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Hinweis zum Urheberrecht

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Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft · Steuern · Recht GmbH, Stuttgart

Impressum

Herausgeber:

Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Ballwieser, Fakultät für Betriebswirtschaft, LMU München;

Prof. Dr. Dirk Hachmeister, Institut für Financial Management, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Universität Hohenheim, Stuttgart.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Print: ISBN 978-3-7910-4397-5 Bestell-Nr. 11028-0001
ePub: ISBN 978-3-7910-4398-2 Bestell-Nr. 11028-0100
ePDF: ISBN 978-3-7910-4399-9 Bestell-Nr. 11028-0150

Wolfgang Ballwieser/Dirk Hachmeister (Hrsg.)

Digitalisierung und Unternehmensbewertung

1. Auflage, Juni 2019

© 2019 Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft · Steuern · Recht GmbH

www.schaeffer-poeschel.de

service@schaeffer-poeschel.de

Bildnachweis (Cover): © cassis, fotolia

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Schäffer-Poeschel Verlag, Stuttgart

Ein Unternehmen der Haufe Group

Vorwort

Digitalisierung hat zahlreiche Auswirkungen auf die Unternehmensbewertung. Sie schafft neue Bewertungsobjekte, verändert die Geschäftsmodelle bestehender Unternehmen, beeinflusst den bisherigen Prozess von Vorbereitung, Durchführung und Präsentation einer Bewertung und hat Auswirkungen auf das nötige Know-how eines Bewerters. Das vorliegende Buch will dies anhand ausgewählter Fragestellungen mit einem Autorenteam aus Theorie und – theoriegestützter – Praxis belegen, wesentliche Resultate präsentieren, auf in der Entwicklung sich befindende und zukünftig verstärkte Relevanz aufweisende Verfahren verweisen und offene Themengebiete ansprechen.

Der Eingangsbeitrag der Herausgeber stellt die Verbindung von Digitalisierung und Unternehmensbewertung in einen breiten Zusammenhang und behandelt theoretisch wie praktisch bedeutsame Fragestellungen mit Bezug auf Objekte, Prozesse und Parameter einer Unternehmensbewertung. Er stellt den Rahmen für die im Folgenden behandelten Detailprobleme dar.

Marc Hayn und Moritz Bassemir zeigen, welche Bewertungsprobleme mit neuen Plattformen und Apps verbunden sind. Sie widmen sich den Märkten für dieses Geschäftsmodell, den finanziellen Kennzeichen, Werttreibern und Kostenarten, um sodann auf bewertungsrelevante Eigenschaften, Bewertungsmethoden und Planungsrechnungen einzugehen. Sie beschreiben die erhöhte Unsicherheit im Bewertungskalkül und die Möglichkeiten ihrer Bewältigung.

Christian Büchelhofer geht auf digitale Geschäftsmodelle allgemein ein, diskutiert die Grundprinzipien der Unternehmensbewertung im digitalen Zeitalter, analysiert Werttreiber und Konsequenzen für die Bewertung und thematisiert den Einfluss digitaler Geschäftsmaßnahmen im Rahmen der strategischen Wertanalyse bestehender Geschäftsmodelle. Die adäquate Berücksichtigung der Treiber digitaler Geschäftsmodelle sieht er als besondere Herausforderung an.

Dirk Honold, Patrick Hümmer, Toni Oed und Cyril Prengel widmen sich digitalen Start-ups hinsichtlich der damit verbundenen Bewertung einer Beteiligung zur Finanzierung mit Risikokapital. Sie betrachten Unternehmen in der Seed- und Early-Stage-Phase, betonen die bedeutende Rolle der Erfahrung von handelnden Personen und zeigen, welche institutionell getriebene »Marktlogik« gilt, wie exitgetrieben gehandelt wird und welche Sonderrechte vereinbart werden, um sich am Ende der Beteiligungsphase bestmöglich zu platzieren. Nach ihrer These erhöhen die zahlreichen Cashflow-Rechte der Beteiligten die Komplexität so erheblich, dass weitreichende (numerische) Szenario- und Risikoanalysen unumgänglich werden.

Mit der Betrachtung des Nutzenpotentials unstrukturierter digitaler Daten im Kontext der Cashflow-Prognose und Risikoanalyse sowie für die Ermittlung relevanter Parameter widmen sich Thorsten Sellhorn, Gereon Hillert und Julia Menacher einer völlig neuen Thematik im Bewertungsprozess. Sie legen hierbei den Fokus auf Textdaten und Informationen, die sich mithilfe automatisierter Verfahren der computergestützten Textanalyse gewinnen lassen. Sie belegen große Potenziale einer solchen Analyse und verweisen zugleich auf Anwendungsprobleme, die sich aus der Undurchschaubarkeit verwendeter und nur schwer prüfbarer Algorithmen für die Bewerter und deren Adressaten ergeben können. Nach ihrer Ansicht muss die Herstellung von Transparenz über Bewertungsprozess und Bewertungsannahmen noch an Bedeutung gewinnen.

In noch weiterer Zukunft bewegen sich Steffen Diel und Dirk Hachmeister mit ihrem Beitrag über den Einfluss der Digitalisierung auf konzerninterne Finanzplanungsprozesse als Basis einer Unternehmensbewertung. Sie beschreiben Aufbau und Funktion des SAP® Digital Boardroom, was eine Unternehmensbewertung auf Echtzeitdaten aufzusetzen erlaubt, aber zugleich umfangreiche Investitionen in Dateninfrastruktur auf Basis neuer Datenbanktechnologien bei Bewertungsobjekt und externem Bewerter voraussetzt. Für externe Bewerter werden zudem die Kenntnis und Beherrschung der angewendeten Prozesse nötig, was entsprechende Ausbildung und Teamzusammensetzung verlangt.

Mit digitalisiert unterstützter Peer-Group-Bestimmung und Beta-Anpassung beschäftigen sich Stefan Dierkes und Johannes Sümpelmann mit einem ebenso praktisch bedeutsamen wie fehleranfälligen weiteren Prozessschritt einer Unternehmensbewertung. Sie entwickeln ein klares Anforderungsprofil für eine digitalisierte Peer-Group-Bestimmung und Beta-Anpassung und vergleichen und beurteilen hierzu erstmals ausgewählte im Netz befindliche Unternehmensbewertungstools. Für die analysierten Softwareprogramme zeigen sie den jeweiligen Entwicklungsbedarf konkret auf.

Der Beitrag von Dirk Hachmeister und Fiona Ungemach setzt sich mit dem in vorausgehenden Beiträgen bereits oftmals thematisierten, aber nicht tiefergehend ausgeführten Einsatz stochastischer Simulationen im Rahmen der Unternehmensbewertung im Detail auseinander. Gezeigt werden die Vorbereitungen und Durchführungen solcher Simulationen und die damit erzielbaren, überzeugenden Vorteile.

Der letzte Beitrag von Dennis Ballwieser stellt insoweit eine Besonderheit dar, als er das Wort Unternehmenswert oder Unternehmensbewertung gar nicht verwendet, aber durch Diskussion der Auswirkungen der Digitalisierung auf Journale und Verlage die Disruption einer Branche und die damit verbundene Notwendigkeit der Suche und des Findens eines neuen Geschäftsmodells beispielhaft thematisiert. Er knüpft damit problemlos an die allgemeiner gehaltenen Ausführungen von Christian Büchelhofer an, ohne konkrete finanzielle Werttreiber zu behandeln.

Das vorliegende Werk geht auf eine Anregung unserer verehrten Lektorin, Frau Marita Mollenhauer, auf der Schmalenbach-Tagung am 26. April 2018 zurück, die, kaum ausgesprochen, bei den Herausgebern auf fruchtbaren Boden fiel. Das Konzept zu entwickeln und die geeigneten Autoren zur Teilnahme zu motivieren, fiel uns leicht, die Abgabe der Manuskripte konkurrierte mit den üblichen Belastungen. Wir als Herausgeber danken sehr herzlich allen Autoren für ihre großartige Unterstützung, Frau Carmen Bauer, M.Sc., und Herrn Andreas Hecht, M.A./Diplome Grande École, am Fachgebiet für Rechnungswesen und Finanzierung der Universität Hohenheim für ihre disziplinierte Auseinandersetzung mit den Manuskripten und Frau Claudia Knapp sowie Frau Marita Mollenhauer für die Geduld und Nerven bei der Drucklegung.

München und Hohenheim, Februar 2019

Wolfgang Ballwieser und Dirk Hachmeister

1 Digitalisierung als Chance, Schlagwort und empfundene Bedrohung

Digitalisierung ist ein schon lange bekannter Prozess, der vielfältige Vorteile für Produzenten, Konsumenten und Volkswirtschaften versprach und verspricht, dann zum allseits gebrauchten (und kaum mehr anzuhörenden) Schlagwort verkümmerte, um sich schließlich aus Sicht vieler Bürger zur gesellschaftlichen Bedrohung zu entwickeln. Und: Digitalisierung hatte, zumindest auf den ersten Blick, nur wenig mit Unternehmensbewertung zu tun. Diese Sicht hat sich heute gewandelt,1 und es ist unser Anliegen, diese Wandlung mit einigen wichtigen Implikationen plausibel zu machen und auf Lücken in Theorie und Praxis zur Unternehmensbewertung zu verweisen.

Mit Digitalisierung verbindet man die Aufbereitung von in analoger Form vorliegenden Informationen in ein digitales System, das nur aus diskreten Werten besteht, zum Zwecke ihrer Verarbeitung oder Speicherung. Die heutige Signaltechnik verarbeitet in der Regel nur binäre Signale (0,1 oder low, high).

Die breiten Wirkungen der Digitalisierung beschreibt Manfred Broy, Gründungspräsident des Zentrum Digitalisierung. Bayern (ZD.B) und Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (BAdW), unter dem Stichwort »Digitaler Wandel – Digitale Transformation« mit dem Satz: »Ausgelöst durch das exponentielle Wachstum, die Ortsungebundenheit, die schier unbegrenzten Einsatzmöglichkeiten, das Skalieren digitaler Technologien werden nachhaltige Veränderungsprozesse in Wirtschaft, Staatswesen, bei den Menschen im Verhalten und Bewusstsein angestoßen.«2

Zu diesem Wandel brauchte es insbesondere digitale Technologie, digitale Infrastruktur, digitale Applikationen und digitale Geschäftsmodelle. Die Vielzahl und die Details der den Wandel vorantreibenden Elemente können wir hier vernachlässigen, weil sie eher technischer Natur sind, mit Ausnahme der digitalen Geschäftsmodelle, die zentral für die Unternehmensbewertung erscheinen und auf die deshalb im folgenden Abschnitt zurückzukommen ist.

Einen ersten Eindruck über die Wirkung von Digitalisierung und Vernetzung als einem wichtigen Teil digitaler Infrastruktur vermittelt ein Blick auf das exponentielle Wachstum der Datenmengen im Zeitverlauf in Abbildung 1.

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Abb. 1: Das Wachstum der Datenmengen (Quelle: Broy, 2016, S. 4)

In dieser Abbildung sind auch schon viele Schlagworte enthalten, die man mit der Technik der Digitalisierung verbindet: Mobile Systeme, Big Data/Datability, Cloud Computing, Industrie 4.0 und IoT (Internet of Things). Diese Begriffe lassen sich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – beispielsweise leicht ergänzen durch 3D-Druck, Virtuelle Realität, Kontextbewusste Systeme, Künstliche Intelligenz oder Autonome Systeme.

Erkennbar wird eine Entwicklung, die nachhaltige Veränderungen in Wirtschaft und Staat auszulösen in der Lage ist, das Verhalten aller Akteure prägt und weiterhin prägen wird.

Die gesellschaftliche Bedrohung von Digitalisierung ist in erster Linie mit den Vokabeln Mensch oder Roboter und Zukunft der Arbeit verbunden. Hierzu haben insbesondere die seit 2013 publizierten Untersuchungen der Oxforder Professoren Carl Benedikt Frey und Michael A. Osborne zur Frage, welche Berufe durch Computerisierung ersetzt werden könnten,3 und die ebenfalls über mehrere Jahre entstandenen Studien von Daron Acemoglu und Pascual Restrepo, die negative Auswirkungen von Robotern auf Beschäftigung und Löhne in den USA feststellen,4 beigetragen. Tatsächlich ist aber zum einen anstelle von Berufen (jobs im Titel von Frey/Osborne) auf die durch Digitalisierung mögliche Substituierbarkeit von Tätigkeiten, die nur Teile von Berufen ausmachen können, und zum anderen auf die aufgrund von Digitalisierung neu geschaffenen oder verstärkten Tätigkeiten abzustellen. So hält beispielsweise Monika Schnitzer (nur) eine von sechs Tätigkeiten einer Restaurantfachfrau für automatisierbar, für eine Rechtsanwältin eine von drei.5 Volkswirtschaftlich interessiert der Nettoeffekt, unter Einbeziehung zahlreicher weiterer Faktoren wie demographischer Entwicklung, Produktivitätssteigerung, Lohnentwicklung und Einkommensverteilung. Individuell sind beachtliche Lern- und Umstellungsfähigkeiten verlangt,6 damit die Beschäftigungsquote nicht abnimmt.

Dietmar Harhoff relativiert außerdem die Übertragbarkeit der US-Daten auf Deutschland, wenn er für Deutschland Vorteile der dualen Berufsausbildung mit kontinuierlicher Anpassung der Berufsinhalte an den technologischen Wandel und etablierten Prozessen zur systematischen Fortentwicklung von betrieblichen und schulischen Curricula festhält und die Beschäftigung in Deutschland eher komplementär zum Einsatz neuer Technologien einschätzt.7

Man darf insoweit wohl Michael Eilfort und Bernd Raffelhüschen folgen, die im Vorwort einer aktuellen Studie von Fulko Lenz8 feststellen:

»Bei genauerem Hinsehen entpuppen sich Studien, die ein Ende ohne Arbeit prophezeien, als ein bestenfalls gut informierter Blick in die Glaskugel. In vielen Fällen wird lediglich ein technologisches Substitutionspotenzial beziffert, ohne jedoch entscheidende Arbeitsmarktdynamiken und gegenläufige Effekte wie die Entstehung ganz neuer Arbeitsplätze zu berücksichtigen. Zudem ist die Debatte um ein Ende der Arbeit keinesfalls neu, sondern begleitete stets auch vergangene Innovationsschübe. So zierte der arbeitsplatzstehlende Roboter unter der Überschrift ›Fortschritt macht arbeitslos‹ bereits 1978 das Titelbild des Spiegels. Bewahrheitet haben sich die Unkenrufe unterdessen nie. Ein wirtschaftshistorischer Rückblick zeigt, dass vielmehr das Gegenteil der Fall war: die Fähigkeit zum Wandel auf individueller und gesellschaftlicher Ebene hat nicht etwa trotz, sondern wegen technologischen Fortschritts Beschäftigung auch durch neue Arbeitsplätze gesichert und Wohlstand generiert.«

Das Thema der Bedrohung wird dennoch heute intensiv diskutiert. Ein ganz neuer Beitrag von Niels Geiger, Klaus Prettner und Johannes A. Schwarzer nimmt die Bedenken ernst, gibt den Stand der Diskussion wieder und gelangt nach einem Überblick über aktuelle theoretische und empirische Forschungsarbeiten zu einem insgesamt optimistischen Bild, auch wenn zu dessen Realisierung wirtschaftspolitische Maßnahmen geboten sind.9

Neben dieser Art gesellschaftlicher Bedrohung kommt die heute vielfach zu hörende Furcht vor undurchschaubaren, aber in vielfältigem Einsatz befindlichen Algorithmen als Bestandteil von Verfahren der Künstlichen Intelligenz. Mit Algorithmen unterstützte Systeme nutzen Verbraucher jeden Tag, wenn sie beispielsweise Navigationssysteme verwenden oder sich an Kaufempfehlungen von Amazon orientieren. Die hierzu nötigen Präferenz- und Verlaufsdatenauswertungen dürften viele Nutzer – unabhängig von ihrer Rechtsgrundlage und der Forderung nach informationeller Selbstbestimmung – als hilfreich ansehen. Diese Einschätzung kippt unseres Erachtens aber zu Recht spätestens dann, wenn die mit vielen Daten gefütterten Algorithmen gesellschaftlich brisante Entscheidungen prägen oder gar herbeiführen sollen, etwa die einer Kreditbewilligung oder einer Einschätzung der Rückfallwahrscheinlichkeit von Kriminellen. Die hiermit verbundenen Probleme seien im Folgenden durch ein bewusst umfangreiches Zitat aus einem Interview von Christina Bernd mit Katherina Zweig in der Süddeutschen Zeitung plausibel gemacht. Hier heißt es im Anschluss an die von Katherina Zweig zuvor geäußerte These, dass Algorithmen auch nicht frei von Fehlurteilen seien, in ungekürzter Frage- und Antwortform:

»Wie das?

In den USA wird bereits ein algorithmisches Entscheidungssystem vor Gericht angewandt. Dafür haben Bürgerrechtler lange gekämpft, weil Minderheiten in amerikanischen Gefängnissen deutlich überrepräsentiert sind. Deshalb entscheidet jetzt in mehreren Bundesstaaten ein System namens Compas mit, wenn es etwa darum geht, die Rückfallgefahr eines Straftäters einzuschätzen. Das Tragische ist: Auch Compas entscheidet zugunsten der weißen Bevölkerung.

Der Algorithmus ist doch kein Rassist?

Nein, natürlich nicht. Aber wie gut ein Algorithmus ist, hängt erstens von der Qualität der Daten ab, mit denen er gefüttert wird. Wenn die Daten nicht gut sind, kann der Algorithmus das Falsche daraus lernen. Und zweitens liegen jedem Schritt bei der Entwicklung eines Algorithmus Werturteile zugrunde. Weshalb wird das System überhaupt zu diesem Zweck entwickelt, welche Daten werden zur Analyse herangezogen, und welche Schritte bearbeitet der Algorithmus? Jede Entscheidung, die dabei getroffen wird, beruht auf einem Weltbild. Software ist letztlich die Übersetzung von sozialen Interessen, Wünschen und Konventionen in eine formale Sprache.

Was läuft also bei Compas schief?

Das System hat eine Menge an Daten über Kriminelle bekommen und weiß, wer nach Entlassung wieder eine Straftat begangen hat. Aus diesen Daten hat der Algorithmus gelernt, welche Eigenschaften darauf hindeuten, dass eine Person rückfällig wird.

Und dabei hat er die Hautfarbe entdeckt?

Nein, die ethnische Herkunft ist in den Daten gar nicht erfasst. Offenbar wirken sich soziale Ungleichheiten darauf aus, dass Schwarze eine schlechtere Bewertung bekommen. Es kommen Fragen vor wie: War Ihr Vater schon kriminell? Darf ein Mensch stehlen, wenn er Hunger hat? Und der Wärter wird gefragt: Glauben Sie, dass die Person ein Gangmitglied ist? GLAUBEN Sie …!

Also bräuchte man nur klarere Daten und bessere Entscheidungskriterien, dann gäbe es tolle algorithmische Richter?

In vielen Bereichen funktionieren gut gemachte Algorithmen. Vor Gericht bin ich da skeptisch. Da brauchen wir den menschlichen Faktor, keine entseelten Entscheidungen. Betrachten wir mal meine Lieblingsgeschichte aus der Bibel: das Urteil des König Salomon. Da bedroht ein Mann ein Baby mit dem Tod, um herauszukriegen, wer die Mutter ist. Das würden wir einer Maschine nicht erlauben. Außerdem können Algorithmen unser christliches Menschenbild nicht umsetzen: Nachsicht, Vergebung, zweite Chancen, Gnade.

Da Algorithmen mit Daten der Vergangenheit arbeiten: Könnte man nicht sagen, dass sie selbst vorurteilsbeladen sind?

Da ist etwas dran. Entweder werden Menschen nach ihrer eigenen Datenspur bewertet, die sie hinterlassen. Dann werden sie sozusagen an ihrer Vergangenheit festgenagelt, ihnen wird die Lernfähigkeit abgesprochen. Oder man bewertet Personen, indem man sie mit anderen vergleicht, deren Entwicklung man kennt. Dann stellt der Algorithmus fest: Oh, diese Person ist so ähnlich wie jene Leute, die alle rückfällig geworden oder der Bank Geld schuldig geblieben sind. Also wird diese Person ebenso handeln. Wollen wir Maschinen wirklich solche Schlüsse erlauben? Darüber müssen wir als Gesellschaft reden.«10

Uns interessiert im Folgenden hier nicht mehr die gesellschaftliche Diskussion, obwohl wir deren Notwendigkeit sehen und für ihre Ingangsetzung plädieren. Wohl aber sind mindestens die folgenden Stichworte, die in diesem Interview direkt oder indirekt aufscheinen, auch für die Unternehmensbewertung im Zusammenhang mit der Digitalisierung relevant:

Als eine erste Konsequenz lässt sich festhalten:

Wer mit Digitalisierung die Erwartung einer Automatisierung von Unternehmensbewertung (automated valuation) verbindet, dürfte falsch liegen. Es braucht den Menschen, der sich digital analysierter Komponenten und Daten bedient, aber auch ihre Ergebnisse zu würdigen und zu korrigieren versteht.

2 Digitalisierung und Unternehmensbewertung

Digitalisierung hat mehrere Verbindungen zu den Objekten und den gängigen Kalkülen der Unternehmensbewertung.11 Sie betreffen

  1. bestimmte Bewertungsobjekte, und hier insbesondere die Plattform-Ökonomie,
  2. den Bewertungsprozess, und hier insbesondere die Cashflow-Prognose und Risikoanalyse mit Bezügen zu den – auch bei der Digitalisierung zu hörenden – Schlagworten »Alles als ein Service« (»XaaS« als Kürzel für Anything as a service; Hauptbestandteile sind Software, Plattform und Infrastruktur) und »Mensch oder Roboter«, und
  3. die Gewinnung wichtiger Bewertungsparameter, und hier insbesondere die Diskontierungszinssätze mit erneuten Bezügen zu »Mensch oder Roboter«.

Ad a): Durch Digitalisierung und Vernetzung konnten Unternehmen neue Geschäftsmodelle generieren, wofür die Plattform-Unternehmen Amazon (IPO 1997), Google (IPO 2004), Facebook (IPO 2012), Airbnb oder Uber (beide noch ohne IPO) prominente Beispiele darstellen. Diese Unternehmen vermitteln Dienstleistungen an Kunden ohne eigene physische Produktion, ohne zum klassischen Einzelhandel oder Finanzdienstleistungsbereich zu gehören. Uber besitzt keine eigenen Autos, Airbnb besitzt keine eigenen Immobilien und Facebook erzeugt keine eigenen Inhalte. Ein weiteres neues Beispiel ist Evelozcity von Stefan Krause, Ulrich Kranz und Karl-Thomas Neumann. Die Gründer wollen neue E-Autos ohne Werke, Händler und Tausende von Mitarbeitern mittels Schnittstellen und Apps an große Flottenbetreiber und Technologiekonzerne vermitteln.12

Die Bilanzen dieser Plattform-Unternehmen weisen nur in geringem Umfang Sachanlagevermögen auf. Stattdessen sind immaterielle Vermögenswerte, speziell nicht aktivierte Lieferanten- und Kundenbeziehungen, die aufgrund der Auswertungsmöglichkeit großer Datenmengen geschaffen wurden oder geschaffen werden können, zentral.13

Plakativ verdeutlicht wird das durch eine Studie der Verteilung von materiellen und immateriellen Vermögenswerten in der Marktkapitalisierung der im S&P 500 enthaltenen Unternehmen, die allerdings nur aktivierte Vermögenswerte erfassen kann und insofern dem wirklichen »Asset« hinterherhinkt (Abb. 2).

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Abb. 2: Anteil immaterieller Werte an der Marktkapitalisierung von S&P 500 (Quelle: Ocean Tomo, 2017; auch in IDW, 2017, S. 12; berechnet wird der Wert durch Subtraktion des »net tangible asset value« von der Marktkapitalisierung)

Bezogen auf den S&P Europe 350 Index ergibt sich für die letzten 10 Jahre ein leicht verändertes Bild (Abb. 3):

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Abb. 3: Anteil immaterieller Werte an der Marktkapitalisierung von S&P Europe 350 (Quelle: Ocean Tomo, 2017)

Die Bewertung derartiger Dienstleistungsunternehmen mit den bekannten Ertragswertoder Discounted-Cashflow-Verfahren ist erschwert, weil die Unternehmen z. T. selbst nach mehrjähriger Tätigkeit hohe Verluste aufweisen und sich der Unternehmenswert aus zeitlich nachgelagerten, wenngleich hohen Ausschüttungserwartungen speist. Ausdruck dieser Ausschüttungserwartungen sind die hohen Börsen- oder Marktkapitalisierungen der bereits etablierten Plattform-Unternehmen.14 Wer die maßgeblichen Gründe für deren Aufstieg sucht, ist mit der Lektüre des Beitrags »Why Software is Eating the World« von Marc Andreessen, dem Mitgründer und Partner eines Venture Capital-Unternehmens, im Wall Street Journal auch Jahre nach seinem Erscheinen noch bestens bedient.15 Hier findet sich u. a. der mit vielen Beispielen aus verschiedensten Branchen belegte Satz: »Six decades into the computer revolution, four decades since the invention of the microprocessor, and two decades into the rise of the modern Internet, all of the technology required to transform industries through software finally works and can be widely delivered at global scale.«

Die Bewertung wäre selbst bei bereits bestehenden und börsennotierten Unternehmen nur dann einfach, wenn man sie mit der Marktkapitalisierung gleichsetzt. Das geschieht regelmäßig in empirischen Untersuchungen, weil andere Daten nicht zur Verfügung stehen. Diese Vorgehensweise verwischt aber zum einen den kritischen Unterschied von Wert und Preis16 und unterstellt zum anderen die empirisch nicht zu beobachtende Wertadditivität von Aktienkursen, um zum (stilisierten) Unternehmenspreis zu gelangen.17 Geht man über diese Einwendungen hinweg, lässt sich nur ein erster, sehr unvollständiger Eindruck von der Wertigkeit von wichtigen bekannten Plattform-Unternehmen gewinnen:

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Tab. 1: Unternehmenswert pro Endnutzer (Bezugsgröße: a: Anzahl monatliche aktive Nutzer (in Mio.); b: Jahresmittel aktive Nutzer (sog. monthly active users) weltweit (in Mio.); c: monatliche Nutzer (in Mio.); d: über Unternehmensakquisition generierter Wert). (Quelle: Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI), 2016, S. 66)

Als Schlussfolgerung gilt:

Die theoretisch wie praktisch bedeutsame Fragestellung lautet, wie sich solche Dienstleistungsunternehmen, speziell neue Plattformen oder Apps in Form von Start-ups, angemessen bewerten lassen.

Ad b): Eine zweite Auswirkung der Digitalisierung auf die Unternehmensbewertung betrifft den Prozess der Bewertung hinsichtlich einer Analyse der Marktposition des Bewertungsobjekts am Bewertungsstichtag (Lageanalyse im Anschluss an die Vergangenheitsanalyse) und seiner künftigen Veränderung (Strategieentwicklung) mit Auswirkung auf die zu erwartenden Cashflows.

Digitalisierung und Vernetzung schaffen nämlich »eine sehr bewegte Umwelt, die sich anhand von vier Merkmalen charakterisieren lässt: Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität. Man spricht von einer VUCA-Welt (Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity) (Bennet/Lemoine, 2014). Volatilität bedeutet, dass morgen nichts mehr so sein wird wie heute. Die Welt ändert sich ständig und mit sehr hoher Geschwindigkeit. Unsicherheit bedeutet, dass Entwicklungen nicht mehr prognostizierbar sind. Prognosen werden aufgrund der zahlreichen Interaktionen zwischen Menschen, Maschinen, Produkten (Dingen), Diensten, Daten und Algorithmen immer schwieriger. Komplexität steht für die Vielzahl an Objekten und Interaktionen sowie dafür, dass Objekte und Interaktionen jederzeit spontan hinzukommen und wegfallen können. Zuletzt bedeutet Ambiguität, dass sich aufgrund der ersten drei Merkmale Ursache und Wirkung nicht mehr eindeutig unterscheiden lassen, weil digitale und physische Welt miteinander verschmelzen – und weil der Vernetzungsgrad und die Vernetzungsgeschwindigkeit exponentiell zunehmen.«18

Die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) benennt in ihrem Gutachten von 2016 als Trends für die kommenden 10 bis 20 Jahre:

Unter Berücksichtigung dieser Eigenschaften und Erwartungen folgt:

Die theoretisch wie praktisch bedeutsame Frage lautet hier, wie die Digitalisierung die Einschätzung der Marktposition des Bewertungsobjekts, seine Strategieentwicklung, die Cashflow-Prognose und die Risikoanalyse, auch und gerade in Abgrenzung von Konkurrenzunternehmen, methodisch und inhaltlich unterstützen kann.

Hier ergibt sich u. a. die Möglichkeit des Anschlusses an Überlegungen vom Arbeitskreis Finanzierungsrechnung der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e. V., in dem die originäre Cashflow-Entwicklung mit den technischen Mitteln der Digitalisierung präferiert wird.20

»Das Management erhält im Wege einer originären Aufbereitung des Cashflows aus der laufenden Geschäftstätigkeit eine bessere Datenbasis, um Entwicklungen mit Hilfe von Predictive Analytics vorherzusehen. (…) In gleicher Weise lassen sich Analysen für bestimmte Kundensegmente oder geographische Regionen durchführen: Durch Business Analytics lassen sich Ursachen und Wechselwirkungen analysieren bzw. mit Machine Learning auch automatisiert herleiten. Nicht zuletzt ist perspektivisch eine Warnfunktion bei drohender Disruption erkennbar: Bei einem Clustering von Kunden oder Lieferanten kann Zahlungsverhalten gebündelt analysiert und können Trends vorzeitig und auf breiter Basis erkannt werden.«21

Ad c): Die dritte Auswirkung betrifft die Nutzung neuer Bewertungshilfen für Bewerter. Spezielle Unternehmen bieten im Netz Möglichkeiten der Unternehmensbewertung sowohl auf Basis von DCF-Verfahren als auch auf Basis von Marktmultiplikatoren an.22 Der Kunde gibt in Datenmasken z. B. die relevanten Cashflows ein und erhält nach dem Capital Asset Pricing Model (CAPM) additiv zusammengesetzte Diskontierungssätze, d. h. risikolosen Zins, Betafaktor und Marktrisikoprämie, ohne sich die Einzelheiten selbst suchen und nötige Umformungen selbst vornehmen zu müssen.

Da bei nicht im DAX 30 befindlichen Unternehmen meist der Rückgriff auf Peers nötig wird, um den Betafaktor zu bestimmen, und da hierbei Anpassungen der empirisch erhobenen Betafaktoren der Peers an den Verschuldungsgrad des Bewertungsobjekts nötig werden, ist sowohl die Datensuche (wer qualifiziert sich überhaupt als Peer?) als auch die Datenauswertung (insbesondere Betaschätzungen von Peers und deren Umformung) zeitaufwendig und fehlergefährdet.23 Eine Auslagerung dieser Arbeit an ein Dienstleistungsunternehmen, das hierzu Daten in Realzeit zur Verfügung stellt und Eingabe- und Umformungsmasken bereithält, ist für Kunden insoweit wertvoll. Die damit gebotenen Dienstleistungen gehen deutlich über – sowieso nur spärlich – im Markt öffentlich vorhandene Excel-Sheet-Programme hinaus.24

Wir folgern daraus:

Die theoretisch wie praktisch bedeutsame Frage lautet hier, welche Dienstleistungen hier für Bewertungen sinnvoll verwendet werden können und inwiefern diese die klassische Bewertung durch Wirtschaftsprüfer oder andere Spezialisten nur entlasten oder gar überflüssig werden lassen.

3 Digitalisierung und Unternehmensbewertung in der Literatur

Die Behandlung der oben genannten drei Fragestellungen im Zusammenhang mit der Digitalisierung in der Literatur ist noch stiefmütterlich. Zwar gibt es Literatur zur Bewertung junger Unternehmen,25 aber kaum etwas zur Bewertungstechnik und Bewertungsproblematik von Plattform-Unternehmen oder Apps, wenn man von Darstellungen wie derjenigen in Tabelle 1 absieht. Hier wird neben Kaufpreisen die Marktkapitalisierung als Wertmaßstab verwendet, was inhaltlich den diversen Bewertungszwecken allenfalls zufällig gerecht wird und darüber hinaus Börsennotierung verlangt. Wollte man die derart vorgenommene Wertzumessung auf nicht börsennotierte Unternehmen übertragen, könnte dies allenfalls durch Bezug auf Peers versucht werden. Dann stellt sich aber das Problem, dass diese bei den in Frage stehenden Unternehmen praktisch nicht zu finden sind. Man macht sich das leicht deutlich, wenn man beispielsweise versucht, einen Peer für Twitter oder Uber zu finden.

Als Bewertungskalküle sind Ertragswert- oder Discounted-Cashflow-Methoden sowie Multiplikatorverfahren in verschiedenen Zusammenhängen dominant,26 wobei Letztere große praktische Bedeutung haben, während sie von den meisten Theorievertretern angegriffen werden.27 Prüft man die Literatur zur Bewertung von Start-ups, findet man im Kern eine Kombination beider Methoden, aber mit anderer Schwerpunktsetzung als bei anderen Bewertungsanlässen und Bewertungszwecken. Die Bewertung erfolgt hier regelmäßig aus Sicht der Kapitalgeber, speziell von Venture-Capital-Unternehmen vor deren Einstieg (Pre-Money).28 Die sog. VC-Methode geht von der zu erzielenden Rendite des VC-Unternehmens aus.29 Dazu werden die beabsichtigte Haltedauer des Investments vorgegeben, ein Exit-Erlös beim Verkauf oder Börsengang des Investments in der Regel mit Hilfe von Multiplikatoren geschätzt und der Pre-Money-Wert so festgelegt, dass die geforderte Rendite zwischen Einstiegs- und Ausstiegszeitpunkt erwartungsgemäß erfüllt wird. Die Renditeforderung ist je nach Risikogehalt meist zwischen 25 % und 100 %. Ein einfaches Beispiel soll den Kalkül verdeutlichen:

Bei einer erwarteten fünfjährigen Haltedauer, einem erwarteten Verkaufspreis von 25 Mio. EUR, einem verlangten Investitionsbetrag von 1 Mio. EUR und einer geforderten Rendite von 25 % würde nach diesem Verfahren eine Beteiligung von rd. 12 % verlangt und sich ein Pre-Money-Wert von rd. 7,2 Mio. EUR und ein Post-Money-Wert von rd. 8,2 Mio. EUR ergeben. Die Beteiligungsquote resultiert aus dem Wert des Investments in t = 5 bei der geforderten Rendite von 25 % auf das Investment von 1 Mio. EUR, dividiert durch den erwarteten Verkaufspreis:

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Der Pre-Money-Wert resultiert als die mit der geforderten Rendite diskontierte Differenz aus erwartetem Verkaufspreis und Wert des Investments zum Verkaufszeitpunkt:

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Der Post-Money-Wert ergibt sich als der mit der geforderten Rendite diskontierte erwartete Verkaufspreis:

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Gibt es mehrere VC-Investoren, wird die Kapitalstruktur des Bewertungsobjekts sehr komplex, wobei jeder Investor in Abhängigkeit seiner Ansprüche einen eindeutigen Platz in deren Hierarchie erhalten muss, was in der Bewertung zu berücksichtigen ist und sie deutlich erschwert.30

Zwar wird zu Recht ausgeführt, dass in die Bewertung von Start-ups neben quantitativen Überlegungen auch qualitative Überlegungen einfließen,31 die das Bewertungsergebnis und die Beteiligungsquote beeinflussen, aber darauf müssen wir hier gar nicht weiter eingehen, weil bereits jetzt die Probleme einer Übertragung der VC-Methode auf Plattform-Unternehmen und Apps offenbar werden. Das Problem liegt erstens in der Exit-Preis-Bestimmung mit Multiplikatoren. Selbst wenn man – was zu bezweifeln ist – bei neuen Plattformen Peers findet und deren Multiplikatoren erheben kann, gelten diese nur für den Bewertungsstichtag, nicht aber ohne weiteres für den erwarteten Veräußerungszeitpunkt. Dieser ist darüber hinaus eine unsichere Größe. Zweitens sind geforderte Renditen subjektive Größen, was für individuelle Investitionskalküle eines Investors harmlos sein mag, aber bei Bewertungsanlässen und Bewertungszwecken, die ein gewisses Maß (oder mehr) an Objektivierung verlangen, schadet.

Interessant wäre es deshalb zu wissen, wie berichtete Werte von Apps zustande gekommen sind. So schreibt Björn Godenrath in der Börsen-Zeitung vom 12. Mai 2018:

»Die mit kostenfreiem Aktienhandel werbende US-Trading-App Robinhood hat eine Finanzierungsrunde über 363 Mill. Dollar abgeschlossen, um ihre Expansion beschleunigt fortzusetzen. Die Serie-D-Runde bewertet Robinhood mit 5,6 Mrd. Dollar. Damit ist die Bewertung ziemlich durch die Decke gegangen, nachdem im April 2017 ein Unternehmenswert von 1,3 Mrd. Dollar erreicht wurde.«32

Festzuhalten bleibt, dass die durch die Digitalisierung erst ermöglichten neuen Bewertungsobjekte in der Theorie und – soweit erkennbar – in der Praxis noch keine hinreichende Berücksichtigung gefunden haben. Das ist ein guter Grund, sich in diesem Buch damit zu beschäftigen.

Unsere zweite Frage lautet, wie die Digitalisierung die Einschätzung der Marktposition des Bewertungsobjekts, seine Strategieentwicklung, die Cashflow-Prognose und die Risikoanalyse methodisch und inhaltlich unterstützen kann.

Auch hier offenbart sich ein weitgehend leeres Feld. Denn nimmt man die oben auf den Seiten 21-23 beschriebenen Entwicklungen ernst, dann sind die bisher in der Literatur diskutierten Hilfsmittel zur Planung, wie sie beispielsweise von Hermann-Josef Ernst dargestellt werden,33 nicht ausreichend. Entsprechendes gilt für die Risikoanalyse, ungeachtet der Tatsache, dass viele Verfahren der Risikoanalyse und Risikoberücksichtigung – auch im Zusammenhang mit der Unternehmensbewertung – zu finden sind.34 Es fehlen selbst gute, i. S. v. hinreichend konkrete sowie theoretisch und empirisch fundierte Hinweise zur Ermittlung von Peers, die im Hinblick auf die Abschätzung des möglichen Konkurrenzverhaltens und dessen Auswirkungen auf die Prognose von Höhe und Risiko der Cashflows des Bewertungsobjekts dienlich sein könnten.35

Da davon auszugehen ist, dass das Bewertungsobjekt ebenso wie die Konkurrenten der digitalen Transformation unterliegen werden, sind die damit verbundenen Bereiche abzuprüfen. Hier können die von Henner Gimpel und Maximilian Röglinger herausgefundenen und in Abbildung 4 dargestellten Handlungsfelder einen ersten Eindruck vermitteln, auch wenn ihre inhaltliche Auffüllung nicht leichtfallen wird.

Unsere dritte Frage beschäftigt sich schließlich damit, welche digital zur Verfügung gestellten Dienstleistungen für die Bestimmung von Peers und die Komponenten des Zinsfußes für Bewertungen sinnvoll verwendet werden können und inwiefern diese die klassische Bewertung durch Wirtschaftsprüfer oder andere Spezialisten entlasten oder gar gefährden.

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Abb. 4: Handlungsfelder (Quelle: nach Gimpel/Röglinger, 2015, S. 9, wiedergegeben in Röglinger/Urbach, 2017, S. 6. Vgl. ferner Gimpel et al., 2018, S. 38)

Eine Auseinandersetzung mit dieser Frage können wir der bisherigen Literatur nicht entnehmen. Es fehlt hierzu aus unserer Sicht an einer Darstellung und kritischen Würdigung der im Markt befindlichen Angebote, z. B. von PwC und Valutico.36

Zu prüfen bleibt im Folgenden, wie das IDW mit der Frage umgeht. Nach Marc Castedello, Vorsitzender von dem IDW-zugehörigen Fachausschuss für Unternehmensbewertung und Betriebswirtschaft (FAUB), wirkt sich die Digitalisierung auf folgende Prozessschritte aus:

Castedello betont die Unsicherheit von Geschäftsmodellen, die Abnahme der Prognosefähigkeit ihrer Nachhaltigkeit und den zunehmenden Charakter von Unternehmen als Start-ups. Die Suche nach relevanten Werttreibern und die materielle Plausibilität werden so zum vorrangigen Aspekt der Bewertungstätigkeit. »Der Bewertungsalgorithmus tritt zunächst in den Hintergrund zugunsten der Fähigkeit der Transformation von Geschäftsmodellen und ihren Dynamiken in den Bewertungsalgorithmus.«38 Als Thesen hält er fest:

»Aufgrund der zunehmenden Veränderungsgeschwindigkeit der Marktgegebenheiten und mit ihr der verfügbaren Informationen steigt die Bedeutung des Stichtagsprinzips: Unternehmensbewertung soll die zu einem Stichtag vorhandenen Informationen zu einem Erwartungswert aggregieren.

Die Objektivierung steht vor neuen Herausforderungen, da Werte immer weniger durch das bestimmt werden, was bereits vorhanden ist, sondern immer mehr durch das ›noch Machbare‹, über welches aber stark divergierende Auffassungen bestehen.

Digitalisierung führt zu einer enormen Ausweitung des Möglichkeitsspektrums unternehmerischer Aktivitäten: Es konkurrieren eine Vielzahl von alternativen Gestaltungen von Geschäftsmodellen sowie der Verwendungs- und Kombinationsmöglichkeit von Daten. Da unterschiedliche Marktteilnehmer sehr unterschiedliche Erwartungen daraus ableiten können, werden die subjektiven Werte i. S. von Entscheidungswerten stärker streuen als in der Vergangenheit.

Dies wird zu einer größeren Bandbreite beobachtbarer Marktpreise führen. Gezahlte Preise eines Marktteilnehmers werden weniger relevant für einen anderen Marktteilnehmer.

Möglicherweise ist der empirische Dateninput für unsere klassischen Risikomodelle zu überdenken. Eine alleinige Risikomessung über Kapitalmarktdaten setzt voraus, dass sämtliche Geschäftsmodelle bereits in ausreichender Zahl in den Marktparametern abgebildet sind, folglich immer eine vergleichbare Peer Group existiert. Dies scheint aber immer seltener der Fall zu sein.«39

Diese Schlussfolgerungen sind unseres Erachtens nicht nur plausibel. Sie kommen vielmehr auch an von Theoretikern seit Langem herausgestellte Eigenschaften einer Unternehmensbewertung heran, als da sind:

Dies führt zu folgender, durchaus etwas überraschender Schlussfolgerung:

Die Digitalisierung mit ihren neuen Geschäftsmodellen, Konkurrenzsituationen und Chancen wie Bedrohungen führt insofern zur Reaktivierung bereits vorhandenen, wenn auch oftmals verdrängten Wissens. Das heißt freilich nicht, dass die Bewertung dadurch einfacher wird.

Während das IDW die ersten drei Punkte in seinen Standards und in deren Erläuterungen ebenfalls thematisiert,41 auch wenn eine explizite Erwartungswertbildung nur selten in praxi zu sehen ist, haben sich unseres Erachtens die letzten drei Punkte noch nicht darin niedergeschlagen.

Das IDW Positionspapier vom Oktober 2017 korrespondiert mit den Thesen von Marc Castedello, wenn seine Autoren festhalten, dass die Vergangenheitsanalyse nicht mehr geeignet sei, belastbare Prognosen für die Zukunft zu liefern, für die Planungsrechnung Szenarioanalysen empfehlen und es als fraglich bezeichnen, ob mittels CAPM »ein für das künftige Risiko repräsentativer Risikozuschlag ermittelt werden kann«.42 Das Positionspapier bringt ferner eine möglicherweise gebotene Konvergenzphase zum Übergang von der Detailplanungsphase in die Fortführungsphase ins Spiel, sprich: ein Drei- statt Zwei-Phasen-Modell.43 Das passt zur von Andreas Mackenstedt, André Menze und Frederic Werner geäußerten These »Die Digitalisierung bedeutet das ›Aus‹ für den Detailplanungszeitraum und die ewige Rente«.44 Das erscheint sympathisch.45

4 Schlussfolgerungen

Die Digitalisierung wird die Kalküle zur Unternehmensbewertung selbst nicht verändern. Diese Kalküle werden aber mit vielen Schätzgrößen und Bewertungsparametern gefüllt. Die Möglichkeiten, diese Schätzgrößen und Parameter zu gewinnen, beeinflusst die Digitalisierung in einem vorher unbekannten und unvorstellbaren Ausmaß. Datenfülle ist per se aber noch kein Qualitätsmerkmal. Das heißt zum einen, dass die Unternehmensbewerter in ihrem Team von Personen unterstützt werden müssen, die ein sehr gutes Verständnis für die Datengewinnung und -verarbeitung aufweisen. »In zehn Jahren sitzt als Verhandlungspartner bei M&A-Transaktionen ein Data-Scientist am Tisch« lautet eine These von Mackenstedt/Menze/Werner,46 für die sehr viel spricht. Zum anderen wird es nötig sein, die Datenfülle angemessen auf das Wesentliche zu komprimieren, ohne Substanzverlust zu erleiden. Nicht alles quantitativ Erhobene ist qualitativ wertvoll. Komplexitätsreduktion ist ein Wort, das Unternehmensbewertungen seit Jahrzehnten begleitet. Es bleibt uns erhalten, auch – und gerade – im Zeitalter der Digitalisierung.