ABRAHAM MERRITT

 

 

DIE KÖNIGIN DER SCHATTEN

 

 

 

 

Roman

 

Apex Horror, Band 23

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DIE KÖNIGIN DER SCHATTEN 

I. Vier Selbstmorde 

II. Demoiselle Dahut 

III. Die Theorien Dr. de Feradels 

IV. Die verlorene Stadt Ys 

V. Die flüsternden Schatten 

VI. Der Kuss des Schattens 

VII. Der Geliebte der Puppenmacherin 

VIII. In Dahuts Turm - New York 

IX. In Dahuts Turm - Ys 

X. Flucht aus Dahuts Turm 

XI. Dahut schickt ein Souvenir 

XII. Die verschwundenen Armen 

XIII. Dahuts Rufe 

XIV. Hinter de Feradels Mauern - I 

XV. Hinter de Feradels Mauern - II 

XVI. Der mael bennique 

XVII. Die Opferschale 

XVIII. Dahuts Hunde 

XIX. »Kriech, Schatten!« 

XX. Das letzte Opfer 

 

Das Buch

 

 

Richard Ralston, ein Freund von Dr. Alan Caranac und Bill Bennett, hat kürzlich aus ungeklärten Gründen Selbstmord begangen. Ralstons Tod ist der letzte in einer ganzen Reihe von Selbstmorden wohlhabender junger Männer. Bei einer Dinnerparty für Dr. René De Feradel, einen französischen Psychiater, und seine verführerische und mysteriöse Tochter Dahut - eine Frau von übernatürlicher Schönheit -  verspricht Bennett Caranac, dass er ein Geheimnis enthüllen wird,  welches ihm Ralston kurz vor seinem Tod anvertraut hat.

Und dieses Geheimnis ist mit Dahut verbunden, und Bennett ist überzeugt davon, dass sie für Ralstons Tod verantwortlich ist...

 

Die Königin der Schatten von Abraham Merritt (* 20. Januar 1884 in Beverly, New Jersey; † 21. August 1943 in Indian Rocks Beach, Florida) wurde erstmals im Jahr 1934 als sogenanntes magazine serial veröffentlicht; noch im gleichen Jahr erfolgte die Veröffentlichung in Roman-Form.

Der Apex-Verlag veröffentlicht diesen Klassiker der Horror-Literatur als durchgesehene Neuausgabe.

DIE KÖNIGIN DER SCHATTEN

 

 

 

 

 

 

  I. Vier Selbstmorde

 

 

Im Explorer’s Club packte ich meine Koffer aus. Die eigenartige Niedergeschlagenheit, mit der ich am Morgen in meiner Koje erwacht war, verfolgte mich noch immer wie ein Alptraum.

Selbstverständlich hatte ich keinen großen Bahnhof zu meinem Empfang erwartet, aber weder Bennett noch Ralston hatten mich abgeholt. Beiden hatte ich vor meiner Abreise geschrieben und nach ihnen vergeblich an der Pier Ausschau gehalten.

Sie waren meine engsten Freunde. Die unterschwellige Feindseligkeit zwischen den beiden hatte mich oft amüsiert. Sie mochten sich und lehnten sich in gleicher Weise ab. Trotzdem konnte ich manchmal das Gefühl nicht loswerden, dass sie sich untereinander besser verstanden als mit mir.

Bill Bennett war der ernste, schwerarbeitende Sohn von Dr. Lionel Bennett, der bis vor kurzem einer der fünf hervorragendsten Experten für Geisteskrankheiten der modernen Welt gewesen war. Bennett Senior war einer der wenigen Spezialisten gewesen, die sich mehr mit ihrer Wissenschaft als mit ihrem Konto befasst hatten. Er war berühmt, aber arm. Bennett Junior war in meinem Alter, fünfunddreißig Jahre alt. Ich wusste, dass sich sein Vater ganz auf ihn verlassen hatte, aber auch, dass sich der Sohn von seinem väterlichen Meister getrennt hatte, besonders auf dem Gebiet des Unterbewusstseins. Bills Gedankengänge waren flexibler und aufnahmefähiger. Bill hatte mir vor einem Jahr geschrieben, dass sein Vater gestorben sei und er sich mit Dr. Austin Lowell in dessen Privatklinik zusammengetan hatte.

Dick Ralston war der Sohn vermögender Eltern, deren Reichtum nicht einmal zu Zeiten der Depression gemindert worden war. Er sah weder Vergnügen noch Sinn in der Arbeit. Klug, großzügig und voller Charme war er der typische Müßiggänger.

Ich stand zwischen ihnen, eine Brücke, auf der sie sich begegnen konnten. Ich hatte den Doktortitel erworben, verfügte aber über genug Geld, um ungebunden leben zu können. Daher reiste ich, auf ethnologische Forschungsarbeit konzentriert, durch die Welt, insbesondere auf die Bereiche der Eingeborenenzauberei, Hexerei und Magie spezialisiert. In meiner Arbeit war ich ebenso gründlich wie Bill, und er wusste es.

Dick hingegen behauptete, dass meine Forschungsreisen ein Erbe meiner bretonischen Vorfahren seien, die von St. Malo aus als Piraten über die Meere fuhren. Insbesondere die Tatsache, dass zwei meiner Ahnen als Hexen in der Bretagne verbrannt worden waren, veranlasste ihn zu Sticheleien.

Ich grübelte darüber nach, dass selbst drei Jahre Abwesenheit zu kurz sein müssten, um mich vergessen zu haben. Deshalb schüttelte ich meine Depression von mir ab und lachte. Vielleicht hatten sie meine Post nicht erhalten oder Verabredungen, an die sie sich halten mussten.

Auf dem Bett lag eine Nachmittagszeitung. Als ich sie in die Hand nahm, stellte ich fest, dass sie vom gestrigen Tag war. Die Überschrift lautete: 5.000.000-Kupfer-Erbe begeht Selbstmord. Richard J. Ralston, jr. schoss sich eine Kugel durch den Kopf. Es fehlt jeder Hinweis auf ein Motiv für die Tat. In den letzten drei Monaten nahmen sich vier Männer in New York das Leben. Die Polizei vermutet einen Selbstmord- Club.

Ich las den Artikel. Richard J. Ralston, jr., der fünf Millionen Dollar erbte, als sein Vater, ein reicher Minenbesitzer, vor zwei Jahren starb, wurde heute Morgen tot im Schlafzimmer seines Hauses in der 78th Street aufgefunden. Er hatte sich eine Kugel durch den Kopf geschossen und war sofort gestorben. Die Pistole, mit der er sich erschossen hatte, lag auf dem Boden, wo sie ihm aus der Hand gefallen war. Die Spurensicherung identifizierte seine Fingerabdrücke. Sein Butler, John Simpson, hatte ihn gefunden und sagte aus, dass er um acht Uhr gewohnheitsgemäß in das Schlafzimmer gegangen sei. Dr. Peabody stellte fest, dass der Tod um drei Uhr eingetreten sein muss, also höchstens fünf Stunden, bevor Simpson die Leiche auffand.

Drei Uhr? Mir ging ein Frösteln über den Rücken. In Anbetracht der Differenz zwischen Schiffszeit und Ortszeit war das genau der Zeitpunkt, zu dem ich mit dieser seltsamen Niedergeschlagenheit erwacht war. Ich las weiter.

Wenn Simpsons Aussage stimmt, woran die Polizei nicht zweifelt, konnte der Selbstmord nicht vorsätzlich vollzogen worden sein und muss auf einen urplötzlichen Impuls zurückgeführt werden. Dies bestätigt ein angefangener Brief von Ralston, den er unbeendet zerrissen hatte. Dieser Brief lautete:

 

Lieber Bill!

Ich bedaure, dass ich nicht länger bleiben konnte. Wie gern würde ich die ganze Angelegenheit objektiv und nicht subjektiv betrachten können, so unglaublich sie auch sein mag. Wenn nur Alan hier wäre. Er weiß gewiss mehr...

 

An dieser Stelle hatte Ralston seine Meinung geändert und den Brief vernichtet. Die Polizei möchte gern wissen, wer Alan ist und was er mehr weiß über diese Sache. Sie hofft ebenfalls, dass Bill, an den der Brief adressiert war, sich melden wird. Es besteht zwar nicht der geringste Zweifel darüber, dass es sich um Selbstmord gehandelt hat, aber es ist möglich, dass das, was objektiv und nicht subjektiv, so unglaublich es auch sein mag war, etwas Licht in die Angelegenheit hinsichtlich eines Motivs bringen wird.

Derzeit gibt es keinerlei Hinweis, den Selbstmord von Mr. Ralston zu begründen. Seine Anwälte, die bekannte Firma Winston, Smith & White, versicherten der Polizei gegenüber, dass seine Vermögensverhältnisse absolut in Ordnung sind und dass es nicht die geringsten Komplikationen im Leben ihres Klienten gab. Mit dem Namen Ralston sind keinerlei Skandale verbunden.

Dies ist der vierte Selbstmord innerhalb von drei Monaten, und in allen Fällen handelte es sich um vermögende Männer in Ralstons Alter und mit vergleichsweise ähnlichen Lebensgewohnheiten. Tatsächlich sind die Umstände in allen vier Fällen außerordentlich ähnlich, was die Polizei zu der Annahme veranlasst, es liege eine Art Selbstmord-Vereinigung vor.

Der erste der vier Todesfälle trat am 15. Juli ein, als sich John Marston, ein international berühmter Polospieler, im Schlafzimmer seines Landbesitzes in Locust Valley auf Long Island durch den Kopf schoss. Bisher konnte kein Grund für seinen Selbstmord gefunden werden. Er war wie Ralston unverheiratet. Am 6. August wurde die Leiche von Walter St. Clair Calhoun in seinem Sportwagen aufgefunden. Calhoun hatte seinen Wagen in der Nähe von Riverhead, Long Island, von der Hauptstraße auf ein offenes Feld gefahren und sich eine Kugel durch den Kopf gejagt. Niemand entdeckte den Grund. Seit drei Jahren war er geschieden. Am 21. August erschoss sich Richard Stanton, millionenschwerer Globetrotter und Jachtbesitzer, an Deck seiner seetüchtigen Jacht Trinculo. Es geschah einen Tag vor seiner beabsichtigten Kreuzfahrt nach Südamerika.

Ich las und las - von den Spekulationen über die Existenz eines Selbstmord-Clubs, die wahrscheinlich aus Langeweile und morbider Sensationslust geboren waren. Die Berichte über Marston, Calhoun und Stanton - Dicks Todesnachricht...

Ich las weiter und musste immerzu daran denken, dass es nicht wahr sein konnte.

Es gab keinen Anlass für Dick, sich das Leben zu nehmen. Die Theorie bezüglich eines Selbstmord-Clubs war absurd und phantastisch, ganz besonders bei Dick. Ich war dieser Alan in seinem Brief, und Bennett war jener Bill. Was aber wusste ich, was Dick von mir wissen wollte?

Das Telefon klingelte, und mir wurde mitgeteilt, dass Dr. Bennett mich zu sehen wünsche. Ich sagte: »Schicken Sie ihn bitte zu mir.«

Bill kam herein. Er war blass und verstört. In seinen Augen las ich Entsetzen. Er streckte seine Hand aus. Alles, was er sagen konnte, war: »Ich bin froh, dass du wieder da bist, Alan.«

In der anderen Hand hielt ich die Zeitung. Er nahm sie und betrachtete das Datum. »Von gestern. Da steht alles drin. Alles, was zumindest die Polizei weiß.«

Er sprach so seltsam, dass ich sofort fragte: »Du meinst, dass du etwas weißt, wovon die Polizei keine Ahnung hat?«

»Oh, sie sind im Besitz aller Fakten. Dick hat sich erschossen. Sie haben recht, seinen Selbstmord mit den anderen drei in Verbindung zu bringen.«

Ich wiederholte: »Weißt du etwas, wovon die Polizei keine Ahnung hat?«

»Dick ist ermordet worden.«

Ich sah ihm in die Augen. »Wenn er aber die Kugel durch den Kopf...«

»Ich nehme es dir nicht übel, dass du verwirrt bist. Trotzdem - ich weiß, dass sich Dick Ralston selbst getötet hat, und trotzdem weiß ich ebenso sicher, dass er ermordet wurde.« Dann ließ er sich auf das Bett fallen. »Ich brauche einen Drink.«

Ich holte die Flasche, die mir der Clubkellner vorsorglich zum Willkommensgruß aufs Zimmer gebracht hatte, und goss ihm ein Glas voll. Er wiederholte: »Bin ich froh, dass du wieder da bist! Wir haben eine schwere Aufgabe vor uns, Alan.«

Ich schenkte mir auch einen Scotch ein und fragte: »Was heißt das? Dicks Mörder zu finden?«

»Ja. Aber noch mehr als das. Wir müssen weitere Morde verhindern.«

Ich füllte unsere Gläser wieder auf. »Nun hör auf mit deinen Anspielungen und erzähl mir, was das alles bedeutet!«

»Nein, Alan. Noch nicht. Stell dir vor, du entdeckst einen neuen Bazillus, einen völlig unbekannten - oder glaubst es zumindest. Du hast ihn studiert und seine Besonderheiten notiert. Und nimm an, du möchtest, dass dir jemand eine Bestätigung deiner Beobachtungen liefert. Was würdest du tun? Ihm zuerst deine eigenen Kenntnisse mitteilen und ihn danach bitten, ins Mikroskop zu schauen und sie zu bestätigen? Oder würdest du ihm lediglich sagen, worum es geht, und ihn bitten, ins Mikroskop zu blicken und selbst herauszufinden, was er feststellt?«

»Letzteres natürlich«, antwortete ich schnell.

»Genau. Ich glaube, dass ich einen neuen Bazillus gefunden habe - oder einen sehr alten, obwohl es nichts mit Krankheitserregern zu tun hat. Aber ich werde dir nicht eher etwas verraten, bis du dein Auge über das Mikroskop hältst. Ich will deine Meinung vorurteilsfrei hören. Lass eine Zeitung holen!«

Ich rief das Büro an und bestellte die letzte Ausgabe.

Als sie uns hereingebracht wurde, warf Bill einen Blick auf die erste Seite, blätterte weiter, bis er fand, was er suchte. Er las und nickte dabei.

»Dick ist von der ersten Seite verschwunden und taucht jetzt auf der fünften auf«, sagte er. »Lies die ersten Abschnitte - alles andere lohnt sich nicht.«

Ich las: »Dr. William Bennett, hervorragender Gehirnspezialist und Sozius von Dr. Austin Lowell, dem berühmten Psychiater, kam heute Morgen zum Polizei-Hauptquartier und gab an, jener Bill in dem unvollendeten Brief zu sein, der gestern Morgen im Schlafzimmer von Richard J. Ralston kurz nach seinem Selbstmord gefunden worden war. Dr. Bennett sagte, dass dieser Brief ohne Zweifel an ihn gerichtet gewesen sei. Mr. Ralston sei einer seiner ältesten Freunde gewesen und habe ihn noch kürzlich wegen Schlaflosigkeit und schlechter Träume konsultiert. Mr. Ralston war am Abend vor dem Selbstmord noch sein Gast gewesen. Dr. Bennett hatte Mr. Ralston gebeten, die Nacht bei ihm zu verbringen. Zunächst habe Mr. Ralston zugestimmt, dann aber seine Meinung geändert und sei nach Hause gegangen. Die ärztliche Schweigepflicht hinderte Dr. Bennett daran, weitere Symptome zu beschreiben. Nachdem er befragt wurde, ob die geistige Verfassung von Mr. Ralston eine Erklärung dafür abgebe, dass er Selbstmord verübt habe, antwortete Dr. Bennett, dass Selbstmord immer das Resultat einer geistigen Verfassung sei.

Trotz meines Kummers und meiner Verwirrung musste ich über diese Äußerung lächeln.

Dieser Alan, auf den in dem Brief verwiesen wurde, sei nach Angaben Dr. Bennetts Dr. Alan Caranac, der ebenso ein alter Freund Mr. Ralstons sei und heute an Bord der Augustus in New York nach dreijähriger Abwesenheit in Nordafrika erwartet werde. Dr. Caranac ist in wissenschaftlichen Kreisen wegen seiner ethnologischen Forschungsarbeiten berühmt. Dr. Bennett sagte, Mr. Ralston habe gemeint, dass einige seiner Symptome von Dr. Caranac wahrscheinlich erklärt werden könnten, da er sich mit obskuren Geistesverirrungen bei primitiven Völkern befasst habe.

»Jetzt kommt’s«, sagte Bill und zeigte auf den folgenden Abschnitt.

Dr. Bennett unterhielt sich offen mit den Reportern, nachdem er bei der Polizei gewesen war, konnte aber keine wesentlichen Fakten hinzufügen. Er sagte, dass Mr. Ralston große Summen in bar von seinen Konten in den letzten zwei Wochen vor seinem Tod abgehoben habe und dass es keinen Hinweis darauf gäbe, was mit dem Geld geschehen sei. Sofort danach schien er diese Bemerkung zu bereuen und meinte, es habe wahrscheinlich nichts mit dem Selbstmord zu tun. Zögernd gab er auf weiteres Befragen zu, dass sich die Summe auf über hunderttausend Dollar belaufe und die Polizei Nachforschungen anstelle.

»Falls das die Wahrheit ist«, sagte ich, »sieht es nach Erpressung aus.«

»Ich kann keinen Beweis antreten«, erwiderte Bill. »Aber ich habe es der Polizei und den Reportern mitgeteilt.«

Er überflog den Zeitungsartikel noch einmal und erhob sich. »Alan, die Reporter werden bald hier sein«, meinte er. »Die Polizei auch. Ich gehe jetzt. Du hast mich nicht gesehen. Du hast auch keine Ahnung, was los ist. Seit einem Jahr hast du von Ralston nichts mehr gehört. Erzähl ihnen, dass du wahrscheinlich mehr sagen kannst, wenn du dich mit mir getroffen hast. Aber im Augenblick - du weißt einfach nichts. Und das ist wahr - du weißt ja auch nichts. Das ist deine Story, und dabei bleibst du.« Er ging zur Tür.

»Halt, warte eine Minute!«, rief ich. »Was steckt hinter all deinen geheimnisvollen Andeutungen, Bill?«

»Nichts als ein wunderbarer Köder.«

»Was willst du ködern?«

»Dicks Mörder«, sagte er dumpf und wandte sich zur Tür. »Und noch etwas, was dir bald in die Quere kommt - eine Hexe

 

 

 

 

  II. Demoiselle Dahut

 

 

Kurz nachdem mich Bill verlassen hatte, erschien ein Beamter des Detektiv-Büros. Routinemäßig fragte er mich aus und wollte nicht einmal wissen, ob ich Bennett schon gesehen habe. Ich bot ihm einen Scotch an, den er genüsslich zu sich nahm und dann bemerkte: »Ist doch immer dasselbe. Wenn man kein Geld hat, schuftet man sich kaputt, um es zu bekommen. Wenn man’s hat, will es einem ein anderer klauen. Oder man dreht durch wie dieser arme Kerl - was hilft einem dann das ganze Geld? Wie ich hörte, war dieser Ralston doch ein netter Junge, nicht wahr?«

Ich stimmte ihm zu. Er trank noch ein Glas und verließ mich.

Drei Reporter kamen nach ihm, fragten mich ein wenig über Dick aus, zeigten aber nur flüchtiges Interesse an meinen Reisen. Ich musste eine zweite Flasche Scotch bestellen und erzählte ihnen ein paar Geschichten über die Spiegelmagie der Eingeborenen, die glauben, zu bestimmten Zeiten und unter bestimmten Umständen die Bilder derjenigen zu erkennen, die sie lieben oder hassen, und mit dem Spiegelbild Macht über ihre Seelen erlangen.

Der Reporter der City News scherzte, dass er diesen Trick erlernen müsse, um der Spiegelindustrie in Amerika aus den roten Zahlen zu verhelfen und dabei reich zu werden. Die beiden anderen erklärten, dass sie einige Verleger kennen würden, deren Spiegelbilder sie zu gern einfangen würden. Ich lachte und gab noch ein paar Beispiele abergläubischer Wilder aus Afrika von mir.

Am nächsten Tag fand ich jedoch einen besonderen Artikel in der Zeitung.

Möchten Sie Ihre Feinde loswerden? Beschaffen Sie sich einen magischen Spiegel. Dr. Alan Caranac, bekannter Forscher, sagt Ihnen, wie Sie sich absolut von den Menschen zurückziehen können, die Sie nicht um sich haben möchten. Aber zuerst müssen Sie diese Leute davon überzeugen, dass Sie dazu auch in der Lage sind.

Der Artikel war nicht einmal so schlecht. Nachdem ich ihn gelesen hatte, musste ich lachen. Da klingelte das Telefon. Bill fragte mich schroff: »Wie kommst du nur dazu, den Reportern auch etwas über Schatten zu erzählen?«

»Wieso? Warum hätte ich ihnen nicht etwas von Schatten erzählen sollen?«

»Es ist nichts geschehen, was dich dazu veranlasst hätte? Keiner hat dir das nahegelegt?«

»Du wirst immer kurioser. Nein, Bill, ich erzählte das einfach, als sich die Reporter für meine Forschungsarbeit interessierten. Kein Schatten überfiel mich und flüsterte mir das ein...«

Er unterbrach mich barsch: »Sprich nicht so!«

Ich war überrascht, denn in seiner Stimme schwang Panik mit. Das war ganz und gar nicht seine Art.

»Es gab tatsächlich keinen besonderen Grund. Es fiel mir nur gerade ein«, wiederholte ich. »Was soll denn das Ganze, Bill?«

»Kümmere dich jetzt nicht darum. Morgen ist Dicks Beerdigung. Ich werde dich dort treffen.«

Für mich gibt es nichts Schlimmeres, als an der Beisetzung eines guten Freundes teilzunehmen. Deshalb sagte ich: »Du wirst mich dort nicht sehen.« Um jede weitere Diskussion auszuschließen, fragte ich: »Hat schon jemand an deinem Köder geknabbert?«

»Ja und nein«, antwortete er mir. »Noch nicht so, wie ich es mir erhoffte, aber ich stieß auf ein völlig unerwartetes Interesse. Nachdem ich bei dir gewesen war, rief mich Dicks Anwalt an und fragte, was unser Freund mir eigentlich über die Abbuchungen von seinem Konto gesagt habe. Sie könnten nicht herausbekommen, was er mit dem Geld angestellt habe. Sie wollten mir natürlich nicht glauben, als ich ihnen sagte, dass ich davon keine Ahnung habe, sondern nur vage Vermutungen. Stantons Testamentsvollstrecker rief mich ebenfalls heute Morgen an und stellte mir dieselbe Frage. Er sagte, Stanton habe kurz vor seinem Tod beträchtliche Summen abgehoben, sie hätten aber keine Spur gefunden, wohin sie gelangt seien.«

»Das ist merkwürdig. Was weißt du über Calhoun und Marston? Falls sie ebenso verfahren sind, ist an der Sache etwas faul.«

»Ich werde versuchen, das festzustellen«, sagte er. »Auf Wiedersehen!«

»Moment mal, Bill«, sagte ich. »Ich kann zwar gut abwarten, aber allmählich werde ich doch neugierig. Wann kann ich dich sehen? Was soll ich in der Zwischenzeitunternehmen?«

»Alan, warte ab, bis ich dir die Karten auf den Tisch legen kann. Ich möchte im Augenblick nicht mehr dazu sagen, aber vertraue mir - ich habe einen guten Grund. Trotzdem will ich dir eins sagen. Dein Interview ist ein weiterer Köder.«

Bill hatte immer gewusst, was er wollte. Also vertraute ich ihm und verhielt mich still.

Am nächsten Tag wurde Dick beerdigt. Ich studierte meine Notizen und begann mit dem ersten Kapitel meines Buches über marokkanische Zauberkünste. Fast eine Woche später meldete sich Bill am Telefon. »Morgen Abend gibt es eine kleine Abendgesellschaft bei Dr. Lowell«, sagte er. »Ein Dr. de Feradel und seine Tochter werden kommen. Ich möchte dich bitten, mit mir hinzugehen. Ich verspreche dir, dass es für dich interessant wird.«

De Feradel? Der Name kam mir bekannt vor. »Wer ist das?«

»René de Feradel, der französische Psychiater. Du musst eins seiner...«

»Klar«, unterbrach ich ihn. »Er übernahm einige der hypnotischen Experimente von Charcot und führte sie dort weiter, wo Charcot auf gehört hatte.«

»Stimmt, das ist er.«

»Ich werde kommen, denn ich möchte ihn gern kennenlernen.«

»Gut, gegessen wird um halb acht. Zieh dein Dinnerjackett an und komm eine Stunde früher. Es wird ein Mädchen da sein, das sich gern mit dir unterhalten möchte, bevor die anderen erscheinen.«

»Ein Mädchen?«, fragte ich erstaunt.

»Helen«, sagte Bill kichernd. »Enttäusch sie bitte nicht. Du bist ihr Idol.« Damit legte er auf.

Helen war Bills Schwester. Sie war ungefähr zehn Jahre jünger als ich. Seit fünfzehn Jahren hatte ich sie nicht mehr gesehen. Ich erinnerte mich an ihre gelbbraunen Augen und brandroten Haare, ihr linkisches Benehmen und auch an ihre Neigung, einmal dick zu werden. Wenn ich Bill in den Semesterferien besucht hatte, war sie mir nicht von den Fersen gewichen und hatte mich stumm angestarrt, bis ich anfing zu stottern.

Ich wusste, dass sie in Florenz an der Kunstakademie studierte. Nun war ich gespannt, wie sie sich entwickelt hatte.

Am nächsten Tag las ich einige Abhandlungen von de Feradel in der Bücherei der Academy of Medicine. Zweifellos war er ein komischer Kauz mit einigen außergewöhnlich interessanten Theorien. Wenn man den wissenschaftlichen Wortschatz unberücksichtigt ließ, blieb als Rahmen seiner Grundvorstellung nach meinem Empfinden eine Ähnlichkeit mit dem mehrfachgeborenen Abt de Lamaserie in Gyangtse in Tibet übrig. Ein heiliger Mann und ein ausgebildeter Wundertäter, ein Suchender nach dem Wissen entlang seltsamer Pfade, den man abergläubisch einen Zauberer nennen könnte.

Ich fühlte nach der Lektüre ein stärkeres Interesse an diesem Dr. de Feradel. Sein Name war bretonisch wie mein eigener und ebenso ungewöhnlich. Eine andere Erinnerung schoss mir durch den Kopf. In der Chronik der Familie de Carnac, wie wir einst genannt wurden, gab es einen Hinweis auf einen de Feradel. Ich sah zu Hause nach. Milde ausgedrückt, waren sich die beiden Familien nicht ausgesprochen freundlich gesinnt. Doch steigerte dieses Wissen meinen Wunsch, de Feradel persönlich kennenzulernen.

Als ich bei Dr. Lowell eintraf, führte mich der Butler in die Bibliothek. Ein Mädchen erhob sich aus einem großen Sessel und lief mir mit ausgestreckten Armen entgegen. »Hallo, Alan!«

Ich sah sie überrascht an. Sie war nicht besonders groß, aber besaß die Figur, die die griechischen Bildhauer ihren tanzenden Mädchen verliehen hatten. Das zarte schwarze Kleid verhüllte ihre bildschönen Konturen in keiner Weise. Ihr Haar war glänzendes Kupfer und lag wie ein Helm um ihr schmales Gesicht. Sie trug einen zeitlos schönen Haarknoten im Nacken. Die goldbraunen Augen waren leicht schräg gestellt, ihre Nase war schmal und ihr Kinn gerundet. Im Gegensatz zur weißen Haut Rothaariger besaß sie einen goldenen Teint.

Ich blinzelte sie an und platzte heraus: »Du bist niemals - Helen!«

Ihre Augen funkelten. Sie nahm meine Hände in die ihren. »Dieselbe, Alan. Dieselbe. Und du - lass mich dich anschauen. Ja, immer noch der Held meiner Mädchenträume. Dasselbe scharfgeschnittene, dunkle Gesicht - wie - wie - früher nannte ich dich insgeheim Lancelot, Alan. Noch dieselbe sportliche, schlanke Figur - ich nannte dich auch schwarzer Panther, Alan. Seit vielen, vielen Jahren möchte ich eins genau wissen. Nicht etwa, dass du mich liebst, Darling - nein. Ich wusste immer schon, dass du es eines Tages tun würdest - früher oder später. Das ist etwas anderes.«

Ich musste lachen, hatte aber ein verdammt komisches Gefühl dabei. »Ich werde dir alles sagen - sogar, dass ich dich liebe - und vielleicht stimmt das sogar.«

Sie seufzte befriedigt. »Gut, dann bin ich einen Komplex los, da ich es endlich weiß. Du warst so verdammt überlegen damals.« Sie hielt mir ihr Gesicht entgegen. »Da du nun einmal vorhast, mich zu lieben, könntest du mich auch ruhig küssen.«

Ich erfüllte ihren Wunsch. Vielleicht hatte sie mich auf den Arm nehmen wollen, als sie mich als den Helden ihrer Mädchenzeit bezeichnete, aber mein Kuss hielt sie keineswegs zum Narren - auch nicht die Art, mit der sie ihn beantwortete. Sie erschauerte und legte ihren Kopf auf meine Schulter.

Jemand hustete an der Tür. Helen nahm ihre Arme von mir. Wir wandten uns um. Ich bemerkte wohl, dass der Butler und ein Herr ins Zimmer traten, aber mein Blick wurde von einem Mädchen oder einer Frau völlig gefesselt.

Ich konnte nichts anderes ansehen, nicht einmal Helen. Sie hatte die blauesten Augen, die ich je gesehen hatte. Sie waren groß und standen ungewöhnlich weit auseinander, von langen, geschwungenen Wimpern beschattet. Ihre schmalen Brauen trafen sich fast über der Nasenwurzel. Über ihrer breiten Stirn lagen Zöpfe aus dem herrlichsten Gold, und kleine Löckchen kräuselten sich fein und seidig um ihr Gesicht. Ihr Mund war etwas zu groß, aber wunderschön geformt und sensibel. Wie ein Wunder erschien mir ihre Haut, denn sie war weiß, jedoch vital - so als leuchtete Mondlicht dahinter hervor.

Sie war fast so groß wie ich, ausgesprochen gut gewachsen. Kopf und Gesicht wirkten wie eine Blüte, die aus einem schimmernden, seegrünen Gewand wuchs.

Sie wirkte exquisit - aber flüchtig tauchte in mir der Gedanke auf, dass das Blau ihrer Augen keineswegs himmlisch war. Auch die Goldaureole um ihren Kopf hatte nichts Heiliges an sich. Sie war vollkommen - vorübergehend stieg ein Hassgefühl gegen sie in mir auf. Dann dachte ich: Hasse ich dich - oder fürchte ich dich? 

Alles geschah in Bruchteilen von Sekunden.

Neben mir bewegte sich Helen und streckte ihre Hand aus. Lächelnd sagte sie: »Ich bin Helen Bennett. Dr. Lowell bat mich, Sie zu empfangen. Sie sind Dr. de Feradel, nicht wahr?«

Ich betrachtete den Mann, der sich über ihre Hand beugte. Ich geriet in Verlegenheit. Bill hatte mir gesagt, dass ich Dr. de Feradel und seine Tochter kennenlernen würde. Aber dieser Mann sah nicht älter aus als das Mädchen - falls es seine Tochter war. Das Silber in seinen blonden Haaren war etwas blasser, und seine Augen besaßen nicht das dunkle Violett wie ihre.

Ich dachte: Keiner von beiden hat irgendein Alter. Und daran schloss sich sofort die Vorstellung an: Was ist denn nur los mit dir?

Der Mann sagte: »Ich bin Dr. de Feradel. Und dies ist meine Tochter.«

Das Mädchen oder die Frau schien nun Helen und mich leicht amüsiert zu betrachten. Mit merkwürdiger Präzision fügte de Feradel hinzu: »Die Demoiselle Dahut d’Ys«. Er zögerte und fuhr dann fort: »de Feradel.«

»Dies ist Dr. Alan Caranac«, stellte mich Helen vor.

Ich betrachtete das Mädchen. Der Name Dahut d’Ys schlug eine Saite in meinem Gedächtnis an. Und als Helen meinen Namen nannte, weiteten sich die violetten Augen, wurden riesengroß, und die gradlinigen Brauen trafen sich über der Nase. Sie schien mich jetzt erst zu bemerken. In ihren Augen lag etwas Bedrohliches - etwas Besitzergreifendes. Wie zu sich selbst sagte sie: »Alain de Carnac...« Sie sah von mir zu Helen. Ihr Blick war kalkulierend und abschätzend. Ebenso verriet er verächtliche Gleichgültigkeit.

Helen schien ebenfalls diese Gedanken zu empfinden. Sie drehte sich mir zu und sagte sanft: »Liebling, ich schäme mich für dich - wach auf!«

Dabei spürte ich, wie sie mir mit ihrem hochhackigen

Schuh einen Tritt gegen das Schienbein versetzte.

In diesem Augenblick trat Bill ins Zimmer, in Begleitung eines würdigen, weißhaarigen Herrn, der Dr. Lowell sein musste. Ich konnte mich nicht erinnern, je so glücklich gewesen zu sein, Bill zu sehen.

 

 

 

 

  III. Die Theorien Dr. de Feradels

 

 

Helen unterhielt sich mit der Demoiselle Dahut und Dr. Lowell mit Dr. de Feradel, und mich überfiel ein heftiges Verlangen nach einem Drink. Bill stellte Glas und Flasche kommentarlos vor mich auf den Tisch. Nachdem ich ein Glas Brandy heruntergeschluckt hatte, sagte ich zu Bill: »Helen könnte dich in den Hafen des Paradieses treiben, aber die andere in den der Hölle.« Bill sagte nichts, sondern beobachtete mich nur. Ich goss mir ein zweites Glas ein.

»Es gibt Cocktails und Wein zum Essen«, verwies mich Bill sanft.

»Prima!«, erwiderte ich und trank mein Glas leer. Weshalb empfand ich nur solchen Hass gegen diese Schönheit, fragte ich mich im Stillen. Jetzt hasste ich sie nicht mehr, sondern fühlte nur noch brennende Neugier. Woher kam diese vage Empfindung, sie seit langem zu kennen? Ich sagte: »Wenn man sie ansieht, erinnert sie an das Meer.«

»Wer?«, fragte Bill.

»Die Demoiselle d’Ys.«

Er sah mich erstaunt an. »Und wer ist die Demoiselle d’Ys?«

»Kennst du nicht einmal die Namen deiner Gäste?«, fragte ich ihn argwöhnisch. »Das Mädchen da drüben - die Demoiselle Dahut d’Ys de Feradel.«

Bill war sprachlos. »Das wusste ich nicht«, sagte er nach einer Weile. »Lowell erwähnte nur den de Feradel-Anteil ihres Namens.« Er dachte nach, sah mich an und meinte dann: »Wahrscheinlich wird dir noch ein Gläschen nicht schaden. Ich trinke auch eins.«

Nachdem wir unsere Gläser geleert hatten, fügte er hinzu: »Ich kannte die beiden nicht. De Feradel rief Lowell gestern Morgen an - ein berühmter Psychiater den anderen. Lowell war an ihm interessiert und lud ihn mit seiner Tochter ein. Lowell mag Helen, seit sie wieder hier ist, und bittet sie immer, die Gastgeberin zu spielen, wenn er Gesellschaften gibt. Helen hat ebenfalls ein gutes Verhältnis zu dem alten Herrn.« Er trank noch ein Glas und fuhr danach in sachlichem Ton fort: »Soweit ich weiß, lebt de Feradel seit über einem Jahr hier. Aber er besuchte uns bisher flicht - bis diese Interviews von dir und mir in den Zeitungen erschienen.«

Ich sprang erstaunt auf. »Du meinst...«

»Ich meine gar nichts. Ich stelle nur dieses zufällige Zusammentreffen von Umständen fest.«

»Wenn sie aber etwas mit Dicks Tod zu tun hätten, weshalb würden sie es riskieren, herzukommen?«

»Um herauszufinden, wieviel wir wissen - falls wir überhaupt etwas bemerkt haben.« Er zögerte. »Es kann auch nichts bedeuten. Aber genau in dieser Richtung erwartete ich eine Reaktion, als ich meinen Köder auswarf. Und Feradel und seine Tochter widersprechen in keinster Weise der Art von Fisch, die ich fangen wollte -vor allem, seit du den Namen d’Ys erwähnt hast.«