Als Julius de Coster junior sich in der Kneipe Zum Kleinen Sankt Georg betrinkt und das Unvorstellbare auf einmal die schützenden Dämme des Alltags durchbricht

Was Kees Popinga persönlich angeht, so muss man zugeben, dass ihm um acht Uhr abends noch Zeit geblieben wäre, denn auch sein Schicksal war nicht ausgemacht. Aber Zeit wofür? Und hätte er denn etwas anderes tun können als das, was er tat, überzeugt davon, dass es nichts Bedeutsameres war als an den Abertausenden Tagen zuvor?

Er hätte mit den Schultern gezuckt, hätte ihm jemand gesagt, dass sich sein Leben schlagartig ändern sollte und dass diese Fotografie auf der Anrichte, die ihn stehend, eine Hand lässig auf eine Stuhllehne gestützt, im Kreis seiner Familie zeigte, in allen europäischen Zeitungen zu sehen sein würde.

Und selbst wenn er insgeheim nach einem Hinweis auf eine turbulente Zukunft gesucht hätte, er wäre zweifelsohne niemals auf diese flüchtige, verschämte Erregung gestoßen, die ihn beim Vorbeifahren eines Zuges erfasste, vor allem, wenn es ein Nachtzug war, dessen heruntergelassene Rollos die Geheimnisse der Reisenden verbargen.

Und hätte jemand gewagt, ihm ins Gesicht zu sagen, dass sein Chef, Julius de Coster junior, in der Kneipe

Aber ungeachtet aller Wahrscheinlichkeit saß Julius de Coster junior tatsächlich im Kleinen Sankt Georg.

Und in Amsterdam nahm eine gewisse Pamela in ihrer Suite im Carlton ein Bad, bevor sie sich ins Tuchinski aufmachte, das zu der Zeit beliebteste Nachtlokal der Stadt.

Doch was hatte Popinga damit zu tun? Oder damit, dass in einer kleinen Pariser Bar in der Rue Blanche, im Mélie, eine gewisse Jeanne Rozier saß, rothaarig, gemeinsam mit einem Mann namens Louis, den sie, während sie sich etwas Senf nahm, fragte:

»Arbeitest du heute Abend?«

Oder damit, dass in Juvisy, unweit des Rangierbahnhofs an der Straße nach Fontainebleau, ein Automechaniker und seine Schwester …

Eigentlich hatte sich das alles noch nicht ereignet! Es lag in der Zukunft, in der unmittelbaren Zukunft von Kees Popinga, der sich an jenem Mittwoch, dem 28. Dezember, um acht Uhr abends um nichts in der Welt etwas ahnend eine Zigarre ansteckte.

 

Nie hätte er zugegeben, dass er nach dem Abendessen meist schläfrig wurde, denn das hätte man als Kritik am Familienleben verstehen können. Am Essen lag es nicht, denn wie in den meisten holländischen Familien nahm man abends nur etwas Leichtes zu sich: Tee, Butter und Brot, dünne Scheiben Käse und Wurst, hin und wieder ein Dessert.

Die Zigarrenkisten lagen auf dem Marmorsims des Kamins, und Popinga suchte sich mit Bedacht eine Zigarre aus, schnupperte daran, ließ den Tabak knistern, denn das ist unabdingbar, wenn man eine Zigarre genießen will, außerdem hat man das schon immer so gemacht.

Ebenso gehörte dazu, dass Frida, Popingas fünfzehnjährige brünette Tochter, auf dem gerade abgeräumten Tisch unter der Lampe ihre Hefte ausbreitete und sie mit ihren großen dunklen Augen betrachtete, deren Blick ausdruckslos war oder den man nicht verstand.

Die Dinge gingen ihren gewohnten Gang. Carl, der dreizehnjährige Junge, hielt erst seiner Mutter, dann seinem Vater die Stirn hin, gab seiner Schwester einen Kuss und ging zu Bett.

Der Ofen bullerte weiter, und Kees fragte wie üblich:

»Was tun Sie, Mami?«

Er nannte sie der Kinder wegen Mami.

»Ich muss mein Album auf den neuesten Stand bringen.«

Sie war vierzig und strahlte die gleiche Sanftmut, die gleiche Würde aus wie alles im Haus, Menschen und Gegenstände. Man könnte sogar hinzufügen, so als spräche man über den Ofen, sie sei allerbeste holländische Ehefrauenqualität, übrigens eine Marotte von Kees, immer von »allerbester Qualität« zu sprechen.

Nur die Schokolade war zweite Wahl, apropos

Frau Popinga setzte sich also vor das berühmte Album und sortierte ihre Bildchen, während Kees an den Knöpfen des Radios drehte, bis nur noch eine Sopranstimme zu hören war und manchmal das Klappern von Geschirr aus der Küche, wo das Dienstmädchen den Abwasch erledigte.

Die Luft war so schwer, dass der Zigarrenrauch nicht einmal bis zur Decke aufstieg, sondern sich um Popingas Kopf herum staute und er ihn von Zeit zu Zeit wie Spinnweben auseinanderschob.

Waren sie nicht schon seit fünfzehn Jahren in den immer gleichen Ritualen geradezu erstarrt?

Doch als kurz vor halb neun der Sopran verstummte und eine monotone Stimme die Börsenkurse mitteilte, setzte sich Kees plötzlich auf, sah auf seine Zigarre und sagte zögernd:

»Ich frage mich, ob an Bord der Ozean III alles in Ordnung ist!«

Stille. Der Ofen bullerte, Frau Popinga konnte gerade noch zwei Bildchen in das Album kleben, Frida eine Seite in ihrem Heft umblättern.

»Vielleicht sehe ich besser mal nach.«

Damit waren die Würfel gefallen.

Ihm blieb noch Zeit, zwei oder drei Zigarrenmillimeter zu rauchen, sich zu strecken und zu hören, wie man im Sendesaal von Hilversum die Instrumente stimmte, dann wurde Kees vom Räderwerk erfasst.

Das Dienstmädchen brachte ihm seinen dicken grauen Mantel, seine gefütterten Handschuhe und seinen Hut. Sie streifte ihm die Gummischuhe über, wobei er gehorsam erst den einen, dann den anderen Fuß hob.

Er küsste seine Frau, seine Tochter, stellte erneut fest, dass er nicht wusste, was Letztere dachte – vielleicht dachte sie überhaupt nichts –, und überlegte im Flur, ob er sein Fahrrad nehmen sollte, ein komplett vernickeltes Rad mit Gangschaltung, eines der schönsten, die man sich vorstellen konnte.

Er beschloss, zu Fuß zu gehen, verließ das Haus und drehte sich voller Befriedigung noch einmal danach um. Es handelte sich eher um eine Villa, die Pläne hatte er selbst erstellt, den Bau überwacht, und wenn sie auch nicht die größte im Viertel war, so behauptete er doch, dass sie die am besten durchdachte, die mit der harmonischsten Ausstrahlung war.

War nicht sogar das Viertel selbst, ein Neubaugebiet unweit der Straße nach Delfzijl, das angenehmste, das gesündeste in ganz Groningen?

Bisher hatte das Leben für Kees Popinga nur aus derartigen Befriedigungen bestanden, ganz realen Befriedigungen, schließlich konnte niemand behaupten, dass ein erstklassiger Gegenstand nicht erstklassig, ein hochwertig gebautes Haus nicht hochwertig gebaut und Oostings Metzgerei nicht die beste in ganz Groningen war.

Es war kalt, auf eine trockene und erfrischende Weise.

Es war kein Vorwand gewesen. Natürlich hatte er nichts dagegen, durch die kühle Nacht zu gehen, statt zu Hause in der schalen Wärme vor sich hin zu dösen. Aber niemals hätte er sich dem Gedanken hingegeben, dass es irgendwo auf der Welt schöner sein könnte als bei ihm zu Hause. Genau aus diesem Grund errötete er, wenn er einen Zug vorüberfahren hörte und dabei eine seltsame Beklommenheit spürte, die vielleicht eine Art Fernweh verriet.

Die Ozean III war ganz und gar gegenwärtig und Popingas nächtlicher Besuch eine berufliche Pflicht. Er war leitender Angestellter mit Prokura bei Julius de Coster en Zoon. Die Firma Julius de Coster en Zoon war nicht nur in Groningen, sondern im gesamten niederländischen Friesland der führende Schiffsausstatter, vom Tauwerk bis zu Öl und Kohle gab es alles, Alkohol und Lebensmittel nicht zu vergessen.

Am späten Nachmittag nun hatte die Ozean III, die um Mitternacht auslaufen musste, um bei Flut den Kanal zu passieren, einen großen Auftrag erteilt.

Kees sah den Klipper, einen Dreimaster, schon von Weitem. Der Quai des Wilhelminakanals war verwaist, nur Taue blockierten den Weg, über die er jedoch geschickt hinwegstieg. Geübt erklomm er die Lotsenleiter und ging, ohne zu zögern, auf die Kapitänskajüte zu.

Streng genommen war dies die letzte Frist, die ihm das Schicksal ließ. Er hätte noch umkehren können, doch ahnungslos, wie er war, stieß er die Tür auf und stand

Für jeden, der die Firma Julius de Coster en Zoon kannte, war das am wenigsten erwartbare Ereignis eingetreten: Der Tanker, der um sieben Uhr das Heizöl hätte liefern sollen – und den Kees Popinga persönlich geordert hatte –, war nicht gekommen! Nicht nur, dass er nicht an der Ozean III festgemacht hatte, es war auch niemand an Bord, und die übrige Ware war ebenfalls nicht geliefert worden.

Fünf Minuten später stieg ein stammelnder Popinga wieder auf den Quai hinunter und beteuerte, dass es sich nur um ein Missverständnis handeln könne und er alles regeln werde.

Seine Zigarre war ausgegangen. Er bedauerte, nicht doch das Fahrrad genommen zu haben, und rannte, ja, er rannte wie ein kleiner Junge durch die Straßen, so verrückt machte ihn die Vorstellung, dass dieses Schiff, weil es kein Heizöl hatte, die Flut verpassen und nicht nach Riga fahren könnte. Zwar fuhr Popinga nicht selbst zur See, aber er hatte das Kapitänspatent für Langfahrten erworben und schämte sich nun für seine Firma, für sich selbst und für das gesamte Schifffahrtswesen, dass so etwas hatte passieren können.

Würde er Herrn Julius de Coster, was manchmal geschah, nicht vielleicht zufällig in seinem Büro antreffen? Nein, da war er nicht, und obwohl schon ganz außer Atem, eilte Popinga weiter zum Haus seines Chefs, einem ruhigen, ehrwürdigen Haus, das aber, wie alle Häuser im Zentrum, älter und weniger komfortabel war

Von Weitem hörte er Schritte; der Türspion wurde zur Hälfte geöffnet; ein Dienstmädchen musterte ihn gelangweilt. Nein! Herr Julius de Coster sei nicht zu Hause. Also traute sich Kees und verlangte danach, Frau de Coster zu sprechen, eine echte Dame, Tochter eines Provinzgouverneurs, die niemand in einer geschäftlichen Angelegenheit zu behelligen gewagt hätte.

Schließlich öffnete sich die Tür. Popinga wartete lange neben einer Topfpalme am Fuß der drei Marmorstufen, dann wurde er hinaufgewinkt und in ein orangerot beleuchtetes Zimmer geführt, wo er sich gegenüber einer Frau in einem seidenen Morgenmantel wiederfand, die eine in einer Spitze aus Jade steckende Zigarette rauchte.

»Was wünschen Sie? Mein Mann ist zeitig ins Büro gegangen, um etwas Dringendes zu erledigen. Warum haben Sie sich nicht dorthin gewandt?«

Nie würde er diesen Morgenmantel vergessen, das im Nacken zusammengebundene braune Haar, die außerordentliche Gleichgültigkeit dieser Frau, vor der er stammelnd den Rückzug antrat.

 

Eine halbe Stunde später bestand keine Hoffnung mehr, dass die Ozean III noch auslaufen würde. Kees ging noch einmal ins Büro, weil er dachte, dass er seinem Chef vielleicht über den Weg laufen würde. Dann ging er durch eine belebtere Straße zurück, in der die Läden wegen der bevorstehenden Weihnachtszeit noch geöffnet hatten. Jemand streckte ihm die Hand entgegen.

»Claes!«

Doktor Claes war Kinderarzt und im selben Schachclub wie er.

»Kommen Sie nicht zum Turnier heute Abend? Sieht ganz so aus, als würde der Pole geschlagen …«

Nein. Er würde nicht hingehen. Sein Tag war Dienstag, und heute war Mittwoch. Vom Herumlaufen in der Kälte war sein Gesicht gerötet, und sein Atem war ganz heiß.

»Übrigens«, fuhr Claes fort, »Arthur Merkemans war vorhin bei mir …«

»Er täte besser daran, sich zurückzuhalten.«

»Das habe ich ihm auch gesagt …«

Doktor Claes machte sich auf in den Club, während auf Popinga nun ein weiterer Verdruss lastete.

Warum war es nötig gewesen, ihn auf seinen Schwager anzusprechen? Hat nicht fast jede Familie ihr schwarzes Schaf?

Merkemans hatte übrigens nichts Schlimmes getan. Am ehesten konnte man ihm noch vorwerfen, acht Kinder gezeugt zu haben, aber zu jener Zeit hatte er noch eine recht gute Stellung in einem Auktionshaus, die er dann jedoch eines Tages verlor. Er blieb lange Zeit arbeitslos, weil er zu wählerisch war, dann nahm er im Gegenteil wahllos alles an, und es wurde immer schlimmer.

Jetzt kannte ihn jeder, weil er die Leute anpumpte und ihnen von seinem Pech und seinen acht Kindern erzählte.

Es war peinlich. Popinga spürte plötzlich einen Druck im Magen und dachte mit Abneigung an diesen Schwager, der sich gehen ließ und dessen Frau inzwischen keinen Hut mehr trug, wenn sie einkaufen ging.

Er wusste, er würde es sich nicht verkneifen können, zu seiner Frau zu sagen:

»Dein Bruder ist bei Doktor Claes gewesen.«

Sie hätte Verständnis. Sie würde seufzen, ohne ein Wort zu sagen. Es war immer das Gleiche!

Unterdessen ließ er St. Christophorus hinter sich, bog links in eine stille Straße ein, in der sich Schneewälle entlang der Gehsteige und vor den schweren Haustüren mit Messingklopfern türmten. Er versuchte, an Weihnachten zu denken, aber schon nach der dritten Gaslaterne wurde ihm klar, dass ihn andere Gedanken verfolgten.

Ach! So schlimm war es nicht! Eine kurze Unruhe nur, jedes Mal, wenn er nach seiner Schachpartie hier vorbeikam …

Groningen war eine anständige Stadt, wo man, anders als in Amsterdam zum Beispiel, nicht Gefahr lief, auf der Straße von schamlosen Frauen angesprochen zu werden.

Doch hundert Meter vom Bahnhof entfernt gab es ein Haus, ein einziges, von außen stattlich und bürgerlich, dessen Tür sich auf ein leises Klopfzeichen hin öffnete.

Kees hatte es nie betreten. Er kannte nur die Geschichten, die man sich im Club erzählte. Er selbst hatte es so oder so immer vermieden, seiner Frau untreu zu werden.

Nur wenn er abends hier vorbeikam, malte er sich alles Mögliche aus, und nun, nachdem er Frau de Coster im Morgenmantel begegnet war, umso mehr. Bis jetzt hatte er sie immer nur von Weitem und in Straßenkleidung

Er ging vorbei … Es war nicht mehr als ein kurzes Innehalten, als er sah, wie sich hinter dem Vorhang im ersten Stock zwei Schatten bewegten … Er konnte schon den Bahnhof erkennen, wo um fünf Minuten nach Mitternacht der letzte Zug abfuhr … Vor dem Bahnhof, auf der rechten Seite, gab es noch die Kneipe Zum Kleinen Sankt Georg, die für ihn etwa zur selben Kategorie gehörte wie das Haus, an dem er gerade vorübergegangen war, wenngleich er sie nicht ganz so anrüchig fand.

Einst, als es noch Postkutschen gab, hatte es hier ein Gasthaus Zum großen Sankt Georg gegeben, neben dem etwas später die Schenke Zum Kleinen Sankt Georg aufmachte.

Nur die Schenke hatte überlebt, im Kellergeschoss, die Fenster auf Straßenhöhe. Allerdings war sie fast immer leer, denn erst wenn die anderen Kneipen schlossen, wurde sie von deutschen und englischen Seeleuten aufgesucht.

Gegen seinen Willen warf Popinga jedes Mal einen Blick hinein, auch wenn es dort nichts Besonderes zu sehen gab: dunkle Eichentische, Bänke, Hocker und im Hintergrund eine Theke, hinter der ein riesenhafter Wirt stand, der wegen seines Kropfs keine Hemden mit Kragen tragen konnte.

Warum wirkte das Lokal wie eine Lasterhöhle auf ihn? Weil es bis zwei oder drei Uhr morgens geöffnet hatte? Weil hier auf dem Regal mehr Genever- und Whiskeyflaschen standen als anderswo? Weil es sich im Kellergeschoss befand?

In Groningen gab es zwei Kategorien von Lokalen: die verlof, in denen nur harmlose Getränke ausgeschenkt wurden, und die vergunning, wo es Alkohol gab.

Nun, für Kees wäre es ehrenrührig gewesen, ein vergunning zu betreten. Hatte er nicht das Kegeln aufgegeben, weil die Kegelbahn sich im Hinterzimmer eines solchen Etablissements befand?

Das Kleine Sankt Georg war das vergunning aller vergunning. Und dennoch saß in dem niedrigen Raum ein Mann und trank, ein Mann, der nicht nicht Julius de Coster junior höchstpersönlich sein konnte.

Hätte er sich jetzt in den Schachclub begeben und Doktor Claes oder irgendjemandem erzählt, er habe Julius de Coster im Kleinen Sankt Georg gesehen, man hätte ihn sorgenvoll angeblickt und ihm geraten, doch einen Arzt aufzusuchen.

Es gibt Leute, auf deren Kosten man sich Scherze erlauben darf. Aber Julius de Coster …

Allein sein Spitzbart war das abweisendste Ding von ganz Groningen! Und erst sein Gang! Und seine schwarze Kleidung! Und sein berühmter Hut, dieses Mittelding zwischen Melone und Zylinder!

Nein! Undenkbar, dass Julius de Coster sich den Spitzbart hatte abrasieren lassen. Undenkbar auch, dass er einen zu weiten braunen Anzug trug!

Und dass er dort an einem Tisch im Kleinen Sankt

Nun drehte sich der Mann jedoch Richtung Fenster, und auch er schien überrascht zu sein, denn er beugte sich ein wenig vor, um Popinga, der noch immer mit der Nase an der Scheibe klebte, besser sehen zu können.

Und dann geschah etwas gänzlich Unerhörtes. Er hob zu einer kleinen Geste an, als wollte er sagen:

›Kommen Sie doch herein!‹

Und Kees ging tatsächlich hinein, gebannt, wie das Kaninchen vom Blick der Schlange, und der Wirt, der gerade Gläser abtrocknete, rief ihm von der Theke aus zu:

»Können Sie nicht die Tür zumachen wie andere Leute auch?«

 

Es war Julius de Coster!

Er deutete auf einen Hocker und murmelte:

»Wetten, Sie waren an Bord?«

Ohne die Antwort abzuwarten, sagte er in einem Ton, den man noch nie von ihm gehört hatte:

»Zerreißen sie sich das Maul?«

Und dann:

»Sie haben mir wohl nachspioniert, was? Wie wüssten Sie sonst, dass ich hier bin!«

Am befremdlichsten war, dass er nicht verärgert schien, dass er das alles ohne Groll und mit einem amüsierten Lächeln sagte. Er gab dem Wirt ein Zeichen, die Gläser zu füllen, überlegte es sich aber im letzten Moment anders und behielt lieber die Flasche auf dem Tisch.

»Hören Sie, Herr de Coster, heute Abend ist …«

»Trinken Sie erst mal, Herr Popinga.«

»Trinken Sie, los – und ich gebe Ihnen den freundschaftlichen Rat, trinken Sie die ganze Flasche leer, wenn Sie können! –, der Alkohol wird Ihnen helfen zu verdauen, was ich Ihnen jetzt sagen werde. Ich hätte nicht gedacht, dass ich heute Abend noch das Vergnügen haben würde, Sie zu treffen. Sie haben sicher bemerkt, dass ich schon ein wenig getrunken habe, was unserer Unterhaltung einen gewissen Charme verleihen wird.«

De Coster war betrunken. Darauf hätte Popinga wetten können. Aber betrunken wie jemand, der an diesen Zustand gewöhnt ist und sich nicht weiter daran stört.

»Eine unangenehme Sache für die Ozean III, ein gutes Schiff, das laut Vertrag in sieben Tagen zurück in Riga sein soll. Viel unangenehmer ist der Vorfall jedoch für die anderen, für Sie zum Beispiel, Herr Popinga.«

Er schenkte sich ein, während er sprach, trank, und Kees’ Blick fiel auf ein großes weiches Paket, das auf der Bank neben ihm lag.

»Viel unangenehmer, weil Sie sicher keine Ersparnisse haben und wie Ihr Schwager auf der Straße landen werden.«

Fing er jetzt auch von Merkemans an?

»Trinken Sie doch bitte Ihr Glas aus … Sie sind ja ein vernünftiger Mann, und ich kann Ihnen alles … Stellen Sie sich vor, Herr Popinga, die Firma Julius de Coster en Zoon wird morgen wegen Betrugs bankrott sein, und die Polizei wird mich suchen …«

»Sie werden nicht alles verstehen, was ich Ihnen jetzt sage, weil Sie ein echter Holländer sind. Aber später, wenn Sie darüber nachdenken, Herr Popinga …«

Bei jeder Wiederholung betonte er »Herr Popinga« anders, als würde er sich an jeder einzelnen Silbe ergötzen.

»Das sollte Ihnen zunächst einmal zeigen, dass Sie trotz Ihrer Fähigkeiten und der sehr hohen Meinung, die Sie von sich selbst haben, ein jämmerlicher Prokurist sind, denn Sie haben nichts bemerkt … Seit mehr als acht Jahren gebe ich mich nun schon Spekulationen hin, Herr Popinga, Spekulationen, die man, gelinde gesagt, als gewagt bezeichnen muss.«

Es war noch heißer als bei Kees zu Hause, nur war diese Hitze brutal, aggressiv und wurde einem von einem abscheulichen gusseisernen Ofen, wie man ihn oft in kleinen Bahnhöfen findet, erbarmungslos entgegengefeuert. Es roch nach Genever, der Boden war mit Sägespänen übersät, der Tisch mit feuchten Ringen bedeckt.

»Ich bitte Sie, trinken Sie, und sagen Sie sich, dass Ihnen dieses Trostpflaster immer bleiben wird. Übrigens, als ich Ihren Schwager zuletzt sah, hatte ich den Eindruck, dass auch er das allmählich begreift. Sie sind also an Bord gegangen und …«

»Ich war auch bei Ihnen zu Hause.«

»Wo Sie die bezaubernde Frau de Coster angetroffen haben? War Doktor Claes ebenfalls da?«

»Kein Grund, verlegen zu werden, Herr Popinga. Vor drei Jahren fing das an, an einem Weihnachtsabend, und seither schläft Doktor Claes fast täglich mit meiner Frau.«

Er trank, paffte seine Zigarre und ähnelte in Kees’ Augen immer mehr jenen gotischen Teufeln, die das Portal mancher Kirchen zierten und deren Anblick man Kindern besser ersparte.

»Ich sollte allerdings hinzufügen, dass ich jede Woche nach Amsterdam gefahren bin, um Pamela zu treffen … Erinnern Sie sich an Pamela, Herr Popinga?«

Er war so ruhig, dass man sich fragen musste, ob er tatsächlich betrunken war, während Kees, als er Pamelas Namen hörte, errötete wie ein dummer Junge.

Hatte Popinga sie etwa nicht begehrt, wie alle?

So wie es in Groningen nur ein Bordell gab, gab es auch nur ein Nachtlokal, in dem bis ein Uhr morgens getanzt wurde.

Er hatte es nie betreten, aber von Pamela gehört, einer lispelnden, etwas fülligen braunhaarigen Animierdame, die zwei Jahre in Groningen geblieben und in derart extravaganten Kleidern durch die Stadt spaziert war, dass die Damen den Blick abwandten, wenn sie ihr begegneten.

»Nun ja, ich habe Pamela ausgehalten. Ich habe sie in Amsterdam im Carlton untergebracht, wo sie mir ihre charmanten Kolleginnen vorgestellt hat. Geht Ihnen langsam ein Licht auf, Herr Popinga? Oder sind Sie schon zu besoffen, um zu begreifen, was ich Ihnen sagen will? Nutzen Sie die Gelegenheit, hören Sie? Morgen, wenn Sie über all das nachdenken, werden Sie zu einem

Er lachte! Er trank und füllte sein Glas und das von Popinga, dessen Blick sich zu trüben begann.

»Ich weiß, das ist alles ein bisschen viel auf einmal, aber ich habe nicht die Muße, Ihnen eine zweite Lektion zu erteilen. Suchen Sie sich aus, was Sie davon verarbeiten können. Denken Sie daran, was für ein Trottel Sie gewesen sind … Na also! Sie wollen einen Beweis? Hier ist einer auf beruflichem Gebiet. Sie haben Ihr Kapitänspatent, und darauf sind Sie stolz … Die Firma Julius de Coster besitzt fünf Klipper, um die Sie sich gekümmert haben. Dennoch ist Ihnen nie aufgefallen, dass auf einem nur Schmuggelware befördert wurde und ein anderer wegen der Versicherungsprämie auf meine Anordnung hin versenkt wurde!«

Kees reagierte, ganz anders als erwartet, mit einer geradezu übernatürlichen Ruhe. War es der Alkohol?

Jedenfalls schien er gleichmütig zuzuhören.

Wobei … Allein die Namen der Klipper! … Eleonore I … Eleonore II … Eleonore III … Und so weiter bis fünf! Immer wieder der Vorname von Frau de Coster, jener Frau, die Kees vorhin im Morgenmantel und mit einer langen Zigarettenspitze im Mund gesehen hatte und die angeblich mit Doktor Claes ins Bett ging!

Aber noch war das Sakrileg nicht vollkommen. Über Julius de Coster junior und seiner Frau gab es jemanden, der für alle Zeiten über die Banalitäten des Lebens erhaben schien: Julius de Coster senior, der Vater, der Firmengründer, der trotz seiner dreiundachtzig Jahre immer noch täglich in seinem strengen Büro thronte.

Kees sollte eigentlich sternhagelvoll sein, und doch entging ihm kein Wort, kein einziger Gesichtsausdruck. Nur schien es ihm so, als spielte sich die Szene in einer irrealen Welt ab, in die er versehentlich hineingeraten war, und als stünde er, sobald er draußen wäre, wieder mit beiden Beinen im alltäglichen Leben.

»Im Grunde bedrückt mich das alles nur Ihretwegen … Wohlgemerkt waren Sie es, der darauf bestanden hat, die eigenen Ersparnisse in meine Firma zu stecken. Ich hätte Sie nur verärgert, wenn ich abgelehnt hätte … Und dann haben Sie sich auch noch diese Villa bauen lassen, die Sie zwanzig Jahre lang abbezahlen. Die Raten werden Sie jetzt kaum noch aufbringen können …«

Sogleich stellte er seine Unverfrorenheit auf schreckliche Weise unter Beweis, indem er fragte:

»Ach, übrigens, ist die nächste Rate nicht Ende Dezember fällig?«

Er schien aufrichtig bestürzt zu sein.

»Ich schwöre Ihnen, ich habe getan, was ich konnte. Aber ich hatte kein Glück, das ist alles! Eine

Diesmal hatte er nicht »Herr Popinga« gesagt!

»Glauben Sie mir! Die Leute sind all die Mühe nicht wert, die man sich gibt, damit sie Gutes von einem denken. Sie sind dumm! Sie sind der Grund dafür, dass man sich tugendhaft gibt, dabei betrügen sie am allermeisten … Ich möchte Ihnen keinen Kummer bereiten, aber ich muss gerade an Ihre Tochter denken, die ich vorige Woche gesehen habe … Nun ja! Unter uns gesagt, sie ähnelt Ihnen so wenig mit ihren braunen Haaren und ihrem matten Blick, dass ich mich frage, ob sie von Ihnen ist … Doch was macht das schon? Zumindest macht es nichts, solange man selbst betrügt. Wenn man allerdings mit offenen Karten spielt, hat man verloren.«

Er sprach nicht mehr zu Kees, sondern zu sich selbst und schloss:

»Betrügt man als Erster, geht man jedenfalls eher auf Nummer sicher! Was riskiert man schon dabei? … Heute Abend lege ich die Kleidung von Julius de Coster junior ans Kanalufer. Und morgen wird alle Welt glauben, ich hätte Selbstmord begangen, weil ich die Schande nicht ertragen konnte, und diese Idioten werden es sich einiges kosten lassen, den Kanal auszubaggern und nach meiner Leiche zu suchen … Aber dann bin ich schon über alle Berge. Ich nehme den Zug um fünf nach Mitternacht … He!«

»Wenn Sie nicht zu betrunken sind, dann hören Sie mir jetzt genau zu … Vor allem sollten Sie wissen, dass ich nicht vorhabe, Sie zu kaufen … De Coster kauft niemanden, und ich habe Ihnen deshalb so viel anvertraut, weil ich weiß, dass Sie es nicht über sich bringen, es weiterzuerzählen. Kapiert? Jetzt versetze ich mich an Ihre Stelle … Sie haben keinen Pfennig mehr, und wie ich die Leute von der Immobilienfirma kenne, wird man Ihnen schon bei der ersten Rate, die Sie nicht bezahlen, das Haus wieder wegnehmen … Ihre Frau wird Ihnen das übelnehmen … Jeder wird glauben, dass Sie mein Komplize gewesen sind … Sie finden eine neue Stelle, nein, Sie finden keine, und landen da, wo Ihr Schwager Merkemans jetzt ist … Ich habe tausend Gulden in der Tasche … Wenn Sie hierbleiben, kann ich nichts für Sie tun … Mit fünfhundert Gulden werden Sie sich nicht aus der Affäre ziehen … Aber sollte Ihnen zufällig bis morgen ein Licht aufgehen … Hier, mein Lieber.«

Mit einer unerwarteten Geste schob de Coster Popinga die Hälfte seines Geldbündels zu.

»Nehmen Sie’s! … Das ist noch nicht alles … Ich habe mein Pulver nicht ganz verschossen, und es wird nicht lange dauern, dann bin ich wieder flott … Warten Sie! … Seit fünfunddreißig Jahren lese ich täglich dieselbe Zeitung, und ich werde sie auch weiterhin lesen … Die Morgenpost … Falls Sie nicht hierbleiben und irgendetwas brauchen, setzen Sie eine mit Kees unterzeichnete Annonce in diese Zeitung. Das genügt … Und jetzt tun Sie mir noch einen kleinen Gefallen. Es wäre mir

Er zahlte, nahm sein Paket am Bindfaden und vergewisserte sich, dass Popinga sich auf den Beinen halten konnte.

»Wir werden die zu hell erleuchteten Straßen meiden … Kommen Sie zur Besinnung, Popinga! … Morgen bin ich tot, und das ist immer noch das Beste, was einem Menschen passieren kann …«

Sie kamen an dem berüchtigten »Haus« vorbei, aber Kees zeigte keinerlei Reaktion, so sehr war er mit seinen Gedanken beschäftigt und um sein Gleichgewicht bemüht. Er hatte, aus einem letzten Reflex heraus, das Paket seines Chefs tragen wollen, aber der hatte abgelehnt.

»Kommen Sie hier entlang. Da ist es ruhiger …«

Die Straßen waren leer. Groningen schlief, bis auf das Kleine Sankt Georg, das »Haus« und den Bahnhof.

Der Rest war nichts weiter als ein Traum. Sie erreichten das Ufer des Wilhelminakanals, unweit einer der Eleonoren, der Eleonore IV, die Käse für Belgien lud. Der Schnee war hart wie Eis. Mit einer mechanischen Geste hielt Kees seinen Chef fest, der beinahe ausgerutscht wäre, als er die Kleidungsstücke aus dem Paket an die Uferböschung legte. Für einen kurzen Moment sah Kees den berühmten Hut, aber ihm war nicht nach einem Lächeln zumute.

»Wenn Sie nicht zu müde sind, könnten Sie mich noch zum Zug begleiten … Ich habe eine Fahrkarte dritter Klasse gekauft …«

Am Ende des Bahnsteigs stand ein richtiger Nachtzug, schläfrig, schmutzig und einsam, während der

Ein paar Italiener – woher kamen sie nur? – hatten sich in einem Abteil zwischen unförmigen Bündeln ausgebreitet, während ein junger Mann in einem Ratiné-Mantel, dem zwei Gepäckträger vorausgingen, würdevoll in ein Abteil erster Klasse stieg und seine Handschuhe auszog, um in seinen Taschen nach Kleingeld zu suchen.

»Fahren Sie nicht mit?«

De Coster lachte, während er das sagte, und doch verschlug es Kees den Atem. Obwohl er betrunken war, ja vielleicht gerade deswegen, verstand er sehr viel und hätte am liebsten gesagt …

Nein! Dies war nicht der richtige Augenblick … Außerdem wäre es nicht klug gewesen. Julius de Coster hätte geglaubt, dass Kees nur angeben wollte …

»Nicht böse sein, armer Freund. So ist das Leben, glauben Sie mir! … Denken Sie an die Annonce in der Morgenpost. Aber nicht zu bald, denn ich brauche Zeit, um …«

In diesem Moment bewegten sich die Waggons, setzten vor, setzten zurück, und Kees Popinga konnte sich später weder daran erinnern, wie er nach Hause gekommen war, noch, wie er einen letzten Blick auf die Schatten hinter einem Vorhang des »Hauses« geworfen hatte, im zweiten Stock dieses Mal, und wie er sich schließlich ausgezogen hatte, ohne dass Mami sein Benehmen ungewöhnlich gefunden hätte.

Fünf Minuten später begann das Bett fürchterlich zu schaukeln, und Kees musste sich an die Laken klammern,

Wie Kees Popinga, obwohl er auf der falschen Seite geschlafen hat, heiter gelaunt erwacht und sich nicht zwischen Eleonore und Pamela entscheiden kann

Normalerweise schlief er schlecht, wenn er zufällig auf der linken Seite lag. Er litt unter Atemnot, schnaubte, wurde unruhig und stöhnte, wodurch Frau Popinga aufwachte und ihn mit Nachdruck dazu brachte, sich umzudrehen.

Obwohl er nun auf der linken Seite geschlafen hatte, erinnerte er sich nicht an einen einzigen unangenehmen Traum. Noch besser: Er, der morgens nur schwer in die Gänge kam, war jetzt von einer Sekunde auf die andere hellwach.

Er wurde von einem leisen Geräusch geweckt – ein Zeichen, dass Frau Popinga aufstand –, hielt die Augen aber geschlossen.

Gewöhnlich nutzte er diesen Moment, um einfach wieder einzudösen, in dem Bewusstsein, dass ihm noch eine gute halbe Stunde blieb.

Dieses Mal allerdings nicht! Als seine Frau aufgestanden war, hob er sogar vorsichtig seine Lider, um sie zu betrachten, während sie sich vor dem Spiegel die Lockenwickler aus dem Haar drehte.

Sie fühlte sich unbeobachtet und bewegte sich leise, um

Draußen waren die Gaslaternen noch nicht gelöscht worden, aber man hörte schon das rhythmische Kratzen der Schaufeln, mit denen der Schnee zusammengeräumt wurde.

Unten schien sich das Dienstmädchen, das wie üblich nichts ohne Lärm verrichten konnte, gerade mit ihrem Ofen und den Töpfen herumzuschlagen.