gekommen ist.“

„Wer behauptet so etwas, Majestät?“

„Die Pfleger im Schloss reden über Sie, Professor. Sie können sicher sein: Sie haben ein Auge auf Uns Professor – und Wir haben stets ein Auge auf Sie.“

„Wie wäre es jetzt mit einer kleinen Ausfahrt in der Kutsche, Hoheit?“, fragt Gudden.

„Wir werden diesen Ort niemals verlassen“, sagt Otto. „Warum sollten Wir Uns also einer Rasur unterziehen? Wir haben diesen Ort seit zehn Jahren nicht verlassen, wie Sie wissen, Professor.“

Gudden reibt sich den Kinnbart.

„Extra für den Herrn Professor gibt es Champagner aus Paris! Wir fragen Uns“, sagt Otto, „wie es dem Herrn Professor wohl gehen mag, nachdem Er das erste Glas getrunken hat.“

„Wahrscheinlich werde ich ein wenig in Sentimentalität schwelgen“, sagt Gudden.

Otto ruft wie bei jedem seiner Besuche nach seiner Dienerin. Eine ältere Frau betritt den Raum. Otto dreht das langstielige Glas in seiner rechten Hand.

„Und nach dem zweiten?“, fragt Otto.

„Wird meine Wenigkeit angenehm beschwingt sein.“

„Und nach dem dritten?“

„Mit Verlaub, Hoheit“, Gudden zeigt auf einen der Regulatoren. Viertel nach Vier. „In der Anstalt bleibt viel Arbeit liegen.“

„Wir stellen fest, der Herr Professor sollte ein viertes Glas trinken – und Er wird sehen, dass Er noch angenehmer beschwingt sein wird als nach dem zweiten.“ Otto prostet ihm zu und leert sein Glas in einem Zug. Er schneidet eine seiner Grimassen, die andere Menschen an einen Kobold erinnern mochten, ein Zeichen dafür, dass seine Stimmen wieder zu ihm sprachen.

Otto geht in den Speisesaal. Sie bleiben vor einer festlich dekorierten Tafel stehen.

„Was sagt Er jetzt?“, fragt Otto.

Das Glitzern in seinen Augen verleiht ihm Ähnlichkeit mit einem Kind, das sich ein Stück Bart ins Gesicht geklebt hat, um Seeräuber zu spielen. Er klatscht in die Hände, ruft abermals nach seiner Dienerin und verlangt mit Befehlsstimme: „Champagner!

Otto leert das Glas in einem Zug.

„Wie lange liegt unsere erste Begegnung eigentlich zurück?“, fragt Gudden.

„Dreizehn Jahre, Herr Professor. Auf den Tag genau dreizehn Jahre!“

Otto setzt sich mitten auf die Tafel und zündet sich die nächste Zigarette an. Seine nackten Füße, an denen der Schmutz haftet, baumeln in der Luft. „Ich schlage Ihnen einen kleinen Handel vor, Herr Professor“, sagt Otto.

Gudden neigt den Kopf. „Der da wäre?“

„Wir für Unseren Teil versprechen dem Professor, ein Bad zu nehmen und eine Rasur über Uns ergehen zu lassen! Und der Herr Professor für Seinen Teil zieren sich nicht länger, eine Flasche mit Uns zu trinken.“ Otto trinkt auch das nächste Glas in einem Zug leer.

Die Frau an Ottos Seite lächelt stolz wie eine Mutter. Gudden kannte die Frau seit Jahren, die Otto bereits als Jungen zu Diensten gewesen war: Marie, seine treue Dienerin und engste Vertraute.

Gudden sagt: „Seine Majestät sind ein Ehrenmann.“

„Dann lassen Sie Uns darauf anstoßen.“ Otto klatscht in die Hände und lacht. Selten hat Gudden einen Erwachsenen auf diese Weise lachen hören – wie ein Kind.

„Marie“, befiehlt Otto, „servieren Sie Uns noch eine Flasche Champagner! Der Herr Professor hat Grund genug zum Feiern. Der Preußendoktor hat soeben einen bayerischen Prinzen zu einem Bad überredet!“

 

2.

Eine Stunde später sitzt Gudden auf dem Rücksitz einer geschlossenen Kutsche. Er fühlt sich ein wenig schwindlig vom Champagner. Gudden erinnert sich seiner ersten Begegnung, zu der es im Jahre 1873 gekommen war: Das Ticken hunderter Uhren hatte den Raum erfüllt wie das Schlagen tausender Herzen. Otto sammelte damals Chronometer jeder Art. Der Prinz sprach zu der Zeit kein Wort. Drei Jahre später hatte sich in der Frauenkirche ein Vorfall ereignet. Der Bischof von München-Freising hielt die Hände gerade salbungsvoll über dem Kelch, als Otto in die Kirche gestürmt war. Otto trug Jagdkleidung und ein Gewehr. Priester und Ministranten gingen hinter dem Altar in Deckung. Otto, dessen Bart damals schon bis auf seine Brust hinabreichte, warf die Waffe in eine der vorderen Reihen. Die Waffe war nicht geladen gewesen, dennoch herrschte im Kirchenschiff Panik unter den Gottesdienstbesuchern. Otto warf sich vor dem Bischof auf die Knie und flehte um Vergebung. Der Zwischenfall hatte Ottos Schicksal endgültig besiegelt. Otto schien sich über die Sanktion zu freuen, als wäre sein sehnlichster Wunsch in Erfüllung gegangen, im Gegensatz zu anderen Kranken, die sich niemals ganz mit dem Verlust ihrer persönlichen Freiheit arrangieren konnten. Otto dagegen sah sich in seinem Wahn bestätigt: Er verdiente eine Strafe! Weil er, zumindest in seinen Augen, große Schuld auf sich geladen hatte! Im Nachhinein kam es Gudden vor, als habe Otto mit seiner Aktion in der Frauenkirche darauf abgezielt, in Gewahrsam genommen zu werden. Falls dieser Gedanke stimmte, denkt Gudden jetzt, hatten sie alle falsch reagiert! Sie hätten Otto niemals in das Schloss abschieben dürfen. Dadurch haben sie ihn schließlich in seinem Wahn bestärkt.

 

Die Innsbrucker Nachrichten veröffentlichten drei Jahre nach Guddens Tod, im Oktober 1889, einen Artikel, in dem über die Baulichkeiten im Schloss Fürstenried folgendes berichtet wird: In den elegant eingerichteten Appartements des Königs, die durchwegs im Erdgeschosse liegen, während die Dienerschaft den ersten Stock bewohnt, ist das Schlafzimmer mit allem Komfort ausgestattet; auch benützt der hohe Kranke die Toilettengegenstände sehr häufig, nur vom Baden will er trotz der prachtvollen Kabine wenig wissen, und es hat seine Schwierigkeiten, ihn dazu zu bewegen ... Äußerst empfindlich ist der König gegen das Schließen von Türen, die aber durchaus nicht mit Gucklöchern versehen sind. Es ist Befehl, dass alle Türen der Flucht im Erdgeschoss während des Tages geöffnet bleiben, auch die Türen nach dem Garten hinaus. Findet der König eine geschlossene Tür, so gerät er geradezu in Wut und schlägt mit wuchtigen Fausthieben auf dieselbe los. Seit er die Fenster nach der Straßenseite zertrümmert hat, sind diese mit Eisengittern versehen.

 

***

 

Die Worte des Kranken hallen wie ein Echo durch Guddens Innerstes: Sie können sich sicher sein: Sie haben ein Auge auf Uns Professor – und Wir haben stets ein Auge auf Sie … Gudden lächelt das Schaudern, das ihn erfüllt, weg und denkt an die Arbeit in der Anstalt, die während seiner Abwesenheit liegengeblieben ist.

 

3.

An diesem Abend ereignete sich nach dem Besuch des königlichen Medizinalrates ein kleines Wunder: Prinz Otto schrie nach seiner Dienerin Marie. Als diese in seinem Schlafgemach auftauchte, forderte der Kranke sie auf, ihm unverzüglich ein Bad einzulassen. Es war der 28. März 1886. Und der Bruder Seiner Majestät König Ludwig des II. von Bayern verlangte nach dem königlichen Leibfriseur, der ihm das Haar schneiden und den Bart stutzen sollte.

 

4 . Kreisirrenanstalt Oberbayern, München – Mittwoch, 14. April, vormittags

Die Anstalt lag Auf der Auer Lüften – so hieß der Stadtteil im Osten am Rande der Stadt. Die Straße, die an die Anstalt grenzte, hatte früher Irrenweg geheißen, was den Anwohnern ein Dorn im Auge gewesen war. Der Senat hatte die Straße daraufhin in „Balanstraße“, nach einer Schlacht, die das bayerische Regiment bei Sedan im Krieg gegen Frankreich ausgefochten hatte, umbenannt. Professor Bernhard von Gudden wohnt mit seiner Frau in der angrenzenden Auerfeldstraße in einer Villa. An diesem Mittwoch hat der Professor das Haus gegen vier Uhr am Morgen verlassen. Seine Frau ist bei ihrer ältesten Tochter Anna und deren Familie im Fränkischen zu Besuch. Ein „Besuch“, der schon seit Monaten andauert. Der königliche Medizinalrat lebt in diesen Tagen alleine in der Villa. Am Morgen hat er eines der Kaninchen in der Anstalt aus den Stallungen herausgenommen. Er pflegte die Tiere für gewöhnlich mit Äther zu betäuben, bevor er Schädelöffnungen an ihnen durchführte. Er hatte schon seit über einem Jahr keine Tierversuche mehr unternommen. Er stellt das Kaninchen in die Stallung zurück und betritt den Pavillon, der das Neuroanatomische Labor beherbergt.

„Wir in Bayern hegen eine Vorliebe für die Chinesen. Denken Sie nur an den Chinesischen Turm im Englischen Garten, Professor.“

Gudden erschrickt. Er blickt über die Schulter eines Fremden aus einem der Fenster. Ein weißblauer Himmel, dem Banner des Landes entsprechend, ist der Morgendämmerung gewichen. Ein trügerischer Himmel, so wie überhaupt alles in diesem Land, denkt er. Ein Schritt nach draußen genügt, und die eisige Kälte fährt einem durch Mark und Bein. Dasselbe gilt zweifellos für das Lächeln des Mannes, der sich ihm gegenüber auf einen Sessel gesetzt hat ohne auf seine Aufforderung zu warten. Dieses Lächeln entstammt einer Gehirnregion, die Lügen ersann!

„Der Herr Innenminister lässt Sie herzlich grüßen. Er hat zu allen Zeiten ein Auge auf Sie, Herr Professor von Gudden.“

Der Fremde betont das Von und nickt ihm zu. Gudden spürt heiße Röte, die ihm in die Wangen aufsteigt. Schon wieder jemand, der ihm versichert, ein Auge auf ihn zu haben – genau wie Prinz Otto!

„Was fällt Ihnen ein? Ist es nicht mehr üblich, anzuklopfen, bevor man ein fremdes Gebäude betritt?“, fragt Gudden.

„Ich bringe Ihnen ein Geschenk“, sagt der Fremde.

„Viel lieber wäre es mir, der Herr Minister würde sich endlich dazu herablassen, die Versprechen einzulösen, welche die Regierung mir schon vor Jahren gegeben hat.“

„Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden, Herr Professor.“

„Der Neubau einer Psychiatrie auf dem Gelände des Krankenhauses am rechten Ufer der Isar! Es wäre doch ein Fortschritt, wenn die Nervenkranken dort behandelt würden, wo auch alle anderen Kranken ihre Behandlung bekommen.“ Der Fremde wirft seine Handschuhe neben das Mikroskop, eine Geste, die Gudden an einen Fehdeschwur aus einem Rittermärchen erinnert. Der Fremde schlägt einen vertraulichen Ton an. „Ihr Gedächtnis funktioniert einwandfrei, Professor.“ Er kämmt sich mit der rechten Hand durch sein schlohweißes Haar. Der Mann besitzt einen athletischen Körper, seine Bewegungen wirken geschmeidig wie die eines Reiters.

„Wenn das Innenministerium Sie schickt, dann verraten Sie mir wenigstens Ihren Namen, mein Herr.“

Der Besucher steht auf und löst eine Schnur um ein dunkles Paket. Eine Pinzette entgleitet beim Anblick eines Gemäldes Guddens Fingern. Das Bild zeigt den Körper einer Frau, nackt auf roter Seide. Gudden kennt das Bild. Der Maler hat dem Gemälde den Namen „Revolution und Muse“ gegeben. Der Pose des Modells wohnte eine Laszivität inne, die zu den Lippen der Frau passte, die aussahen, als sehnten sie sich danach, dem Betrachter mit dem Todeskuss ein ewiges Versprechen zu geben.

„Dieses Bild gehört auf der Stelle zurück in den Louvre“, sagt Gudden. „Woher …“

„Seine Hoheit König Ludwig der II. haben einen Unterhändler entsandt, um es zu kaufen. Einen derartigen Schweinekram, der eines Königs nicht würdig ist!“

Gudden versteckt sich hinter einer Phrase. „Des Königs Vorlieben dürften des Königs Privatangelegenheit sein.“

Die Stimme des Mannes nimmt einen bedrohlichen Klang an. „Ihr Desinteresse am König erscheint mir neu. Wenn ich Sie nur an die Burschenschaft erinnern darf, der Sie einst angehört haben, Herr Professor. Als junger Mann interessierten Sie sich mehr für die Politik als für die Medizin. Sie wollten die Monarchie stürzen. Denken Sie an die Frankonia!“

Gudden spürt sein Herz rasen. Gott, wie sehr sehnt er sich nach einem Glas Wasser! Er seufzt. Das war vor über vierzig Jahren … Er war versucht, sich mit diesen Worten vor seinem Gegenüber zu rechtfertigen. „Was wissen Sie über die Frankonia?“, fragt Gudden stattdessen.

„Über die Frankonia weiß doch niemand besser Bescheid als Sie, Professor – und Anna von Benning. Wenn sie noch am Leben wäre!“ Der Gast zeigt auf die Frau auf dem Gemälde.

„Was hat Ihr Besuch mit dem Chinesischen Turm zu tun?“, versucht Gudden das Gespräch auf die einleitende Bemerkung seines Gastes zurückzuführen.

„Nun, im Innenministerium wissen wir alle, dass Seine Hoheit Ludwig der II. sich über jegliche Moral hinwegsetzt. Und dem Ansehen und der Politik unseres bayerischen Vaterlandes schadet. Der König lässt täglich junge Schauspieler zu sich kommen, die ihm aus Shakespeares Theaterstücken vorspielen – Sondervorstellungen für einen kunstsinnigen Monarchen – nackt …“ Dem Gast fällt es nur scheinbar schwer, das Wort auszusprechen. Aus den türkisblauen Augen lacht Gudden der Schalk entgegen.

„Was noch lange kein Grund für eine Anomalie des Gehirns Seiner Hoheit wäre!“, sagt Gudden. „Denken Sie nur an den Großvater Seiner Majestät. Ludwig der I. ist zurückgetreten wegen einer Tänzerin, der man unsittliches Verhalten vorwarf. Ein König, der eine Liaison mit einer spanischen Tänzerin hatte: Lola Montez. Ich bin Psychiater geworden und kein Priester! Und jetzt gehen Sie endlich.“

„Seine Hoheit König Ludwig der I. war übrigens ein guter Freund Ihres berühmten Vorgängers hier in der Kreisirrenanstalt zu München“, sagt sein ungebetener Gast.

„Professor Ringseis gehörte zu den Psychikern“, versucht Gudden das Gespräch abzuwürgen. „Wir halten nicht viel von seinen Positionen, wie jedermann in Fachkreisen weiß. Die Psychiker vertraten die Meinung, dass eine schlechte Moral und ein schlechter Umgang die Menschen an der Seele krank werden lassen, was ein blanker Unsinn ist. Schließlich gibt es auch Nervenkranke aus gehobenen Kreisen, nicht nur aus den Elendsvierteln hier in München. Prinz Otto dürfte dafür der beste Beweis sein.“

Der Fremde hebt die Schultern. „Sie und Ihre Freunde von der Studentenverbindung Frankonia waren nicht gerade glühende Anhänger der Monarchie.“

„Ich weiß nicht, wovon Sie reden.“

„Finden Sie es nicht auffällig, dass Sie seinerzeit die Universitätsklinik in Siegburg bei Bonn Hals über Kopf verlassen haben?“

„Ich habe in Siegburg meine Frau kennengelernt.“

„Ein Grund mehr, warum Ihr promptes Ausscheiden ins Auge sticht.“

„Verraten Sie mir endlich Ihren Namen!“

Gudden blickt über das Bild hinweg in das Gesicht des Mannes.

„Sie sind Ihrem Land einen Gefallen schuldig“, sagt der Mann. „So viel Glück hat ein Mann nicht alle Tage, wie Sie in ihrem Leben gehabt haben. Viele Männer aus den Studentenverbindungen sind hingerichtet worden oder in Gefängnissen gestorben. Sie, Herr Professor, haben rechtzeitig Ihre Schäfchen ins Trockene gebracht. Und heißt es nicht, wie die Chinesen zu sagen pflegen: Glück ist das einzige, das sich verdoppelt, wenn man es teilt? Das ist doch wie bei uns in Bayern: Eine Hand wäscht die andere! Wir helfen Ihnen, und Sie helfen dem Herrn Minister bei einer etwas delikaten Angelegenheit, Professor.“

Der Gast lächelt und schlägt ein Bein über das andere. Die Reitstiefel und die legere Haltung tun der finsteren Miene seines Gesichtes keinen Abbruch. Dieser Mann duldet kein Nein, sagt seine Miene.

„Können Sie sich nicht denken, Herr Professor, was die Regierung von Ihnen will?“