Die Chronik der

Daemonenfuersten

 

Teil 3

 

Der Krieg der Cherubim

 

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Urban Dark Fantasy Roman von

Monika Grasl

 

Alle Rechte vorbehalten.

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Die Namen und Handlungen sind frei erfunden.

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Erste Auflage 2018

© Monika Grasl

© Coverbild: Fotolia Dusan Kostic

Covergestaltung: Verlag der Schatten

© Engelsflügel: Fotolia Sushi, © Schwerter: Fotolia Elnur

© Symbol Ose, Amymon, Karte: VdS

© Fotos: Depositphotos maxxyustas (Karte), Fotolia LeitnerR (Bücher), stra74 (zerstörter Ort), Maroš Markovič (Gloriette), Misha (Sandrea), JulietPhotography (Kensington Garden)

© Monika Grasl (Altar, Autorenfoto)

Lektorat: Verlag der Schatten

© Verlag der Schatten, D-74594 Kreßberg-Mariäkappel

ISBN: 978-3-946381-57-0

Zehn Jahre sind seit Salomos Tod vergangen. Die Großfürsten und die Menschen haben sich arrangiert und leben einigermaßen friedlich miteinander.

Da ist es Prinz Seere, der einen erneuten Krieg zwischen den Dämonen und den Cherubim riskiert.

Ist die Welt wegen eines Versprechens dem Untergang geweiht?

 

 

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Inhalt

 

 

Seere

Vincent

Michael

Seere

Decarabia

Vincent

Michael

Seere

Chris

Michael

Seere

Marbas

Perla

Michael

Decarabia

Vincent

Michael

Marbas

Decarabia

Vincent

Seere

Vincent

Decarabia

Vincent

Autorenvorstellung

Vorschau


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So viele Jahrhunderte haben wir gewartet, nun ist es an uns, dem Schrecken dieser Welt ein Ende zu setzen.

 

Die Cherubim

 

 

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Seere

 

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Es kam ihm noch immer wie ein Wunder vor, dass sie lebten. Dass sie noch immer auf dieser Welt wandelten. Für Seere jedenfalls war es so. Seine Augen huschten bei dem Gedanken zu Perla. Die Heilerin eilte zwischen den Krankenlagern umher. Chris hatte recht gehabt. Perla war wirklich damit beschäftigt, sämtliche Heiler in London zu übertrumpfen. Zudem hielt sie ihnen unter die Nase, was sie alles falsch machten. Amymon würde ihn sicher noch in dieser Woche zu sich zitieren, damit er Perla wieder bremste. Die Aussicht auf Erfolg – und das wussten sie beide – wäre jedoch mehr als gering. Höchstens eine Woche und seine Geliebte würde erneut in alte Verhaltensmuster verfallen.

Unverhofft stieg ihm der Geruch nach Sandelholz in die Nase. Er blickte zu dem Hund hinab. Warum Perla darauf bestanden hatte, ihn mitzunehmen, verstand Seere auch jetzt noch nicht. Zumindest redete er sich das ein. Die Wahrheit lag auf der Hand. Er hatte ihr in einem schwachen Moment erzählt, was es mit dem Köter auf sich hatte. Und Perla – so weichherzig, wie sie war – hatte Seere um den Finger gewickelt. War das aber so erstaunlich? Wenn einem diese Frau auf dem Schoß saß, fiel das Denken bedeutend schwerer.

Zeitgleich erschloss sich ihm die Erkenntnis, dass er keinem anderen Menschen davon erzählen könnte. Nicht mal jetzt, wo die Sklaverei abgeschafft worden war. Die Leute waren noch immer misstrauisch, sobald ein Dämonenfürst Großzügigkeit walten ließ. Und noch weniger würden sie verstehen, warum er das getan hatte: einen Engel des Todes in den Körper eines Hundes gesperrt. Nur damit der nicht starb.

Die Vorstellung ließ ihn unerwartet lachen. Er konnte es nicht verhindern. Was seine beiden infernalischen Dämonen dazu trieb, ihn verwundert anzublicken. Keiner sagte was. Warum auch? Er war der Prinz unter den zweiundsiebzig Großfürsten. Wenn er von ihnen verlangt hätte, sich auf der Stelle umzubringen, würde das auch keiner hinterfragen. Nur war Seere kein solcher Großfürst. Ihm hatte der Krieg gegen Salomo vor zehn Jahren gereicht. Die Erinnerung daran zerrte noch heute an seinen Nerven.

»Na«, murmelte er an den Hund gewandt, »treibst du dich auch wieder mal hier rum?«

Die Frage war verlorene Liebesmühe. Seit er die Gestalt mit sich führte, hatte sie noch nie gesprochen. Obwohl es der Köter durchaus vermochte. Immerhin redete er oft genug im Schlaf oder mit Perla. Aber mit ihm zu sprechen, schien Vincent für unter seiner Würde zu halten. Undankbares Geschöpf!

»Also keine Antwort, hm?«

Ein plötzliches Knurren war die einzige Reaktion.

»Eigentlich müsstest du mir dankbar sein, Vincent. Ich habe dir dein beschissenes Leben gerettet. Du weißt so gut wie ich, dass dich Azrael hätte sterben lassen. Ohne mich würde deine Seele heute irgendwo in der Hölle herumhängen. Immerhin bist du für das Paradies nicht gerade geeignet.«

Bevor das Tier einen weiteren Laut von sich geben konnte, trat Perla näher. Sie beugte sich zu dem Köter hinunter und kraulte ihn zwischen den Ohren.

»Na, mein Großer«, begrüßte sie ihn lächelnd, ehe sie sich Seere zuwandte. »Wir können.«

»Bist du sicher? Das Gleiche hast du schon vor einer Stunde gesagt.«

Das Lächeln verschwand augenblicklich aus ihrem Gesicht. Es veranlasste Seere dazu, zurückzuweichen. In den letzten Monaten war Perla unberechenbar geworden. Vermutlich lag es an ihrem Zustand. Jedenfalls war es durchaus ratsam, vorsichtig zu sein. Selbst der Hund drängte sich nun hinter ihn. Und die im Kampf erprobten Dämonen sahen überallhin, nur nicht zu ihnen. Was deutlich genug zeigte, wie sehr ihnen Perla Angst einjagte. Nur zugeben würde es keiner von ihnen – niemals.

»Was passt dir nicht, Seere?«

»Gar nichts. Es ist nur …«

»Nur was?«

Seine Augen huschten zu ihrem Bauch. Wenigstens musste er es nicht in Worte fassen. Das machte die Sache nur leider nicht besser.

»Ich bin schwanger, Seere, nicht krank. Glaubst du etwa, ich bin die erste Frau auf der Welt, die ein Kind kriegt?«

Die erste durchaus nicht, aber wer wusste schon, über welche Fähigkeiten das Ungeborene bereits verfügte. Nicht mal Amymon getraute sich das einzuschätzen. Es bestand nämlich durchaus die Möglichkeit, dass in gewissen Moment gar nicht Perla sprach, sondern das Baby in ihr.

»Nein, aber …«

»Komm mir jetzt nicht mit dem Scheiß«, keifte sie ihn an. »Ich weiß besser als du, was ich mir zumuten kann.« Damit wandte sie sich ab und ließ ihn stehen.

Seere war kein Idiot. Er wusste, dass Perla recht hatte. Er machte sich dennoch Sorgen. Sie war ja keineswegs die erste Frau, die ein Kind von einem Großfürsten erwartete. Nur war bei den Geburten bisher jedes Mal etwas schiefgelaufen.

Zudem plagte Seere seit einiger Zeit eine weitere Sorge. Er musste Vincent loswerden. Auf Amymons Geheiß hin. Der Großfürst wollte den Engel des Todes nicht länger in seiner Nähe dulden. Wie er diesen Umstand Perla erklären sollte, war ihm jedoch schleierhaft. Die Heilerin wäre dazu imstande, sich mit Amymon anzulegen. Wie sie es bereits seit ihrem Auftauchen in London handhabte. Mit dem Unterschied, dass sein Gönner darüber nicht amüsiert wäre. Er würde Perla hängen lassen. Und Seere könnte es nicht einmal verhindern.

Seine Augen glitten ein weiteres Mal zu dem Hund. »Ich bereue es ehrlich gesagt bis heute, dass ich dich auf die verfluchte Straße gesetzt habe. Wobei ich anmerken möchte, dass du die klare Anweisung hattest, dich unauffällig zu verhalten. Unauffällig, Vincent.«

»Es vergeht kein Tag, an dem ich das nicht auch bereue.«

»Was bei Luzifers verdammtem Arsch …?«

»Ja was, hm? Ist schockierend, oder? … Scheiße, ich hasse diese Flöhe.«

Verzweifelt kratzte sich der Hund hinter dem Ohr. Seere hingegen starrte fassungslos auf Vincent hinunter, der doch sonst auch darauf verzichtete, einen Ton von sich zugeben. Bei ihm zumindest.

»Das glaub ich jetzt nicht. … Du hast bisher nie ein Wort zu mir gesagt!«

»Immer leise, du Idiot. Wir sind hier nicht allein.«

Seere blickte sich unauffällig um. Die Dämonen beobachten ihn argwöhnisch. Ob sie Vincent gehört hatten? Ihre leuchtenden Augen jedenfalls ruhten auf dem Hund. Das sicherste Zeichen dafür, dass es der Fall war.

»Was ist? Habt ihr nichts zu tun? Los, verschwindet hinüber zum Hyde Park. Die Leute dort haben einen Befall von Heuschrecken beim Mais, also macht euch nützlich.«

»Natürlich, Prinz.«

Die beiden Dämonen machten sich sogleich auf den Weg. Bis sie von Covent Garden aus dort eintreffen würden, würden die Heuschrecken zwar weitergezogen sein, wenigstens könnten die Leute aber sehen, dass die Dämonen auch zu helfen bereit waren und nicht nur töten und zerstören konnten.

»Natürlich, Prinz«, äffte Vincent den Dämon nach. »Arschkriecher, allesamt.«

»Schnauze«, zischte Seere. »Komm mit! Wir reden woanders weiter.«

Der Hund folgte ihm, ohne viel Aufsehen zu erregen, zurück in die Saint Pauls Cathedral. Von Covent Garden aus machten sie sich auf den Weg. Dabei hielt sich Seere nahe der Themse. Leichter Regen setzte ein, als sie durch den Bezirk Holborn kamen. Hier hatte sich einer der Zugänge zur Untergrundbewegung befunden, als diese noch existierte. Nach Salomos Tod lösten sich die Widerstandsbewegungen nach und nach auf. Die Leute sahen ein, dass es gegen die Großfürsten keinen Sieg geben konnte. Und bevor die Menschen im Dreck leben mussten, arrangierten sie sich mit den Gegebenheiten. Nur hieß das nicht, dass nicht noch immer einige Gruppen durch die Gegend zogen. Richtig überzeugt waren die Wenigsten von der Abschaffung der Sklaverei. Manche behaupteten sogar, dass sich die Großfürsten einfach nur dazu herabgelassen hatten, die Sklaverei gegen Dienerschaft auszutauschen. Die Änderung eines Wortes. Doch viele davon vergaßen, dass eine überwiegende Mehrheit mit der Freiheit auch nichts anfangen konnte. Aber diese Gruppen wurden kleiner. Und somit auch der Unmut, der dadurch entstand.

Seere jedenfalls machte sich um diesen noch von mehr Gewalt geprägten Bezirk keine Sorgen – auch nicht um Perla, die bereits vor ihnen aufgebrochen war. Würde ihr irgendwer dumm kommen, wüsste sie sich zu verteidigen. Und für den Fall eines Angriffes waren da die Dämonen, die ihr Seere heimlich mit auf den Weg gegeben hatte. Von denen die Heilerin aber vermutlich sowieso wusste. Seine Freundin hatte dafür einen geübten Blick, und seine Dämonen waren nicht gerade die unauffälligsten mit ihren flammenden Schwertern und dem schwefelartigen Gestank, der bei ihrem Auftauchen in der Luft lag.

 

Sie kamen vor der Kathedrale zum Stehen. Viel war davon nicht erhalten geblieben. Nur die Westfassade. Die Kuppel sowie ein großer Teil des restlichen Gebäudes waren vor langer Zeit eingestürzt. Ein paar Nebenräume gab es noch, von denen Seere und Perla einen bewohnten. Der Rest wurde langsam neu aufgebaut. Aber es würde noch Jahrzehnte dauern, bis alles so aussah wie vor dem Krieg.

Gemeinsam betraten sie das Innere und schritten den Kirchengang bis zu dem verfallenen Altar entlang. Der Hund sprang zu ihm auf die vorderste Kirchenbank, als er sich darauf niederließ.

»Na gut«, begann Seere. »Warum jetzt?«

»Du hast mir etwas versprochen. Wenn ich dir helfe, dann machst du das Gleiche für mich. Mehr verlange ich nicht. Du hast nämlich keine Ahnung, wie sehr mir der Körper auf den Sack geht.«

»Du weißt, dass ich dir deine alte Gestalt wieder geben würde, wenn ich könnte. Aber das ist nicht so einfach, wie du dir das vorstellst, Vincent.«

»Ist mir egal! Ich bin diesen Flohkörper so was von leid, das kannst du dir nicht vorstellen. Und jetzt hilf mir!«

Seere überdachte seine Möglichkeiten. Es gab nur zwei. Aber beide würden einen Krieg heraufbeschwören. Bei der einen Variante würde Seere einen Krieg zwischen den Großfürsten und den Cherubim auslösen. Bei der anderen einen internen Kampf zwischen Amymon und seinem ärgsten Feind. Das war, als müsste man zwischen Pest und Cholera wählen. Und Seere war überzeugt, dass er bei der einen genauso wie bei der anderen Möglichkeit seinen Kopf hinhalten müsste. Wobei ein interner Krieg die Fronten endlich klären könnte. Nur, was würde es bringen?

Er schüttelte den Kopf und murmelte: »Ich muss mit Amymon reden. Vielleicht hat er einen Rat.«

Vincent kratzte sich erneut. »Ist mir recht. Solange du dich an dein Wort hältst.«

Seere nickte bedächtig. Er verstand die Seele, die in dem Hund gefangen war. Er konnte begreifen, was die Kreatur – dieser ehemalige Engel des Todes – empfand. Abscheu. Hass auf sich selbst und vermutlich auch auf die Menschheit. Und seine Abneigung gegen Seere war mehr als gerechtfertigt.

Er ertrug Vincents Gegenwart nicht länger und begab sich durch die Seitentür zu den einstigen Wohnräumen. Sie hatten früher vermutlich dem Bischof von Saint Pauls gehört.

Beim Eintreten musterte er Perla, die über einer Näharbeit saß.

»Au!«, fluchte die Heilerin mürrisch, steckte sich den verletzten Finger in den Mund und saugte daran.

Der Anblick hatte etwas. Aber Seere musste sich auf seine derzeitige Aufgabe konzentrieren. Somit begann er die halb zerfallene Kommode zu durchwühlen.

»Seere? Was suchst du?«

Er musste den Gegenstand finden. Ansonsten würde Amymon ihn nicht anhören und gleich durch die geschlossene Tür zurück in die Hölle befördern. Vincent würde dann nur mehr einen Dreck auf sein Wort geben.

»Seere, sag mir, was du suchst!«

»Die Phiole, wo ist sie, Perla?«

Die Heilerin stand auf und schritt auf eine Truhe zu, deren Deckel sie sogleich öffnete. »Hier!«, entgegnete sie und hielt ihm den gesuchten Gegenstand vor die Nase. »Was hast du damit vor?«

Er nahm ihr das Ding ab, während er erwiderte: »Mein Versprechen einlösen.«

»Und du glaubst, jetzt ist der richtige Zeitpunkt? Gerade jetzt? Genau jetzt, wo sich alles endlich irgendwie normalisiert hat? Es könnte einen erneuten Krieg auslösen, das hast du selbst gesagt, Seere. Amymon wird davon sicher nicht begeistert sein, also überleg es dir gut.«

»Das habe ich!«

Seine Reaktion war heftiger als beabsichtigt. Das zeigte Perlas starrer Blick sehr deutlich. Zudem wich sie einen Schritt zurück. Ob sie zum ersten Mal wirklich Furcht vor ihm verspürte? Oder war es doch nur ein natürlicher Reflex? Ihre Augen jedenfalls sagten etwas anderes. Sie würde ihm gleich den Arsch aufreißen, wenn er sich nicht zügelte.

»Entschuldige, Perla. Ich … will ihm doch nur helfen.«

»Ist mir klar, Seere. Aber allein wird dir das nicht gelingen. Du wirst Hilfe dabei brauchen.«

»Ich weiß.«

»Eine andere als meine. Eine weitaus mächtigere Hilfe.«

»Ist mir klar.«

»Dann mach es. Ich werde dich nicht aufhalten, das weißt du. Immerhin verdanken wir Vincent viel. Und er hat ein Anrecht darauf, sein Glück zu finden.«

Zufrieden nickte er. Es war das erste Mal, dass sie nicht daran teilhaben würde. Dass sie sich nicht einmischen würde. Und in ihrer derzeitigen Verfassung war ihm das durchaus recht. Nun gab es nur noch einen, den er überzeugen musste: Amymon. Wobei er hoffte, dass der Großfürst bereit wäre, ihn für einige Zeit aus seinen Diensten zu entlassen.

 

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Vincent

 

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Er saß noch immer in der Kirche. Ob Gott ihn auf der Stelle niederstrecken würde, wenn er jetzt gegen den Altar pinkelte? Ein Risiko, das er eingehen musste.

Während er sich erleichterte, schweifte sein Blick zu der verfallenen Statue des Michael. Es war ein Witz, wenn man es genau bedachte. Jahrzehntelang hatte er die Leichen – die von den Großfürsten und auch von den Cherubim verursacht worden waren – abgeholt. Nie hatte er sich dabei um irgendeine Seite geschert. Sogar Azrael war überzeugt gewesen, dass die Engel des Todes über solchen Dingen standen. Aber eines hatten sie alle verdrängt: die Menschen. Mit ihren Waffen und ihrem Verhalten stellten sie eine weit größere Bedrohung dar als die Großfürsten. Was angesichts der damaligen Lage durchaus was heißen wollte.

Noch gut konnte sich Vincent an den Tag erinnern. Es hatte die übliche Stille nach den Kämpfen geherrscht, und die Gelegenheit war da gewesen, die Seelen einzusammeln. Es war kein Vergleich zu den früheren Wegbegleitungen. Irgendwann war es nur noch darum gegangen, die Seelen nicht ziellos umherwandern zu lassen, sondern ihnen den Weg in den Garten Eden zu zeigen, damit sie endlich Frieden finden konnten.

Vincent versetzte sich zurück an den Ort. Breslau musste es gewesen sein. Sicher war er sich jedoch nicht. Die Erinnerung existierte mittlerweile nur noch verschwommen. Was er jedoch ganz klar vor sich sah, waren die zerfetzten Körper. Blut, Eingeweide und Knochen. Die Ebene war damit übersät gewesen. Und unter all den Toten: Sandrea. Inmitten der Verstorbenen war sie aufgespießt. Ihre Augenhöhlen starrten leer zu ihm hinab. Irgendwer fand es wohl lustig, dem Engel des Todes die Augen auszubrennen. Sie hatte noch gelebt.

Entgegen allen Regeln hatte Vincent dumm gehandelt. Er war zu ihr gelaufen. Über den matschigen Boden hinweg, durch den Regen. Ihm waren die verräterischen Rillen im Boden gar nicht aufgefallen. Erst als er unmittelbar vor ihrem Körper stand, war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen. Es war zu spät gewesen.

Selbst jetzt noch konnte er die wilden Schreie in seinen Ohren hören. Diese Menschen, die aus den Gruben gesprungen waren! Dabei bildete er sich ein, den Schmerz erneut zu fühlen. Als könnte er spüren, wie man ihn gefangen nahm.

Man hatte ihn in ein Dorf geschleppt. Und da hatte er sie gesehen: die Kinder. Ihre wutverzerrten Gesichter waren über ihn hinweggelitten, als er in eine Hütte geworfen worden war. Doch damit hatte es erst angefangen.

Jemand war ihm auf die Hand gestiegen, hatte seine Finger gebrochen. Ein anderer war mit einem glühenden Eisen auf ihn losgegangen. Der Geruch von verbranntem Fleisch hatte in der Luft gelegen. Und dann die Fußtritte. Irgendwer hatte ihm ständig in die Rippen getreten. Dann war der Dolch gekommen. Die Stiche hatte er irgendwann nicht mehr gespürt. Letztlich war die schlimmste aller Erniedrigungen über ihn gekommen. Die Axt, die seine Flügel abgeschlagen hatte. Auch jetzt, nach gut tausendvierhundertdreißig Jahren, konnte er seine eigene Stimme hören. Seinen gellenden Schrei, der einfach nicht enden wollte. Hörte die Beschimpfungen und Verwünschungen, die er ausstieß. Nur gut, dass er sich nicht mehr an alle Gesichter erinnern konnte. Lediglich eines sah er noch vor sich. Ein ausgemergelter Kerl, der nichts anderes getan hatte, als ständig die Kerzen zu erneuern. Die Erinnerung daran ließ Vincent erschaudern.

Wie lange die Folter gedauert hatte, konnte er nicht sagen. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Ob es die Siedlung heute noch gab? Wäre er in der Lage, den Ort wiederzufinden? Ob er das überhaupt wollte?

Es war eigentlich egal. Er war nicht dort gestorben, obwohl man ihn im Wald zum Sterben zurückgelassen hatte.

Der Hass, den er heute noch spürte, ließ sich nicht verdrängen. Die Menschen waren die schlimmsten Kreaturen im damaligen Krieg gewesen. Dabei hatte er mit all dem nichts zu schaffen gehabt. Evy hatte sich für die Verhinderung dieses Krieges sogar geopfert – und jetzt war das alles nichts mehr wert.

Noch viel schwerer jedoch drückte Azraels Verrat auf Vincents Schultern. Der Todesengel hatte nicht mal nach ihm suchen lassen. Ganz zu schweigen davon, dass er sich selbst auf den Weg gemacht hätte. Wozu auch? Dazu hätte er seinen Arsch aus Gottes Reich schwingen müssen. Und solange Michael ihm nicht in den Hintern trat, machte dieser Verräter nicht einen Finger krumm!

Letztlich verdankte er es Seere, dass er noch lebte. Wäre der Prinz nicht zu dem Zeitpunkt an genau der Stelle aufgetaucht, würde er heute nicht mehr leben. Ironie des Schicksals war es wohl, dass der Prinz einen toten Hund begraben wollte. Warum? Das wusste Vincent nicht. Er hatte nie gefragt. Auch war ihm unklar, wieso Seere ihn gerettet hatte. Vielleicht weil er einer der Wenigen war, die wirklich eine Abneigung gegen den Krieg hegten. Eine Seltenheit unter den Großfürsten.

Jedenfalls hatte er Vincents Seele in den leblosen Hundekörper geleitet. Dazu noch einen Teil seiner Macht, was den penetranten Geruch von Sandelholz erklärte. Seere umgab der Duft wie eine Wolke.

Vincent war versprochen worden, dass er seine einstige Gestalt zurückbekäme, wenn er den Prinzen begleitete. Für ihn Botschaften überbrachte … Letztlich hatte er seine größte Stunde vor zehn Jahren gehabt, als er in Perlas Nähe geblieben war. Nicht dass er eine wirkliche Hilfe für sie gewesen war – sah man von den Kindern ab, die er nach Breslau leitete. Aber er hatte sich seine Erlösung durchaus verdient. Was hätte er die ganze Zeit über auch machen sollen? In dieser Gestalt war er aufgeschmissen. Andererseits fragte er sich, ob es nicht auch ein grausamer Scherz gewesen war. Er hatte schon als Mensch Hunde gehasst. Als Engel war das nicht besser geworden und jetzt musste er als ein solcher herumrennen.

Bekümmert legte sich Vincent unter die Kirchenbank. Er hatte die Tür im Blick, wodurch ihm nicht entging, wie Seere aus dem Gebäude eilte. In seiner Hand baumelte dabei ein Gegenstand an einem Lederband. Ein Ding, das sich unmöglich im Besitz des Prinzen befinden konnte. Vincent war davon überzeugt, dass es ihm einer der Menschen aus dem Dorf damals vom Hals gerissen hatte. Also, wie war es in dessen Besitz gekommen? Und wo wollte er jetzt damit hin?

 

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Michael

 

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Es war für den Cherub wenig erstaunlich, dass sich die Welt in einem stetigen Wandel befand. Noch weniger dass die Menschen wohl endgültig ihren Glauben an Gott verloren hatten. Und trotzdem. Irgendwo in dieser Menge aus verkommenen Seelen, die auf der Erde wandelten, konnte er ihn fühlen. Diesen kleinen Funken Hoffnung. Diese Stimme, die gelegentlich nach Gott und seinen Engeln fragte. Solche Stimmen gab es zwar öfter, sie waren es aber selten wert, darauf zu achten. Diese war anders. Intensiver. Durchdringender. Und so ganz und gar nicht menschlich. Also durchaus würdig, einen Blick zu riskieren.

Michael befand sich an einem für ihn zentralen Punkt. Mitten in Paris und genau auf dem nördlichen Turm Notre Dames – alles, was von der Kathedrale übrig geblieben war. Sein Blick schweifte in die Ferne auf der Suche nach dieser drängenden Stimme. Dann fand er sie. In der Saint Pauls Cathedral. Was er da aber sah, war grotesk. Ein Hund, der gegen einen Altar pinkelte und sich über Gott ausließ.

»Was soll …?« Der Cherub stockte. Er kannte diese Präsenz. Seit Jahren hatte er sie nicht mehr verspürt. Nur unterschwellig, wenn er sich mal dazu herabgelassen hatte, die Erde zu betreten. Aber jetzt war sie ganz deutlich. Ein Umstand, der kaum möglich sein konnte. Schließlich hatte Azrael ihm versichert, dass der Engel des Todes nicht mehr am Leben sei. Entweder hatte der Todesengel ihn also belogen, oder das hier war nicht Vincent. Immerhin war das ein verlauster Straßenhund.

»Das kann doch nicht sein«, murmelte er vor sich hin.

Der Sachverhalt bedurfte eindeutig der Klärung, und Michael wusste sofort, an wen er sich wenden musste. Seine Flügel breiteten sich geräuschvoll aus, ehe er sich in die Lüfte erhob.

 

Es dauerte nicht lange, bis er im Paradies angelangt war. Eine Parallelwelt zur eigentlichen Erde. Mit dem Unterschied, dass hier alles intakt war. Zumindest bis Michael den Todesengel aufgespürt hätte. Der Teil, in dem sich Azrael aufhielt, wäre dann sanierungswürdig.

Sein Weg führte Michael in die Untiefen des Kontinentes, den die Menschen Afrika nannten. Der Schaden wäre also gering. Verkraftbar.

»Azrael!«, keifte Michael sogleich.

Seine Füße berührten nicht einmal den Wüstenboden. Wozu auch? Er war ein Erzengel. Wenn er sich mit Azrael zu unterhalten wünschte, so hatte der im Staub zu knien und den Mund zu halten. Am besten wäre noch, er würde dabei seine unwürdigen Augen von Michael lassen. Aber dazu musste sich der Todesengel erst einmal zeigen.

»Azrael!«

Keine Reaktion. Anscheinend ahnte der Gesuchte, um was es ging. Aber Michael war zuversichtlich, ihn zu finden. Selbst wenn er dafür die gesamte Wüste absuchen müsste. Immerhin konnte auch ein Todesengel nicht ohne Wasser leben. Nur an den Oasen hielt sich Azrael nicht auf.

»Scheiße noch mal, Azrael, zeig dich endlich!«

Michaels Zorn wuchs ins Unermessliche. Er wurde nicht gern für dumm verkauft. Noch weniger von diesem Engel. Erst recht nicht, wenn es um dessen Arbeit ging.

Endlich, als hätte seine Wut ausgereicht, den Gesuchten zu finden, erblickte er ihn. Einsam und verlassen saß Azrael inmitten von Sanddünen an einem Tisch mit Papieren, eine Feder in der Hand. Seine schwarzen Flügel waren kaum zu übersehen. Genauso wenig wie seine gräuliche Kleidung. Und trotzdem hatte Michael ihn die ganze Zeit über nicht bemerkt.

»Azrael!«, keifte er erneut. »Glaubst du, du kannst dich vor mir verstecken?«

Der Angesprochene hob nicht mal den Kopf, als er gleichgültig erwiderte: »Macht es auf dich den Eindruck, als würde ich das tun?«

»Du hast mich belogen.«

Die Bemerkung genügte, damit Azrael aufsah. »Du wirst etwas deutlicher werden müssen, Michael. In den letzten Jahrhunderten hat jeder irgendwen betrogen. Also?«

»Vincent! Er ist nicht tot. Seine Seele steckt im Körper eines Hundes.«

Azrael wirkte wenig überrascht. »Tja, dann wissen wir, dass er noch lebt. Und?«

»Und? Hast du vergessen, was du ihm damals versprochen hast? Dass er Evy irgendwann um sich haben könnte?«

»Hab ich das?«, gab der Todesengel desinteressiert zurück.

Michaels Gesicht wurde rot. »Verarsch mich nicht, Azrael! Ich war dabei!«

»Ja, das warst du!«, kam es genauso heftig zurück. »Hast du mich davon abgehalten, ihm das zu sagen? Und hast du auch nur einen Tag versucht, mein Versprechen in die Tat umzusetzen? Nein. Du warst dir sogar zu gut dafür, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Also gib nicht mir die Schuld daran, Michael. Außerdem warst du nicht besser, denn du hast beide in den Tod geschickt.« Schnaubend wandte er sich erneut dem Text zu. Die Feder flog rasch über die Seiten.

Was der Todesengel da wohl notierte? Ob er sich noch immer die Mühe machte und jeden Verstorbenen ins Register eintrug? Als würde das jemals einer lesen. Interessierte doch keinen mehr, wer wann gestorben war. Michael jedenfalls nicht.

»Ich habe keinen von ihnen umgebracht, Azrael. Das war einzig deine Handlung. Du hast dich verkrochen und das Schicksal der Seelen unerfahrenen Engeln überlassen.«

Der Kopf hob sich nicht. Dafür stierte Azrael ihm unter halb gesenkten Wimpern entgegen. »Sandrea war nicht unerfahren«, zischte er. »Das wäre alles nicht passiert, wenn du damals für mich ein gutes Wort eingelegt hättest.«

Michael konnte darauf nichts erwidern. Azrael hatte recht. Jedes seiner Worte entsprach der Wahrheit. Aber was hätte er machen sollen? Den Todesengel die Lage mit Evy selbst erklären lassen? Ein Ding der Unmöglichkeit. Diese Macht besaß er nicht. Und das wusste Azrael auch. Nur wahrhaben wollte der das nicht. Darum hatte Michael die Sache geklärt. Womöglich waren ihm dabei Einzelheiten entfallen, oder er hatte sie – besser gesagt – bewusst ausgelassen. Doch ein von Gefühlen geblendeter Engel des Todes war eben ein Risiko. Somit war Vincents Verschwinden irgendwann für Gott nicht mehr wichtig gewesen. Besonders als klar wurde, dass ein Sieg gegen die Großfürsten der Hölle unmöglich war. Da hieß es nur noch, so viele Engel wie möglich überhaupt am Leben zu erhalten.

Seufzend sank Michael auf den Wüstenboden. Er fühlte sich müde. Seit Jahrzehnten hielten sie sich aus der Herrschaft der Dämonenfürsten heraus. Aber jetzt? Mit Vincents Auftauchen gäbe es eine Möglichkeit, es erneut zu versuchen. Das Ganze unter dem Deckmantel der Erlösung eines Engels des Todes aus den Fängen der Großfürsten. Gott müsste nur zustimmen. Aber wie hoch war die Wahrscheinlichkeit? Zudem wäre Michael dennoch gezwungen, den Hund zu töten. Denn weder besaß er Vincents Körper, um die Seele dahin zurückzubringen, noch war ihm daran gelegen, es überhaupt zu tun. Evy wäre immer noch ein beherrschender Gedanke in Vincents Verstand. Und Michael besaß keineswegs eine solche Stärke, um die Tote wieder zum Leben zu erwecken. Gabriel und Gott, ja. Aber die beiden scherten sich einen Dreck um die Wünsche eines Engels.

»Wir müssen ihn vernichten«, flüsterte Michael.

»Und wie? Er lebt inmitten der Großfürsten«, gab Azrael zu bedenken.

Der Einwurf verwunderte ihn nicht. Natürlich hatte es Azrael gewusst. Der Todesengel kannte die Wahrheit vermutlich schon viel länger. Immerhin hatte Michael mit keinem Wort erwähnt, wo er Vincent ausgemacht hatte. Aber darüber war jetzt nicht die Zeit zu reden.

»Gott ist der Einzige, der den Befehl geben kann«, sagte Michael.

»Oder Gabriel«, kam es leise zurück.

Michael nickte. »Oder Gabriel. So oder so, wir müssen einen von ihnen überzeugen. Und ich glaube, Gabriel wird der einfachere Mitstreiter sein.«

Azrael reagierte darauf nicht. Er schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Michael konnte ihm deswegen kaum einen Vorwurf machen. Schließlich war klar, dass ein Krieg gegen die Großfürsten die Vernichtung der Erde mit sich bringen würde. Ein Auslöschen der Menschen und somit auch die Zerstörung ihrer eigenen Welt. Die Parallelwelten konnten schließlich nicht ohneeinander existieren. Die Vorstellung missfiel Michael. Aber was blieb ihnen für eine Wahl? Der Glaube an die Engel und Gott wurde schwächer. Irgendwann würde er sowieso vergehen. Und so unglaublich es in seinen eigenen Ohren klang, irgendwie konnte er damit leben. Alles war besser, als die Bevölkerung noch länger unter der Hand der Dämonenfürsten leben zu lassen.

»Ich rede mit Gabriel«, erklärte er sodann.