Über Siri Hustvedt

SIRI HUSTVEDT 1955 in Northfield, Minnesota geboren, studierte Geschichte und Anglistik und wurde mit einer Arbeit über Charles Dickens promoviert. Neben Romanen wie den internationalen Bestsellern Was ich liebte und Der Sommer ohne Männer schreibt sie Essays und Gedichte. Seit den neunziger Jahren beschäftigt sie sich mit neurowissenschaftlichen Themen, über die sie seit Erscheinen ihres Buchs Die zitternde Frau auch Vorträge hält und publiziert. Hustvedt ist mit dem Schriftsteller Paul Auster verheiratet, mit dem sie eine Tochter hat.

 

ELISABETH BRONFEN 1958 in München geboren, studierte am Radcliffe College, in Harvard und München. Die Literaturwissenschaftlerin und Autorin ist Professorin für Anglistik an der Universität Zürich und publiziert in den Bereichen Gender Studies, Psychoanalyse, Film und Kulturwissenschaften. Zu ihren Büchern zählen Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht (2004) sowie Liebestod und Femme fatale (2008).

Anfänge

Jeder wird an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit geboren. Sie haben in Essays wie »Nicht hier, nicht dort« über Ihre Kindheit und Jugend geschrieben, und es erscheint mir sinnvoll, zuerst darüber zu sprechen, wo Ihr Leben angefangen hat, etwas über Ihre Familie zu erfahren, und wie all das Ihre Entscheidung beeinflusst hat, Schriftstellerin zu werden.

Mein Leben begann am 19. Februar 1955 in Northfield, Minnesota. Zu der Zeit bestand die Bevölkerung aus rund 6000 Einwohnern plus 3000 Collegestudenten. Mein Vater lehrte an einem der beiden Colleges, St. Olaf, das 1874 von norwegischen Einwanderern gegründet worden war. Er selbst war kein Einwanderer, auch seine Eltern nicht, aber seine Großeltern. Er wuchs auf einer kleinen Farm außerhalb von Cannon Falls in Minnesota auf, wo er während der Weltwirtschaftskrise mit seinen Eltern und drei Geschwistern lebte. Die Krise hat ihn nachhaltig geprägt. Meine Großeltern waren nie reich gewesen, aber die Farm bot ihnen ein Auskommen. Die Weltwirtschaftkrise traf sie hart, mit verheerenden Folgen. Sie verloren den größten Teil ihres Grund und Bodens und mussten die Landwirtschaft schließlich einstellen.

Als Kind bin ich nie auf den Gedanken gekommen, dass Grandma und Grandpa arm wären. Meine Schwester Liv und ich wussten, was »arm« bedeutete, aber das war ein

Das war eine schreckliche Zeit in der Geschichte des ländlichen Amerikas. Man konnte sich zu Tode schuften, und es brachte nichts – man steckte einfach fest. Ich begriff auch nur allmählich, dass die schlimmen Entbehrungen infolge der Weltwirtschaftskrise und dann, im Zweiten Weltkrieg, der Kampfeinsatz in Neuguinea und auf den Philippinen meinen Vater nie mehr losgelassen haben. Diese Ereignisse waren entscheidend für seine Persönlichkeit.

Ich stelle mir Ihre Großeltern und Ihr Leben auf dieser Farm im Mittleren Westen wie eine Szene aus Willa Cathers Meine Antonia vor.

Das wäre Nebraska, ja, gar nicht so weit von Minnesota entfernt, aber Nebraska ist großflächiger und ebener. Antonia und ihre Familie sind Einwanderer, die ihren ersten Winter in der Prärie unter der Erde verbringen. Sie graben ein Loch und verkriechen sich darin, um sich gegen die brutale Witterung der Jahreszeit zu schützen, ehe sie ein Haus bauen. Ich glaube nicht, dass meine Urgroßeltern je in einem Erdloch lebten, aber es gab unzählige Geschichten

Die Lieblingsgeschichte meiner Mutter war die eines Farmers, der die norwegischen Berge so sehr vermisste, dass er Felsbrocken ausgrub, sie aufhäufte und sich seinen eigenen Berg baute. Als ich acht oder neun war, stieß mein Vater bei Arbeiten auf unserem Grundstück auf irgendeinen Stein und begann ihn auszugraben. Er grub und grub, und es stellte sich heraus, dass das Ding viel größer war, als er vermutet hatte. Schließlich zog er mithilfe eines Seils und der Zugkraft unseres Autos einen riesigen Findling aus der Erde. Meine Mutter liebte ihn. Er lag bei uns im Vorgarten, und sie nannte ihn ihren »norwegischen Berg«.

Deshalb hat mich Ihre Schilderung an die Romane des späten amerikanischen Realismus erinnert, daran, wie Armut und Mühsal dort in den Mittelpunkt gerückt werden. Bedeutet das, so etwas wie Wohlstand zog erst mit der Generation Ihrer Eltern in Ihre Familie ein?

Nein, das nicht, meine Großmutter hatte von ihrem Vater einiges Geld geerbt, Geld, das aber eigentlich von der mütterlichen Seite stammte. Die Ehe mit meinem Großvater war finanziell gesehen ein Abstieg für sie, und ich glaube, sie hat sich nie ganz an diese Veränderung gewöhnt.

Mein Großvater war vier Jahre zur Schule gegangen. Er war Autodidakt. Er las Bücher und Zeitungen, kaute eine Menge Tabak, spuckte den Saft in eine Kaffedose, die neben seinem Sessel auf dem Boden stand, und sagte alles in allem sehr wenig. Ich mochte ihn trotzdem. Er hatte ein sanftes Wesen und ein freundliches, weiches, schönes Gesicht.

Mein Vater war weitaus besser dran als seine Eltern, aber wir lebten zu sechst von dem, was auch damals ein mageres akademisches Gehalt war.

Viele norwegische Einwanderer haben sich in Teilen des Mittleren Westens niedergelassen, wo es viele andere Immigranten aus Skandinavien gab. Wie wichtig war die Erinnerung an die alte Heimat für sie? Wie wichtig war das Festhalten an Traditionen, und wie wirkte sich das auf ihr Amerikanischwerden aus?

Ich weiß von einem Ritual der kulturellen Integration, das im Zuge der großen Einwanderungswellen aus Europa praktiziert wurde und mich immer fasziniert hat. Nach meiner Erinnerung wurden die Einwanderer aufgefordert, in ihren traditionellen Trachten eine Scheune zu betreten. Dann, nachdem sie ihre alte Kleidung abgelegt und typisch amerikanische angezogen hatten, kamen sie auf der anderen Seite verwandelt wieder heraus. Dadurch sollte die Idee der Aufgabe des alten Landes, das sie verlassen hatten, um sich als Bürger in

Ich glaube nicht, dass meine Urgroßeltern ihren Bunad – das norwegische Wort für die traditionelle Nationaltracht – je in einem Ritual aufgegeben haben, aber Ihre Geschichte bringt das große Einwanderungsdilemma auf den Punkt: Wie sehr sollten wir uns der neuen Welt anpassen und wie viel von der alten bewahren? Meine Großeltern väterlicher- wie mütterlicherseits, die selbst keine Einwanderer waren, sprachen Englisch mit starkem norwegischen Akzent, wie übrigens auch mein Vater. Sie nannten das »Mundart«, die Mundart ihrer kleinen Gemeinde: eine Art dialektal gefärbte Sprechweise, ähnlich dem, was sich damals auch in anderen Teilen des Landes, einschließlich Brooklyn, entwickelte, von Einwanderern geprägte Sprachklänge, wie es sie in vielen Sprachen gibt. Meine Großeltern und mein Vater hatten eine spezielle Art, Englisch im Rhythmus westnorwegischer Musik zu sprechen. Interessanterweise hat mein Vater diese Sprechweise nie abgelegt. Er bewahrte sie bis zum Tag seines Todes. Er klang nicht »amerikanisch« oder jedenfalls nicht so, dass irgendjemand es für amerikanisch gehalten hätte, aber das war er eben – ein »Norwegisch-Amerikaner« der dritten Generation.

Ich glaube schon. Sich in seiner Aussprache zu mäßigen, hätte für ihn bedeutet, seine Wurzeln hinter sich zu lassen. Er hätte jeden Versuch, anders zu klingen, als Getue und als Verrat an seiner Familie betrachtet. Er wurde zum Gelehrten seines eigenen Volkes. Nach dem Krieg nahm er die G.I. Bill– das Recht aller Kriegsteilnehmer auf Universitätszugang– für den Collegebesuch in Anspruch und wurde schließlich an der University of Wisconsin in Skandinavistik promoviert. Das war damals eine neue Disziplin, eine Kombination von Literatur und Geschichte. Er hatte das Temperament eines Historikers, der tief in die Detailfülle der Vergangenheit eintaucht, aber er liebte Ibsen, kannte dessen Stücke in- und auswendig. Später, als Professor, hielt er einen Kurs über Ibsen – sein Lieblingskurs, der auch bei den Studenten großen Anklang fand und ihm erlaubte, seine darstellerische Begabung auszuleben. Mein Vater war ein hervorragender Redner und konnte sehr witzig sein. Seine größte Leidenschaft aber war die Einwanderungsgeschichte, und er verbrachte viele Jahre seines Lebens damit, das Archiv der NAHA, der Norwegian-American Historical Association, zu organisieren, ohne den geringsten Lohn, ganz ohne Bezahlung.

Später, als ich erwachsen war, wurde mir klar, dass diese Arbeit im Archiv ihm ermöglichte, die Vergangenheit wiederherzustellen, einen Ausgleich für das Leiden zu schaffen, das er als Kind mit seinen Eltern und Geschwistern draußen auf der Farm erfahren hatte. Es war eine Art, zu würdigen, was oft erniedrigend gewesen war, persönlich erniedrigend für seine Eltern wie für ihn. Sie hatten darunter gelitten, so arm zu sein, dass andere Leute auf sie herabblickten.

Er zeigte nie großes Interesse an der Familie seiner Mutter. Ich weiß wenig über sie. Sein Augenmerk galt ausschließlich der väterlichen Seite – ein Detail, das ich heute faszinierend finde. Er fühlte sich seinem Vater viel näher als seiner Mutter. Wichtiger ist hier jedoch, dass er selbst sein Zuhause nie verlassen hatte. Sein Leben war der Erinnerung gewidmet, der Wiederherstellung jener verlorenen Welt, die ihn geformt hatte, die er aber studieren musste, um sie zu verstehen.

Man könnte sagen, dass seine Sorge um die norwegische Kultur etwas mit transgenerationaler Erinnerung zu tun hatte, vielleicht sogar mit transgenerationaler Heimsuchung. So wie Sie es beschreiben, versuchte er offenbar, ein europäisches Zuhause wiederherzustellen und zu bewahren, das nie sein tatsächliches Zuhause gewesen war, ein Zuhause, das er nur aus den Geschichten und Erzählungen derer kannte, die Norwegen verlassen hatten.

Ja, die Geschichten der Einwanderer bedeuteten ihm viel, aber es war auch Schmerz in diesen Erinnerungen. Vielleicht hat ihm die Beschäftigung mit der Einwanderungsgeschichte dazu gedient, diesen Schmerz zu verstehen, der als Heimsuchung von früheren Generationen kam. Das Archiv

Man muss sich dabei vor Augen führen, dass viele Kinder dieser Einwanderer »das alte Land« nie kennengelernt haben. Meine Großmutter väterlicherseits war nie in Norwegen, und ich bin mir nicht sicher, ob sie sich überhaupt danach gesehnt hat. Nachdem ihr Mann, Lars Hustvedt, unerwartet etwas Geld von einer Verwandten geerbt hatte, machte er sich mit siebzig Jahren allein auf seine erste Reise nach Norwegen. Er fuhr nach Voss, besuchte Hustveit und verblüffte die norwegischen Verwandten mit seiner genauen Kenntnis des Hofs. Meinem Vater zufolge sagten sie, Lars kenne jeden Stein dort. Dieses Wissen muss durch Geschichten überliefert worden sein. Durch die Erzählungen meines Urgroßvaters war Hustveit für meinen Großvater ein imaginärer Ort geworden, den er über Jahrzehnte mit sich herumtrug, ehe er ihn zum ersten Mal mit eigenen Augen sah. Ja, das ist eine Form von transgenerationaler Heimsuchung, die sich wohl kaum auf Norweger beschränkt.

Mein Mann und ich haben eine Freundin, die aus einer philippinisch-amerikanischen Familie kommt. Als Wissenschaftlerin hat sie jahrelang über die Geschichte der philippinischen Einwanderer gearbeitet. Als ich bei einem Abendessen in unserem Haus in Brooklyn die Norwegian-American Historical Association erwähnte, sagte sie: »Das ist ein berühmtes Archiv, ein Vorbild für andere, neuere Einwanderungsarchive, die jetzt auf die Beine gestellt werden.« Das hat mich so gefreut! Es ist ein wunderbarer Gedanke, dass ein norwegisches Archiv als Vorbild für

Inzwischen ist diese Welt im ländlichen Minnesota, die ich als Kind kannte, vom Erdboden verschwunden. Die alten Leute, die dort draußen in ihren Farmhäusern lebten und alle Norwegisch sprachen, sind gestorben. Ihre Kinder sind fort. Sie sprechen die Sprache nicht mehr. Diese Welt ist tot.

Aber sicher ist die Verbindung zu Europa nicht vollständig abgerissen. Wie fügt sich eigentlich Ihre Mutter in das Bild?

Meine Mutter ist bis heute durch und durch Norwegerin, obwohl sie schon seit langer Zeit amerikanische Staatsbürgerin ist. Sie hat die ersten dreißig Jahre ihres Lebens, einschließlich der fünf Jahre Nazi-Besatzung während des Zweiten Weltkriegs, in Norwegen verbracht. Ihre Kindheit und ihr frühes Erwachsenenleben waren norwegisch, und das nahm sie mit in die Vereinigten Staaten. Die vielen Geschichten über ihre gutbürgerliche Kindheit in Mandal, der südlichsten Stadt Norwegens, wo sie mit ihrem geliebten Postmeister-und-Gutsbesitzer-Vater und ihrer gleichermaßen, wenn nicht noch inniger geliebten Mutter, ihren drei älteren Geschwistern, einer Kuh, einem Pferd, Hühnern

Einmal, zu Beginn der Okkupation, wurde sie neun Tage ins Gefängnis gesteckt, weil sie zusammen mit anderen Schülern ihres Gymnasiums gegen die Nazis protestiert hatte und die Strafe lieber absitzen wollte, als ein Bußgeld zu bezahlten. Ihr Bruder, der als einer der Rädelsführer ausgemacht worden war, hatte keine Wahl, er musste für drei Monate in ein Osloer Gefängnis. Von den Übrigen aber war sie, ein siebzehnjähriges Mädchen, die Einzige, die sich weigerte, die Geldstrafe zu bezahlen. Ich glaube ganz ehrlich, dass die Deutschen nicht wussten, was sie mit ihr machen sollten. Sie öffneten ein altes Gefängnis im nahe gelegenen Mysen, wo sie ihre Strafe in einer winzigen Zelle mit einem hohen, vergitterten Fenster und einem kleinen Nachttopf bei Wasser und vergammelten grünen Kartoffeln verbüßte. Am Ende, sagte sie, sei ihr Bauch furchtbar aufgebläht gewesen, aber sie machte sehr deutlich, dass sie nicht verzweifelt war. »Ich wusste, sie würden mich wieder rauslassen«, sagte sie. Sie erinnert sich auch, im Gefängnis So grün war mein Tal gelesen und den Roman geliebt zu haben. Ihr ganzes Wesen hatte immer etwas fröhlich Optimistisches.

Mit vier Jahren habe ich meine Mutter angeblich

Geographisch betrachtet, war es bei mir genau umgekehrt. Meine Großeltern, jüdische Einwanderer aus Litauen, lebten in Queens, während ich in Deutschland aufwuchs, und ich konnte sie nur ein einziges Mal sehen, bevor sie starben, weil es damals so teuer war, über den Atlantik zu fliegen. Obwohl mein Vater ein ziemlich erfolgreicher Anwalt war, hatte auch er nicht das Geld, um mit der ganzen Familie seine Heimat und Verwandtschaft zu besuchen. Wie war es denn für Sie, in einer amerikanischen, aber stark norwegisch beeinflussten Gemeinde aufzuwachsen?

In Northfield lebten auch Menschen anderer Herkunft, vor allem Deutsche, Polen und Tschechen, aber es gab viele, insbesondere im Umkreis von St. Olaf, die sich mit

Meine erste Sprache war Norwegisch, da die Mutter meiner Mutter in der Zeit, als ich sprechen lernte, ein ganzes Jahr bei uns blieb und im Haus nur Norwegisch gesprochen wurde, aber nachdem sie fort war, wechselten wir zum Englischen, und ich vergaß Norwegisch. Als ich vier war, verbrachte ich mit meiner Mutter und meiner Schwester Liv, die damals zweieinhalb war, fünf Monate in Norwegen. Wir Kinder vergaßen das Englische. Zurück in den USA war wieder Englisch dran, und wir vergaßen Norwegisch. Als ich zwölf war, zogen wir mit der ganzen Familie nach Bergen – mein Vater hatte dort einen Forschungsaufenthalt –, und es kam mir vor, als flöge mir das Norwegische nur so zu. Alles, was ich als Vierjährige gekonnt hatte, schien sofort wieder da zu sein. Meine drei Schwestern und ich fanden uns so schnell ins Norwegische ein, dass wir nach einer Weile nicht mehr Englisch miteinander sprachen, sondern nur noch Norwegisch. Danach blieb beides haften.

In Ihren Romanen werden Orte sehr sorgfältig beschrieben. Ich frage mich daher, was für ein Ort das Zuhause war, dem Ihre Mutter vorstand.

Ich bin gerührt von dem, was Sie erzählen. Die Filme und insbesondere die Literatur der fünfziger Jahre über die amerikanische Familie – ich denke an John Updike, Mary McCarthy und natürlich an Salingers Fänger im Roggen –

Gegen meine Mutter war er eine ferne Erscheinung. Ich erinnere mich, als wir noch kleine Mädchen waren und er von der Arbeit im College nach Hause kam, rannten wir alle schreiend an die Tür: »Daddy ist zu Hause! Daddy ist zu Hause!« Er war unser Hausgott. Ja, es hatte ein bisschen was von Leave It To Beaver – Erwachsen müsste man sein –, um eine Sitcom über das idealisierte, sexistische weiße Mittelschichtleben in Erinnerung zu rufen, die damals Horden von Amerikanern vor den Fernseher lockte. Aber abgesehen davon, gab es bei uns zu Hause ein starkes Bedürfnis, Streitigkeiten und Konflikte zu besänftigen. Wir Kinder rauften uns natürlich, aber hart zuschlagen war verboten. Wir hatten Freunde, die regelrechte Geschwisterkriege führten, physische Kämpfe austrugen, aber das war nicht Teil unserer häuslichen Realität. Um ehrlich zu sein, glaube ich, dass sich meine Eltern schwer bemühten, keine Schwierigkeiten zwischen ihnen durchblicken zu lassen. Dieses Harmoniebedürfnis war manchmal lähmend. Ich lernte alle meine feindseligen und aggressiven Impulse zu unterdrücken. Sie machten mir schreckliche Angst, eine Angst, die von der Atmosphäre zu Hause, von der Intoleranz gegenüber negativen Gefühlen herrühren musste.

Ich glaube, dass ich, auch wenn man so etwas als Kind nicht richtig begreift, immer eine Distanz zwischen meinem Vater und mir gespürt habe und darunter litt. Ich bin nicht sicher, ob meine Schwestern genauso empfanden. Jede hatte eine andere Beziehung zu unserem Vater. Ich jedenfalls sehnte mich immer nach mehr, mehr Aufmerksamkeit, mehr Liebe, mehr Interesse. Seine Ferne hatte sowohl mit seiner Persönlichkeit als auch mit dem sozialen Klima zu

Dann war Ihre Mutter also diejenige, die die Familie emotional zusammenhielt?

Meine Schwestern würden Ihnen vielleicht andere Geschichten erzählen, aber ich glaube, unsere Mutter war für uns alle das Herz der häuslichen Realität. Als wir Kinder älter waren, studierte sie Französisch am St. Olaf College. Sie arbeitete hart, belegte jeden Französischkurs, der zu haben war, und bekam gute Noten. Ich erinnere mich lebhaft an ihre sorgfältigen Kommentare an den Seitenrändern von Madame Bovary, und wie sie einmal sagte, auf Französisch müsse es hundert verschiedene Wörter für »Kutsche« geben. Eine Zeit lang war sie Französischlehrerin an einer katholischen Schule. Sie liebte ihre Kolleginnen, die Nonnen, und die Arbeit machte ihr Spaß, aber die Stelle war befristet, und ein paar Jahre später wechselte sie in die Zeitschriftenabteilung der Bibliothek von St. Olaf, eine Arbeit, die ihr ebenfalls gefiel. Zum ersten Mal seit sie geheiratet hatte, verdiente sie eigenes Geld. Nicht, dass sie es für sich behalten hätte, meine Eltern taten alles in einen Topf, aber ich glaube, das Gefühl, etwas zum finanziellen Wohlergehen der Familie beizutragen, war sehr wichtig für sie. Bevor mein Vater starb, hatte sie noch nie einen Scheck geschrieben. Sie wusste wenig von den Familienfinanzen, verließ sich in vielem auf meinen Vater. Die Formen ihrer Selbstentfaltung waren häuslicher Natur. Als wir klein waren, nähte sie mindestens drei Mal im Jahr vier Kleider aus demselben Stoff für uns. Wir bekamen diese abgestimmte Tracht zum ersten Schultag, zu Weihnachten und zu Ostern.

Mich interessiert auch der spezifische historische Moment, von dem wir gerade reden. Die sechziger Jahre mit der Bürgerrechtsbewegung und den Protestmärschen gegen den Vietnamkrieg bedeuteten ja wirklich einen radikalen kulturellen Bruch gegenüber den Fünfzigern. Die Lebensweisen änderten sich. Die Frauenemanzipation wurde zum Thema, ebenso die Frage der

Im turbulenten akademischen Jahr 1967/68 befand ich mich in Norwegen und war zwölf, dreizehn Jahre alt, kein Alter großer Reife, trotzdem hatte die Bürgerrechtsbewegung schon lange vor unserem Aufenthalt in Bergen tiefen Eindruck auf mich gemacht. Meine Eltern waren linksgerichtete Weiße. Mein Vater hatte starke Sympathien für die alte amerikanische Linke, die Arbeiterbewegung und sozialistische Farmer, aber auch eine sentimentale Schwäche für radikalere Gruppen, Wobblies und Kommunisten, mit denen er politisch nicht übereinstimmte. Einmal sagte er zu mir: »Siri, es gibt zwei Sorten Menschen auf der Welt, solche, die für ihr Geld arbeiten, und solche, die ihr Geld für sich arbeiten lassen.« Das stimmt noch immer. Martin Luther King war in meiner Familie ein Held, als er für die meisten weißen Amerikaner nichts dergleichen war. Wir verfolgten die Ereignisse der Bürgerrechtsbewegung im Fernsehen. In meiner Kindheit gab es in unserem Städtchen keine Schwarzen, aber ich war empört über den Rassismus und entsetzt über die Bilder von ruhigen, mutigen, würdevollen, friedfertigen Demonstranten, die mit Hunden und Wasserschläuchen angegriffen, unter Knüppelschlägen von der Polizei in Fahrzeuge geschleppt und ins Gefängnis abtransportiert wurden. Die rohe Gewalt auf der Edmund Pettus Bridge beim Marsch von Selma nach Montgomery hat sich in mein Gehirn gebrannt.

In der fünften Klasse verbohrte ich mich in den Abolitionismus, offensichtlich als Reaktion auf die anhaltenden Bürgerrechtskämpfe, die ich aus einiger Entfernung mitbekam. Ich suchte sämtliche Bücher heraus, die ich in der Bibliothek zu dem Thema finden konnte. Von Harriet Tubman war ich geradezu besessen. Es gab da diese Reihe mit

Ja, mit einem blauen Umschlag für berühmte Männer und einem roten für berühmte Frauen. Ich erinnere mich noch genau, denn als ich die roten alle durchgelesen hatte, verlor ich das Interesse an Biographien. Ich wollte nichts über berühmte Männer lesen. Ich verlegte mich auf Romane.

Ich mochte sie beide, die roten wie die blauen, und Harriet Tubman war zweifellos unter den roten. Ich stellte mir vor, ich wäre Harriet Tubman auf der »Underground Railroad« und würde Sklaven in die Freiheit führen. Sie war meine Heldin. Ich las Onkel Toms Hütte, obwohl ich die geschraubte Sprache ziemlich schwierig fand. Ich las Booker T. Washingtons Vom Sklaven empor, verstand es aber nicht wirklich. Ich weiß noch, dass ich es trotzdem mit aller Entschlossenheit las, Washington aber, nachdem ich ein paar Jahre später W.E.B. Du Bois entdeckt hatte, seinen Glanz für mich verlor und ich nie mehr auf ihn zurückkam. Ich erinnere mich an quälend lange Passagen über Berufsfachschulen, die er für befreite Sklaven einrichten wollte. Ich reagierte auf das, was ich im Fernsehen über die Bürgerrechtsbewegung sah, indem ich Bücher über die Abolitionisten las.

Es gibt ein Ereignis, bei dem ich direkter mit der Bewegung in Berührung kam. Mein Vater hatte im College einen Freund gehabt, den er bewunderte, James Reeb. Beide waren Kriegsveteranen, nur dass Reeb, anders als mein Vater, nicht im Kampfeinsatz gewesen war. Ich glaube, sie haben im selben Jahr ihren Abschluss gemacht, 1950. Reeb wurde presbyterianischer Pastor, konvertierte aber später zu den universalistischen Unitariern und engagierte sich

Meine Eltern schirmten uns gegen alle Filme ab, die sie für nicht kindgerecht hielten, aber sie schützten uns nicht vor den schockierenden Bildern der Gewalt gegen die Bürgerrechtsmarschierer. Ich erinnere mich auch an den Tod der vier kleinen Mädchen, die im September 1963 in der 16th Street Baptist Church in Birmingham getötet wurden. Der Name der jüngsten von ihnen ist mir besonders im Gedächtnis geblieben, Carole Denise McNair. Sie war elf. Die drei anderen Mädchen waren älter, aber Carole Denise wäre in der Schule nur zwei oder drei Klassen über mir gewesen. Ich dachte über sie nach. Ich stellte mir vor, sie zu sein. Ich dachte viel darüber nach, wie mein Leben sein würde, wenn ich schwarz oder jüdisch oder ein weißes Mädchen mit Ku-Klux-Klan-Eltern wäre. Wie würde das sein? Würde ich ihnen nicht glauben, wenn ich sie liebte? Diese Fragen quälten mich. Ich lag wach und

Und was lasen Sie in dieser Zeit Ihres frühen politischen Heranreifens?

Ich kann mich nicht mehr an alle Bücher erinnern. In der Bibliothek von St. Olaf las ich eine Menge Historisches über die französischen Kolonialverstrickungen in Indochina, Ho Chi Minhs Nationalismus und das korrupte Diem-Regime. Aber einige der Bücher, die mich politisch geprägt haben, sind mir lebhaft in Erinnerung geblieben. Ich las Franz Fanons Schwarze Haut, weiße Masken, Eldridge Cleavers Seele auf Eis, W.E.B. Du Bois’ Die Seelen der Schwarzen und die Autobiographie von Frederick Douglass. Ich las die von Robin Morgan herausgegebene Anthologie Sisterhood is Powerful. Ich las Kate Milletts Sexus und Herrschaft wie auch Germaine Greers Der weibliche Eunuch, die beide 1970 erschienen waren. Und ich las Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht. Das war wirklich ein schweres Buch für mich, zumal in der schlechten Erstübersetzung des Zoologen H.M. Parshley. Aber ich las es trotzdem.

Dann haben Sie sicher auch Betty Friedans Der Weiblichkeitswahn gelesen. Ich finde das alles schon

Ja, Friedan habe ich auch gelesen, aber davon war ich weniger beeindruckt, vielleicht weil ich keine gelangweilte Hausfrau war. Jedenfalls kam ich an all diese Bücher leicht heran und hatte mich den Bewegungen sozusagen angeschlossen.

Welchen Platz nahmen denn Romane in Ihrer emotionalen und politischen Bildung als Jugendliche ein?

Ich war von klein auf eine Leseratte. Ich liebte die Bibliothek, den Geruch, die Ruhe, die Karten, auf denen man beim Ausleihen eines Buchs seinen Namen eintrug und die Namen der Vorgänger sehen konnte. Ich liebe Bibliotheken noch immer.

Im Lauf jenes Jahres in Norwegen entdeckte ich, dass es mir leichtfiel, Kleingedrucktes zu lesen. Was natürlich nichts mit der Schriftgröße zu tun hatte, sondern daran lag, dass ich plötzlich viel besser verstand, was ich las. In mir hatte sich etwas verändert. Die Bücher, mit denen ich mich in der fünften und sechsten Klasse abgemüht hatte, wurden einfach viel verständlicher, als ich in die siebte kam, und da begann ich, Romane zu lesen, nicht für Kinder, sondern für Erwachsene, einen nach dem anderen. Wir verbrachten den Sommer 1968 in Island, und da ich nicht zur Schule musste, las ich eben Romane.

Lasen Sie lieber Romane von Frauen oder Romane von Männern, oder war das egal?

Das war eigentlich egal. In dem Sommer las ich Jane Austen, Stolz und Vorurteil und Gefühl und Vernunft, eine gekürzte Fassung von Dumas’ Der Graf von Monte Christo, Mark

Heißt das, Sie erinnern sich genau an den Moment, als Ihnen mit dreizehn in Island bewusst wurde, dass Sie sich zum Schreiben berufen fühlten? In meiner Vorstellung sitzen Sie allein unter einem Baum, ein aufgeschlagenes Buch in der Hand, während das Sommerlicht dem Gras und den Blumen um sie her einen magischen Glanz verleiht.

Keine Bäume und Blumen, dafür aber Sommerlicht im Überfluss. Ich konnte nicht schlafen. Dass ich es fertigbrachte, die tausend Seiten von Micheners mittelmäßigem Roman zu lesen, lag auch daran, dass es im isländischen Sommer nachts nie richtig dunkel wurde. Zum ersten Mal im Leben funktionierte meine innere Uhr nicht mehr, und Schlaflosigkeit war die Folge. Ich blieb wach und las. Eines Nachts, alle anderen schliefen tief und fest, war ich mitten in David Copperfield. In meiner Erinnerung sticht Davids Stiefvater Mr. Murdstone hervor. Dieser sadistische, brutale Kerl versetzte mich in Angst und Schrecken. Ich litt auf jene exquisite Weise, wie sie nur durch Lesen erzeugt werden kann. Eine Art lustvolles Leiden. Ich erinnere mich, dass ich das Buch beiseite legte, ans Fenster trat, auf das schlafende, von der gespenstischen Mitternachtssonne erleuchtete Reykjavík hinausschaute, und das tiefe Gefühl

»Ich will Schriftstellerin werden«?

Ja, ich sagte ihnen, ich wolle Autorin werden. Das klang noch bedeutender. Die Leute müssen mich für den größten Dummkopf gehalten haben, sei’s drum. Ich begann zu schreiben.

Und wie war das, Ihre ersten Erfahrungen als Autorin? Wie haben Sie angefangen? Mit Gedichten? Bei mir waren es übrigens Kinderbücher, eine Nachahmung derer, die meine Lieblingsbücher gewesen waren.

Mein erster Versuch, nach kindischen Gedichten, in denen sich »Regen« auf »Segen« und »wahr« auf »klar« reimten, war ein Roman, den ich in der fünften Klasse schrieb. Vielleicht habe ich ihn noch irgendwo, meine Eltern wollten ihn aufbewahren. Er war reich illustriert. Ich war ungeheuer stolz darauf, weil er fünfundvierzig Seiten lang war, aber das waren nicht wirklich fünfundvierzig Seiten. Die Buchstaben waren riesig. Er hieß Carrie in Baxter Manor, und wie bei Ihnen beruhte er auf Geschichten, die ich als Kind gern gelesen hatte. Er spielte im 19. Jahrhundert, und die Heldin war ein Waisenkind. Ich liebte Waisenkinder, verlassene, verzweifelte Waisenkinder, denen Unrecht widerfahren war. Ein Kapitel hieß »Gefahr«, das weiß ich noch. Meine Heldin musste einen Fluss mit gefährlichen Stromschnellen überqueren. Natürlich schafft sie es ans andere Ufer. Das Buch, wenn man es so nennen kann, war lauter zusammengeklaubtes dummes Zeug, aber das Schreiben machte mir einen Heidenspaß. Dann,

Vielleicht waren sie bloß verblüfft. Vielleicht haben sie sich gefragt: Wo kommt das denn her? Warum erfindet sie so eine Geschichte?

Oder: Wer ist diese Person? Ist das unser Kind? Mag sein, dass ich in diese Szene etwas hineinlese, aber ich erinnere mich deutlich an den Blick meiner Eltern. Für mich signalisierte er Erstaunen, »Oh, mein Gott«, aber auch den Wunsch, ihr Erstaunen zu verbergen, um mich nicht zu beunruhigen. Ich bin mir sicher, sie nickten, und damit hatte es sich.

Bei Schreibprojekten in der Schule war ich immer sehr engagiert. Etwa in der neunten Klasse begann ich, zeitgenössische Lyrik zu lesen und Gedichte zu schreiben. Zu dieser Zeit bekam man in jedem Buchladen die Werke zahlreicher Dichter und vor allem Dichterinnen. Ich las Denise Levertov, Diane Wakoski und natürlich Sylvia Plath. Lyrik war äußerst populär, sie gehörte zum Zeitgeist. Etwas später begann ich, alte Versformen nachzuahmen, zunächst Heroic couplets und Sonette, aber auch Ottava rima, Spenserstanzen und Villanellen. Das war eine Art Lehrzeit. Ich bin überzeugt, dass diese Übungen mir geholfen haben, mein Gehör zu schulen und meine Prosa zu disziplinieren.

Vielleicht ist die Frage zu intim – aber was genau brachte Sie zum Schreiben? Waren es die Qualen, das Unglück der Jugend, die Unsicherheit und Ungewissheiten, die mit dem Heranwachsen eines jungen Mädchens einhergehen? Oder wussten Sie sofort, als Sie sich in Ihre frühen Schreibübungen vertieften, dass Übung dazugehörte, wenn man Autorin werden wollte? Waren Sie von Anfang an daran interessiert, zu erforschen, was Phantasie und Vorstellungskraft vollbringen können? Oder war es ein bisschen von beidem?

Aber bedeutet das nicht auch, dass Sie in dem, was Sie sehr früh geschrieben hatten, offener, ungehemmter waren, vielleicht weniger geschützt? Ich finde es einleuchtend, dass eine so junge Autorin ihr Über-Ich noch nicht voll ausgebildet hat, sich noch keine Sorgen darum macht, ob das, was sie schreibt, gut genug ist, um von anderen gelesen zu werden. Wenn man reifer wird, entwickelt man doch zunehmend stilistische Distanz, achtet mehr auf formale Aspekte, oder?

Ja, das stimmt, aber ich glaube, dass beim jugendlichen Schreiben auch die Vorstellung, die man sich davon macht, wie ein Gedicht oder eine Geschichte sein sollte, eine wesentliche Rolle spielt. Einige meiner Texte waren zweifellos unkontrolliert und bekenntnishaft, aber ich erinnere mich, dass der Stil mich schon als Jugendliche sehr beschäftigt hat. Wenn mich nicht alles täuscht, habe ich in meinen frühen Texten eine ganze Menge romantischen Sirup geduldet, prätentiöse jugendliche Ergüsse, die auf irgendeiner Idee von Literatur beruhten. Hätte ich genauer hingeschaut, wäre manches vielleicht gar nicht so schlecht gewesen …

Ich glaube nicht. Ich wünschte, ich hätte es. Ich mochte diese Geschichte. Auch sie war sicher schlecht, aber ich muss begriffen haben, dass der unheimliche Moment des Erkennens zwischen der Erzählerin und der Schaufensterpuppe etwas hatte, etwas emotional Wahres. Es gab eine andere Geschichte im gleichen Stil, die ich für den Englischunterricht schrieb, und für die der Lehrer nicht gerade lobende Worte fand. Nicht, dass er sie schlecht geschrieben gefunden hätte, ich glaube, sie schockierte ihn. Er fand sie verstörend. Das Gefühl, das er mir vermittelte, war: »Das sollte man nicht tun.« Oder: »So was schreiben nette Mädchen nicht.« Ich weiß noch, wie wütend ich war. Ich artikulierte meine Wut natürlich nicht, aber etwas Hartes setzte sich in mir fest. Ich finde es interessant, zurückzublicken und mich daran zu erinnern, wie ich die Reaktionen anderer auf mein Schreiben empfand. Einmal, noch früher, in der fünften Klasse vielleicht, gab ich meinem Vater einen Aufsatz. Er nahm ihn, korrigierte ihn, schrieb ihn komplett um und gab ihn mir zurück. Ich zeigte ihm nie wieder einen Aufsatz. Im Lauf der Zeit lernte ich meinen Vater besser kennen, es war nicht bösartig …

Nein, vielleicht hat er es gut gemeint. Vielleicht war es eine Art Abwehr, weil ihm das, was Sie geschrieben hatten, unter die Haut ging, ihn als etwas zu Persönliches erschreckte? Vielleicht war es auch eine Art déformation professionelle? Als Collegeprofessor für Skandinavistik musste er ja ständig Aufsätze und Examensarbeiten korrigieren.

Mich interessiert der Widerspruch, den ich dieser Geschichte entnehme. Sie sagen, Ihre Eltern hätten sich, zumindest emotional und intellektuell, sehr für die Bürgerrechtsbewegung engagiert, und das deutet doch auf recht antiautoritäre Züge hin, nicht wahr? Trotzdem sprechen Sie ein Gefühl von Überschreitung im Zusammenhang mit Ihrem Schreiben an und dass Ihre Eltern Sie, ohne Sie direkt zu kritisieren, durch Gesten in die Schranken wiesen.