Inhaltsangabe










Geschichten aus Nian

Landwandlerin


Paul M. Belt

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Landwandlerin

 

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© Copyright 2018 Hunter Verlag

Verlagsauflage 1

 

 

 

Lektorat: Cornelia Schrudde, Kreuztal

Grafische Innengestaltung: Marion Marchewka

Umschlagfoto: Astrid Eckstein

Umschlaggestaltung: Hunter Verlag

Satz & Layout: Hunter Verlag

 

 

 

 

 

Verlag: Hunter Verlag, Kiel, Deliusstr.

Printed in Germany

ISBN: 978-3-947086-55-9

 

 

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de
abrufbar.

 

 

Die Reihe:

»Geschichten aus Nian«

 

Band 1:

Lindenreiter

 

Band 2:

Landwandlerin

 

Band 3:

Atalan

 

Band 4:

Erzbrenner

 

Band 5:

Der Keysor

 

Band 6:

Selinqua Baruka

 

Band 7:

Licht

 


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Du kannst sein, was du bist,

ohne etwas kaschieren zu müssen.

Finde das Vertrauen in dir.

Es ist Teil deines Wesens.

 

(Kai, Erster Federer und Schüler aus Dohrlegen im Mittelland)




 

 

Landwandlerin





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Die Platane und der Wanderer

„Es stand einmal vor Zeiten an der Begrenzung eines breiten Feldweges eine alte Platane. Viel Volk schritt tagaus, tagein des Wegs, und der gewaltige Baum war ob seines Schattens, welcher manchem Wandelnden jeglicher Herkunft zur heißen Zeit einen Moment der Erquickung zu verschaffen vermochte, wohlaus bekannt.

Nun begab es sich, daß an einem wohl kalten Tage zum Beginne der kälteren Zykle, an welchem keines Vogels Stimme mehr das noch immer machtvolle Laubwerk durchdrang, ein einzelner Wanderer, satt des langen Weges und ob seiner Mühen erschöpft, gegen den mächtigen Stamm des Baumes sich zitternd zur Rast lehnte. Nach dem Vergang einer wohlmerklichen Menge an Zeit wunderte es die titanische Pflanze, weswegst der Mann sich nicht entschloß, weiter des Wegs zu wallen. Und so frug er den Erschöpften ob seiner Absichten. Jener jedoch erwiderte verdrossen: Was fragest du mich nach meinem Vorhaben, kümmert´s dich doch gewöhnlich nur ein Wenigst, welchen Sinnes die unter dir Schreitenden sind, du hast ja tatsächlich ihnen keine Hilfe anzubieten! Hast du doch keine nährenden Früchte oder andernteils Dinge, die der Stärkung dienten. So bin ich Ärmster nunmehr dazu verdammet, unter deiner Laubkrone zu verschmachten.

Der Platanus entgegnete daraufhin: Welch großer Täuschung unterliegest du, Wandelnder. Aber da du dich der Dinge so sicher wähnest, mögest du im Rechte bleiben und nur ein winzigst Rudiment dessen erfahren, was im Bereiche des Möglichen erwüchse. Und er trennte sich von einem seiner Blätter, welches ohne Umschweife von der Höhe herniedersank und den Wanderer wärmend einhüllte, sodaß jener bald genehmst seinen Weg fortzusetzen anhob. Vergeblich auf ein Wort des Dankes wartend, beschloß der Baum betrübt, seither sein Dasein schweigsam am Wegesrand zu fristen. Und so ist es bis zum heutigen Tage.“

(aus: Goldene Klassiker, Band 2: Nianianische Mären für Kinder, trad./Verfasser unbekannt)

 

 

Als Mutter das Märbuch zuklappte und aus der Hand legte, drehte sich die kleine Dila noch einmal gähnend zur Seite. „Mama, das ist ja nun wirklich eine blöde Geschichte. Wieso hat der Wanderer denn keine Angst unter dem Baum? Warum führt da überhaupt ein Weg drunter durch? Und wie kann er mit ihm reden, er scheint ja gar kein Reiter zu sein?“

„Darum geht es nicht, Liebes“, erwiderte ihre Mutter Ena sanft, „sondern darum, dass Vorurteile ebenso wie Undankbarkeit meist schädliche Folgen haben. Man verbaut sich damit einiges.“

Dila gähnte erneut. Also, das war ja nun viel zu einfach. Mehr als so allgemein Bekanntes sollte nicht in solchen alten Erzählungen stecken, die fast jedes Kind irgendwann einmal zu hören bekam? Morgen würde sie ihren Vater danach fragen, er als Rundeichenreiter konnte ihr das sicher noch besser erklären. Mit diesen Gedanken schlief sie ein.

Bursiga

Es war später Sommer geworden in Nian. Das Wetter war fast überall angenehm und freundlich, und die Große Mutter hatte dem Land viele Monde lang Wärme, frohe Farben und viele Feldfrüchte beschert, wovon natürlich auch die Städte profitierten.

Fünfzehn Zyklen trug Dila Jalobak nun. Auch wenn sie mittlerweile viele Dinge dazugelernt und erlebt hatte, so hatte sie diese Begebenheit doch nie vergessen, wohl aber, ob sie ihren Vater damals tatsächlich gefragt hatte. Sie war ein neugieriges Kind gewesen. Noch vor dem ersten Grad hatte sie allen Leuten – ob Eltern, Freunden oder Verkäufern im Lebensmittelgeschäft – immer Löcher in die Ohren gefragt. Und es gab viele Leute in einer durchschnittlich großen mittelländischen Stadt wie Bursiga, an deren Rand ihre Familie vor vielen Zyklen gezogen war. Dort hatten sich ihre Eltern ein Haus am Ende einer Reihe gekauft. Normalerweise musste man sich so etwas vom Munde absparen, wenn man eine junge Familie war, erst recht dann, wenn man später noch ein weiteres Kind bekam. Diesbezüglich war es ein Segen, dass ihr Vater Gers bereits als Junge das Reiten erlernt hatte und mittlerweile ein hohes Klanmitglied geworden war. Auch ihr Bruder Ran ging gemäß der Tradition diesen Weg. Ein solcher Hintergrund erleichterte die Heimsuche und auch den beruflichen Aufstieg oft gewaltig, und so hatte es vergleichsweise kurz gedauert, bis ihr Vater sich vom Sachwalter zum Verwaltungsrat der Stadt Bursiga hochgearbeitet hatte.


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Reiten war für Dila nichts. Sie hatte es ein-, zweimal versucht, es dann aber „mangels Talent“, wie es damals hieß, aufgegeben. Weitaus besser gefielen ihr da schon andere Betätigungen wie Schwimmen in einem der großen Bäder Bursigas oder Wandern im Hilm, einem kleinen Mittelgebirgsausläufer im Umland. Wann immer es Schule und häusliche Pflichten erlaubten, verabredete sie sich dazu mit Schulfreundinnen. In den Hilm allerdings musste sie nicht selten allein mit dem Überlandbus fahren. Viele Städter glaubten nämlich, dass Mittelgebirge und ihre Ausläufer voller Baumwälder und damit voller Gefahren seien, und ließen sich auch nicht durch gutes Zureden davon abbringen. Und die wenigen Mädchen, die mitgekommen waren und das Gegenteil gesehen hatten, nahmen sich selten Zeit für solche Ausflüge. Dila traf sie meistens nur am Ende der Woche, wenn sie ab und zu Lust hatte, abends ein Gruv-Konzert in einem der Musikontore zu besuchen. Tatsächlich hatte die Stadt genügend Elektrizität zur Verfügung, um auch solche Kulturzentren zu beliefern und nicht nur die Grundversorgung ihrer Bewohner sicherzustellen. Es war schon ein Vorrecht, hier zu wohnen.

Dies nun war wieder so ein Vorfriedstagsmorgen, an welchem sie vergeblich versucht hatte, sich mit einer Freundin zum Wandern zu verabreden. Herumspringen zu nem guten Gruvmak bis spät in die Nacht, das wollten sie alle, aber Wandern? Böööh … Na ja, dann ging es eben nachher wieder allein zum Zebu, dem Zentralen Bussteig, und von dort aus in Richtung Hilm.

Zuvor aber galt es noch, ihren Bruder in die Reiterloge zu begleiten. Ihr Vater war schon dort. Als Zweiter Rengat einer Hauptloge hatte man die Pflicht, manche Veranstaltungen vorzubereiten und dabei mitzuwirken. Dann blieb es an Ena oder ihr hängen, Ran dorthin zu bringen. Als Jungschüler, bei den Reitern Ragnor genannt, durfte er noch nicht allein reiten, und obwohl er bereits acht Zyklen trug, fanden ihre Eltern es besser, ihn noch nicht unbegleitet durch die Stadt fahren zu lassen.

„Mama, wann geht es endlich los? Ich wollte danach noch zum Zebu und muss pünktlich sein“, fragte Dila zum dritten Mal. Ihre Mutter erwiderte nichts, sagte stattdessen aber leicht genervt: „Ran, wenn du nicht in 30 Kurzzeiten unten bist, werde ich Dila allein losfahren lassen, und ich kann dich heute nicht bringen, wie du weißt.“ Glücklicherweise hörte man schon bei den letzten Worten polternde Schritte auf der Treppe, und Ran erschien außer Atem im Flur. „Hat ´ne Weile gedauert, bessere Kleidung anzuziehen“, entschuldigte er sich. Ena verdrehte die Augen und verabschiedete sich rasch von ihren Kindern. Dila warf Ran noch seine Jacke zu, dann verließen sie das Haus über den Plattenweg in Richtung Bushaltestelle.

Busfahren in Bursiga war normalerweise eine schnelle Sache. Viele Autos fuhren nicht auf den Straßen in den Randbereichen, und auch innerhalb des äußeren Ringes hielt sich der Verkehr in Grenzen. Im Gegensatz zu Metropolen wie Medriana oder Große Flussstadt hatte Bursiga nur einen kleinen historischen Stadtkern, wodurch es die Verkehrskoordinatoren einfach gehabt hatten, ein gutes Konzept zu entwickeln und im Laufe der Dekazyklen zu erweitern. Auch der Fluss Ovon, welcher das Stadtzentrum auf beiden Seiten umfloss, war kein Hindernis – die meisten alten, aber sehr stabilen Brücken darüber konnten unverändert genutzt werden, jedoch war auch das Wissen um die Konstruktion neuartiger, verbesserter Übergänge seit vielen Dekazyklen in ganz Nian verbreitet. Solche Dinge lernte man in Technikkunde, einem Fach, das Dila sehr mochte.

Die Fahrt in die Innenstadt zur Hauptloge des Klans der Rundeichenreiter dauerte nur knapp fünfzehn Mittelzeiten. Ran war ungeduldig und Dila fragte ihn, was denn an diesem Morgen so Besonderes stattfinde. „Schwester, seit Tagen erzähle ich dir, dass heute Initiation ist, kriegst du gar nichts mit?“, maulte er.

Dila sagte dazu lieber nichts. Sie hatte andere Dinge im Kopf als Vorhaben ihres Vaters oder Bruders. Am nächsten Tag würde sie für Angewandte Chemie lernen müssen und konnte nicht wandern gehen. Das Fach lag ihr von den Themen her sehr, aber die Art und Weise, wie das Wissen um die Kleinstteilchen in Pflanzen und Tieren dargeboten wurde, empfand sie fast als eine Beleidigung für das Leben. Irgendwann würde noch ein Lehrer kommen und sie selbst als Formel beschreiben!

Der Bus hielt, Dila und Ran liefen das letzte Stück. Kurz vor dem schweren, gediegenen Metallportal verabschiedeten sie sich voneinander. Ran winkte ihr noch zu, bevor er in der Loge verschwand, dann lief Dila los, um den nächsten Bus zum Zebu zu erwischen.

Initiation

Nachdem Ran die Vorhalle betreten und sich aus der Jacke geschält hatte, wechselte er seine Straßenschuhe gegen die Lederschlappen, die dort auslagen. Nur mit ihnen durfte man durch die schwere Doppeltür aus Eichenrinde den großen, ovalen Ornatssaal der Loge betreten, dessen Größe fast ein Quadratmittelmaß betrug. Außer Stühlen und einem großen Rednerpult enthielt er viel anderes Mobiliar, von dem Ran nicht wusste, wozu es diente. Prachtvolle Vorhänge in Purpur schmückten die Wände neben hohen, hellen Fenstern, und zur Rechten der Eingangstür hingen in riesiger Dimension die Insignien des hiesigen Klans: ein goldenes Rundeichenblatt mit einer Eichel daneben. Zur Linken befand sich, wie in allen Hauptlogen Nians, das Symbol des Ältesten Klans, ein goldenes Lindenblatt mit einem Lindenschrauber. Dies gestaltete man überall im Lande so, um des ersten Reiters zu gedenken, der vor einigen Dekazyklen erschienen und auf einem Lindenblatt geritten war.

Ran dachte beim Anblick dieser beeindruckenden Wahrzeichen wieder an die überlieferte Geschichte. Wie mutig musste dieser Junge gewesen sein, sich ohne das heutige Reiterwissen unter einen Baum zu begeben und ihn gar zu besteigen … Schade, dass er noch nicht initiiert war. Erst mit diesem Ritus bekam man das Recht, in einige der Alten Schriften Einsicht zu nehmen und mehr über die eigenen Traditionen zu erfahren, als man in der Schule und davor zu hören bekam. Reiten war zwar Lehrstoff, jedoch lediglich Teil des Geschichtsunterrichts und wurde seiner Meinung nach ziemlich stiefmütterlich behandelt. Das musste damals anders gewesen sein. Sogar von Riesen war noch erzählt worden! Mittlerweile wusste man nicht einmal mehr, ob es sie überhaupt gab.

So in Gedanken versunken hätte er fast nicht bemerkt, wie einige Intare hinter einem Trennvorhang hervorkamen und auf leisen Ledersohlen den Saal betraten. Er erschrak ein bisschen, als er von einem dieser initiierten Reiter angesprochen wurde: „Na, du bist pünktlich, schön! Komm, hilf uns, damit dein Vater die Vorrede in würdigem Rahmen halten kann.“

Ein paar niedrige Gestelle mussten hereintransportiert und zu einem Podest zusammengerückt werden, ein großes grünes Tuch wurde darauf ausgebreitet, und dann wurden acht besonders harmonisch geformte Blätter der Gemeinen Nianianischen Rundeiche darauf gelegt. Ran erinnerte sich gut, wie er letzte Woche geholfen hatte, sie am Rand der Baumwälder im Norden Bursigas zu sammeln. Zwei davon hatte er selbst entdeckt, was unter Reitern als Zeichen für hohes Talent galt. Es ärgerte ihn aber jedes Mal, dass immer nur ein Intar oder manchmal auch Lekur, der Anführer einer Gruppe, mit einem gefundenen Blatt zur Loge reiten durfte. So ein Getue, der erste Lindenreiter war ein Junge ohne Erfahrung gewesen und hatte es sofort gekonnt! Laut durfte man das aber nicht sagen, schon gar nicht als Ragnor und dazu Sohn eines Rengats.

Die Vorbereitungen waren abgeschlossen. Überall brannten Weihkerzen in gebührendem Abstand zu den Vorhängen, es duftete nach Eichenharz. Einer der Intare öffnete feierlich die beiden großen Rindentüren. Herein strömten viele Logenmitglieder samt ihren Angehörigen, die der Zeremonie beiwohnen wollten. Auch ein paar Reiter anderer Klans waren gekommen, die sich vornehm im Hintergrund niederließen. Sie trugen festliche Gewänder mit ihren jeweiligen Insignien, sogar ein Lekur war dabei – bestimmt war einer der Initianten ein naher Verwandter von ihm, sonst hätte ihn sein Klan in der eigenen Loge gebraucht.

Endlich war es so weit, alle hatten Platz genommen und es kehrte Ruhe im Ornatssaal ein. Darauf betrat Rans Vater Gers im rotbräunlichen und mit Goldornamenten bestickten Rengatsgewand den Raum, schritt feierlich zum Rednerpult, nahm einen langen Blick in die Runde und begann langsam und in würdevollem Ton seine Vorrede.

„Sehr geehrte Gäste, Initiantenfamilien und Logenmitglieder, sehr geehrte Lekure, Intare, Ragnore, fühlet euch herzlich willkommen in unseren bescheidenen Räumen! Wir freuen uns sehr und sind stolz, heute im Namen der Alten Traditionen die Initiation, die Weihung zum vollwertigen Reiter, an acht jungen Menschen vorzunehmen, welche sich durch besonderes Talent und hingebungsvolles Achten der Gebräuche unseres Klans ausgezeichnet haben. Begrüßen Sie bitte, in allen Ehren und mit dem gebührenden Respekt, den Vorsitzenden unserer Hauptloge und zugleich Ersten des Klans der Rundeichenreiter, Fen Raktosh!“

Der Rengat trat beiseite und das Publikum stand auf. Leiser, rhythmischer Beifall erklang. Ein Mann in einem langen, silbrig-rötlich gewirkten Gewand erschien hinter dem Trennvorhang und schritt majestätisch zum Pult. Als er es erreichte, stoppte das gleichförmige Klatschen und alle verbeugten sich, eine Hand auf die Brust gelegt. Der Erste hob stumm den Arm und senkte ihn wieder, woraufhin sich die Beiwohnenden erneut setzten. Nach einer längeren Pause befahl der Erste:

„Rengat, führet die Initianten herein.“

Rans Vater drehte sich um und öffnete eine Seitentür, woraufhin acht in Weiß gekleidete Mädchen und Jungen mit schnellen Schritten den Ornatssaal betraten und sich mit gesenktem Kopf im Halbkreis vor dem Rednerpult aufstellten. Nachdem Gers die Tür geschlossen hatte, stellte er sich wieder neben das Pult. Der Erste legte erneut eine Pause ein, dann begann er ausdrucksvoll zu sprechen:

„Ragnore! Seid ihr bereit, als vollwertige Reiter die Traditionen Nians zu achten und eurem Klan mit Hingabe und Ehrerbietung zu dienen?“

„Ja, Erster“, erwiderte ein leiser Chor junger Stimmen.

„So beginnet in der Reihenfolge eurer Eignung, wie sie von euren Lekuren beobachtet wurde.“

Ran unterdrückte ein Gähnen. Wie peinlich wäre es gewesen, sich auf diese Weise zu disqualifizieren! Aber er hatte dieser Zeremonie schon so oft beigewohnt, dass er sie selbst hätte leiten können.

Ein Junge von etwa neun Zyklen trat nun vor, um sich tief zu verneigen, wandte sich dann formell um, schritt zum Podest und ergriff eines der Blätter am Stiel, woraufhin sich ein leichter Aufwind erhob und das Blatt zu schweben begann. Rückwärts schreitend führte der Junge das Blatt neben sich her und betrat es dann von der linken Seite. Eine Kurzzeit später verstärkte sich der Aufwind im Raum, so dass sich die Gewänder des Ersten und des Rengats leicht bewegten und die Haare der Zuhörer in den ersten Reihen zu flattern begannen. Das Blatt erhob sich mit dem Jungen bis zur Höhe zweier Apfelmaße und senkte sich daraufhin langsam wieder, so dass der Junge absteigen konnte. Der Aufwind erstarb.

Nach einigen Kurzzeiten nickte der Erste und sprach die rituellen Worte: „Du hast dich als würdig und talentiert erwiesen. Hiermit, Gren, Sohn des Phar, ernenne ich dich zum Intar des Klans der Rundeichenreiter. So nimm dein Blatt und reite fortan, deinem Klan Ehre zu tun.“

Gren verbeugte sich erneut tief und lange, ergriff dann sein Blatt und trug es stolz durch die Seitentür aus dem Saal, die nun von einem Intar offen gehalten wurde.

Die Prozedur wiederholte sich anschließend mit einem Mädchen, das deutlich größer war als Gren. Ran musste erneut ein Gähnen unterdrücken. Langes Sitzen war einfach nichts für ihn. Wie viel lieber wäre er nun sogar mit seiner Schwester mitgefahren, als hier alten Traditionen zu huldigen. Aber als Sohn eines Rengats … ja, ja, ja, wie oft hatte er das schon gehört. In Gedanken sah er sich selbst, den Wind unter den Füßen, auf einem Blatt stehen und in wundervollen kleinen Spiralen über Bursiga reiten. Dort in der Ferne schlängelte sich der Ovon auf die Stadt zu und teilte sich, um sie zu umfließen. Dahinter lag die Hulzvorebene, an welche sich der Hulz mit seinen Bergen südlich anschloss. Er liebte das Mittelgebirge, früher war er öfter einmal mit seiner Familie hingefahren. Nun ritt er in Gedanken den Nordpass herauf zum Man Termat, dem Nachbarn des Man Dokken, der höchsten Erhebung des Hulzes …

Rhythmisches Klatschen weckte Ran aus seinem Tagtraum. Schnell fiel er mit ein. Die Zeremonie war beendet und der Erste verließ den Raum ehrwürdig durch den Trennvorhang. Das Klatschen ebbte ab, der Rengat schritt erneut zum Pult und ergriff das Wort.

„Sehr geehrte Gäste, Initiantenfamilien und Logenmitglieder, sehr geehrte Lekure, Intare, Ragnore, Dank sei Ihnen für das Begleiten unserer Jung-Intare in ihren neuen Rang und Lebensabschnitt. In der Vorhalle finden Sie Gelegenheit, bei einer kleinen Stärkung dieses festliche Geschehen auch im Nachhinein zu würdigen. Die Hauptloge der Rundeichenreiter zu Bursiga bedankt sich bei Ihnen für die Ehre Ihres Besuches!“

Anhaltender Applaus erfolgte. Das Publikum erhob sich, die ersten verließen den Saal durch die Rindentüren. Ran stand ebenfalls auf und ging zu seinem Vater, der gut gelaunt war und ihn zum Glück nicht förmlich empfing. „Hallo Sohn, danke für deine Hilfe! Mensch, bald bist du auch dran! Wie ich mich darauf freue, deiner Initiation beizuwohnen, das Zwischenmahl im Saal mitzustiften und danach mit dir ein bisschen zu reiten!“ Ran strahlte und drückte seinem Vater beide Hände, während dieser hinzufügte: „Hilfst du auch noch beim Abbau, bitte?“

„Klar, Vater!“, antwortete Ran, froh, sich wieder bewegen zu dürfen. Schon begann er, das große grüne Tuch gemeinsam mit zwei Intaren zusammenzufalten.

Im Hilm

Dila war etwas ungehalten. Der erste Überlandbus war ihr vor der Nase weggefahren und sie hatte eine halbe Langzeit Aufenthalt am Zebu gehabt. Eine halbe Langzeit weniger Tageslicht, bei welchem sie wandern konnte! Nun saß sie ungeduldig auf einer der einfachen Holzbänke im nächsten Bus und freute sich darauf, die frische Luft im Hilm zu genießen. Besonders liebte sie das idyllische Rittertal mit seinen endlosen Mooswiesen und Graswäldern, in welchem sich der laue Spätsommerwind als frische Brise fing und das von vielen Wegen und Wanderpfaden durchzogen war. Wandern, das hieß für sie nicht, gemächlich durch die Gegend zu schlendern. Sie sah es als sportliche Betätigung an, was durchaus einen langsamen Laufschritt über längere Strecken einschloss. Kaum hielt der Bus an der Haltestelle „Lorgum/Rittertal West“, schwang sie sich aus dem Bus, setzte ihren Rucksack mit Wasser und Notmaterial auf und lief los.

Der Weg ging zunächst neben einer Straße her und senkte sich malerisch in eine Mulde, in welcher Moos und wilde Kräuter wuchsen. Herrlich violett, blau und gelb leuchteten deren Blüten und es duftete honigsüß. Das liebte Dila besonders an Kräutern – sie blühten nicht nur zu einer bestimmten kurzen Zeit im Zyklus, sondern durchgängig vom Frühling bis zum Herbst. Lächelnd schwang sie ein Bein vor das andere und begann sich innerlich zu entspannen. Im ersten kleinen Taldorf Eimriede angekommen, verlangsamte sie ihre Schritte und genoss die zweite Etappe des Weges im Gehen. Schon bald begann der Weg, sich sanft aufwärts zu schlängeln, er wurde unbefestigt und etwas wilder. Nur noch wenige Mittelmaße, dann würde sie den ersten Ausblickspunkt ins Tal hinunter erreichen … Und tatsächlich, dort lag er bereits vor ihr. Der Weg machte eine scharfe Biegung, um dem Steilabhang einer Anhöhe auszuweichen, auf deren Spitze sich eine alte hölzerne Bank befand. Dila war zwar kein bisschen erschöpft, sie hatte ja gerade erst drei Langmaße überwunden, aber diesen Ort liebte sie sehr und wollte nicht versäumen, die Aussicht zu genießen. So nahm sie auf der Bank Platz.

Ein wunderschönes Panorama eröffnete sich dort vor ihren Augen. Von Osten her schwang sich das Rittertal verträumt über schier endlose Mooswiesen, Kräuter- und Graswälder an ihr vorbei in Richtung Westen, hier und da unterbrochen von gluckernden und plätschernden Flüsschen, welche das Wasser zum Hauptbach ins Tal führten. Die kleinen Dörfer der Gemeinde hatten somit eine natürliche Wasserquelle, auch die Pflanzen an den Bächlein waren dankbar, nicht auf regelmäßigen Regen angewiesen zu sein. Wegerich gedieh dort zusammen mit Eibisch, Zwergröhricht, Hirtentäschel, Kornblume, Kleinmohn und Silbergehrat. Leichter Wind ließ die mannigfaltige Blütenpracht sanft hin- und herschwingen, während am Horizont die Spitzen des alten Baumwaldbestandes zu sehen waren. Dila genoss in tiefen Zügen dieses herrliche Schauspiel der Großen Mutter, ihren Ärger über den Bus hatte sie bereits völlig vergessen. Träumerisch sah sie den Pflanzen eine Weile lang bei ihrem Schauspiel zu, bis sie sich dazu entschloss, die nächste Etappe in Angriff zu nehmen. Sie erhob sich und lief erst langsam, dann mit schnellen Schritten in die folgende Mulde hinunter, um dann den Aufstieg zum ersten höherenHügel vorzunehmen.

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Ihr diesmaliger Rundweg, den sie seltener wählte, führte in weitem Bogen auf der Hügelkette entlang nach Osten, dann linkerhand durch ein offenes Tal hindurch auf den nächsten Hügel, daraufhin in einer ausgedehnten Linkskurve durch einen weiten und hohen Graswald hindurch und schließlich über eine Kleeallee bis zur Landstraße, auf welcher auch der Überlandbus fuhr. Zehn Langmaße Wegs, teils laufend, teils gehend, waren ein angenehmes Pensum für sie. Sie würde im Licht der untergehenden Sonne am Zebu ankommen und den Bus nach Hause noch in der Dämmerung nehmen können. Ein paar andere Wanderer begegneten ihr und grüßten freundlich, als sie gerade den Pfad über den Hügelkamm überwunden hatte und nun nach links auf den Talweg abbog. Nach wenigen Kurzmaßen jedoch blieb sie stehen und schaute überrascht nach unten in den Talkessel, wo der sich leicht windende Weg über eine Freifläche mit sehr niedrigem Moosbewuchs und nur wenigen Grasbüschen führte. Zumindest hatte er das bisher getan, nun aber hatte sich etwas verändert. „Was ist denn das?“, fragte sich Dila, nachdenklich den Weg abwärts trottend.

Dort an der kleinen Kurve des Wegs, mitten im Tal, stand ein einzelner Baum. Er war noch jung, hatte aber bereits einen dicken Stamm gebildet und eine beachtliche Höhe erreicht. Warum war er ihr im vorigen Zyklus nicht aufgefallen, als sie das letzte Mal durch dieses Tal gelaufen war? Hoch wachsende Bäume an Wanderwegen wurden normalerweise bereits als kleine Sämlinge entfernt, diesen aber hatte man stehen lassen. Als Dila näher kam, ahnte sie auch weshalb: Es war eine Pappel. Diese äußerst schnell wachsenden Bäume mit recht brüchigem Holz entwickelten relativ ungefährliche, dafür sehr klebrige Früchte sowie Pollen, die wie flauschig weiche Schneeflocken in der Größe eines Springballs dahergeflogen kamen. Offenbar vertrauten die Forstmeister der Vernunft der Wanderer, bei Sturm hier nicht entlangzugehen und sich zur Fruchtzeit nicht die Schuhe verkleben zu wollen. Schade nur, dass später zu bestimmten Zeiten das Tal unpassierbar sein würde, sobald der Baum größer geworden war.

Wie vom Donner gerührt blieb sie stehen.

Nein, es war eindeutig eine Pappel, keine Platane. Und dennoch … die Szene beschwor ein Bild aus ihrer Kindheit herauf, welches sie all die Zyklen über in sich getragen hatte. Die Mär … genauso hatte sie sich die Szene immer vorgestellt – der kleine Hügelgratwald im Hintergrund, die Baumwipfel in einiger Entfernung, der niedrig bewachsene, fast kahle Talkessel, der einsame Baum in seiner Mitte und der Weg, der direkt an ihm vorbeiführte.

„Rädere nicht durch“, sagte sie zu sich selbst. „Das ist nur ein Zufall. Eine alte Erinnerung.“

Es half nichts, sie konnte sich dem Sog des Eindrucks nicht entziehen. Wie von selbst nahm sie ihren Weg wieder auf, schritt auf die junge Pappel zu und blieb schließlich direkt vor ihr stehen. Ihr Stamm war leicht vom Weg weggeneigt, selbst bei stärkerem Westwind hätte Dila hier nichts geschehen können.

Hast du doch keine nährenden Früchte oder andernteils Dinge, die der Stärkung dienten …“, flüsterte die Stimme des Wanderers aus der alten Geschichte in ihr. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Sie war eine Wanderin, und auch dieser Baum hatte wie die Platane den ganzen Zyklus über keine essbaren Bestandteile! Ihre Gedanken begannen, sich zu überschlagen. Was, wenn diese Mär mehr enthielt als nur ein paar moralische Lehren? Ob sie mal versuchen sollte …? Aber das war ja lächerlich. Jeder Mitwanderer hätte sich köstlich über sie amüsiert und ein Pappelreiter hätte sich vor Lachen auf dem Boden gewälzt, wäre möglicherweise sogar zornig geworden. Sie schaute sich vorsichtig um – nein, sie war hier ganz allein. Vielleicht konnte sie also doch … Sie erinnerte sich daran, dass sie damals schon am offensichtlichen Sinn der Geschichte gezweifelt hatte. Gewaltige Neugier keimte in ihr auf … Dann aber sagte sie laut zu sich selbst: „Dila, du trägst fünfzehn Zyklen. Hör mit dem Kuhmist auf und geh jetzt weiter!“ Und schon begann sie, einen Fuß vor den anderen zu setzen, um den Platz unter der Pappel mit der seltsamen Anziehung zu verlassen und ihre Wanderung fortzusetzen.

Dazu kam es aber nicht. Das Ende eines dünnen Zweiges strich ihr im Weggehen leicht über den Rücken, dann noch einmal. Das war ein lustiges Gefühl und Dila schmunzelte. „Der Abendwind setzt ein, ich muss mich beeilen, den Bus noch zu bekommen“, sagte sie zu sich selbst. Nach wenigen Schritten aber stellte sie überrascht fest, dass es vollkommen windstill war. Keine Bö rauschte durch das ruhige Tal, kein Lüftchen bewegte sich.

ImageVerwundert drehte sich Dila zu dem jungen Baum um. Dort stand er, ganz still, wie vorher auch. War da wirklich etwas gewesen? Zweifelnd tat sie zwei Schritte zurück zur Pappel. Und dann, als würde ein Grusling ihn bewegen, neigte sich erneut ein Zweig herunter, während der Rest des Baumes reglosblieb.

Das gab es nicht. „Durchgerädert, sag ich“, murmelte sie. „Ich muss ganz schnell machen, dass ich hier wegkomme …“ Sie hielt jedoch inne, und schließlich siegte ihre alte Neugier über Vernunft und Furcht. Sie ging auf den rauen Stamm der Pappel zu und lehnte sich dagegen.

Ein tiefes, knarrendes Geräusch ertönte. Dila erschrak. Das klang, als rieben sich zwei Stämme im Sturm aneinander. Seltsam … da war es schon wieder.

„AAAAoouuuhhmm … eekk …“

Pappelweisheit

Der Boden vibrierte leicht, als das Geräusch erklang. Dila schaute hin und her, konnte aber die Quelle des Knarzens und Grummelns nicht ausmachen. Panik machte sich in ihr breit, ihr Kopf wollte rennen, aber der Körper lehnte wie festgenagelt am Stamm und rührte sich kein Haarbreit vom Fleck. Das fühlte sich an wie damals, als sie die Anschlussleitung des Teleskriptors herausgerissen und die blanken Kontakte berührt hatte … Ein Kribbeln kroch ihre Wirbelsäule hoch und endete in ihrer Brust.

„Waaaoouummg duu … eekk“

Dila begann zu zittern. Das war total unheimlich! Aber nun kamen ihr die Laute plötzlich bekannt vor. Sie schwieg und lauschte noch einmal genau, und da hörte sie es wieder.

„Waaroouum gee duu eekk?“

Das war ja unfassbar. Es klang fast wie … Dila überlegte nicht mehr, ihre Kindheitsbilder standen plastisch vor ihrem inneren Auge und es brach einfach aus ihr heraus: „Ich gehe nicht weg, wenn du mir etwas sagen willst! Platane, Pappel, ist mir ganz egal, auch ob du essbare Früchte trägst, ich mag dich – und danke, danke für alles, was du mir anbietest! Bitte höre nicht auf zu sprechen!“