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erlag Voland & Quist, Dresden und Leipzig, 2010

© by Verlag Voland & Quist – Greinus und Wolter GbR

ISBN 978-3-938424-77-3

Umschlaggestaltung: HawaiiF3, Leipzig

E-Book-Erstellung: nimatypografik

www.voland-quist.de

Inhalt

Vorwort

Falko Hennig

Wie ich mal eine Sportzeitung redigierte

Wladimir Kaminer

Die Schreie der Zombies

Jakob Hein

Das Lachen der Lauteren

Ahne

Proll maskiert

Uli Hannemann

Mein blaues Auge macht mich so sentimental

Heiko Werning

sei dies, sei das, sei irgendwas

Jürgen Witte

Wahre Geschichten aus dem Wirtschaftsleben I

Jürgen Witte

Wahre Geschichten aus dem Wirtschaftsleben II

Ahne

Zwiegespräche mit Gott – heute: Nachrüstung

Manfred Maurenbrecher

Monolog der Sekretärin

Uli Hannemann

Der Weg ist das Ziel

Heiko Werning

Myxomatose

Falko Hennig

Die Wartburg-Gang und die Schwalben

Jürgen Witte

Gesundheitslexikon von 1890

Jakob Hein

Michaels Tod

Ahne

Die Pflicht

Uli Hannemann

Begegnung mit dem Winter

Daniela Böhle

Frühaufsteher

Ahne

Sie könnte Chantal heißen

Jürgen Witte

Ich habe jetzt auch eine Praktikantin

Falko Hennig

Weihnachtsgeschichte

Uli Hannemann

Weihnachtsfilm

Bov Bjerg

Wissenswertes über Göttingen

Heiko Werning

Tauwetter

Ahne

In Mainz und überhaupt

Jakob Hein

Irgendein Künstler

Uli Hannemann

Rückfahrt

Heiko Werning

Schlimmste Nächte: Los Angeles

Sarah Schmidt

Ich muss zelten

Jürgen Witte

Manchmal sehe ich nachts auch den Fuchs aus dem Stadtpark, wenn er meine Straße entlangkommt und durch das Viertel streift

Uli Hannemann

Kein Herzschlag am Potsdamer Platz

Falko Hennig

Bärchenfunk

Ahne

Der Einbürgerungstest

Jakob Hein

Im Grunde lächerlich

Uli Hannemann

Drinnen sind nur Kännchen

Heiko Werning

Und mit den Clowns kamen die Tränen

Ahne

Die mittlere Lebenskrise

Jürgen Witte

Wie ist das Leben, wenn man 50 ist?

Uli Hannemann

Zwei Märchen

Jakob Hein

Im Feierabendheim »Howard Carpendale«

Biografien

Letzte Veröffentlichungen

Vorwort

»Wie kommen euch eigentlich die Ideen?« »Wann habt ihr mit dem Schreiben angefangen?« »Könnt ihr davon leben?«

Diese drei Fragen werden jedem Mitglied der Reformbühne Heim & Welt, so oder in umgekehrter Reihenfolge, am häufigsten gestellt. Damit sich das in Zukunft ändert, hier die ultimative Antwort:

Am Anfang war das Licht. Oder irgendwas anderes. So genau kann das keiner wissen, weil, es war ja niemand dabei. Jedenfalls keiner von uns. Jedenfalls kann sich keiner von uns dran erinnern. Aber im Februar 1995 entstand die Reformbühne Heim & Welt. Oder war es im Januar? ’94? ’96? Man traf sich gemütlich zu Kaffee und Kuchen und dachte sich diesen wunderschönen Namen aus. Reformbühne Heim & Welt. Ist doch schön, oder? Was man überhaupt wollte, war damals nicht so wichtig. Es herrschte ja Anarchie in Berlin. Alle Häuser waren besetzt, kein Mensch bezahlte irgendetwas, die Kinder machten, was sie wollten und jeder ging mit jedem ins Bett. Natürlich auch jede mit jeder oder jeder mit jede, das war vollkommen schnuppe damals. Es gab ja noch keine Trennung der Geschlechter, die Polizei hatte nichts zu sagen und Twix hieß noch Raider.

Arbeiter waren wir. Einfache Menschen aus Schrot und Korn. Wir waren Bauern. Kamen vom Land. Unsere Häute gegerbt von der Sonne. Aber wir waren auch Finanzbeamte, Schülerlotsen, Meerjungfrauen, Spinner, jedenfalls einige von uns, und das schweißt bekanntlich zusammen. Zu Anfang tranken wir immer nur Kaffee und aßen Kuchen, aber dann kam jemand auf die Idee, auch mal Pizza mitzubringen. Mal was anderes. Wir waren Punker, aber mit natürlichen Haaren. Wir liebten die Natur. Jeden Morgen pflückte einer von uns einen Strauß Blumen und spendete ihn für Afrika, denn Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker, und wenn jemand zärtlich war, dann ja wohl wir! Jedenfalls vor der Rechtschreibreform. Die kam 1998. Oder kam sie erst 2002? Wir dagegen kamen von weit weg, oder von direkt um die Ecke, je nachdem, wo wir vorher gerade gewesen waren, denn wir saßen ja nicht immer nur zu Hause rum, auch wenn manche das behaupteten, aber die hatten ja wohl gar keine Ahnung, die Trottel!

Zur Reformbühne Heim & Welt gehörten und gehören: Ahne, Bov Bjerg, Daniela Böhle, Falko Hennig, Hans Duschke, Heiko Werning, Jakob Hein, Jürgen Witte, Manfred Maurenbrecher, Michael Stein, Sarah Schmidt, Uli Hannemann und Wladimir Kaminer.

Unser aktuelles Ensemble hat, an wirklich jedem Sonntag, um 20.15 Uhr im Berliner Kaffee Burger mit Text und Ton das Ohr am Zahn der Zeit. In der Regel sogar mit einem musikalischen und einem literarischen Gast und selbstverständlich mit jeder Menge Ernst und Spaß. Die ersten fünf, die das hier lesen, kriegen übrigens ein Freigetränk. Völlig abgedrehte Freaks können uns natürlich auch in der anderen Welt besuchen, unter www.reformbuehne.de.

PS: Ach so, die Antwort auf die drei Fragen haben wir ganz vergessen. Sie lautet: Ja.

Falko Hennig

Wie ich mal eine Sportzeitung redigierte

Viele Chancen hatte ich mir nicht ausgerechnet, als ich mich auf den Hinweis eines früheren Schriftsetzerkollegen um die Urlaubsvertretung des Schlussredakteurs einer Sportzeitung bewarb. Ich hatte Sport eigentlich immer gehasst und seit Jahrzehnten selbst die Tagesschau ausgeschaltet, sobald Sportberichte kamen.

Ich wusste ziemlich genau, woher mein Hass auf Sport kam, es hatte mit meinen Eltern zu tun, die Sportlehrer waren, und dadurch, dass ich Sport hasste, musste ich sie nicht hassen, eine elegante Lösung. Jetzt allerdings konnte sich dieses Lebensprinzip als Hindernis meiner Karriere erweisen.

Wahrheit ist ein sehr wertvolles Gut, deshalb sollte man sparsam damit umgehen. Ich schrieb meinen Lebenslauf um und verwandelte mich darin in einen perfekten Sportlehrersohn, der alle Sportarten, Spiele und Weltmeisterschaften akribisch verfolgt und wissenschaftlich analysiert hatte. Der Redakteur rief mich an und lud mich zum Vorstellungsgespräch ein.

Zu meinem Glück suchte er sehr dringend eine Vertretung, da er die einzige tägliche Sportzeitung gegründet, sie seitdem bei Zigaretten, Kaffee und Alkohol bis zur Erschöpfung geleitet hatte und sein erster, dringend nötiger Erholungsurlaub ohne entsprechenden Stellvertreter scheitern würde. Er hatte sich eine Reihe nervöser Macken zugelegt, über die ich während des Bewerbungsgesprächs großzügig hinwegsah.

Ich bekam den Job, als ich ihm die Anzahl der deutschen und amerikanischen Goldmedaillen bei den Olympischen Spielen 1936 korrekt referieren konnte, eine zufällige Kenntnis aus meiner aktuellen Charles-Bukowski-Forschung. Wen es interessiert: Deutschland 33, USA 24. Heute sei sein letzter Arbeitstag, morgen mein erster. Ich durfte ihm assistieren, er stellte mir verschiedene Redakteure und Autoren vor und schärfte mir ein: »Es geht um die Spätredaktion, also um den letzten Blick auf die Zeitungsseiten vor dem Druck, um noch das Schlimmste zu verhindern.« Ich war gegen Mitternacht froh, den glücklichen Mann in seinen wohlverdienten Urlaub abreisen zu sehen.

Als ich meinen Freunden von meinem Job erzählte, sahen sie mich ungläubig an: »Aber du hast doch überhaupt keine Ahnung von Sport!«

Ich konnte nur mitleidig erwidern: »Als Schriftsteller kann man sich leicht in fremde Welten einfühlen.« Mittags ging ich in die Redaktion in einem Hochhaus in Berlin und machte mich nützlich. Um 23.30 Uhr waren alle Redakteure im Feierabend und meine eigentliche Arbeit begann. Die Druckerei war verärgert, weil ich es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren konnte, ihnen die von Fehlern wimmelnden Seiten zu senden. Ich hatte viel zu tun, es war erstaunlich, welche Unmengen von Stilblüten und grammatikalischen Schnitzern die lieben Kollegen in ihre Texte geschrieben hatten, von denen »Sie spielten auf Schalke« noch eine Kleinigkeit war. Immer wieder rief die Druckerei an und verlangte zunehmend dringender die fertigen Zeitungsseiten, aber gerade an meinem ersten Arbeitstag wollte ich nicht schlampig sein, sondern der Presse ein Vorbild an Sorgfalt liefern und die Sportzeitung zu neuen Erfolgen führen.

Um vier Uhr morgens war ich endlich durch und hatte, wie es meine Aufgabe war, das Schlimmste verhindert. Ich fuhr sehr glücklich über die gelungene Arbeit nach Hause.

Am nächsten Tag rasierte ich mich sorgfältig, ließ mir aber einen Schnauzbart stehen und bleichte meine Haare, außerdem kaufte ich mir einen weißen Anzug. So angemessen gekleidet kam ich zur Redaktion, wo Männer, Knaben und Paare am Eingang standen. Ich hörte einige sagen: »Das ist er!«, und andere: »Seht mal, die Augen!«

Das schmeichelte mir natürlich und ich tat so, als nehme ich die Aufmerksamkeit nicht wahr, aber innerlich freute ich mich doch. Auch in der Redaktion waren nicht nur die Redakteure und Autoren der aktuellen Ausgabe versammelt, sondern auch viele andere Neugierige. Und auch dort ging ein Rumoren durch die Gruppe, als ich eintrat. Einer der Autoren sprach mich an: »Wir sind uns gestern nicht begegnet, ich habe den Leitartikel über die Bundesliga geschrieben, den Sie rausgeworfen und durch Ihren eigenen ersetzt haben.« Er nahm die Sportzeitung hervor und las aus meinem Artikel vor: »›Fußball ist ein schöner Vogel, aber bei der Aufzucht muss man beachten, dass er normalerweise erst in seiner Brunftzeit schlüpft und die Eier nur im Juni eingeführt werden dürfen. Im Winter muss er in einem warmen Raum gehalten werden, wo er seine Jungen großziehen kann.‹ Kommt Ihnen dieser Text bekannt vor?«

»Selbstverständlich, ich habe ihn ja geschrieben.«

»Dann gehört auch das dazu?«, er las wieder vor: »›Einen ausgewachsenen Fußball zu zähmen ist nützlich, weil er verspielt und ein guter Rattenfänger ist.‹« Ich stimmte zu: »Dieser Aspekt kam mir tatsächlich bei Ihrem Leitartikel zu kurz.« Er nickte und sagte: »Ich danke Ihnen für Ihre offenen Worte, ich war bis eben der Überzeugung, dass ich unter einer nachhaltigen Sinnestäuschung litt.« Ich freute mich, dem Kollegen so mühelos Erleichterung verschafft zu haben. Ein anderer hatte zugehört und fragte:

»Wieso haben Sie bei Leichtathletik ›Stabhochsprung‹ in ›Stapellauf‹ geändert? Es gibt keinen Stapellauf in der Leichtathletik!«

»Ich bin froh, etwas frische Luft in die Redaktion zu bringen. Und vielleicht kann ich ergänzen: Noch nicht!« Die Reihen teilten sich und der Redakteur, den ich im Urlaub wähnte, trat auf mich zu: »Haben Sie schon einmal in einer Sportredaktion gearbeitet?«

»Nein«, sagte ich, »es ist mein erster Versuch in diese Richtung.« Er nahm die Zeitung, und auch er kam nicht umhin, aus meinen bemerkenswerten Texten zu rezitieren: »›Statt die Tennisbälle durch Taucher vom Grunde der Seen zu holen, wäre es viel praktischer und auch schöner fürs Auge, sie von jungen, gut gewachsenen Frauen pflücken zu lassen.‹ Tennisbälle schwimmen, Seen sind sehr selten in der Nähe von Tennisplätzen!« Ich spürte einen Vorwurf in seinen Worten und sprach: »Das ist doch bildlich gemeint, eine Metapher. Eher meinte ich, dass doch immer fünf bis sechs Mitglieder eines Tennis-Teams sich um die Kugeln kümmern könnten, die ja sonst doch immer im Abseits vor den Löchern stehen.« Der Redakteur brauchte wirklich sehr dringend einen Erholungsurlaub, seine nervösen Macken hatten noch zugenommen.

»Ich frage mich, wie Sie recherchieren, zum Beispiel hier: ›Paul Breitner wird immer ein Gigant in den Annalen der Formel-1-Rennen bleiben, auch wenn bei einer Fahrt sein Bruder verschwand und die Fachleute keinen Zweifel daran haben, dass er ihn aufgegessen hat.‹ Woher haben Sie Ihre Kenntnisse?«

»Ich kann dabei auf mein umfangreiches Allgemeinwissen zurückgreifen. Und Paul Breitner ist mein großes Idol, seitdem er 1980 für die DDR die Vierschanzentournee gewann.« Er wirkte aufgebracht.

»Ich breche meinen Urlaub ab, ich habe genug davon, dass Sie unter der Rubrik ›Wasserball‹ schreiben: ›Ob es regnet oder nicht, spielt beim jährlichen Wasserball in der Kongresshalle keine Rolle, wenn sich die wichtigsten Vertreter der deutschen Presse treffen. Hauptsache, es wird wie immer das Tanzbein geschwungen.‹ Oder Ihre Einlassungen zum Eishockey, wonach der Puck still liegen bleibt, wenn man ihm Musik vorspielt. Das ist zwar zutreffend, aber völlig überflüssig, Pucks bleiben immer still liegen, wenn sie nicht geschlagen werden. Ihre Bemerkung, wonach die Zukunft des Schachs in Esperanto liegt, muss diese Zeitung ruinieren, auch wenn die aktuelle Ausgabe eine verkaufte Rekordauflage hat. Ich muss meinen Urlaub verschieben, ich kann es nicht ertragen, dass Sie noch mal Hockey unter der Rubrik ›Malerei‹ behandeln! Sie sind entlassen! Wieso haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie von Sport keinerlei Ahnung haben?«

Nun war meine Geduld zu Ende: »Ich arbeite seit 20 Jahren im Zeitungsgewerbe und Sie wollen mir erzählen, dass ein Redakteur irgendwelche Kenntnisse besitzen muss? Wer verfasst denn die Theaterkritiken? Hoffnungslose Trinker, Obdachlose und Müllfahrer. Wer rezensiert denn Bücher? Leute wie ich, die noch nie eines geschrieben haben. Wer schreibt denn für Sportzeitungen? Autoren, die in sämtlichen anderen Bereichen gescheitert sind und für die eine Sportzeitung der letzte Ausweg vor der Arbeitslosigkeit ist. Sie wissen doch genau, je weniger Ahnung man hat, desto höher ist das Gehalt, das man bekommt. Ich wäre längst berühmt, wenn ich nur unwissend statt gebildet, wenn ich unverschämt statt bescheiden gewesen wäre!«

Ich schwieg einen Augenblick, doch fügte dann noch hinzu: »Ich kündige! Ich hätte alle Bevölkerungsschichten für Ihre Zeitung interessieren können. Noch eine Woche, und ich hätte die verkaufte Auflage verdoppelt. Ich hätte der Sportzeitung die besten Leser beschafft, die eine solche Zeitung überhaupt haben kann. Niemand von ihnen hätte Fußball von Marathon unterscheiden können. Aber Sie wollen es anders und weiter in Ihrem eigenen Fett schmoren. Auf Wiedersehen, Sie Flachzange.« So schritt ich davon, als Sieger.

Aufmerksame Leser werden es bemerkt haben, die vorstehende Geschichte ist eine Hommage an den amerikanischen Humoristen Mark Twain. Twain ließ sich durch seine journalistische Praxis zur Skizze »Wie ich eine landwirtschaftliche Zeitung herausgab« inspirieren, Falko Hennig von dieser Skizze und seiner Tätigkeit bei der Sport-BZ.

Wladimir Kaminer

Die Schreie der Zombies

In den Computerspielen meines Sohnes laufen die Helden fast immer durch irgendwelche Ruinen, verlassene Fabriketagen, zerbombte Städte, dunkle Sackgassen voller blutrünstiger Zombies. Sebastian braucht in der Regel zwei bis drei Wochen, um die Umgebung in einem solchen Spiel abzusichern und sich einigermaßen in den Ruinen zurechtzufinden. Dann legt er eine Erweiterungs-CD ein. Sein Held bekommt durch die Erweiterung einige neue Eigenschaften, kann vielleicht durch Wände gehen oder die Zombies mit bloßem Blick töten. Mit jeder Erweiterung werden auch einige zusätzliche Fabriketagen oder dunkle Gassen eingerichtet und frische, unverbrauchte Zombies heruntergeladen. Dann geht Sebastian wieder auf Mission.

Wenn ich an seinem Zimmer vorbeigehe, höre ich, wie die Zombies schreien. In solchen Augenblicken denke ich nostalgisch zurück an die Spiele meiner Jugend, drei große Boxen, die im Vorraum des Filmtheaters Brest neben der Männertoilette standen – ein Spiel kostete 15 Kopeken, fast so viel wie eine Kinokarte. Diese riesigen Geräte, die Vorboten der Computerspiele, hatten alle die gleiche Form und Farbe, bloß bei einem ragte ein Lenkrad heraus, beim zweiten ein Gewehr und beim dritten ein Periskop. Mit dem Lenkrad konnte der Spieler einen Rennwagen lenken, der aber so langsam fuhr, dass man während der Fahrt eine Zeitung lesen konnte. Das Gewehr gehörte zum Schießstandautomaten, dort wurde aber nicht auf Zombies, sondern auf Häschen und Eichhörnchen geschossen. Mein Lieblingsautomat war der mit dem Periskop – die Seeschlacht. Der Spieler schaute wie aus einem U-Boot über das Meer. Eine romantische, liebliche Landschaft öffnete sich vor seinen Augen. Man sah ein ruhiges, aus grobem Karton ausgeschnittenes Meer mit kleinen Wellen bis an den Horizont. Am linken und rechten Rand ragten Kliffs. Am hellblauen Himmel klebte eine schnuckelige Sonne. Sie spiegelte sich sogar im Wasser. Ich konnte stundenlang durch diese Röhre gucken, das herrliche Bild verzauberte, es war schön und völlig kostenlos. Wenn der Spieler aber eine 15-Kopeken-Münze in den Schlitz warf, piepte der Automat angestrengt und spuckte ein kleines Segelschiffchen aus. Das Schiffchen segelte ziemlich schnell über das Meer von links nach rechts – zu pathetischer Musik. Man hatte drei Torpedos und dementsprechend drei Chancen, das Schiff zu versenken. Die Torpedos erschienen auf dem Bild als rote blinkende Punkte, die sich langsam vom Spieler entfernten und am Horizont mit dumpfem Geräusch explodierten. Ob man das Schiff traf oder nicht, das Spiel war nach weniger als einer Minute zu Ende und das Geld weg. Deswegen habe ich es vorgezogen, nicht zu schießen, sondern nur das friedliche Panorama zu überwachen. Jedes Mal im Kino schaute ich vor und nach dem Film in die Periskopröhre: ob auch alles in Ordnung war. Ich wollte mich vergewissern, ob die Sonne noch da war und das ausgeschnittene Meer aus Karton und ob die Kliffs immer noch an den richtigen Seiten standen. Ich fühlte mich für das Arrangement im Seeschlachtautomaten irgendwie verantwortlich.

Aus heutiger Sicht ist diese Spielerhaltung lächerlich und äußerst unsportlich. Sebastian hätte über eine solch sinnlose Spielzeitverschwendung wahrscheinlich nur gelacht. Die Zeiten haben sich erweitert. Ohne ein paar hundert abgeschossene Zombies geht man heute nicht mehr zu Bett.

Jakob Hein

Das Lachen der Lauteren

In der Geschichte des Humors sind es häufig die Schwachen, die sich zu Wort melden. Die Unsportlichen, die Unbeliebten, die Dauerzahnspangenträger, die Verschmähten, die nicht nur vermeintlich, sondern auch bei objektiver Betrachtungsweise – ich meine, machen wir uns nichts vor, Leute – Hässlichen, sie haben schon tausendfach von sich berichtet, ihre Geschichte erzählt, ihren Spaß gehabt. Statistische Untersuchungen konnten belegen, dass mehr als 92 Prozent aller humorvollen Kunst (in Wirklichkeit etwa sieben Prozent mehr) von dieser Bevölkerungsgruppe kommt, obwohl sie bei strenger Auslegung nur etwas mehr als zwölf Prozent der Bevölkerung ausmacht, andere Forscher sprechen von bis zu 40 Prozent. Der Streit bezieht sich im Wesentlichen darauf, ob eine Sportnote von schlechter oder gleich vier auf mindestens einem Zeugnis schon als Kriterium ausreicht, oder ob man das genauere »Multiaxiale Unpopularitäts Rating Cutoff Score« der Universität von Pennsylvania heranziehen muss. Doch wie dem auch sei, in jedem Fall repräsentiert die humorvolle Kunst 60 bis 88 Prozent der Bevölkerung nicht. Zwar rezipieren auch diese Bevölkerungsteile Humor, aber es ist eben nicht ihr Humor. Es ist das Lachen der anderen, der Blick über den Zaun.

Auf den ersten Blick scheint dieses Fremdlachen vollkommen harmlos, ja sogar erstrebenswert. Schließlich wollen wir auch nicht unbedingt einen weißen Wal fangen, um zu verstehen, wie sich das anfühlt. Warum also sollte die große Bevölkerungsmehrheit nicht ab und zu darüber lachen, wie die schwächere Minderheit sich so fühlt? Nun, wenn es eine Ausnahme bliebe, dann wäre das Ganze tatsächlich nicht der Erwähnung wert. Aber dadurch, dass der Humor der Schwachen eine solche Monopolstellung in der Welt des Humors einnimmt, kommt es zu einer großen Gefährdung, wie man das auch von anderen Monopolen kennt. Denn diese Meinungsmonopolisierung führt zu einer schweren Wahrnehmungsverzerrung. Bei Experten ist dieses Phänomen schon längst unter dem Begriff der Humorhegemonialisierung bekannt. Es führt dazu, dass ein bestimmter Humorbegriff über Generationen durch alle führenden Kulturmedien gewissermaßen standardisiert wird. Kräftige, gut aussehende Leute sitzen in komischen Filmen, stoßen sich gegenseitig an und sagen: »Haha, das kenn ich! Ich war früher auch so ein unbeliebtes Kind.« Dabei stimmt das überhaupt nicht! Viele der Menschen, die sich mit Woody Allen identifizieren sind weder alt noch schwach und zum großen Teil nicht einmal jüdisch! Hier findet eine Okkupation der Vergangenheit der Bevölkerungsmehrheit durch eine kleine Minderheit statt, die sich ihr Geld einfach nicht durch anständige Arbeit verdienen kann.

Ganze Themenbereiche bleiben so ausgespart, wichtige Erfahrungen verblassen. Lediglich in den nicht von allen gleichermaßen geschätzten Sparten Action und Pornografie werden auch Erfahrungen von Nicht-Unterlegenen verarbeitet. Immer wieder wurde daher in der Wissenschaft der Ruf nach dem Humor der Mächtigen laut. Wo sind die Rufe der Rechtschaffenden, die Breviere der Bedeutenden, die Stimmen der Starken? Umso froher sind wir, dass nun das Werk Stefan Matthes’ entdeckt wurde. Nach allem, was wir von ihm wissen, war Stefan Matthes ein schöner Mann. In der Schule waren seine Leistungen nur durchschnittlich, außer im Sport, wo er immer ein sicherer Einser-Kandidat war. Frühzeitig wurde Stefan im Schwimmverein aufgenommen. Dort zeigte er immer beste Leistungen, aber kein Interesse an einer weiteren Entwicklung in dieser Richtung. Dazu hatte er zu viele Freunde und bald Freundinnen, mit denen er seine Freizeit lieber verbrachte. Schon mit fünfzehn fuhr er ein Moped, das ihm seine Eltern schenkten, die sehr wohlhabend waren, weil sie ein gut gehendes Installateursunternehmen besaßen. Mit siebzehn bekam Stefan ein Motorrad und zu seinem achtzehnten Geburtstag einen PKW der Marke Lada. Er machte eine Ausbildung zum Installateur, die er erfolgreich abschloss, und stieg in den Betrieb der Eltern ein. Hier verdiente er bald viel Geld, das er sehr gewinnbringend anlegte.