Abtrünniges Blut

Jakob Bedford

Abtrünniges Blut

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Epilog

Prolog

Der kalte Luftzug ließ ihn zittern. Rasch hob Mr Wolfe eine Hand schützend vor die Kerze, die neben ihm auf dem schmalen Tisch stand. Die Flamme zuckte, wie ein kleines Raubtier. Plötzlich zum Leben erweckt, suchte es nach Beute. Gierig leckte das glühende Orange an Mr Wolfes Handfläche. Er unterdrückte einen Schmerzenslaut und zog die Hand hastig zurück. Verärgert rieb er die schmerzende Stelle, lauschte in das Halbdunkel. Bis auf den Wind, der draußen eiskalt um die Mauern strich, war nichts zu hören.

Mit geschürzten Lippen trommelte Mr Wolfe auf die penibel polierte Oberfläche des Tisches. Dieser Raum war zurzeit einer der wenigen Rückzugsorte, die für seine Zwecke überhaupt in Frage kamen. Wobei er streng genommen gar nicht hier sein durfte, in diesem Teil des Palastes. Nun, der Zweck heiligte wie immer die Mittel. Für eilige Zusammenkünfte, die zudem unbeobachtet stattfinden mussten, gab es nur einen geringen Spielraum an Möglichkeiten. Auf ein Protokoll konnte er, oberster Spion der Krone, daher wenig Rücksicht nehmen.

Seufzend hob Mr Wolfe eine Augenbraue und schaute sich gelangweilt um. Das kleine Empfangszimmer war erlesen ausgestattet. Eine angelehnte Tür führte in einen angeschlossenen, dunklen Schlafraum, von dort auf einen Gang. Die andere Tür, durch die er vor wenigen Minuten den Raum betreten hatte, führte zu demselben Gang, der diesen etwas abgelegenen Flügel des Palastes durchzog. Augenscheinlich wurden in den Räumlichkeiten Gäste untergebracht. Oder Mätressen. Natürlich nicht die favorisierten Dirnen. Die fanden sich in größerer Nähe zu den privaten Gemächern Seiner Hoheit wieder. Mr Wolfe lächelte säuerlich.

Ein nur schwer zu unterdrückendes Gähnen erinnerte ihn an die vorgerückte Stunde. Es lag ein langer und anstrengender Tag hinter ihm. Er sehnte sich nach seinem Bett. Doch die wichtige Angelegenheit, derentwegen er hier war, duldete keinen Aufschub. Eine Angelegenheit von nationalem Interesse, daher hatte er in den Palast kommen müssen. Hier erhielt er seine Anweisungen.

Der Palast, ja. Er schmunzelte. Die Ersten des Landes aus Aristokratie und Kirche umschwirrten König George II. wie Motten das Licht. Nichts ließen sie unversucht, um in der Gunst des Regenten aufzusteigen. Wenn es ihnen dabei auch nur gelang, einen unliebsamen Konkurrenten auszustechen, verbuchten sie dies gleich als glorreichen Sieg. Ein immerwährender Jahrmarkt der Eitelkeiten.

Natürlich hatte dies etwas Gutes. Was wäre seine Tätigkeit ohne diese Eitelkeit der hohen Herrschaften? Eitelkeit war doch vor allem eines: ein dankbares Einfallstor für den menschlichen Charakter. Was gab es dem Dünkel schon entgegenzusetzen? Demut und Tugend, vielleicht. Er lachte amüsiert auf. Demut und Tugend! Köstlich. Eigenschaften, die bei Hofe ebenso rar waren wie Regen in der Wüste.

Er schlug die Beine übereinander. Jüngst hatte er einen Mann in einer Taverne wütend ausrufen hören, St James’s Palace sei ein verlogenes Hurenhaus. Der königliche Palast ein einziges Bordell. Er erinnerte sich gut an den Mann. Spucke war dem Burschen aus dem Mund gelaufen, dermaßen hatte er sich ereifert. Unangenehm, dieses Gebaren, doch keiner weiteren Beachtung wert. Die vermeintliche Erkenntnis des Mannes, sie war doch eher trivial. Wo immer ein Mensch sich fand, da war eben auch die Sünde nicht weit. Ob beim König oder Bettler, das machte keinen Unterschied. Doch moralische Überzeugungen interessierten ihn bei seiner Tätigkeit herzlich wenig. Die sittlichen Verfehlungen seiner Mitmenschen wusste er zu nutzen. Doch nie interessierten sie ihn persönlich. Sie waren lediglich hilfreiche Werkzeuge seiner Arbeit.

Mr Wolfe lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Starrte für einen Moment an die Decke. Dachte er an St James’s Palace, so waren nicht Moral oder gar Sünde der Grund für sein Unbehagen. Sollte der König doch mit seinen Huren machen, was er wollte. Das Unbehagen, welches Matthew Wolfe beim Betreten des Gebäudes stets beschlich, lag vielmehr im Haus selbst begründet. Seiner Proportion. Dieser rote Ziegelbau wirkte nun einmal eher wie ein besseres Herrenhaus. Klein, fast schon provinziell. Etwas spärlich für eine Nation, die sich als den Mittelpunkt der Welt verstand. Ein drückendes Gefühl der Enge. Das war es, was er hier spürte.

Missbilligend schüttelte er den Kopf und griff nach dem Glas. Er hob es ans Gesicht. Verzerrt spiegelte sich in der kristallenen Oberfläche die beinahe ruhige Kerzenflamme. Als sähe der orange Teufel ihm neckisch direkt in die Augen. Er nahm einen tiefen Schluck, stellte leise das Glas ab und zupfte prüfend an seiner Perücke. Sein Blick fiel dabei auf das Buch, welches neben ihm auf dem Sofa lag. Er hatte es, wie auch das Glas, mitgebracht. Wahllos irgendwo im Vorbeigehen aus einem Regal gezogen. Das Buch war eine Entschuldigung für seinen Rückzug in diesen Raum, sollte man ihn hier antreffen. Etwas plump, doch die einfachste Erklärung war immer auch die glaubwürdigste. Stirnrunzelnd las er erstmals die Schrift auf dem Buchrücken. Er musste dazu die Augen ein wenig zusammenkneifen. Eine Untersuchung des menschlichen Verstandes, von David Hume. Was für ein freudloser Titel.

Leise Schritte vor der Tür ließen ihn das Buch hastig aufnehmen und wahllos eine Seite aufschlagen. Er tat, als schaue er überrascht auf, als sich die Tür leise öffnete, legte das Requisit seines Alibis jedoch gleich wieder achtlos zur Seite. »Guten Abend, Sir.« Noch bevor der großgewachsene Mann Platz genommen hatte, setzte Mr Wolfe nach: »Hat sich der König gezeigt?«

Die Antwort bestand in einem Kopfschütteln, welches feine Partikel aus der weißgepuderten Perücke des Mannes rieseln ließ. Wie Schneefall sanken sie im Licht der Kerze zu Boden. Dem Wartenden schräg gegenüber nahm der Hüne in einem Sessel Platz. Getrennt waren die beiden Männer nur wenige Handbreit durch den Tisch und die Kerze, die nach einem wilden Aufflackern nun gespannt innezuhalten schien.

Entschuldigend wies Mr Wolfe auf das fast leere Glas. »Es war mir leider nicht möglich, auch Ihnen etwas mitzubringen, Sir. Ich habe dieses Glas und einen halbwegs passablen Wein unterwegs aufgetan.«

Sein Gegenüber winkte ab. »Es gibt bei dem Essen eine ausreichende Menge an Getränken. Sie wollten mich dringend sprechen, Matthew.« Es war keine Frage.

»Ich danke Ihnen für Ihre kostbare Zeit, Sir. Ich muss Ihnen eine beunruhigende Nachricht mitteilen.«

Der große Mann nickte, ohne eine Miene zu verziehen, als habe er nichts anderes erwartet.

»Es war uns möglich, eine Nachricht vom Kontinent abzufangen. Aus den Niederlanden, fraglos ursprünglich aus Frankreich kommend. Sie war chiffriert. Es gelang uns gerade die Entschlüsselung. Weitestgehend zumindest.« Mr Wolfe legte eine Pause ein. »Und wir glauben, der Bote besitzt kein Wissen davon, dass wir sie entwendet, abgeschrieben und ihm erneut zugesteckt haben.« Er grinste, nicht ohne einen gewissen Stolz. »Es war eine beachtliche Aktion unseres Mannes vor Ort. Was uns diesmal einen veritablen Vorsprung verschafft.«

Ein knappes Nicken. »Enthält die Nachricht Anweisungen?«

»Sie ist in entscheidenden Punkten merklich vage, sicherlich aus Gründen der Vorsicht. Doch der Botschaft ist unmissverständlich zu entnehmen, dass der Zeitpunkt eines – wie es heißt – gottgewollten Eingreifens gekommen sei.«

Der Mann zog eine Augenbraue hoch.

»So heißt es dort unmissverständlich, Sir.«

»Ich verstehe.« Nachdenklich lehnte der Mann sich in seinem Sessel zurück. »Nur kurze Zeit nach dem Vertrag von Aix-la-Chapelle. Natürlich.« Er schaute aus wässrigen Augen auf. Sie verbargen aufs trefflichste den scharfen Geist, der hinter ihnen lauerte. »Glauben Sie, Frederick ist in irgendeiner Form involviert?«

»Der Prince of Wales?« Überrascht schreckte Matthew Wolfe auf. Polternd fiel das Buch vom Sofa auf die Holzdielen. »Der Kronprinz selbst?«

»Es gab erst kürzlich wieder ein lautstarkes Zerwürfnis zwischen Frederick und seinem Vater, dem König. Es fielen unschöne Worte. Gelinde gesagt.« Missbilligend schüttelte der Mann den Kopf. »Bei den letzten Parlamentswahlen ist der Prince of Wales ausgesprochen plakativ für die Opposition eingetreten. Vergessen Sie das nicht.« Die wässrigen Augen fixierten Matthew Wolfe. »Gibt es also Hinweise auf Frederick in der abgefangenen Nachricht?«

»Nein. Das kann ich mit absoluter Deutlichkeit verneinen, Eure Lordschaft.«

»Gut, so weit. Auf wen gibt es Hinweise? Konnten Sie den Adressaten identifizieren? Wir brauchen dringend Namen.«

»Wir sind zuversichtlich, ihn ausgemacht zu haben, ja.« Wolfe beugte sich nach vorne, vorsichtig darauf bedacht, mit seiner Perücke der Kerze nicht zu nahe zu kommen, und flüsterte einen Namen.

Eine lange Pause.

»Ich verstehe.« Der Mann wirkte nicht erstaunt.

»Auf Ihre Anweisung hin werde ich sofort veranlassen …«

»Nein, wir dürfen nicht vorschnell handeln. Diesmal benötigen wir handfeste Beweise. Ich werde Besprechungen führen müssen, doch es gilt, keine Zeit zu verlieren. Und dennoch vorsichtig zu sein.« Er legte die Stirn nachdenklich in Falten.

»Eine Besprechung mit dem Premierminister?«

Der Mann ignorierte die Frage. »Mir kommt etwas in den Sinn. Ich möchte, dass Sie diesen Shinfield auf die Sache ansetzen. Sein Name fiel soeben bei dem Essen.«

»John Shinfield? Er hat die Zusammenarbeit mit uns doch beendet, Sir. Damals, nach dem Unglück mit seiner Frau. Eine heikle Sache für uns, Sie erinnern sich sicherlich. Auch ist er wenig erfahren mit …«

Ein ungeduldiges Abwinken. »Durch die Beziehungen seiner Familie ist er in der Lage, schnell zu handeln. Wir müssen den Namen verifizieren. Überzeugen Sie Shinfield also. Sicherlich kann der neue Richter dabei behilflich sein.«

»Ich hege ernste Zweifel, dass Mr Shinfield …«

»Überzeugen Sie ihn, Wolfe.« Der Blick des Mannes war genauso eisig wie seine Stimme.

»Sir.« Wolfe neigte den Kopf.

Die Spur eines zufriedenen Lächelns. »Ich habe wie immer volles Vertrauen in Ihren Einfallsreichtum. Und Ihre Durchsetzungskraft.« Der Mann machte Anstalten, seine hohe Gestalt aus dem Sessel zu erheben.

»Sir, darf ich mir eine weitere Frage erlauben?«

Der Mann nahm wieder Platz. Ein Nicken, ein Zug von Ungeduld um die Mundwinkel.

»Soll ich wirklich den Weg über den neuen Friedensrichter gehen? Ich meine, er ist gerade erst in seinem Amt installiert.«

»Sicherlich ist unser verehrter Richter bereits bestens eingearbeitet. Auf höchste Weise motiviert, wie es scheint.« Zur Ungeduld gesellte sich eine Spur Häme. »Er propagiert doch beständig die Gefahr durch unseren Feind. Nun kann er seinen Worten auch einmal Taten folgen lassen.«

»Selbstverständlich.« Mr Wolfe unterdrückte ein Stirnrunzeln. »Doch der Mann hat alle Hände voll zu tun. Die Morde an den Freudenmädchen, verstehen Sie. Der Richter sucht mit allen Mitteln nach dem Wahnsinnigen, der für die furchtbaren Bluttaten verantwortlich ist. Und es wird Zeit, dass diese Bestie gefasst wird. Beim gemeinen Volk macht sich Unruhe breit. Ob der Friedensrichter da auch noch mit Shinfield …«

Schroff fiel sein Gegenüber ihm ins Wort. »Geben wir dem Richter doch Gelegenheit, sein Können zu beweisen. Wir wollen ihm schließlich nicht gleich von oberster Stelle in die Parade fahren. Der Mann hat Großes vor, wie mir scheint.« Das spitze Lächeln sah aus, als leide ein Tiger an Zahnschmerzen. »Die Dirnen, die man tot in der Gosse fand – so etwas tritt angesichts einer nationalen Bedrohung in den Hintergrund. Und nun entschuldigen Sie mich. Ich werde sicherlich bereits zurückerwartet.« Der Mann stand abrupt auf. An der Tür wandte er sich noch einmal um. »Ich erwarte Nachricht, was Sie herausfinden. Es geht schließlich um nichts weniger als Hochverrat.« Er kniff die Augen zusammen, wirkte beinahe drohend. »Sie haben gute Arbeit geleistet, Sir.« Dumpf fiel die Zimmertür ins Schloss.

Nachdenklich blieb Matthew Wolfe auf dem Sofa sitzen. Die Anstrengungen des Tages legten sich wie Mühlsteine auf seine Beine, seine Arme. Seinen Kopf. Gedankenverloren hob er langsam das Buch vom Boden auf und legte es auf den Tisch. Für heute gab es nichts mehr für ihn zu tun. Eigentlich hätte ihn das froh stimmen sollen, doch ein Gedanke nagte an ihm. Ob es wirklich eine gute Idee war, diesen John Shinfield mit einer derart delikaten Aufgabe zu betrauen? Der Mann war von Grund auf eigensinnig. Der Tod seiner Frau hatte diesen Eigensinn noch verstärkt. Er würde ihn mehr oder weniger offen zur Kooperation zwingen müssen. Keine gute Voraussetzung für eine reibungslose Zusammenarbeit. Und dabei den Friedensrichter einzubeziehen, behagte ihm auch nicht. Er hatte den Eindruck, Seine Lordschaft spekuliere geradezu darauf, dass der Mann möglichst schnell versage. Die jüngste Mordserie schien den Lord jedenfalls wenig zu interessieren. Nun, der Mann hatte auch noch keines der Opfer gesehen. Keine schönen Anblicke. Wahrlich, keine schönen Anblicke. In Wolfe stieg Übelkeit auf.

Ein kratzendes Geräusch ließ ihn jäh aufschrecken. Augenblicklich verflog seine Benommenheit, die Übelkeit war wie weggewischt. Alarmiert sprang er auf. Das Geräusch war von nebenan, aus dem Schlafraum gekommen. Ein weiterer Laut. Von einer Tür? Siedend heiß fiel ihm ein, dass er vorhin nur einen flüchtigen Blick in das dunkle Zimmer geworfen hatte.

Anstatt zur Verbindungstür zu rennen, war er, einer Eingebung folgend, mit drei langen Schritten an der Tür zum Gang. Er riss sie auf. Draußen spendeten mehrere Leuchter Licht, so dass er für einen kurzen Moment geblendet war. Doch er konnte die Frau, die nur wenige Schritte von ihm entfernt nahe der Nebentür mitten im Gang stand, gut erkennen. Sein Blick glitt zu der Tür. Sie führte in den Schlafraum und war abgeschlossen gewesen, das hatte er natürlich eingangs von außen überprüft. Und als ausreichende Vorkehrung betrachtet. Sein Blick schnellte zurück zu der Frau. »Lady Ridgestone, was für eine freudige Überraschung, Sie hier zu sehen.« Seine Miene sagte etwas anderes.

»Was sagten Sie, Sir?« Die alte Frau hielt eine Hand an ihr Ohr. »Ich bin überrascht, Sie hier zu sehen, Mr Wolfe.« Furcht glomm in ihren Augen auf. Sie wusste genau, mit wem sie es zu tun hatte.

»Ich habe mich ein wenig zurückgezogen, um etwas zu lesen«, sagte er lauter und wies auf die offene Tür hinter sich. »Eine Untersuchung des menschlichen Verstandes. Hume.« Er musterte sie skeptisch.

»Sicherlich eine erbauliche Lektüre«, bemerkte sie mit leicht krächzender Stimme. Gleichzeitig wollte sie sich an ihm vorbeistehlen. Verschreckt hielt sie inne, als er ihr nicht aus dem Weg trat. »Sir?« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Hauch.

Seine Intuition warnte ihn vor der Frau. Sie vollführte ein Schmierentheater. Hatte sie das Gespräch belauscht? Seine Gedanken überschlugen sich. »Madam, ich begleite Sie.« Er merkte selbst, dass er merkwürdig tonlos wirkte. »Sie sind sicherlich auf dem Weg zu den Gesellschaftsräumen.«

Mit einem lauten Räuspern bemühte Lady Ridgestone sich, ihre Stimme unter Kontrolle zu bekommen. »Das ist richtig. Ich … habe mich verirrt. Sehr freundlich, mein Herr, mir Ihr Geleit anzudienen, doch …«

Wolfe bemerkte, dass ihre Hände zitterten. »Madam, ich bestehe darauf.« Er griff mit einem kalten Lächeln ihren Arm. Unter dem kostbaren Kleid konnte er ihre alten, dürren Knochen spüren.

Sie atmete erschrocken ein. »Sir! Ich … Hallo du, junges Ding! Ja, du, Mädchen!« Ihre Stimme überschlug sich.

Er folgte überrascht Lady Ridgestones Blick. Am Ende des Ganges war ein Dienstmädchen erschienen, Bettzeug unter dem Arm. Wie ein verschrecktes Reh stand sie mitten im Gang und starrte bewegungslos zu ihnen herüber.

»Kind!«, stieß Lady Ridgestone hervor.

»Madam?«, fragte das Mädchen schüchtern und knickste zaghaft.

»Komm her, Kind. Komm schon her.« Unwirsch winkte sie sie mit ihrer freien Hand heran.

Das Dienstmädchen trat zögernd näher.

Widerwillig ließ Wolfe den Arm der alten Frau los.

»Es war mir ein Vergnügen«, sagte Lady Ridgestone spitz, schritt eilig an ihm vorbei auf das Mädchen zu und würdigte Matthew Wolfe keines weiteren Blickes. Sie bedeutete dem Dienstmädchen herrisch, voranzugehen. »Führe mich zu der Abendgesellschaft, los, los!«

Mit versteinerter Miene sah er der alten Frau und dem verschüchterten Mädchen nach, wie sie um eine Ecke verschwanden. Verlaufen wollte Lady Ridgestone sich also haben. Jeder wusste, dass sie ihre neugierige Nase nur zu gerne in jede Angelegenheit steckte, die sie nichts anging. Schon einmal hatte er sie in Verdacht gehabt, für die Gegenseite zu spionieren. Andererseits war sie eine alte, verschrobene Person. Verwirrt, sagte manch einer hinter vorgehaltener Hand. Nicht mehr bei Verstand. Offen wagte jedoch niemand, sich derart über die Cousine des Lord Chief Justice zu äußern. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund schien sie die Gunst des Königs zu genießen.

Die Tür war abgeschlossen gewesen, da war er sicher. Er drückte die Klinke zu dem Schlafzimmer, aus dem er die Geräusche hatte kommen hören. Die Tür öffnete sich, beinahe lautlos. Der Schlüssel steckte von innen im Schloss. Mr Wolfe stieß einen Fluch aus.

Kapitel 1

Die Nacht war sein bester Freund. Er unterdrückte ein Grinsen. Sie war auch sein einziger Freund.

Kalter Nebel zog durch die schmale Gasse, in der er sich in eine Mauernische gedrückt hatte. Über dem nahen Hintereingang einer Spelunke brannte eine kleine Laterne. Sie spendete das einzige Licht weit und breit, vermochte es jedoch nicht, mehr als zwei Schritte in den Nebel vorzudringen. Wie bedächtig tanzende Schatten waberte der Dunst feucht in dem schmalen Lichtkegel vor der hölzernen Tür.

Er schloss die Augen. Atmete den Nebel genüsslich ein. Spürte, wie die feuchten Finger versuchten, sich durch den Stoff seines dunklen Mantels zu stehlen. Wie die zaghafte Liebkosung einer Toten. Ein wohliger Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Er leckte sich über die Lippen.

In der Ferne hörte er ein Fuhrwerk über unebene Pflastersteine rattern. Ein Hund bellte. Heiseres Gelächter, von der anderen Seite des Gebäudes, dem vorderen Eingang zu der Spelunke. Das Zuschlagen einer Tür. Er lauschte blind in die sich anschließende Stille. Begierig.

Langsam verlagerte er sein Körpergewicht auf das andere Bein. Seine erste Bewegung seit mehr als einer halben Stunde. Langsam öffnete er die Augen. Heftete den Blick auf die schmale Insel von Licht in der Dunkelheit. Geduld, ermahnte er sich. Geduld.

Für einen Moment schlug sein Herz schneller, als sich die Tür mit einem knarrenden Geräusch in Bewegung setzte. Doch sein Puls beruhigte sich sogleich wieder. Eine innere Kühle ergriff von ihm Besitz. Sie kam gepaart mit einer neuen Klarheit der Sinne. Sehvermögen, Gehör, Geruch – ja selbst sein Geschmacksinn veränderte sich. Alles um ihn herum wirkte intensiver, stärker als noch wenige Augenblicke zuvor. Wie ein Panther fühlte er sich. Voller Kraft, bereit zum Sprung. Das Bewusstsein messerscharf. Selbst die Dunkelheit um ihn herum schien zurückzutreten. Er fühlte sich erhaben.

Ohne zu blinzeln gewahrte er aus seiner finsteren Nische heraus, wie im Türrahmen eine junge Frau erschien. Unbeholfen hielt sie sich mit einer Hand am Holz fest. Nach einem kurzen Moment tat sie drei schwankende Schritte nach vorne, in die Gasse. Fast sah es so aus, als stolpere sie. Doch im letzten Moment gewann die Frau wieder Halt, drehte sich ruckartig um und schloss die Tür hinter sich. Schnaufend lehnte sie mit dem Rücken gegen das Holz.

Das Haar hatte sie unter einer zerschlissenen Haube zusammengebunden. Ihr Körper steckte in einem Mantel, der viel zu dünn für diese Witterung war. Ein grauer Rock reichte bis zu den Knöcheln. Das Schuhwerk war abgetragen und löchrig.

Die Frau war hübsch. Er leckte sich über die Unterlippe. Ihr rundes Gesicht wirkte müde und verbraucht, doch sie war hübsch. Für eine kleine Hinterhof-Hure. Sie fuhr sich in einer ungeschickten Bewegung mit einem Mantelärmel über die Stirn, dann stieß sie sich mit der anderen Hand von der Tür ab. Unverständlich murmelte sie etwas und stolperte aus dem Lichtschein in die Gasse.

Er meinte, den billigen Gin aus ihrem Mund riechen zu können. Fast war er ein wenig enttäuscht, als sie ihm in der Dunkelheit entgegenschwankte, das Licht der kleinen Laterne im Rücken. Ihre Gestalt war ein grauer Umriss im zuckenden Nebel. Er kniff die Augen zusammen. Die Hure machte es ihm wirklich äußerst einfach.

Die Frau hustete und wischte sich mit dem Handrücken etwas aus dem Mundwinkel. Abrupt blieb sie stehen, hob den Kopf und wandte ihn unstet nach links und rechts. Als versuche sie, in der Dunkelheit etwas auszumachen. Für einen Augenblick schaute sie genau in seine Richtung. Er runzelte die Stirn und hielt den Atem an.

Ein unverständlicher Fluch kam aus dem Mund der Frau, dann stolperte sie weiter die Gasse hinunter. Beinahe auf seiner Höhe, begann sie leise eine Melodie vor sich hin zu summen.

Er ließ sie nicht aus den Augen. Sturzbetrunken, eindeutig. Hatte die paar Kröten von ihrem letzten Freier wohl geradewegs in eine Flasche Gin investiert. Angewidert schüttelte er den Kopf und trat aus der Mauernische. Was für eine verdorbene Person. Sie hatte es wahrlich verdient, von ihm gezüchtigt zu werden. Sein Herz begann schneller zu schlagen.

Erstaunt hielt die Frau inne. Irgendwo in den Tiefen ihres benebelten Verstandes bemerkte sie, dass sie nicht alleine war. »Wa…?«, stammelte sie und hielt den Kopf schief. Vergeblich bemühten sich ihre halbgeschlossenen Augen, etwas zu erkennen.

Sie waren keine zwei Schritte voneinander entfernt. Er sah, wie sie ihn blind anschielte. Ein Faden Spucke lief über ihr Kinn und tropfte auf den dünnen Mantel. Dann grinste die Frau schief, drehte die Augen in den Höhlen nach oben.

»Ei… ein Guinea …«, lallte sie und fügte ein kaum verständliches »Sir« hinterher. Sie warf einen schmatzenden Kuss in die Dunkelheit. »K… komm schon, du … du Hengst.« Schwankend wischte sie mit ihrem Ärmel über den Mund. »G… Guinea«, wiederholte sie.

Er trat einen lautlosen Schritt auf die Frau zu. Die Gin-Wolke, welche sie verströmte, war kaum auszuhalten. Seine Finger schlossen sich um ihren Oberarm.

Schmerzhaft verzog sie das Gesicht und atmete erschrocken ein. Sie wollte sich zur Seite wegdrehen, doch er hielt sie fest, zog sie an sich.

»Du kleine Dreckshure«, raunte er. »Versoffene Schlampe.«

Ihr ängstliches Quieken erstarb in dem Schubs, den er ihr gab. Sie stolperte über das Pflaster, prallte in der Mauernische gegen die Wand und sackte dort zu Boden. Vergeblich versuchte sie sich wiederaufzurichten und blieb wimmernd am Boden liegen.

Er sah auf sie hinab, lächelte. »Statt einer Geldmünze habe ich etwas anderes für dich.« Er holte mit dem Fuß aus und versetzte ihr einen Tritt in die Seite. Das Wimmern steigerte sich zu einem Schrei und erstarb dann. »Hast du nichts mehr zu sagen?«, fragte er mit höhnisch weit aufgerissenen Augen. »Unser Spaß beginnt doch gerade erst.« Langsam griff er unter seinen Mantel und zog eine Klinge hervor. Sanft strich sein Finger über die lange Schneide. »Unfassbarer Spaß.«

»W-W…«, war alles, was die am Boden Kauernde leise von sich gab.

Er kniete sich neben sie. Griff nach ihrem Bein und schob den Rock über das Knie. Behutsam fast. Dann setzte er das Messer sanft an und stieß es langsam in ihre Wade.

Ihr Schrei war schrill. Lauter, als er es ihr zugetraut hatte. Zufrieden zog er das Messer aus dem Fleisch. Abrupt brach das Schreien ab und ihr Körper verlor jede Spannung. Er schlug der Frau mit dem Handrücken ins Gesicht. Keine Reaktion. Sie war ohnmächtig. Verärgert schlug er erneut zu, fester. Sie reagierte nicht. Nun denn. Er hob erneut das Messer, doch das Knarren der Tür ließ ihn aufspringen.

»Lizzy?«, fragte eine lallende Stimme. »Lizzy, Süße. Komm her!« Ein Mann trat durch die Tür und schaute suchend in die Dunkelheit. »Komm her. Ich war noch nicht fertig.«

Ein Matrose. Die Hose nur notdürftig über die Hüfte gezogen. Betrunken. Der Mann machte einen torkelnden Schritt in die Gasse. »Komm schon!«, rief er mit Ärger in der Stimme. »Mein Schwanz ist noch nicht fertig mit dir.« Nachdrücklich rieb er an seiner Hose. Als er keine Antwort erhielt, zuckte er mit den Schultern. »Miststück«, murmelte er und drehte sich zur Tür um.

Er hatte regungslos und mit erhobenem Messer neben der Frau gestanden. Der Freier der kleinen Hure würde sein blaues Wunder erleben, wenn er die süße Lizzy das nächste Mal sah. Ein versonnenes Lächeln stahl sich auf sein vermummtes Gesicht.

Das Lächeln erstarb in dem Moment, in dem vom Boden ein lautes Stöhnen kam. »H-Hil…«, stieß Lizzy angestrengt hervor.

Der Matrose wandte sich um. »Lizzy, du Luder. Stellst dich schüchtern, was?« Er lachte auf. »Du weißt, was mir gefällt.«

Es ging alles sehr schnell. Der Matrose machte zwei Schritte in die Richtung, aus der er das Stöhnen vernommen hatte. Doch statt der warmen Umarmung seines Freudenmädchens erwartete ihn in der Dunkelheit kalter Stahl. Mit Wucht glitt das Messer in seinen Hals. Noch bevor er mit seinen Händen an die Einstichstelle greifen konnte, war die Klinge bereits wieder herausgezogen. Nur einen Herzschlag später grub sie sich tief in seinen Magen. Mit weit aufgerissenen Augen stolperte der Mann zwei, drei Schritte und fiel dann vornüber. Fiel auf den Körper der am Boden flach atmenden Frau, rutschte hinunter und blieb reglos auf dem Pflaster liegen. Der metallische Geruch von Blut waberte durch die Luft. Die Dunkelheit verbarg, dass sich der Boden rot färbte.

Ein Zittern hatte von ihm Besitz ergriffen. Ausdruck beinahe unbändiger Freude. Zwei! Heute Nacht löschte er gleich zwei Leben aus. Unwürdige, lächerliche Leben. Ans Werk, ans Werk! Er konnte sein Glück kaum fassen.

Tief beugte er sich über die Körper, den Mantel bereits schwer vom Blut des Matrosen. Es war in einem Schwall auf ihn gespritzt, als er dem Kerl in den Hals gestochen hatte. Seine behandschuhten Finger rieben über den warmen, feuchten Stoff. Er unterdrückte ein wohliges Stöhnen und biss sich auf die Unterlippe, konnte nicht sagen, ob das Blut, das er schmeckte, seines oder das des Toten war. Er strahlte in die Dunkelheit hinein. Dann suchten seine Hände das Gesicht der Frau.