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Deutsche Erstausgabe

 

2018

 

© Mystic Verlag

 

 

Umschlagskonzept

&

Umschlaggestaltung:

Leeleeth 3DArtist - Pat Jesberger

 

 

Satz: Helga Sadowski

Lektorat: Helga Sadowski

Korrektur:

Anke Tholl/Jacqueline Droullier/Florian Krenn

 

Druck und Bindung: Books on Demand

 

ISBN: 978-3-947721-04-7

 

Interessierte Leser und Autoren finden weitere

Informationen auf unserer Website.

 

www.mysticverlag.de

 

Geschäftsführer: Timo Arnold

Adolf-Ludwig-Ring 69

66955 Pirmasens

 


Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Melanie, in immerwährender Liebe.

Die wahre Aliana.

Du hast mir das fruchtbare Dunkel zurückgegeben.

  1.  
  1. Prolog

 

Howard Price rannte keuchend, in völliger Unkenntnis darüber, wohin er überhaupt lief, oder wie lange schon. Die Dunkelheit, die ihn umgab, war nahezu vollständig. Sie hüllte ihn ein mit erstickender Dichte und schien das verzweifelte Beben seiner Lungen, sein Ringen nach Atem, zur Vergeblichkeit zu verdammen.

Howard wusste nur eines: Wäre es hell gewesen, so hätte sich der Ort seiner panischen Flucht als vollkommen schattenlose Fläche entpuppt, als riesige, flache Ebene, die sich bis zum Horizont erstreckte und weit darüber hinaus. Eine Wüste, innerhalb derer es keine Deckung gab. Keinen Schutz. Keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Also lief er weiter, obwohl er schon lange nicht mehr konnte.

Seine Beine knickten immer wieder unter ihm weg, nachdem sie sich zunächst angefühlt hatten wie Pudding. Wann war das gewesen, vor Stunden? Jetzt, als ob sie gar nicht zu ihm gehören würden.

Howard war klar, nur ein einziger Moment der Schwäche, ein kurzes Zögern, und alles wäre aus gewesen. Alles.

Wer oder was hinter ihm her war, konnte er nicht sagen. Ob es sich nur um einen Verfolger handelte oder um viele. Eines war ihm klar, was immer es war: ja, was, nicht wer, lag jenseits aller Vorstellungskraft.

Wenn Es ihn erwischte, würde es Dinge mit ihm anstellen, für die es in keiner Sprache der Welt jemals Worte geben würde. Es gab Schlimmeres als den Tod und Schmerzen von der Art, wie jene sie hatten, deren grauenhafte, wahnsinnige, absolut hysterische Schreie das nebelgleiche Dunkel um ihn herum erfüllten, welches er in seine Lungen sog wie ein geruchloses Gift. Diese Schreie waren es, die außer ihm noch in dieser Nacht, von der er wusste, dass ihr niemals ein Morgen folgen würde – nicht hier an diesem Ort – existierten. So wie ihre Urheber, die in namenloser Qual Gefangenen. Und die Gruben.

Vor einer Weile, die er nicht mit seinem vertrauten Empfinden für das Verstreichen von Zeit vergleichen konnte, wäre er beinahe in eine von ihnen hineingestürzt – und da, jetzt wieder!

Howard bremste aus vollem Lauf ab, seine Arme ruderten, seine Beine fühlten sich an, als würden sie wie Streichhölzer unter ihm wegknicken.

Doch er blieb stehen.

Er fiel nicht in jene metertiefe Aushöhlung in den schwarzen, eisigen Morast, der die Ebene bedeckte. Sie lagen darin, ihre in der Finsternis bleich schimmernden, knochenartigen Finger in das Erdreich gekrallt; in dem Versuch, den Gruben zu entkommen, ihre verdrehten, verrenkten, wunden Leiber fast schon eins geworden mit dem fettigen Schlamm. Sie, das waren unnennbare Paradoxien. Sie waren tot – mussten es sein. Doch trotz ihrer grauenhaften Verstümmelungen, die sie bis zur Unkenntlichkeit verunstalteten, lebten sie.

In langsamen, traumverlorenen Bewegungen wälzten sie sich in den mit Morast gefüllten Vertiefungen, Münder und Augen weit aufgerissen. Zugleich aber schienen sie bewusstlos zu sein, gefangen in einer Art Wachkoma.

Das Grauenhafteste war, dass er das untrügliche Gefühl hatte, dass sie einmal Menschen gewesen waren wie er, nur, dass nicht mehr sehr viel daran erinnerte. Es war, als ob jenes namenlose Entsetzen, das auch ihn verfolgte, diese Leiber entstellt hätte. Ja, es sah aus, als hätte jenes gestaltlose Grauen sie zu einem Teil des dunklen Erdreiches gemacht, sie deformiert, so wie die Hände eines wahnsinnigen, aber begnadeten Künstlers einen Klumpen Ton nach eigenem Willen formen konnten. Wie ein düsterer Schatten aus der Vergangenheit schwebte das Unheil über allem, lautlos wie ein Fluch und zugleich lärmend wie ein Urzeitkoloss.

„Hilf uns!“, heulten verzerrte Münder.

„Komm zu uns! Komm zu uns herab!“, flehten verunstaltete Augen.

„Hör auf, dich zu wehren, und werde wie wir, teile unser Schicksal!“, bettelten hässliche, Mitleid erregende Fleischklumpen, die einmal Hände gewesen waren.

Howard hatte nichts von all dem vor, doch er wusste, dass sie ihn bei seiner Flucht behindern würden, wenn er über die Gruben zu springen versuchte, weil kein Weg an ihnen vorbeiführte. Sie verlangsamten ihn, während das, was ihn seit Ewigkeiten verfolgte, näher und näherkam.

Gehetzt blickte er sich um. Sein Herz setzte einen Schlag aus.

Die ganze Zeit hatte er nicht gesehen, was ihn verfolgte, war nichts als undurchdringliche Finsternis um ihn herum gewesen, und die Ahnung, nein: das sichere Wissen um die Präsenz von etwas Unerhörtem, unendlich Bösen. Jetzt war da etwas, was ihn seine Anstrengungen verdoppeln ließ. Zwei Augen aus blutigem Feuer, die scheinbar gestaltlos über dem Boden schwebten.

Sie kamen näher.

Howard gab sich einen Stoß, der seine letzten Kraftreserven mobilisierte, und sprang über eine der Gruben … Schlammverkrustete Klauen schossen in die Höhe, brachten ihn zu Fall, doch er kämpfte sich wieder auf die Beine, lief weiter, lief …

Auf einmal bekam seine Umgebung eine Struktur, wurden Konturen sichtbar –oder war es die ganze Zeit schon so gewesen und er hatte es nicht registriert? Die Konturen warfen sich auf zu festen Formen, die das Auge erkennen konnte, aus einem dunklen Material gefertigt, doch heller als die Luft, die mit ihrer dumpfen Lichtlosigkeit alles zu ersticken drohte. Es waren Trümmer – Ruinen von Bauwerken völlig unbekannter Architektur, wie die Überreste von Burgen, Tempeln, Türmen und von Steinkreisen, die ein wenig an Stonehenge erinnerten. Sie ließen Howard noch an etwas Anderes denken. Er war schon einmal hier gewesen.

Ein Ort, gewiss auf keiner Landkarte der irdischen Welt, welcher seine Heimat war, verzeichnet, und doch erfüllte ihn der Anblick mit Vertrautheit – und Furcht. Dies war kein guter Ort. Es war ein Ort dunkler Magie … Es war …

„Lauf, Howard, lauf!“ Sie befand sich plötzlich direkt vor ihm. So nah, dass er sie hätte berühren können. Rosy, seine Frau. In ihrem roten Kleid.

„Das kann nicht sein“, formten seine bebenden Lippen. „Du bist tot. Dennoch wusste Howard, dass es nicht das erste Mal war, dass er an diesem dunklen Ort weilte, sondern dass er ihr dabei durchaus schon begegnet war.

„Wenn du stehen bleibst, kriegt er dich.“

Aus ihrer Stimme und ihrem Blick sprach echte Besorgnis und sie neigte den Kopf auf ihre Art, wie immer, wenn sie glaubte, dass etwas nicht in Ordnung sei, wie damals, als er den Husten nicht loswurde oder ihr Bruder Ben gemeint hatte, mit den Bremsen seines Wagens sei etwas nicht in Ordnung (was sich bald als richtig erwiesen hatte).

Howard spürte, wie die Panik einen Eisfilm auf seiner schweißnassen Haut bildete. So, wie sie es sagte, drohte echte Gefahr. Etwas sehr Schlimmes.

„Ich bin gekommen, um dich zu warnen.“ Sie zeigte in Richtung der Augen, welche ihn verfolgten. Sie schienen ein düsteres und böses Licht zu verströmen und waren dicht herangekommen. So nahe, dass er die Zusammenballung von Schatten unter ihnen als eine Art Körper wahrnehmen konnte. Etwas aus den schlimmsten Albträumen seiner Kindheit.

„Was ist das hier?“, brach es aus ihm heraus. „Was will es von mir? Wieso bist du da? Bist du noch am Leben?“ Sie sah sich hektisch um, als hätte sie etwas gehört. Im Hintergrund, zwischen den Steintrümmern, war plötzlich eine offene Türe. Hinter ihr, in dem Raum – oder dem Ort, zu dem sie führte – loderte ein Feuer wie im zentralen Brennkessel einer gewaltigen Heizungsanlage.

„Ich muss gehen!“ Rosy hob kurz die Hand, als wollte sie ihn berühren, dann wandte sie sich abrupt um und ging auf die Türe zu, auf das Feuer, das sie schon einmal getötet hatte, das wusste er plötzlich. Sah sie es nicht? Sah Rosy nicht, dass sie in ihr Verderben lief? Er schrie ihren Namen und kurz bevor sie in der orange-roten, wütend prasselnden Feuerwand verschwand – mit ihr verschmolz – wandte sie sich noch einmal um.

„Folge dem Lied der Zeit, welches dein Herz singt, Howard. Dein wahres Herz. Folge dem Lied der zeitlosen Zeit, die in sich selbst zurückkehrt.“ Ohne ein weiteres Wort, wie unter einem Bann, verschwand sie völlig lautlos in der Flammenhölle. Wieder hatte er ihr nicht helfen können.

Als er sich umwandte, waren die Augen ganz nah. Sie verwandelten sich in fleischige, riesige Gebilde, die auf surreale Weise zu einem Rachen verschmolzen, einem orange-rot klaffenden (fast von der gleichen Farbe wie das Feuer hinter der Türe), mit dolchartigen Reißzähnen bewehrten Rachen, der einen Dinosaurier hätte verschlingen können. Er pendelte über Howard, der genau wusste, dass er nun (wieder) verschlungen werden würde. Doch etwas war dieses Mal anders. Er wandte den Kopf. Als hätte er etwas gehört.

Zwischen der Türe (die noch da war, wenn auch geschlossen) und den Felstrümmern, von denen nicht klar war, ob sie eine natürliche Formation darstellten oder Reste eines Bauwerkes waren, befand sich eine Säule. Auf ihr saß jemand. Eine junge Frau, nackt. Ihre Haut schimmerte so weiß wie Mondlicht. Sie hockte zusammengekauert dort. Ihr langes, seidiges, blauschwarz schimmerndes Haar umhüllte wie ein sanft gewellter Umhang ihre Schultern. Sie hob den Kopf. Ihre Augen waren schwarzes Feuer. Howard Puls begann zu rasen.

„Lass ihn in Ruhe“, sagte sie leise, mit gebieterischer Autorität. „Er gehört mir.“ Sie erhob sich, breitete die Arme aus wie der Gekreuzigte und plötzlich wurde die Dunkelheit hinter ihr vom Schlag unzähliger Schwingen gepeitscht. Der Rachen brüllte drohend, ein fäulnisstinkender Orkan, der Howard fast von den Beinen riss. Howard schrie.

Ihr Gesicht. Etwas war mit ihrem Gesicht. Howard schrie noch immer, als er auf seiner Seite der Realität erwachte. Er ruderte so heftig mit den Armen, dass der Radiowecker von dem kleinen Nachttisch aus Nussbaum gefegt wurde und auf dem bordeauxfarbenen Bettvorleger landete.

Er kauerte halb aufgerichtet auf dem Bett, bis sich sein Atem halbwegs beruhigt hatte.

Nicht der erste Traum dieser Art, dachte er bitter. Ich verliere den Verstand. Waren das überhaupt Träume?

Die eigenartige Stimmung, die sie stets begleitete, hallte in ihm nach, ein Beben, als hätte er sich lange in Wasser befunden, sein Körper in einer Dünung treibend, ohne festen Boden unter sich. Ein Gefühl wie Gummi, das die Grenze zwischen der Welt des Traumes und dem Zimmer, in dem er sich befand, verschwimmen zu lassen schien.

Howards erster Impuls, wie wohl jedes Menschen nach einem Albtraum, war es, das Licht anzuschalten.

Allzu düster und stofflich erschienen ihm die Schatten, die sich unter den Dachbalken ballten, genau dort, wo sein Bett stand. Das Licht des Mondes und der Sterne, welches durch die Gardinen des kleinen Giebelfensters hereinschien, bot nur wenig Trost. Doch diesmal griff er nicht nach der Nachttischlampe mit dem längst aus der Mode gekommenen, kitschig anmutenden Schirm.

Ein anderes Licht, bläulich und kalt, bot einen Anker zurück in die vertraute Welt mit ihren Tatbeständen, Sachverhalten, Beziehungen. Er hatte den Laptop nicht ausgeschaltet, als er zu Bett gegangen war, und die Chatroomseite war noch aufgerufen. Er hatte eine Nachricht erhalten. Darkeroticangel09 hatte ihm wieder geschrieben. Er wusste nicht, wie sie aussah, sie hatte ihm noch kein Bild von sich geschickt und in ihrem Profil war auch keines.

Aber vielleicht ist sie die Frau auf der Säule im Traum, dachte er, nicht ohne Belustigung. Das brachte ihn endgültig wieder ins Hier und Jetzt zurück.

Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass sie es ist.

Welche Frau, die er noch nicht einmal kannte, von ein paar Zeilen auf dem Bildschirm abgesehen, hatte es jemals in seine Träume geschafft?

Howard Price spürte, dass sich in seinem Leben – was noch davon übrig war –eine entscheidende Wende zu vollziehen begann.

Was ihn bedeutend mehr beunruhigte als alle Albträume der Welt.

 

  1. Kapitel 1

 

Aus dem lichtlosen Dunkel einer Nacht, von der niemand wusste, wie lange sie gedauert haben mochte, tauchte etwas auf, wie die Blase eines giftigen Gases vom Grund eines unendlich tiefen Gewässers. Etwas, das sich langsam zu einem Bewusstsein formte. Zu dem Bewusstsein: „Ich bin!“

Das Bewusstsein des „Ich bin!“ tauchte weiter empor, nach oben, immer weiter nach oben, durch einen Schacht, dessen Wände aus dem Stoff der Dunkelheit selbst geformt zu sein schienen, von einer erstickenden Enge, und die dennoch dieses Bewusstsein, diese Ich-Blase, passieren ließen auf seinem Weg nach oben, zu einem unbekannten Ziel irgendwo dort in der Höhe. Er begann, zu erwachen. Da war eine Stimme in seinem Kopf, der sein Bewusstsein beherbergte, und zugleich außerhalb, eine Stimme wie das Dröhnen einer mächtigen Glocke aus altersverkrusteter Bronze, majestätisch und tief von den Grenzen des Universums widerhallend, eine Stimme, die sagte: „Ich trat an den Strand des Meeres und sah ein Tier aus dem Meer steigen, das hatte sieben Häupter und zehn Hörner …“

 

Das Bewusstsein war noch getrennt von einem Körper, besaß noch keine Gewalt über Muskeln, Ausdruck oder Kraft, und dennoch spürte es, wie etwas wie das Äquivalent von Lippen sich zu einem Grinsen verzog, es hörte diese Worte nicht zum ersten Mal.

 

„… Und auf seinen Hörnern zehn Kronen und auf seinen Häuptern Namen der Lästerung …“

 

Der Aufstieg des Bewusstseins beschleunigte sich, trat etwas wie Erinnerung hinzu, Erinnerung, die das bloße Gewahrsein seines Selbst zu einer Persönlichkeit formte.

 

„… Und das Tier, das ich sah, war gleich einem Parder und seine Füße wie Bärenfüße und sein Mund wie eines Löwen Mund …“

 

Triumph begann, das Bewusstsein zu erfüllen, das Wesen, das da auftauchte aus einer namenlosen Finsternis, böser, gieriger, hasserfüllter Triumph, und es war ihr, als hallte der lichtlose Schacht, der sie umgab, wider von ihrem Gelächter …

 

„… Und der Drache gab ihm seine Kraft und seinen Stuhl und große Macht …“

 

Obschon das mit Erinnerung und boshaftem Triumph erfüllte Bewusstsein noch immer nicht über einen Mund verfügte, hörte es doch die eigenen Worte widerhallen in der Dunkelheit:

„Ja …! So ist es … So soll es sein! Ich … Ich bin der Drache des Abgrunds …!“

In diesem Augenblick schlug er seine Augen auf … und die Lippen, über die er nun gebieten konnte, wie über den Rest seines Körpers, sprachen selbst das weiter, was die gesichtslose Stimme aus dem Schacht begonnen hatte, zu reden:

 

„… und sie beteten den Drachen an, der dem Tier die Macht gab, und beteten das Tier an und sprachen: Wer ist dem Tier gleich und wer kann mit ihm kriegen?“ Er spürte, wie sich sein Gesicht unter dem Triumph in seiner Seele furchte. Schwarzer, böser Triumph war es, der ihn erfüllte. Ein sardonisches Grinsen, das es auf sein Gesicht zauberte.

Gesicht? Er betastete es mit den Spitzen seiner Finger, die ihn grässlichen Nägeln endeten. Eine köstliche Empfindung, wieder über Fleisch zu verfügen. Wie lange hatte er dieser Erfahrung entbehrt? Jahre? Jahrhunderte? Es spielte keine Rolle. Es zählte nur, dass er wieder hier war. Dass er zurückkehrte. Wie in einem jähen Anfall von Raserei fuhren seine krallenbewehrten Hände an seinen Hals. Ein plötzliches Aufblitzen von Erinnerung hatte den alten Schmerz wieder ausgelöst, den Schmerz und die Erniedrigung, den Gedanken daran, wie es gewesen war. Das Ende.

Doch da war nichts mehr. Nur eine brennende Narbe auf der Brust, wie er ertasten konnte. Eine Narbe von der Form eines Halbkreises.

Am Boden blitzte etwas auf, wie ein kurzer Lichtstrahl. Isaak bückte sich. Seine Hände fanden die Kette aus Silber mit traumwandlerischer Sicherheit und schlossen sich darum, voll unbändiger Wut. Hielten sie dann vor sein Gesicht, so dass er den Gegenstand am Ende der Kette betrachten konnte. Ein Amulett, das, wenn es vollständig gewesen wäre, einen perfekten Kreis beschrieben hätte, nun aber einen halben darstellte.

Wie eine Hälfte des sich füllenden Mondes am Nachthimmel. Ein Amulett aus Kupfer oder Bronze, mit zahllosen, verwirrenden Zeichen darin eingraviert. Zeichen, die ein Muster bildeten, welches ein kurzes Lächeln auf seinen Zügen einfrieren ließ. Um sich sogleich zu einer Fratze diabolischen, abgrundtiefen Hasses zu verwandeln. Er schleuderte das Amulett von sich, als hielte er einen Gegenstand extremer Hitze in Händen. Diese Kette aus geweihtem Silber. Er hatte sie um den Hals getragen, für sehr lange Zeit. Wieso? Sein Kopf hob sich. Da war etwas. Er nahm eine Witterung auf, schnüffelte wie ein Tier. Etwas Lebendiges musste vor nicht allzu langer Zeit ganz in der Nähe gewesen sein. Ratten? Er lächelte wieder. Menschliche Ratten, vielleicht. Ein leichter Windhauch richtete seine Aufmerksamkeit auf einen winzigen Durchgang in der Wand, einen nach oben führenden Stollen, durch den ein Mann, wenn auch kriechend, nach draußen gelangen konnte. Hinaus!

Er widerstand dem Impuls, in die Freiheit zu streben. Er hatte es nicht nötig, den Dienstboteneingang zu nehmen, wie sterbliche Ratten. Er nicht. Sein Verstand wurde von einer Flut von Bildern überwogt, Bilder aus seiner Erinnerung an seine Zeit unmittelbar vor dem …

Großen Nichts. Der absoluten Dunkelheit. Flüche. Keuchen. Die Geräusche eines erbitterten Kampfes. Die Fäuste von Männern. Ihr Blut, das unter seinen Klauen aufspritzte. Gebete. Ihre Gebete, die sie an ihren dreifaltigen Gott richteten.

Der Ort, an dem er sich befand, damals wie heute, hallte wieder von seinem Zorngebrüll, dessen er sich erst nach einigen Augenblicken, in denen sich der wahnwitzige Trommelwirbel seines Herzens wieder beruhigt hatte, bewusstwurde. Wo immer sich auch ein unfreiwilliger Zeuge befinden mochte – wenn es einen solchen gab – der dieses Gebrüll gehört hatte, würde an die Gegenwart eines wilden Tiers glauben. Oder daran, dass die Pforten der Hölle selbst offen standen in diesem Augenblick. Er lauschte dem Echo seiner eigenen Stimme nach und wieder lächelte er. Spürte, wie er sich mehr und mehr seiner selbst gewahr wurde.

Seines Leibes.

Seiner Hände

Seiner Augen.

Seiner Kraft.

Seiner Macht.

Die nächsten Worte formte er mit Bedacht, jede Silbe, jeden einzelnen Buchstaben betonend wie ein Gebet des Unheils an den Teufel selbst:

„… Und es ward ihm gegeben ein Mund, zu reden große Dinge und Lästerungen … Und es tat seinen Mund auf zur Lästerung gegen Gott, zu lästern seinen Namen …“

Er blickte sich um.

Es war nicht das erste Mal, dass er aus dem Totenreich, dem großen Abgrund, zurückkehrte.

Er hatte in seinem, viele Zeitalter währenden Leben schon oft diese Grenze passiert, einmal sogar mit dem Teufel selbst um seine Rückkehr gefeilscht, und sein Name war in den Reichen der Hölle kein unbekannter.

Sein Name.

Isaak de Bankloe. Der Blutrichter. Der Henker. Der Höllenhund.

Viele waren gestorben, mit seinem Namen auf den Lippen, voller Hass, voller Grauen. Voller Furcht und Hoffnungslosigkeit. Zu Zeiten, als sein Herz noch wie das eines Lebenden schlug, und er unter ihnen weilte in derselben Wärme des Blutes wie sie, und erst recht, seit sein Herz nicht mehr aufhören konnte zu schlagen, weil es genährt wurde von der silbernen Milch des Mondes. Von den Effloreszenzen des Nachtgestirns und dem Blut der Lebenden …

Er befand sich in einem tiefen Gewölbe, voller Staub und Spinnen. Mächtige Mauern aus rußfleckigen, zum Teil geborstenen Steinquadern hüllten ihn ein. Verrottendes Gerümpel in der Ecke. Der Boden bedeckt von dem weißen Staub, zu dem die Zeit die Steine ringsumher zermahlen hatte im Spiel der Unendlichkeit.

An den Wänden des Gewölbes, das von einer kuppelartigen Decke überwölbt wurde, befanden sich mannshohe Kreuze aus morschem, halb zerfallenem Holz. Die einzige Türe, die zu dem Gewölbe führte, hatte man zugemauert und auch dort ein Kruzifix angebracht.

Isaak de Bankloe schnaubte voller Verachtung. Hatten sie geglaubt, ihn damit aufhalten zu können? Mit Mauern aus dickem Stein, irgendwo tief unter der Erde, und mit ihren heiligen Symbolen?

Seine Klauenhände fuhren über das Holz der Kreuze. Es schmerzte nicht. Dazu besaß er eine zu große Macht. Der Raum war nicht besonders groß, doch er wusste, dass er einen Teil einer größeren, unterirdischen Anlage bildete. Staub, Spinnweben und Verfall. Dies also war sein Gefängnis, sein Grab gewesen für lange Zeit. Kein angemessener Ort für einen Mann seiner Macht.

Im nächsten Augenblick krümmte sich de Bankloe zusammen wie in einem plötzlichen Starrkrampf, und die mit Spinnweben verhangenen Mauern hallten wider von einem Laut der Qual, der aus seinem Mund fuhr wie das bösartige Zischen eines Orkans. Er musste sich abstützen, doch bereits im nächsten Moment beruhigte sich sein Atem wieder.

Hunger. Es war die Gier, die wieder in ihm erwachte. Rasender Blutdurst, der Preis des Lebens in der Sterblichen-Welt. Er musste ihn stillen.

Lautlos wie ein Schatten und so schnell wie ein Gedanke huschte er zur Türe, deren dunkles Holz, das sich im Lauf der Zeiten mit ungesunder, klammer Nässe vollgesogen hatte, unter seinem Hieb zersplitterte. Ein Geräusch, das ihn an berstende Knochen erinnerte und seinen Hunger, seine Gier steigerte bis zur Raserei.

Graue Steine. Noch mehr graue Steine, von Mörtel in der gleichen Farbe zusammengehalten.

Sie hatten ihn in der Hoffnung, ihn für alle Zeit bannen zu können, im Reich des Todes hier unten eingemauert.

Es war das Werk eiliger, hektischer Hände gewesen, die diese Mauer hochgezogen hatten, getrieben von Furcht, ja, nackter Panik, das sah de Bankloe sofort.

Doch er wusste, dass auch eine solche Konstruktion, die aufgrund ihres Materials für die Menschen etwas wie Dauer repräsentieren sollte, vielleicht sogar Ewigkeit, für seine Kraft kein Hindernis darstellte. Er hob einen Arm, um die Mauer mit einem einzigen Hieb zu zertrümmern, so, wie er es gewohnt war, doch er hielt inne. Seine Kräfte. Sie waren zurückgekehrt. Wieso hatten sie ihn überhaupt verlassen? Wieso war es Sterblichen gelungen, ihn zu überwältigen, vor einer Zeit, über deren Dauer er momentan noch nichts wissen konnte? Seine Klauen waren es gewohnt, die schwachen Leiber der sterblichen Menschen in der Luft zu zerreißen wie Puppen, und dennoch musste es ihnen damals gelungen sein, ihn zu überwältigen, und in den großen Abgrund zu stürzen, der erfüllt war von Schwärze und Dunkelheit … und ihm selbst die Freuden der Hölle vorenthielt! Isaak de Bankloe musste feststellen, dass seine Erinnerung an seine letzte Zeit auf Erden noch nicht vollständig wiedergekehrt war, doch lag dies allein am Hunger, der ihn trieb, rasend machte und sein Blut, von dem gegenwärtig viel zu wenig durch seine Adern strömte, kochen ließ.

Das Amulett …!

Was hatten seine gottesfürchtigen Häscher doch für ein Aufheben gemacht um dieses Ding, was hatten sie zugleich all ihre Hoffnungen in es gelegt, und es doch zugleich auch gefürchtet …

Das Amulett.

De Bankloe ging zu der Stelle, wo er es hingeworfen hatte, hob es auf, und besah es näher.

Seine Augen lasen die verwirrenden Zeichen an der Oberfläche, lasen sie wie die Sätze eines Buches, das tiefe Geheimnisse barg. Obgleich er auch nicht alles erkennen konnte, was dort stand in einer Sprache, die in dieser Welt schon lange verklungen war, so vermochte er doch mehr zu lesen, als ein Sterblicher es gekonnte hätte, genug, um zu wissen, welch Siegel nahezu unbeschränkter Macht er in Händen hielt. Mächtig genug, ihn einst zu Boden gerungen und gefesselt zu haben, bis zum heutigen Tag! Wieso tat es das jetzt nicht mehr?

Wieso war die Macht des Amuletts jetzt erloschen, waren die feurigen Strahlen unerträglichen Schmerzes, die einen Käfig aus purer, flammender Energie um ihn gelegt hatten, verschwunden?

Das spielte im Augenblick keine Rolle. Das war eine Frage, die zurückgestellt werden konnte, wenn sie auch nicht ohne Wichtigkeit war, gewiss nicht! Doch was jetzt zählte, war der Hunger.

Die Gier. Das heiße Tosen des Blutes in seinen Adern und dessen Hämmern in seinen Ohrenklang wie düstere Trommeln, die schreckliches Unheil verkündeten. Unter knirschendem Krachen zerbarst die Mauer, die den Eingang zum unterirdischen Grab de Bankloes versiegelt hatte, unter der unbezwingbaren Wucht seines Zorns. Zum ersten Mal seit einer Zeit, die weitaus länger währte, als das Leben eines einzelnen Menschen, wehte eisige Nachtluft in die staubigen Kammern unter der Erde und trug ihren Duft in den Gestank des Moders, der Nässe und des Zerfalls, brachte Schauer von Millionen Düften mit sich, süß, wild und voller Verheißung.

Myriaden von Molekülen aus der Welt da draußen, ein Kaleidoskop von Reizen, welche die Sinne de Bankloes bestürmten, umwölkten und durchdrangen. Die sich steigerten zu einer Ekstase, die jenseits aller sterblichen Vorstellungen lag.

Einen einzigen Herzschlag lang glaubte er, zusammenzubrechen unter diesem Angriff ungezügelter, wilder Sinnlichkeit, doch dann spürte er, wie eine Kraft, wie, kochend heiße Lava ihn zu durchströmen begann. So, als habe sich die Verheißung, die diese Duftkaskaden mit sich brachten, bereits erfüllt.

Er warf den Kopf in den Nacken und stieß sein Gebrüll aus, donnernd und kraftvoll, wie ein großes und mächtiges Tier, schrecklich in seiner Wildheit, und die Welt da draußen krümmte sich schaudernd zusammen in Furcht und dem Wissen:

Isaak de Bankloe war zurückgekehrt …!

  1. Kapitel 2

 

Der Herbst kam früh in diesem Jahr, und er brachte die eisigen Winde der Küste mit sich, den Geruch nach Meer und Salz. Nach Freiheit, so sagten manche.

Andere rochen in der Ahnung des Meeres die Fäulnis – und den Tod.

Lucy Wandell nahm nichts von beidem wahr an diesem Abend, der düstere Wolkenbänke über das Land, über die abgeernteten Felder und den Wald mit seinen alten, dunklen Bäumen schickte.

Was sie wahrnahm, war die empfindliche Kühle des Windes und die Tatsache, dass sie viel zu dünn angezogen war für diese Jahreszeit, in der das Licht schwand und die Abende länger wurden und ein bitteres Gefühl der Einsamkeit mit sich brachten.

Dieser Einsamkeit hatte sie heute entrinnen wollen und sich deshalb in Schale geworfen. Ihre Aufmachung enthüllte mehr als sie verdecken sollte. Sie hatte sich zu Fuß aufgemacht, durch den Wald ins Dorf, in die Schänke namens Point Blank, um sich mit einem Mann zu treffen. Doch dieser war nicht erschienen. Dreckskerl.

Sie hatte eigentlich darauf spekuliert, nicht allein nach Hause laufen zu müssen, schon gar nicht, wenn die Nacht sich über den Wald senkte, der ihr schon seit ihrer Kindheit unheimlich gewesen war.

Genau genommen hatte sie gehofft, heute Nacht nicht allein bleiben zu müssen, und erst am Morgen, nach ein paar Stunden geraubter Zweisamkeit in ihre schäbige Dreizimmerwohnung, die sie sich mit ihrer Tochter Sandy teilte, zurückzukehren.

Doch wie es aussah, hatte das Schicksal andere Pläne mit ihr und missgönnte ihr die Flucht aus ihrem deprimierenden Alltag.

Die Einzige, die sich nun freute, war die kleine Betsy McKinnan, die auf Sandy, die erst zehn war, aufpassen sollte, und nun doch noch den Abend bei ihrem Freund verbringen konnte, um genau das zu tun, was Lucy eigentlich hatte tun wollen.

Warum war Peter, dieser Scheißkerl, nicht gekommen? Warum ging er nicht an sein Handy?

Sie konnte nicht behaupten, dass sie eine regelrechte Beziehung mit Peter hatte.

Eine sexuelle, ja, und das war für beide okay. Peter war nicht der einzige Mann in ihrem Leben, aber das störte ihn nicht. In der letzten Zeit hatte sie viele Männer gehabt, er wusste das, und es macht ihn nicht im Mindesten eifersüchtig, im Gegenteil, es brachte ihn richtig in Fahrt, wenn sie bei einem Schäferstündchen erzählte, was sie mit den anderen trieb und wie sie es taten, und er wollte immer alles ganz genau wissen.

Sie traf sich ein paar Mal im Monat mit ihm und dann gingen sie an einen abgelegenen Ort, wenn es warm war, auf eine abgelegene Wiese, oder in den Wald, und trieben es dort wie die Teenager. Einmal hatten sie es sogar auf einem öffentlichen WC getan. Sie mussten sich derart verstecken, Peter war verheiratet, was Lucy wiederum nicht störte. Er holte sich bei ihr, was er bei seiner frigiden Alten nicht bekam.

Für Lucy, mit ihrem kleinen Gehalt als Putze, das gerade für das Nötigste, Sandy und sie reichte, waren Affären dieser Art die einzige Möglichkeit, auszubrechen aus der bedrückenden Enge ihrer Existenz. Sie zog ihre rostrote Strickweste fester um ihre schlanke, fast hagere Gestalt, und stemmte sich gegen den Wind, der mit sadistischer Treffsicherheit seinen Weg unter ihr Minikleid fand und ihr eine höllisch unangenehme Gänsehaut verursachte.

So strebte sie den alten Gehöften zu, die vor ein paar Jahren von der Gemeinde aufgekauft worden waren, um, nach einer mehr als dürftigen Sanierung, bezahlbare Wohnungen anbieten zu können.

Es hatte in den letzten Tagen geregnet, und so glitt sie zweimal auf ihren hochhackigen Schuhen beinahe aus – nur ein olympiareifer Beinahe-Spagat verhinderte jedes Mal einen Sturz voll in den Schlamm der aufgeweichten Waldwege – und ein alter Seemann wäre bei den Flüchen, die sie dabei vor sich hinmurmelte, rot geworden.

Sie ertappte sich dabei, wie sie sich vorstellte, was Betsy, das kleine Luder, heute noch alles mit ihrem Steve anstellen würde, und eine ungute Hitze begann, sie zu erfüllen. Zum einen war es fraglos Neid, der ihre Laune in Richtung Nullpunkt drückte, zum andern ihre eigene, unbefriedigte Gier. Die Tatsache, dass sie, fast dreißig Jahre älter als Betsy, froh sein konnte, wenn sie überhaupt noch manchmal einen Kerl abbekam.

Lucy war spindeldürr und ganz gewiss keine Schönheit, darüber machte sie sich keine Illusionen. Es gab in der Siedlung genug Weiber, die sich ihre Tratschmäuler darüber zerrissen, wer die größere Hure war, sie oder Betsy McKinnan, die nebenbei die Einzige war, die es als Babysitterin mit der mehr als schwierigen Sandy überhaupt aushielt.

Mit dem Unterschied, dass Betsy noch weit unter zwanzig und eine rassige Schönheit war, sich ihrer Wirkung auf hormondurchflutete Männerhirne wohl bewusst. Da sie beide in verschiedenen Territorien Jagd auf ihre Beute machten, kamen sie sich niemals in die Quere und so verstanden sich die beiden Frauen recht gut. Betsy war für Lucy genaugenommen die einzige Möglichkeit, ihrem Hobby – manche bezeichneten sie als nymphoman – nachzugehen, ohne Sandy allzu sehr zu vernachlässigen.

„Heute“, zischte Lucy die umstehenden Bäume an, „heute werde ich es mir wieder selber besorgen müssen, während dieses geile Miststück …“ Sie blieb kurz stehen.

Da war etwas gewesen. Lucy spürte, wie Gänsehaut ihren Nacken kribbeln ließ. Ein Gefühl, das sie schon lange nicht mehr gehabt hatte. Es bedeutete eine Gefahr, die ihr Körper unbewusst signalisierte. Sie hatte das als Kind immer gehabt, wenn ihr Vater besoffen nach Hause gewankt kam und begonnen hatte, erst die Wohnung und dann seine Frau auseinanderzunehmen. Genau genommen bedeutete ein kribbelnder Nacken allein noch nicht viel, Anlass zu wirklicher Sorge gab es erst, wenn das Gefühl ihren Rücken bis zum Steißbein hinabrieselte.

Da war doch etwas gewesen, ein Huschen, dort drüben zwischen den alten, knorrigen Bäumen und dem Gestrüpp, in dem man vor lauter Dunkelheit schon nichts mehr erkennen konnte. Ein Huschen, begleitet von einem Windstoß, noch kälter, als der Wind heute Abend ohnehin schon blies. Richtig eisig. Lucy kniff die Augen zusammen – sie hatte aus Eitelkeit die Brille heute weggelassen und sah ohnehin schon nicht gut, aber es war bereits zu dunkel, um überhaupt etwas zu erkennen. Aber wie konnte das sein …? Sie hatte doch erst ein paar Schritte zurückgelegt, seit sie beim Anblick des schwindenden Lichts ein Stoßgebet gen Himmel geschickt hatte, dass sie, bevor es ganz Nacht wurde, noch zu Hause ankam. Eine Hoffnung, die ihr, aufgrund der Tatsache, dass sie die Strecke eigentlich in- und auswendig kannte, als keineswegs abwegig erschien.

Jetzt war sie von einem Herzschlag zum anderen von tiefer Finsternis umgeben, die zwischen den Sträuchern und Bäumen hockte, wie etwas Greifbares. Ein Blick nach oben überzeugte sie, dass der Himmel noch immer seine fahlgraue Farbe hatte, über deren endlose Fläche schwere, dunkle Wolkenfetzen zogen. Lucy spürte, wie sich ihre Gänsehaut – ihre Da-ist-etwas-verdammt-nicht-in Ordnung-Gänsehaut – nun über den gesamten Rücken ausbreitete, und nicht nur das. Die Haut an ihren Armen und Beinen zog sich schmerzhaft zusammen, so sehr, dass sie fast geschrien hätte. Ihr Körper brüllte: Lauf weg! Hau ab! Lauf einfach weg! Doch wovor?

Lucy spürte, wie sie zu zittern begann. Wieder versuchte sie, mit ihrer Kurzsichtigkeit ihre nähere Umgebung zu erkennen, doch die Lichtverhältnisse reichten gerade aus, die Dinge, die sich eine Armlänge entfernt befanden, einigermaßen zu sichten. Über die Wipfel der alten Bäume zogen noch immer die Wolken, schweigend und wie im Zeitraffer.

Lucy fiel auf, dass sich noch etwas verändert hatte. Es war gespenstisch still. In den Abendstunden sangen normalerweise die Amseln in den Zweigen, doch jetzt war es, als hielte die Natur den Atem an, wie in Erwartung von etwas. Lucy spürte, dass eine unbestimmte Furcht in ihren Eingeweiden zu rumoren begann. Nicht nur wegen eines Huschens oder eines kalten Windes. Sie hatte noch etwas wahrgenommen.

 

  1. Kapitel 3

 

Im gleichen Augenblick, als dieser eiskalte Windstoß sie berührt hatte, war da eine Stimme in der Stille gewesen, wie ein heiseres Raunen, nur einen winzigen Moment lang, doch ganz deutlich, ganz nah bei ihrem linken Ohr. Sie hatte das Gefühl, als habe jemand – oder etwas – sie berührt. Etwas, das ganz und gar nicht in Ordnung war, etwas unendlich … Schmutziges. Es hatte sie beschmutzt, in diesem winzigen Augenblick ihres Zusammentreffens. Lucy rieb über ihre Arme und konnte dem Impuls nicht widerstehen, an ihren Ärmeln zu riechen, so, als sei sie sich nicht sicher, ob ihre Kleidung einen Sturz in den Dreck heil überstanden hätte. Doch da war nichts. Nur ein leichter Hauch ihres billigen Parfüms, das zu verfliegen begonnen hatte. Diese Erkenntnis beruhigte sie keineswegs. Wieder ein Schauer, der sie überlief, kalt und stark, zudem begann ihr Herz laut zu pochen und ihre Knie fühlten sich an wie aus weicher Gallerte. Lauf weg. Lauf. Lauf …

Ein letzter Blick in die dunkle Schattenmasse des Unterholzes und sie beherzigte den Ratschlag.

Da war etwas Bedrohliches. Es ist nicht mehr weit. Renn! Du schaffst es …

Sie stöhnte innerlich auf, als sie sah, was sich rechter Hand aus den unnatürlichen Schatten schälte.

Bereits als Kind war sie den Weg durch den Wald ins Dorf gegangen, weil schon ihre Oma in den Gehöften gewohnt hatte. Etwa auf halber Wegstrecke, heimwärts zu ihrer Rechten, befand sich eine natürliche Anhäufung grauer Felsen, die eine Konstruktion bildeten, die ein wenig an ein Hünengrab erinnerten. Mehrere aufrechtstehende Felsen wurden von einem quer liegenden überragt, weshalb das Ganze im Volksmund auch Teufelstisch genannt wurde. Schon Lucys Großmutter hatte ihr schaurige Legenden erzählt, von Hexen, die des Nachts dort einen Sabbat abhielten, und von dem Teufel, der dabei leibhaftig anwesend war, bald in der Gestalt eines schönen jungen Mannes, bald in der eines Ziegenbocks. Die Geschichten waren nicht das Schlimmste gewesen – sondern ihre Fantasie, die sie dazu brachte, dass sie an der Stelle auf dem Heimweg in der Dämmerung niemals lief, sondern rannte, als seien tausend Furien hinter ihr her. Sie vermied es stets, die Felsengruppe direkt anzuschauen, weil sie nicht sehen wollte, was sich dort möglicherweise abspielte.

Ihre Fantasie hatte ihr geflüstert von etwas, das dort in den Schatten hockte und sie mit hungrigen Augen anstierte … Wenn sie des nachts allein in ihrem Bett lag und den Streit ihrer Eltern verfolgte, das Brüllen und Lallen ihres besoffenen Vaters, dann hatte sie sich ausgemalt, was das wohl sein konnte, das in dem Geviert aus Steinen, im Innern des Teufelstisches hockte.

Sie hatte es nie geschafft, ein Bild vor ihrem inneren Auge zu produzieren, und war dafür stets dankbar gewesen. Jetzt lief sie und lief, in dieser schrecklichen Dunkelheit, die viel zu früh hereingebrochen war über das Land an diesem Abend, von dem Wunsch beseelt, nach Hause in Sicherheit zu kommen. In dem Bewusstsein, an der Felsformation, die wie eine Manifestation ihrer Kindheitsängste dahockte, vorbei zu müssen, wenn sie die Sicherheit ihres Zuhauses erreichen wollte.

Da! Da war wieder etwas …! Lucy stieß einen spitzen Schrei aus und hielt im Lauf abrupt inne, sodass sie fast gestürzt wäre.

Etwas hatte mit irrsinniger Geschwindigkeit ihren Weg gekreuzt, war von links kommend nach rechts an ihr vorbeigeschossen, in Richtung der Felsen. In Höhe ihres Kopfes. Sie hatte es nicht gesehen, nur gespürt, aber … natürlich! Ein fast hysterisches Gelächter brach aus ihrer Kehle. Ein Vogel. Das konnte nur ein Vogel gewesen sein …!

„Vögel flüstern dir nichts ins Ohr, wenn sie an dir vorbeifliegen. In ihrer Umgebung gefriert nicht die Luft zu reinem Eis“, raunte ihr eine Stimme zu, die all ihre Hoffnung zerstörte. Genau das hatte sie wahrgenommen, wie schon einmal kurz zuvor. Kälte und etwas wie eine Stimme an ihrem Ohr … oder darin, in ihr. In ihren Gedanken.

Der Schmutz. Jetzt klebte er nicht nur unsichtbar an ihr, ihrer Haut und ihren Kleidern, sondern war auch in sie eingedrungen.

Sie befand sich jetzt auf gleicher Höhe mit den Felsen, sah zu ihnen hinüber, wie sie sich am Wegrand auftürmten, wie die Zollstelle in eine andere Welt. Was immer an ihr vorbeigeflogen war, musste jetzt dort drüben hocken, vielleicht auf dem quer liegenden Felsen, der dem Ganzen den Namen Teufelstisch gegeben hatte.

Lucy spürte, wie eine Kälte in ihr hochkroch, die nichts mit der Kälte der Luft oder des Windes zu tun hatte. Es war eine Kälte in ihrem Innern. Es war Angst, die sich in ihr ausbreitete, Angst, die die Vorwegnahme schrecklicher Dinge in ihren Verstand flüsterte, mit einer Stimme, die zugleich das heisere Flüstern ihrer Großmutter war, die ihr mit ihren Geschichten über Hexen und Teufel vielleicht bewusst hatte Angst machen wollen. Die zugleich die Stimme ihres Vaters war, polternd und brüllend im Vollsuff. Die noch aus einer weiteren Stimme bestand, einer unbekannten Stimme, von der sie nicht wissen wollte, wem sie gehörte. Die so erschreckend fremd war, dass der Gedanke daran, dass sich so etwas, hier und jetzt in der Welt befand, in der kleinen Welt der Lucy Wandell, bestehend aus langweiliger Routine, dem Kampf um das tägliche Brot und schnellem, billigem Sex, schmerzte. Lucy spürte, wenn sie jetzt hier stehen blieb und weiter auf die schwarze Steinmasse starrte, wenn sie ihren Beinen nicht befehlen konnte, weiter zu laufen, dann würde sie es nie mehr schaffen. Dann …

„Lucy …!“ Sie erschrak so sehr, dass sie einen kleinen Luftsprung machte. Ein unterdrückter Aufschrei entfuhr ihrer Kehle. Die Stimme! Die dritte, unbekannte Stimme … jetzt war sie nicht mehr nur in ihrem Kopf gewesen. Sie hatte sie genauso gehört, wie ihre eigenen Schritte, ihren eigenen Schrei und das seltsame Fauchen des eisigen Windes in der Dunkelheit.

„Lucy, komm! Komm näher …!“ Ihr Herz setzte einen Schlag aus. In diesem einen einzigen Moment, da ihr Herz ihr den Dienst versagte, war Lucy dem Tod – der anderen Welt – näher als dem Leben. Drüben, in der dunklen Schattenballung im Innern des Teufelstisches, hatten zwei Augen rot zu glühen begonnen. Zwei Augen, die sie fixierten.

„Komm … komm her zu mir …!“, wisperte die Stimme, und obgleich jede Zelle in Lucys Körper schrie, dies nicht zu tun, spürte sie die jämmerliche Schwäche, die jede Weigerung zu Hohn zerstampfte, in sich, dieser Stimme gegenüber gab es kein Nein.

Ihr Verstand revoltierte, schrie, fast noch lauter als ihr Körper: Sieh hin, weißt du nicht, welche Gefahr dort lauert … Was immer das dort drüben ist, es wird Dinge mit dir anstellen, für die es nicht mal Worte gibt …

„Rede keinen Unsinn.“

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Ein Gefühl, als habe sie einen Schlag von einem Starkstromkabel erhalten. Die Hand blieb auf ihrer Schulter liegen, in unnachgiebigem Griff, als sie versuchte, sich umzudrehen. Schon, als sie daran dachte, dem Griff zu entfliehen, wurde er noch kräftiger. Schmerzhaft.

Über ihre rechte Schulter hinweg erhaschte Lucy den Anblick eines Mannes höheren Alters, von imponierender Größe und Furcht einflößender Statur, mit gewelltem, schwarzem Haar, das sich über den Schläfen grau zu färben begann. Sie blickte in ein Gesicht, das sie an etwas erinnerte, sie konnte es nicht recht benennen.

Das Gesicht war breit, mit hohen Wangenknochen, und der Schwung seiner Linien, des Kinns, der Nase, des Zuges um den Mund, der Bogen der Lippen verströmte etwas wie … Hunger. Wie unstillbare Begierde, ähnlich der ihren, während sie sich mit ihrem Untergewicht und ihrer fast knabenhaften Statur nun absolut hilflos und keiner Gegenwehr fähig vorkam im Vergleich zu diesem Riesen.

Doch da war noch etwas in diesem Gesicht, von dem sie, leicht konfus, dachte, Ich habe es doch schon einmal gesehen, ich kenne diesen Mann. Etwas, das ihrem Wesen völlig fremd war. Grausamkeit.

Die gesamte Aura, die dieser riesenhafte Mann verströmte, war von einer Gewalttätigkeit, die keinen Widerstand duldete.

Mann? War es überhaupt einer? Lucy hatte ihre Zweifel. Natürlich. Die Erzählungen ihrer Großmutter. Ein Gesicht voller Sinnlichkeit und Grausamkeit. Sie hätte über sich selbst lachen können – ein lautes, hysterisches Gelächter, als sie sich bei dem flüchtig aufblitzenden Gedanken ertappte, welch unermessliche Freuden dieser Fremde einer Frau wohl verschaffen konnte, und kurz sah sie das Bild, wie er tief in sie eindrang, und innerlich stöhnte sie vor Geilheit laut auf …

„Bist du der Teufel?“ Ihre Stimme klang leise, brüchig und schwach. Sie hätte sich für die Dummheit ihrer Frage selbst ohrfeigen können, doch es war egal, etwas in ihr wusste, dass sie bereits tot war. Das Gesicht des Fremden verzog sich zu einem Grinsen fernab jeder Freude oder Wärme und da war sie restlos davon überzeugt, keinen Menschen vor sich zu haben.

„Der Teufel.“ Seine Stimme schien von überall herzukommen. Sie war tief und hypnotisch, jedes ihrer Worte die Manifestation von Macht.

„Nein, der Teufel bin ich nicht. Aber ich kenne ihn gut.“

Die dunklen Augen des Mannes blickten hinüber zu den zwei roten, funkelnden Lichtern in den Felsen, als sei das für ihn etwas unendlich Interessantes und Wichtiges.

„Man hat dich gerufen. Willst du nicht hinübergehen?“

„Ich habe … Angst …“ Sie musste sich räuspern, damit man ihre Worte verstehen konnte.

„Das musst du nicht. Ich bin bei dir. Ich werde dich begleiten.“ Lucy war sich bewusst, dass die Worte des Fremden tröstend und ermunternd hatten klingen sollen, doch sie spürte auf instinktiver Ebene auch den Hohn und damit die Verachtung für ihre Person, mit denen sie ausgesprochen worden waren. Dennoch hatte sie keine Möglichkeit, sich zu wehren, und spürte, obschon sie wusste, dass nun ihr Gang zum Richtplatz begann, wie sich ihre Beine, völlig ohne ihren Willen, in Bewegung setzten.

Dort drüben wartete das Grauen.

Dort lauerte etwas, das unaussprechlich war, und in dem alle Ängste, die sie jemals gehabt hatte, Gestalt annahmen. Lucy konnte nicht erkennen, wie sich der riesenhafte Mann hinter ihr bewegte –sie nahm nicht einmal wahr, ob er richtig auf zwei Beinen ging, wie sie oder jeder andere Mensch, doch er war ständig hinter ihr, seine beiden Hände ruhten nun auf ihren Schultern in unnachgiebigem Griff. Selbst, wenn sie noch Herr über ihren Willen gewesen wäre, sie hätte niemals fliehen können.

Lucy hätte sich nicht gewundert, wenn der fremde Mann geschwebt wäre wie ein Geist. Ja. So war es, so musste es sein. Sie befand sich bereits im Land der Geister. Im Reich ohne Wiederkehr.

Lucy wäre lieber tot gewesen, als das zu sehen, was von dort drüben mit roten Augen zu ihr herüberstarrte, doch sie wusste, so leicht würde es ihr der Fremde nicht machen. Was wollte er über haupt von ihr? „Ich werde dir das zeigen, was du längst begriffen hast. Deinen schlimmsten Albtraum.“ Lucy schrak zusammen. Hatte sie laut gesprochen? Hatte sie etwas gefragt? Nein, sicher nicht, so klar war ihr Denken noch. Der Fremde las ihre Gedanken … Aber wieso?

„Wieso ich dir deinen Albtraum zeige oder deine Gedanken lesen kann?“ Lucy schaffte es, den Kopf zu drehen. Der Ausdruck auf dem Gesicht des Fremden war der eines Folterknechts. Das Wissen um die eigene, unumschränkte Überlegenheit und der Sadismus, diese auch einzusetzen, waren dort zu lesen wie Worte in einem finsteren und verbotenen Buch.

„Da, schau …“ Lucy starrte noch immer ihrem Peiniger – oder Führer – ins Gesicht, von dem sie noch immer nicht sicher war, ob es einem Menschen gehörte. Anatomisch gab es nichts, das dem widersprochen hätte, es war vielmehr ein unbestimmter Ausdruck, der sie überzeugte, es hier mit nichts weniger als einem Menschen zu tun zu haben. Sie wusste, wenn sie sich jetzt umdrehte, dann hatten sie das Ding mit den roten Augen erreicht. Dann brauchte sie nur ihre Hand auszustrecken, um es zu berühren. Und dann würde sie schreiend sterben … Der Fremde nickte in die besagte Richtung, wie ein Vater, der seinem Kind etwas Interessantes zeigen will. Er sah, was dort hockte, er wusste es genau und es erfüllte ihn mit boshafter, sadistischer Freude. Lucy schrie.

Sie waren weitergegangen, als sie gedacht hatte, die Platte des Teufelstisches ragte bereits über ihnen auf. Sie befanden sich im Innern des natürlichen Monumentes. Der Schein der Augen fiel auf ihr Gesicht. Sie gehörten dem Mann, der sie gefangen hielt im Kerker seines Willens. Eine perfekte Duplikatur von ihm ragte direkt vor ihr auf.

Oder auch nicht, dort stand ein Monster, das jeder Beschreibung spottete.

Es war keine Gestalt im eigentlichen Sinn, es war vielmehr die Dunkelheit selbst, die Stoff geworden war. Das zu einer grauenhaften Fratze verzerrte Gesicht des Fremden war in ihr, war ein Teil davon …

Es waren seine Augen, die rot glühten, und unter ihnen klaffte ein Rachen voll entsetzlicher Reißzähne. Lucy wollte zurückweichen, doch da sah sie, dass die Gestalt hinter ihr und die vor ihr zu einer einzigen verschmolzen waren. Der grauenhafte Rachen klaffte direkt über ihrem Nacken.

„Ich bin dein schlimmster Albtraum …!“, raunte die Stimme des Fremden, ehe seine Zähne sich in ihren Nacken gruben. „Ich, Isaak de Bankloe!“

In diesem Augenblick schaffte es Lucy, sich loszureißen, als sei der Bann gebrochen … oder für die Zwecke Isaaks nicht mehr notwendig.

Sie hörte das Reißen ihrer eigenen Haut und spürte einen Schmerz, der so unerträglich war, dass er sie zum Schreien brachte. Sie taumelte ein paar Schritte in die Dunkelheit hinein und fuhr herum.

Der Fremde überragte sie in der Dunkelheit und er schien noch größer geworden zu sein, dabei hatte er sich zum Sprung geduckt wie ein Raubtier und die Hände, zu Klauen gekrümmt, erhoben. Jetzt waren es seine Augen, die rot leuchteten, wie blakendes Feuer hinter buntem Glas, und es waren seine Augen gewesen, die ganze Zeit, die sie an ihre Angst gemahnt hatten.

Aber warum hatte er sie nicht gleich getötet, sondern erst dazu gebracht, hier her, in die Schatten zu gehen?

Lucy stöhnte unter dem Schmerz ihres zerfetzten Nackens, und sie spürte, wie ihr das Blut ihren Rücken herabrann, wie zuvor die Gänsehaut, und ihre Kleidung nässte.

Ab wann war ein Blutverlust tödlich?

Etwas brachte sie dazu, sich um die eigene Achse zu drehen, und da … da war etwas …

Im hintersten Winkel des Teufelstisches nahm sie etwas wahr.

Sie sah Gestalten, wie aus Nebel, und doch fest. Die Gestalten schienen alle zusammenzuhängen, wie in einer Art Wolkengebilde, und dennoch von luftiger Konsistenz zu sein. Sie sah Männer, Frauen und Kinder, manche nackt, manche in der Kleidung ihrer Zeit, manche in der Tracht vergangener Jahrhunderte.

Isaak … de … Bankloe …