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Christian Grashof

Kam, sah
und stolperte

Gespräche mit
Hans-Dieter Schütt

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Christian Grashof

Kam, sah und stolperte

Gespräche mit

Hans-Dieter Schütt

© 2018 by Theater der Zeit

Wir danken dem Deutschen Theater Berlin

für die freundliche Unterstützung dieser Publikation.

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Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

Verlag Theater der Zeit

Verlagsleiter Harald Müller

Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany

www.theaterderzeit.de

Lektorat: Nicole Gronemeyer

Layout und Gestaltung: Agnes Wartner, kepler

Covergestaltung: Kerstin Bigalke

Coverfoto: Arno Declair

Druck: Multiprint GmbH

Printed in the EU

ISBN 978-3-95749-162-6 (print)

ISBN 978-3-95749-188-6 (ePUB)

ISBN 978-3-95749-189-3 (ePDF)

S. 2: Zeichnung: Harald Kretzschmar

Lehrers Tränen und das „Turntheater“

Vor-Worte: Alexander Lang, Friedo Solter

Sinn des Sockels ist die Fallhöhe

Von Hans-Dieter Schütt

Ich nehm doch kein Gift! Was soll denn das!

Gespräch mit Christian Grashof

Die Unverschämtheit der Anspielungen

Stimmen: Klaus Völker, Thomas Martin, Steffi Kühnert

Nicht das Boxen, sondern Shakespeares Balkon

Gespräch mit Christian Grashof

Und der Abend dauert zehn Minuten länger

Stimmen: Jutta Wachowiak, Dagmar Manzel, Michael Gwisdek, Frank Lehmann, Dieter Montag, Christoph Hein, Horst Hiemer, Christine Schorn

Geht überhaupt nicht! Also wird’s versucht.

Gespräch mit Christian Grashof

Ein Splittern. Und fügt sich doch zusammen.

Stimmen: Lutz Friedel, Gunnar Decker

Irgendwann raus aus so einem Kreis

Gespräch mit Christian Grashof

Das Heu hing raus, er war der alte Meister.

Stimmen: Volker Pfüller, Bernd Wilms, Jürgen Flimm, Ulrich Khuon, Marcel Kohler

Meine Mutter und die Kleeblätter

Gespräch mit Christian Grashof

Nachsatz

Von Hans-Dieter Schütt

Anhang

Rollenverzeichnis

Bildnachweis

Er singt noch. Jetzt im Herbst. Wie kommt es,

dass seine Lieder fröhlicher geworden sind?

Johannes Bobrowski, „Levins Mühle“

Ich war am anderen Ende der Brücke,

die Kamera war aufgebaut,

der Regisseur sagte, ich möge schnell,

in einem Schwenk, die Brücke überqueren.

Er sagte, gar nicht ironisch oder böse, sondern ganz lieb:

„Du kannst mir doch mit Sicherheit sagen,

warum du die Brücke überqueren sollst?“

Und ich sagte zu ihm: „Nein, ich überquere einfach die Brücke.

Du schaust mir zu, und wenn ich hier bin,

weiß ich’s, vielleicht.“

Orson Welles

Wang: Was willst du. Wir leben.

Ah Q: Ich hatte noch so viel vor. Ich wollte …

Wang: Wir sind noch nicht am Ende.

Ah Q: Ich möchte Ihnen etwas sagen.

Ein überwältigendes Gefühl mitteilen.

Einen Satz, der alles sagt. Fast alles.

Wang: Gib nicht auf.

Christoph Hein, „Die wahre Geschichte des Ah Q“

LEHRERS TRÄNEN UND
DAS „TURNTHEATER“

VOR-WORTE: ALEXANDER LANG FRIEDO SOLTER

Ein Chamäleon wechselt die Perücke

Dialektik nannte man das damals

„Wir haben das Beste uns’rer Zeit gesehen“

Rinnstein und plebejischer Zug

Ein Schrei in die verkommene Landschaft

Goyas Hund, neulich im Traum

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Alexander Lang, Christian Grashof in „Die Kipper“, Deutsches Theater 1973

Alexander Lang

Wir haben herzlichst darüber gelacht …

Es ist lange her, fast ein halbes Jahrhundert, als ich Christian Grashof auf meinen Schultern über die Bühne des Deutschen Theaters trug. Das Stück hieß „Die Kipper“ und war von Volker Braun. Es ist ebenso untergegangen wie das gesamte Zeitalter, in dem es damals spielte. Es war das Zeitalter zwischen einer verordneten Utopie und einer real existierenden Bürokratie.

Dieses „Dazwischen“ war ein ganz einmaliges Spannungsfeld, und in diesem spielte Chris – in Georg Büchners „Dantons Tod“ – den Danton und den Robespierre gleichzeitig. Es war eine unerhörte Glanzleistung schauspielerischer Verwandlung – mit den einfachsten und zugleich subtilsten Ausdrucksmitteln. Chris schwebte wie eine filmische Überblendung von Figur zu Figur, beide gleichzeitig einander ähnlich und doch weit voneinander entfernt. Dabei unablässig auf der Spur, zwischen Lebensgier und Rationalismus hin und her jagend. Ein Chamäleon, das, seine Perücke wechselnd, sämtliche Revolutionstheorien in den Orkus stieß, in der Erkenntnis, dass der geringste Schmerz die Welt in Frage stellt. Nie hat solches ein anderer Schauspieler wiederholt oder wiederholen können.

Revolution zu machen, ist eine Sache, diese hernach zu verwalten, ist eine ganz andere. Diesen inneren Widerspruch auf einer Bühne sichtbar zu machen, in einem System, das glaubte, seine Verwaltung sei bereits die Verwirklichung der Utopie – war schlichtweg subversiv. Chris war der subversivste Schauspieler, den ich erlebte, mit dem ich engstens zusammenarbeiten konnte und durfte. Ein Tänzer über den Abgründen politischer Vorgaben und angestrebter Normierungen.

Seine Grazie, seine scheinbare kindliche Naivität, die er mit höchster Kunstfertigkeit, punktgenau und mit intelligentester Raffinesse einsetzte – um sein Publikum zum Lachen als auch zum Nachdenken zu bringen über die Zustände im Lande. Das Tolle war: Die Zuschauer, verführt von diesem Bühnenzauber, konnten darin, da sie hellwach dem Spiel folgten, ihre ganz persönliche Situation aufschlüsseln und fühlten sich mit ihren gesellschaftlichen Nöten nicht allein gelassen. Manchmal genügte eine ungewohnte Wortbetonung in einem Satz, die die normale Satzaussage in ihr Gegenteil verwandelte und die Zuschauer jubeln ließ – weil sie unmittelbar erlebten, wie mit einem Wort die staatliche Deutungshoheit ausgehebelt wurde. Kaum konnten sie glauben, dass solches Geschehen auf einer staatlich bezahlten Bühne vonstattenging.

Aber was hätte dieser Staat machen sollen? Hätte er ein Stück über die Französische Revolution, geschrieben von einem revolutionären deutschen Dichter, verbieten können? Ja, das hätte er gekonnt! Aber der Ansehensverlust wäre schlimmer gewesen, als eine betörende Aufführung zu erdulden.

So wurde aus einer ganz bewusst eingesetzten theatralischen Ästhetik eine subversive Unterwanderung. Ästhetik als Widerstand, so lautete die Kurzformel. Die Bühne wurde zum Austragungsort des „Spiels“ zwischen Kunst und Macht. Die Mächtigen – Gefangene ihrer verkündeten Ideologie – mussten die Anwendung ebendieser Ideologie gegen sich selbst ertragen. Die verordnete Dialektik war halt ein zweischneidiges Schwert …

In dieser klammheimlichen Auseinandersetzung war die Kunst immer vom Absturz bedroht. Man wusste nie, ob, wann und wie die Macht zurückschlagen würde. Blöde war die Macht nicht. Sie hatte dazugelernt und nutzte auch uns als Aushängeschild ihrer Toleranz. Chris, um diese Zusammenhänge wissend, spiegelte mit seinem Spiel die Hintergründe gleich hintergründig mit. Die Folie des Büchner-Stückes wurde sein Trampolin für den Überschlag in die damalige Gegenwart. Wie liebte ihn sein Publikum für diese geradezu politische Artistik.

Natürlich wusste Chris um die Subversivität eines Charlie Chaplin oder Buster Keaton. Wenn er in Ernst Tollers Stück „Der entfesselte Wotan“ in der Rolle des Wotan seine Blicke aus großen Augen „ehrlichverlogen“ über die Schulter warf, war das zum Lachen komisch, aber auch zum Gruseln traurig. Sprang er doch, spielend, auf seine ganz eigene Weise chaplinesk, mitten in unser kollektives Bewusstsein von der Bösartigkeit des kleinstbürgerlichen Terrorismus, der unsere Vergangenheit unauslöschbar geprägt hat.

Die expressive, ja expressionistische Spielweise im „Wotan“ brachte uns an unserem Hause den Vorwurf eines „Marionetten- und Turntheaters“ ein – was durchaus politisch denunzierend gemeint war. Ein Schauspielerkollege mit stalinistischer Prägung glaubte mit diesem absurden Vorwurf sein neo-klassizistisches Bühnendasein verteidigen zu müssen. Vergeblich. Stalin und Stanislawski waren längst tot, und Bertolt Brecht galt uns als Beweis und Impuls für andere Arten von Theater.

Chris eilte von Darstellung zu Darstellung. Schauspieler hießen auch Darsteller. Ein untergegangener Begriff. Etwas auf der Bühne „darzustellen“, war einmal selbstverständlich. Der Beruf heißt ja auch Schauspieler, also: zur „Schau“ spielen, und das bedeutet viel Arbeit. Eine dichterische Figur zum Leben zu erwecken, sie glaubhaft darzustellen, ist ein handwerklicher Beruf, bei aller Berufung, die dazugehört. Sich selbst „ausstellen“ als „Selbstdarsteller“ und an der Rampe privatistisch entlangnuschelnd, in angeblicher Authentizität, das kann jeder Laiendarsteller. Wozu dann den Beruf eines Schauspielers erlernen?

Chris hat diesen Beruf erlernt – und erarbeitete sich seine Figuren. Nicht verbissen oder sich einengend, sondern meistens heiter, sich öffnend, mit größter Hingabe, im wahrsten Sinne: „sich freispielend“, und er genoss diese erarbeitete Freiheit. Der Zuschauer bekam von ihm etwas zum Anschauen, zum Hinschauen, zum Staunen, zum Lachen, zum Bewundern, aber auch zum Ablehnen, wenn es denn jemandem nicht gefiel, wie er spielte. Unbeteiligt blieb niemand. Alles im Spiel ist erlaubt, nur nicht: zu langweilen! Permanente Spannung war angesagt.

Meist arbeiteten wir an unspielbar geltenden oder verachteten Stücken des „klassischen“ Erbes. Da es laut offizieller Ideologie das klassische Erbe zu erhalten galt, konnte man auch unbekannt gewordene Dramen dieses Erbes neu entdecken. Wir waren sehr verblüfft über den Sprengstoff, der in diesen Stücken verborgen war.

„Herzog Theodor von Gothland“ von Christian Dietrich Grabbe war ein solcher Sprengstoff.

Kolossal, gewaltig und gewalttätig – und mit einer unglaublichen, wahnsinnigen Sprache. Ein einziger Aufschrei gegen das dumpfe Kleinbürgertum seiner Zeit. Kleinstbürgertum umgab auch uns, wieder oder immer noch. Also her mit dieser Grabbe’schen Sprachwaffe! Chris spielte diesen Herzog von Gothland, und wie er ihn spielte! Abgrundtieftragisch in seiner Machtverzweiflung. Immer auf dem Seil seiner Einsamkeit, wissend um die Absturzgefahr aus kalter Höhe. Die Krönung war, wie er ganz bewusst seinen Absturz herbeispielte. Dazu benötigte er keinen Tropfen Kunstblut, mit dem man sich heute eimerweise überschüttet. Chris’ „Blut“ auf der Bühne war Grabbes Text, den er so blutig sprach, dass sein Gothland dann, im Blutrausch, den Gegenspieler Berdoa erschlug. Aus dessen besiegtem Körper zog er, leibhaftig, die Gedärme heraus, mit dem konzentrierten Ernst eines traurigen Anatomen. Seufzend ob dieser Arbeit, wissend um seinen eigenen baldigen Tod.

„Totentanz“ von August Strindberg wurde dann zu einer Art Endspiel dieser Theaterzeit. Wenige Jahre später verschwand das ganze Land, mitsamt seinem – für das Theater durchaus produktiven – Spannungsfeld. Chris spielte den Edgar, Kapitän der Festungsartillerie in Strindbergs „Dramödie“. Er spielte mit all seiner körperlichen Perfektion, seiner subtilen Sprachbehandlung – jedes Wort, jede Tonfärbung als Geschoss verwendend, dabei abrupt von wehleidigem Gejammer in den brutalsten Befehlston wechselnd.

Mein Gott, wie er die Brüche spielte! Weiß heute noch jemand, was „Brüche“ sind?

Chris konnte in diesen Edgar all seine Grazilität, seinen doppelbödigen Humor, seinen ganz eigenen Charme, sein hellwaches Wissen um die Dinge der Zeit, seinen hintergründigen Witz mit größtem Genuss einsetzen. Er brachte sein ganzes Können derart zum Schwingen, dass man glaubte, diesen Edgar abheben zu sehen von den Brettern der Bühne, wie ein Vogel, der einer Chimäre zwischen Geier und Kolibri glich.

Die Bühne als Kunstraum behauptend, die Welt in diesem besonderen Raum interpretierend – mit Christians durchbohrendem Blick. Das war’s.

Theater ist eine vergängliche Kunst, und bestenfalls bleiben Mythen – von außergewöhnlichen Theaterepochen. Wir hatten das Glück, in einer solchen gelebt, sie mit erschaffend, darin gearbeitet zu haben. Wir wussten damals überhaupt nicht, wie gut wir wirklich waren. Wenn wir uns heute treffen, lachen wir uns scheckig über den Wahnsinn der gegenwärtigen Zeit. All diese Scheiße haben wir längst und vorab auf der Bühne durchdekliniert. Und fühlen uns eins mit Shakespeare, der im „König Lear“ den Gloster sagen lässt: „Wir haben das Beste uns’rer Zeit gesehen …“

Chris und ich spielten einmal in einer Aufführung von „Lear“ die verfeindeten Brüder Edmund und Edgar. Chris spielte Glosters legitimen Sohn Edgar und ich den Bastard Edmund. Am Schluss des Stückes mussten wir in einem Zweikampf mit riesigen Schwertern, sogenannten „Beidhändern“, aufeinander einschlagen, bis zu meinem notwendigen Bühnentode. Das war sehr komisch, und wir haben herzlichst darüber gelacht.

Juni 2018

Alexander Lang, 1941 geboren in Erfurt, war von 1969 bis 1986 Mitglied des Deutschen Theaters Berlin. Danach arbeitete er an den Münchner Kammerspielen, wurde Schauspieldirektor am Thalia Theater Hamburg, Oberspielleiter des Berliner Schiller Theaters und Co-Intendant der Staatlichen Schauspielbühnen Berlin. Ab 1993 Regiearbeiten u. a. in Paris, wieder am DT, am Maxim Gorki Theater.

Friedo Solter

Sperling, der in Pfützen badet

1.Sommer 1967 – Probe mit Christian Grashof, Schauspielschule Schöneweide. Monolog aus Rolf Schneiders Stück „Prozess Richard Waverly“–- der Bericht des Piloten über seinen Abwurf der Atombombe auf Hiroshima 1945.

Weltpolitisches Umfeld besprochen. Erste Probe. Mich stört ein Wasserstau in meinen Augen. Der Dozent F. S. fragt sich, während er den Studenten Christian Grashof anhört und betrachtet: Was ist denn das? Mein Guru Brecht über Wirkung von Schauspielkunst: Nur keine Tränen! Der Dozent: Ja, ja – Chris, ich würde sagen, beginn noch mal und mach‘s ganz leicht. Doch wieder so ein „ feuchter Druck“ in der Augengegend, den Dozenten störend – das darf doch nicht sein (meint mein Guru Br.).

Ergriffenheit, Erschütterung. Nur durch Verstehen oder auch durch emotionales Entdecken?

2.Lieber Chris, ein paar abendliche Gedanken, die immer Gefahren der Sentimentalität in sich bergen. Du weißt, wie ich die Besonderheiten und Eigenarten, Eigenwilligkeiten deiner Persönlichkeit schätze, und du weißt auch, welche Kraft dir abverlangt wird, dich zu benennen. Du bist du – keine Plattitüde, sondern Auftrag für dich und für die (zu denen ich mich zähle), die meinen: Da kommen „neue Töne“ in die Theaterlandschaft.

In K-M-Stadt (ich meine in der Schauspielschule zuvor lag es ähnlich), „schriest“ du auf, will sagen: Da sagte einer – hier bin ich! Schön und wichtig, oder: Welch Realismus. Weil immer deine Genesis mitschwang und heute noch mitschwingt. Verleugne sie nie! (In einer Probenphase hatte ich plötzlich Angst: Der will wohl einen sogenannten positiven Helden spielen, sich ohne Vergangenheit zeigen, Schönlingen Konkurrenz machen.)

Deine Genesis (so stellt sie sich mir dar): Das ist Rinnstein, nicht richtig genährt, zu wenig Liebe gehabt (im richtigen Moment); Sperling, der sich in der Pfütze badet und durchaus Fröhlichkeiten dabei hat. Deine Genesis, das ist: alles erworben, erarbeitet, und das ist radikale Forderung: Wir sind alle mit gleichen Rechten geboren, und keiner soll Vorrechte haben. Eine Forderung, von dir als Erscheinung formuliert, ohne dass du diese Forderung aussprichst. Du bist die Forderung (so etwas gibt es eben) – da du auftrittst. Rinnstein und der plebejische Zug, das ist jener Vorteil unseres Stammes, den du a priori mitbringst (ein Punkt, um den wir kämpfen müssen auch in späteren Rollen).

Über deine Gefühlskraft, dein Pfund, müssen wir nicht reden, das ist dein Schrei in die verkommene Theaterlandschaft, dein Schrei gegen die Lüge. Du weißt aber auch: Ein Schrei muss gehört werden, soll er gesellschaftlich Wirkung hervorbringen und nicht in der Probebühne bleiben. Deshalb freue ich mich über einen groß wahrnehmbaren Schritt, den du gemacht hast. Ich benenne ihn: methodisches Gerüst, das zum prägnanten Spielpunkt führt, Rationalität in der Emotionalität, schauspielerische Ruhe zum Bruch und genauer Einsatz der jeweils neuen Haltung, kristallklares Vorführen von Verhaltensweisen. Du hast die Sache in der Hand. Eines Tages werden wir sagen, der spielt wie Grashof. Du weißt, Mittelmaß guckt sich immer was ab, kopiert. Es ist traurig, aber fürs Original auch ein Kompliment.

(Brief, geschrieben nach der Premiere „Torquato Tasso“, Oktober 1975)

3.Philemon und Baucis (große Rolle, kleine Rolle). Ja, sie sind‘s, die alten Linden … Zwei Paar Augen starren ins Publikum. Wie nur Blicke Vergangenheit und Zukunft – aus einem gemeinsam gelebten Leben – ins Publikum liefern können. Dach weg, Wohnung weg, Haus weg. Die Enteignung des Besitzes. Fröhliche Zukunft? Zwei Schauspieler, Gudrun Ritter und Chris Grashof, bringen das Publikum in Schrecken. Großes Ereignis macht Wirkung auf kleine Leute – die großen Schauspieler sind‘s. Kleine Rolle? Große Rolle.

(Proben-Erinnerung an eine nicht stattgefundene Aufführung: „Faust II“, 1983)

4.Ach, da fällt mir noch ein, Chris: Neulich, vielleicht war’s im Traum, bat mich Francisco de Goya, zu ihm zu kommen, um mir ein Modell von seinem Hund („ein im Sand begrabener Hund“, im Prado hängt er) anzusehen. Der Hund, du kennst ihn ja, der nicht weiß, ob er aus dem Sandhaufen raus soll und immer wieder versucht, sich gegen den rutschenden Sand zu stemmen, irgendwie Halt zu kriegen – Luft, Luft, Luft –, und da sage ich: Goya, den kenn ich, das ist Chris Grashof, der kämpft mit seinem Hin und Her gegen das Hin und Her. Er kämpft mit seinem Talent gegen seine Einfälle für seine Einfälle. Das ist er. Er kämpft.

Mai 2018

Friedo Solter, 1932 geboren in Reppen, war von 1959 bis 2001 Schauspieler und Regisseur am Deutschen Theater Berlin, von 1984 bis 1991 künstlerischer Leiter (Intendant: Dieter Mann). Er war Professor an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin, wo er auch das Institut für Schauspielregie mitbegründete.

SINN DES SOCKELS
IST DIE FALLHÖHE

VON HANS-DIETER SCHÜTT

Donald Duck aus Löbau

Da war er endlich, der Eklat

Ach, Kostja, ich wünsch dir Glück

Das Licht begrüßt die Finsternis

„Ich bin keine Marktfrau aus Mahlsdorf“

Der feine Gestus unterer Bezirke

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Als Loman in „Tod eines Handlungsreisenden“, Deutsches Theater 2003

1.Die Hand auf dem Foto, sie ist der Verräter. Der Mann will sich in die Gelöstheit strecken, ins Triumphale. Frohe Botschaft, so strahlt der Kopf! Aber eben: diese rechte Hand. Ein unübersehbarer Ansatz: Sie ist alles andere als ein Triumph. Wahrheit krallt. Kleiner Mann, so groß? Nein, eine Täuschung. Wo sich der Mensch – obwohl er sich reckt – derart verkrampft, dort grinst ein Tod. Der des Gemüts oder der Nerven oder jener der Hoffnung. Es gibt viele kleine Tode, die in einem Körper Platz haben und sich heimtückisch Leben nennen. Diesen vielen kleinen Toden kann man entgehen. Aber es gibt ja noch den einen, den großen Tod …

Christian Grashof spielt am Deutschen Theater Berlin den Willy Loman in Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“, 2003. Ein unbesieglicher Stoff gleichsam für alle großen Schauspieler, in deren Aura das Prototypische des so genannten kleinen Rüh-Mannes lebt. Dieses knäbische Ungeschick und dieses traurige Talent, nicht wahrgenommen zu werden. Loman, in all seiner inneren Verwüstung, ist auch entsetzlich komisch. Der dauerreisende Vertreter, müde, abgeschlafft, erfolglos. Aber zunächst nicht müde genug, um nicht trotzdem weiter von seiner Bestimmung für diesen Scheißjob zu träumen. Nicht abgeschlafft genug, um nicht trotzdem weiter seine zwei Söhne mit Aufstiegsrezepten zu tyrannisieren. Nicht erfolglos genug, um sich nicht trotzdem weiter vor seiner eigenen Frau seelisch zu verbergen. Wo andere sich sehr selbstverständlich ins soziale Fitnessprogramm einloggen, muss der kleine Loman sich hineinlügen. Bis zum Selbstmord jagt er einer Ideologie des Heim-ins-Reichsein nach. American Weh of Life. Loman steckt in quetschender Zimmer-Enge auf dunkler Bühne, wo aller Form nach zwar Familie stattfindet, aber jeder allein ist und auch er sich selber ein Fremdwesen bleibt. Ein Steg führt nach hinten. Anderes Ufer? Dazwischen Jordan, Lethe? Fluchtweg jedenfalls, der nicht offen steht. Ausgang, der keiner ist.

Auf der Bühne, als drohender Hintergrund und Begleitmenge für Grashofs Loman: ein Chor sehr junger Leute. Genormte Selbstbewusste, starr grinsende Totengesichter des Erfolgs, kopfzuckende Roboter der neoliberalen Wellness, hetzende Puppen der gängigen Power-Formeln, Krawatten-Klone des Individualismus. Regisseur Dimiter Gotscheff zeigt somit nicht nur das Getriebensein Lomans, er zeigt vor allem, dass dieser Typ Mensch als bedauernswertes Produkt der Gesellschaft stets auch deren verlässlich stabilisierender Faktor bleibt.

Margit Bendokat als Linda Loman – sie und Grashof gleichsam als Letztverbliebene einer Schauspiel-Ära des Deutschen Theaters. Großartig, wie die Bendokat Einfalt spielt – Zeichen eines Schicksals, darin die Emanzipation nicht mal mehr seufzen darf. Die Hände auf dem Schoß, übereinandergelegt. Heben sie sich, in Erregung, so lösen sie sich doch nicht. Elende Geschaltetheit des Menschen: Alle Regung nur noch Apparaturreflex, der selbst tiefste Depressionen wegen des Selbstschutzes manieristisch werden lässt. Aufwühlend, wie die Bendokat dann plötzlich doch, aus einem letztglühenden Kern der Liebe heraus, ihren Mann gegen die hassenden Söhne verteidigt. Wie sich eine heiße Herzsprache auf Wegen zur Zunge in eine kalte Lava gegen die eigenen Jungen verwandelt – und wie sie dann das Wort vom Vater, der doch, bitteschön!, auch ein Mensch sei, wahrhaft herunterdonnert.

Hart: wie Grashofs Loman motorisch, verzweifelt unecht die Sorge seiner Frau weglacht; wie er – Achtung: Zärtlichkeit! – seinen Kopf so kurz und so schnell auf die Schulter Lindas legt, dass er sofort glaubhaft widerrufen könnte, es je getan zu haben; wie er sich vor seinen Söhnen in die böse gebieterische Mannhaftigkeit strafft; wie er aufbricht, um bei seinem Chef endlich einen geruhsameren Posten zu erwirken – aber schon ein Kratzen der Knie beim Aufstehen verrät, dass er nichts, gar nichts wagen würde. Der Schauspieler als plusternd trotziges Männlein, von dem man später nur noch den zu großen Hut und das dünne Hälschen bemerken wird. Die Loman-Seele floh längst. Und dann jener berühmte schnelle Grashof-Gang, die Arme nach hinten, den Kopf nach vorn gereckt. Der Panto-Mime. Ein Mann will durch die Wand. Ach, auch das eine Luftnummer. Die Wand steht. Das Letzte ist der leise Traum vom Gemüsebeet. Dann ein Donnerschlag. Dunkel. Diese Welt da: endlich ausgelöscht. Ausgelöscht freilich nur im Spiel.

2.Ein Jahr zuvor am Deutschen Theater, 2002: „Doktor Caligari“. Filmische Ikone des Expressionismus. Waghalsige Verzerrung aller irdischen Form. Rechtwinkliges schief, Rundliches spitz. Und inmitten des Schrägen, Geknickten: jene dämonische Geschichte von Caligari und seinem Somnambulen Cesare – einer Jahrmarkts-Attraktion, die Zukunft weissagt und nachts das Messer zieht. Dies alles auf Geheiß des Schaustellers – der Direktor einer Irrenanstalt ist. Und am Ende weiß niemand, was an der Geschichte grausame Wahrheit, was nur irre Fantasie eines Insassen war …

Es inszenierte Robert Wilson, texanischer Schausteller. Tiefe, das ist bei diesem Spiel-Architekten das Dekorative. Das Dunkel der Psyche, das taucht er in Licht, grün, blau, gelb, rot – alle Schattierungen, alle Schönheiten. Ein Spektral-Fetischist. Seine Bühnen-Bilder: Stoffbahnen öffnen, schließen sich, so kommt es zu den wesentlichen Zuspitzungen auf der Szene. Pfeile, Vierecke, Dreiecke wechseln, die Aussparungen tanzen geradezu Ballett nach Regie der Beleuchtung. Die Schauspieler? Wortlosigkeiten, mit einem unsichtbaren Schlüssel im Kreuz aufgezogen. Stummfilmtheater, als wolle Wilson gegen die Allgewalt der feurigen Zeitgeist-Zungen anspielen. Und zwar in Zeitlupe – zur Live-Musik von Michael Galasso im Orchestergraben. Die mal plärrt, mal sehr hübsch schlagert. Ufa-Stil, der „Cabaret“ werden will. Regelmäßig Donnergrollen zur abrupten Bewegung der Figuren; Raunen aus dem Off: „Cesare!!!“

Das Personal erscheint, als arbeite eine Zauberhand. Christian Grashofs Caligari in einem Lichtviereck rechts, weit oben. Die Augen gleichsam größer als der gesamte Kopf. Beklemmend. So führt Wilson in die Erzählung ein. Dann friert er sie ein. Nach jeder Szenenmalerei ein Black. Kindertheater auf teurem Niveau. Das von der Kälte des Weltalls in uns erzählt. Ekstasen einer Bindungslosigkeit, bei der eine Schattenwesen-Welt wie an unsichtbaren Drahtseilen hopst, tänzelt, stolpert. Den Schwerpunkt setzt eine Kraft von draußen, von oben, von fern. „Die Befreiung der Toten findet in Zeitlupe statt“, schrieb Heiner Müller über Wilson. Und Wilson sagt über Grashof: „Er ist Erfüllung meiner Phantasie vom Schauspieler: wunderbarstes Element eines Traums zu sein, der darum bittet, nicht gedeutet zu werden.“

Es gibt in dieser Inszenierung eine merkwürdige Beziehung zwischen der Sterilität der Abläufe und einer plötzlicher Verausgabung in einem lautlosen Schrei, einem Augenaufreißen, einer Handdrehung. Wilson zelebriert die Preisgabe alles Organischen, und damit gibt er einzelnen Theaterelementen, einzelnen Körperteilen ihre Würde zurück, die sie im Naturalismus verloren. Schnitter-Akribie, die auf der Bühne einem gestreckten Bein die gleiche Bedeutung zumisst wie einer beleuchteten Schläfe. Inzwischen ist der Texaner längst auch zum Somnambulen seiner eigenen Laufstege und Schein-Werfereien geworden. Den Schauspielern des Deutschen Theaters immerhin ist in dieser Aufführung anzumerken, dass sie weitgehend unbelastet sind von Wilson-Permanenz. Hier wirkt wohl noch der Umstand, dass die Arbeit des US-Amerikaners, ein einziges Mal genossen, eine wie immer geartete Bereicherung darstellt. Vielleicht ist es ja trotz aller Einwände nach wie vor ein Ereignis, in unserer Welt der Wohltemperiertheiten einem Menschen mit konturenstarker Manie zu begegnen. So lebt die „Caligari“-Inszenierung mitunter durch Unsicherheiten, die die Glätte behindern. Bernd Stempel, Regine Zimmermann: Es kostet Mühe, nicht plötzlich lebendig zu werden.

Grashof gelingt es, aus dem Panzer der Stummheit, eines schweren Mantels und einer weißen Maske heraus mit Augen, Mund und Händen Bedrohung zu senden, Verbrechensgier zu offenbaren, Bosheitskräfte auszustrahlen. Es ist, als leuchteten gestisch-clowneske Assoziationen aus der frühen starken Zeit des Regisseurs Alexander Lang herüber. Und in diesem Caligari des gebogenen Körpers lauert jene gespenstische Macht der Manipulation, die den Stummfilm einst, im Hinblick auf die faschistische Massen-Hypnose, als ein Werk der Vorahnung adelte. Einmal, da Grashof ein Podest besteigt, in nahezu lasziver Verzückung, wird ein Rauschen hörbar: heillos undefinierbar und doch heilvoll klingend. Als wüchse einem Dr. Goebbels ein Sportpalast zu; ach, eine Sekunde nur, die einen bösen Gedanken herbeizurufen wagt. Grashof setzt in die Zeichen-Formen-Farben-Kunstwelt des Robert Wilson etwas, das dort so schwer hineinzusenken ist: ein Herz – das man warm fühlt, auch wenn es ein kaltes bleibt.

Loman, Caligari: zwei Rollen aus der schauspielerischen Spätzeit des Christian Grashof. Spricht man vom Deutschen Theater Berlin, so gehört dieser Schauspieler zu jenen, die ein Geschichtsmaß vorgeben. Ein Gewordener, der inzwischen ein starkes, beeindruckendes Geltungskonto vorweisen kann. Aber freilich: Der Wesenskern von Theater, die Flüchtigkeit, sorgt gnadenlos dafür, dass erbrachte Leistungen den jeweils Nachkommenden kaum noch präsent sind. Daher unbedingt dieses Buch: Erinnerung, Beschreibungsversuche. Von Vergangenheit, die noch einmal in Gegenwart übergehen möge. Gedächtnis als schönste Rücklagenbildung – für ärmere Zeiten, die immer sind.

Christian Grashof steht für eine Epoche, steht für Erfahrung, darin die Behauptungskraft der Jahresringe ruht, aber auch rumort. Kraft, die Geschichten erzählt. Vom 1943 geborenen Arbeiterkind aus Löbau, vom DDR-Theater. Von Jugend, die aus Karl-Marx-Stadt, jenem Talentetheater Gerhard Meyers, herandrängte an den Olymp DT, wo zunächst das quälende Warten auf hohem Niveau bestanden werden musste. In Karl-Marx-Stadt hatte er Rainer Kerndls „Alois Fingerlein“ gespielt, wurde gleichsam hineingeworfen in Schatrow, Gorki, Horváth, Kleist, Schiller, Shakespeare. Arbeitete bei den Regisseuren Wolfram Krempel, Alexander Stillmark, Klaus Erforth. „Der macht seinen Weg“, hat der Dramatiker Alfred Matusche beizeiten gesagt.

3.Deutsches Theater Berlin in der Schumannstraße, unweit des Bahnhofs Friedrichstraße. Eine magische Platzlandschaft. Bescheidene wie anmutige Klassizität. Kein Raum mit imperialer oder monumentaler Gebärde, sondern bürgerliche Stätte, ganz im Sinne der Aufklärung, schlicht die Fassaden, zart die Farben, einladend die beiden Eingänge, ins große Haus und in die Kammerspiele. Schwellenangst kommt hier – jedenfalls für Besucher – nicht auf. Das Haus ist auf Sand und Sumpf gebaut wie ganz Berlin – nur Pfahlbauten können einen sicheren Stand geben. Märkische Endmoräne. Wer hier baut, muss die Pfähle tief ins Erdreich schlagen, bis eine feste Steinschicht erreicht wird.

Das Deutsche Theater war zu DDR-Zeiten wahrlich nicht nur sozialistisches Staatstheater, es war königlich gutes Theater. Wer heute an jenes DT der vierzig zentral gelenkten Jahre denkt, erinnert sich mit Recht (und Wehmut, natürlich!, und Verklärung, ja, warum denn nicht!) an Zeiten, da in der Schumannstraße 13 a die Wurzellosigkeit ein unbekanntes und Schauspieler ein majestätisches Wort war. Vor allem gab es die romantische Produktionsweise, jene schöne Kehrseite der behäbigen Planwirtschaft: Zärtlichkeit, Ruhe. Die Zärtlichkeit kam vom Publikum, die Ruhe vom Zeitbesitz. Damals lebte das Theater (gut!) davon, dass das Sagen der Wahrheit immer ein wenig abenteuerlich war; heute scheint das Theater manchmal mehr als nur ein bisschen daran zu sterben, dass die Wahrheiten einander aufheben. Damals kam die Wahrheit im klassisch kostbaren oder betont unauffälligen Gewand der List, heute aber ist sie nackt, denn sie muss mit allen teilen, und „nichts ist ohne sein Gegenteil wahr“, sagt Martin Walser. Pluralismus mutet an wie Wert und Watte zugleich. Weiche Mitte besitzt mitunter etwas hochgradig Unbefriedigendes.

Zumeist waren Aufführungen am Deutschen Theater bestürmende Schauspielerfeste. Christian Grashof sagt: „Arbeit als ein großes Begegnungsglück!, so habe ich das erlebt, so habe ich das gelebt.“ Ein Wort wie das von Ekkehard Schall über das Berliner Ensemble: „Ich war dabei, was will ich mehr!“ Die Großen des DT: der spinöse, nervvibrierende Düren; die preußisch präzise Keller; der asketisch verschlossene Hentsch; der erdige Böwe; die mütterliche Grube-Deister; der dünnhäutig komische Ludwig; der schneidige, kantige Mann; die noch im Verkrähten so damenhafte Macheiner; der sonderbar verträumte Baur; die skurril melancholische Schorn; der heiter brummige Franke; der scharfumrissene Grosse; die irrlichternde Ritter; der intelligent ironische Piontek, der geistglühende Kaltnadelspieler Mühe. Jeder Name ruft das Bedauern darüber wach, wen alles man unerwähnt lassen muss.

Es gab eine anrührende Vertrautheit zwischen Bühne und Publikum, gewachsen über die Jahre; im anderen Teil Deutschlands vielleicht nur mit Peter Steins Westberliner Schaubühne oder Dieter Dorns Münchner Kammerspielen vergleichbar. Edle Gegenden. Aber stärker als dort wirkte hier, am Deutschen Theater, die Spannung zwischen einer Hochkultur der Repräsentation und einer intelligenten Unterwanderung offizieller Denkdoktrinen. In den besten Aufführungen, an denen Grashof mitwirkte, spielten sozialistisches Weltbild und träumerische Weltoffenheit klug und kühn eine Doppelrolle. Die Kunstabsicht verschmolz sehr oft mit den Erwartungen von Menschen, die während der Aufführungen nicht nur lauter Einzelne waren, sondern ein Publikum bildeten – aus Liebe zur Aura, aus gemeinsamer Lust, eine Grenzenlosigkeit zu diskutieren, die man nicht kannte, aber doch verstehen und erfühlen wollte. Jedes Billett fürs Hohe Haus war ein Reisepass in Gegenwelten. Theater letztlich als offenste Form einer geschlossenen Gesellschaft. Eine Verschworenheit, die sich am Ende, in jener nicht mehr zu heilenden Agonie der DDR, zum direkten politischen Impuls aufschwang (Schauspieler dieser Bühne gehörten zu den wesentlichen Initiatoren der legendären Demonstration am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz). Ein intellektueller, emotionaler Aufschwung – um dann schnell, mit dem Zusammenbruch des Staates, zu ermatten und sich schließlich zu erledigen.

Freilich: Immer erst später weiß man, dass alles Beglückende bloß existiert, weil der Schein unser Bewusstsein nicht minder stark bestimmt als jenes Sein, das doch meist weniger Beglückendes parat hat. Mit anderen Worten und gegen die eigene wohlige Erinnerung gerichtet: Auch das Deutsche Theater, sagt Christian Grashof, „war selbst zu besten Zeiten des Gemeinsinns keine Insel der Glückseligen“. Hier müsse man „boxen oder untergehen“, hatte der wuchtige Kurt Böwe zum schmächtigen Grashof gesagt. Im Deutschen Theater gipfelten die künstlerischen Karrieren jenes kleinen Landes, das sich nach Brechts Worten den Mühen der Ebenen hingegeben hatte: Das DT war hohe Ebene, und hohe Ebenen sind klein. Also Drängelei, und einen Schritt weiter kam nur noch – die Mauer. Wer am „Deutschen“ angekommen war, blieb. Der Höhepunkt war also zugleich Endpunkt. Das DT war demnach auch ein einsames Haus, am Ende der DDR besonders spürbar damit geschlagen, sich einzig an sich selber messen zu müssen. Wie lange schafft man es, so wach zu bleiben, dass man diese Isolation der eigenen Größe auch als großen Verlust fühlt? Vielleicht hat die Zeit dem Theater zur rechten Zeit geholfen, indem sie die DDR abschaffte. Jetzt war man im wahren Sinn des Wortes heraus-gefordert: Von außen kamen neue Forderungen. Mit obligater Nebenwirkung: Was vorbei ist, wird irgendwann schöner, als es je sein konnte. Diese Trauer darf nicht auf sich beruhen lassen, wer noch bereit sein möchte für Zukunft.

4.Den runden Kopf nach vorn gereckt – wo ist die Wand, gegen die geschwind zu rennen ist? Das Kreuz durchgebogen – wo ist der Sturm, unter dem man hier hindurchrauschen kann? Die Arme fliegen wie im Skiflug nach hinten – wann endlich wachsen die Flügel? Manchmal hat Grashofs Darstellung etwas von der grandios menschentiefen Minder-Wertigkeit eines Donald Duck. Und Disneys Duck ist immer in Druck, ist immer wichtigtuerisch, aus Nöten im Lebenskampf, ist immer in Angst, der Hals sei nicht lang genug, um über Wasser zu bleiben. Grashof ist ein Schauspieler der hoch kontrollierten Künstlichkeit. Er möchte, dass das Verschwommene exakt aussieht. Dafür gibt es zwei Lebenswege: den Rechner und den Clown. Grashof rechnet mit allen Möglichkeiten, die im Clown liegen. Er kann springen, weil man ihn tritt – so kommt man in Schwung. Seine Gestalten sind mitunter an den Grenzstein gefesselt, der das Reich des selbstbewusst ungebundenen vom Reich des verformbaren Menschen trennt. Als träfen sich in einer einzigen Seele Chaplins tänzelnder Charlot – Grashof wird in diesem Buch darüber reden – und Brechts schlingernder Galy Gay. Das Kleine, das Geringe im Zerrkampf zwischen der unerwarteten Energie eines David und naheliegender Demütigung, zwischen listig-kecker Rebellion und wadenbeißerischer Ergebenheit in irgend ein Räderwerk. Schaut man Grashof zu, muss sich die Identifikation immer der Gefahr bewusst sein, von giftig kichernder Boshaftigkeit düpiert zu werden; aber alle Distanz, die das Clowneske hervorruft, wird irgendwann auch an jenen Punkt kommen, da sie unvorsichtig wird und willig hinüberschmilzt in ein wärmendes Mitfühlen.

1975, da ist er fünf Jahre am Deutschen Theater, führt Grashof seine Tasso-Auffassung vor. Geist und Macht stehen zur Rede. Der Schauspieler nähert sich zurückhaltend. Er gibt sich beherrscht. Er weiß, verletzlich kann man sich geben, aber doch bitte unter einer sich wehrenden, spröden Hülle. Wie Wolfgang Langhoff am DT einst Lessings Minna in Neuland aufbrechen ließ, wie Wolfgang Heinz und Adolf Dresen Goethes „Faust“ neu erfanden, wie Friedo Solter den Nathan so ganz anders entdeckte, so trat nun, wieder bei Solter, Grashofs Tasso überraschend neu an und auf. Er ist, als zentraler Blickfang, das Gegenteil klassizistischer, arkadischer Erhabenheit. Grashof ist ohnehin keine Gestalt für Denkmalsockel, die ein Dichter sich selbst unter die wandelnden Feinfüße setzt. Und er gibt hier nicht den abgehobenen Poeten, sondern den jungen, gierigen Aufsteiger, verstrahlt von Versagensängsten. Fast fragte man sich angesichts dessen, woher die Unsterblichkeit der Goethe-Gestalt überhaupt resultiere. Aber Grashof offenbart sehr wohl, unaufhaltsam zum Ende hin, den lehrenden Sinn aller Sockel: Er liegt in der Fallhöhe.

Tassos Emigrantenschicksal, von Ferrara weg, wird nicht als obligate Verzweiflungs-Raserei hingeworfen, nein, Grashofs Tasso wird sehr, sehr still – er steht da wie ein Geborstener, und in die aufgebrochene Seele scheint er hineinzuschauen, so tief und erschrocken, wie kein Mensch bislang in sich selbst hineinzublicken vermochte. Glühendes Verglimmen hin zum glaubhaftesten Satz dieser Erscheinung: „Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide.“ Als sei dies Dichters einziger Auftrag: Wenn du das Herz eines Menschen erreichen willst, musst du es brechen. Zuerst natürlich das eigene – in einer Welt, die Schlimmeres tut: Sie bricht jedes Versprechen.

Da war er endlich, nach lang sich ziehender Anfangszeitrechnung, jener künstlerische Eklat, der den jungen, großenteils noch unbemerkten Fremden, aus Chemnitz gekommen, urplötzlich zum Ereignis erhebt, das in dieses hochkarätige Ensemble wie ein Blitz einschlägt. Das Hohe so unerwartet irdisch, das Edle so aufreizend elend, das Geschwungene so eckig. Das Wunderbare bei Goethe zahlt Grashof bar: mit Wunden, die seine ganz eigene Art allem Abgeklärten zufügt – um es ins Leben zu bringen. Jetzt war Grashof gewissermaßen ein Mittelpunkt am Deutschen Theater geworden. Und das bleibt so. Wird sofort bekräftigt. Mitten auf der Bühne ein Kreidekreis, vielleicht zweieinhalb Meter Durchmesser. Der Spielort – eine Gefängniszelle. Umgeben rundum von Bänken fürs Publikum. Brüske Kargheit: Athol Fugards Stück „Die Insel“, gespielt von Christian Grashof und Alexander Lang, Regie: Klaus Erforth und Alexander Stillmark. Schicksale unter der Apartheid Südafrikas. Grashofs Häftling John: forcierte Drahtigkeit und zugleich Schübe von Erschöpfung – nur geistiges Gespanntbleiben erhält ihn gegen das bohrend Tumbe seines Mithäftlings Winston. Selbsterhaltungsbalance in ständiger Sprenggefahr.

Jetzt ist Tempo angesagt. 1977 jener Aufstand der Schauspieler, der wesentlich mitwirkt an der Schaffung des Regisseurs Alexander Lang – gemeinsam mit Roman Kaminski und eben Christian Grashof erarbeitet Lang eine der atemberaubendsten Interpretationen Heiner Müllers: „Philoktet“. Grashof als Odysseus: klein, bleich und gefährlich zieht er im hochgeschlossenen, schmutzig-grauen Trenchcoat die Fäden einer unerbittlichen Konfrontation. Mit rhetorischer Beflissenheit und lügnerischer Eiseskälte. Lang als Philoktet: ein Wesen, trotz schwerer Verletzung mit der Wendigkeit eines geschmeidigen Waldtieres, aber auch mit der seelischen Starrheit eines geschichtlich tief Enttäuschten. Schmerzlaute wie grässlich grelle Vogelschreie: Zehn Jahre lang war Philoktet Gefährte nur von Geiervögeln. Lang gibt mit staunenswerter Energie und Klarsichtigkeit, teils sogar mit sarkastischer Schärfe, jenen Prozess wieder, den Philoktet beim erneuten Treffen mit Odysseus durchlebt: Misstrauen, ein überraschender Hauch von Vertrauen plötzlich, dann doch wieder Hass und stärker werdender Hass, schließlich rasender Zynismus bis ins Sterben hinein. Der Zorn auf Odysseus macht ihn menschlich, die Wut auf alles Leben macht ihn selber unmenschlich. Zwischen diesen beiden: Neoptolemos, des Odysseus Helfer, gespielt von Roman Kaminski. Mit der federnden Leichtigkeit fast eines Cowboys betritt er Lemnos, jung und tatgierig, mit der Ehrlichkeit des Naiven, der an Griechenland und an Odysseus glaubt. Die Insel verlassen wird er als gebrochener Mann, der die politische Lüge gelernt hat. Groß die Szene, da er den unbändig tobenden Philoktet tötet und ihn zärtlich aus seinen Armen auf den Boden gleiten lässt.

Überhaupt: Alexander Lang. Als Schauspieler führte er die Schlaksigkeit in den Adelsstand. War auf der Bühne in der Schumannstraße von Schiller zu Volker Braun gesprungen, also vom Ferdinand zum Kipper Paul Bauch: vom Kopf, der an tödlich niedrige ständische Himmel stieß, zum Arbeiterutopisten, der sich ein Büchergebirge unter die Füße wuchtet, um dem sternigen Weltall näher zu sein. Ich fand immer, wenn ich Lang spielen sah: Es klafft zwischen dem Spieler und dem Gespielten ein strichdünner Spalt; durch den sah man, wie ein großer, trauriger Junge in einem überbunten Kinderzimmer sitzt. Böse und listig gestimmt, dies alles zu versenken. Das war die Theaterwelt des Alexander Lang, der seinen Figuren die unverkennbare thüringische Dialekteinfärbung mitgab – so dass sich alles Hohe, das sie sagen wollten, mit allem Niederen, das sie erleben mussten, zu einer seltsam müde-rebellischen Melancholie kurzschloss. Er beherrschte die clowneske Verschrobenheit und das Spiel der scheinbar falsch verschraubten Glieder. Versunkener Ernst, ungelenke Würde, still erhobene und erhabene Distanz.

Als Regisseur dann ein Fortsetzer seiner selbst: Toller, Grabbe, Gryphius, Strindberg – und Christian Grashof im Zentrum dieser klug-artifiziellen Regie, deren Bilder aus choreografischen Überzeichnungen erwachsen. Unvergesslich das Arena-Spiel in Brechts „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe“ – Grashof, der Pächter Callas, als Vorform eines schmiegsam-schmierigen Arturo Ui; die Verhärtung gegen alles Vernünftige in der Gestalt eines faszinierend gefährlichen Verbiegungskünstlers. Höhepunkt aber einer Theatergeschichte schreibenden Gemeinsamkeit: 1981 Langs „Dantons Tod“, Grashof als Danton und Robespierre zugleich.

In der französischen Zeitschrift „Révolution“ schreibt Jacques Poulet im Januar 1983: „Was da spielt, mit dem überragenden Christian Grashof an der Spitze, das ist ein Volk der guten Kinder, sie lieben zu spielen, und sie finden diesen wundersamen und grotesken Stil des Spiels nur allzu natürlich. Ein volkstümlicher Geist, verfeinert durch Raffinement, das sich inspirieren ließ von Meyerhold, oftmals wohl geübt an der Handschrift Adamovs und der von Peter Weiss. Ein Stil, der sich nie lächerlich macht, aber der die rote plebejische Mütze als die vernünftigste Narrenmütze zur ernsten Lage der Dinge trägt (…). Alexander Lang macht reinen Tisch mit den Interpretationen von rechts und von links, sie, die Büchner allemal Gewalt antun. Sein genialer Streich heißt Grashof, begleitet von Roman Kaminski, der auf der gleichen schizoiden Schaukel balanciert, zwischen Camille Desmoulins und Saint-Just: Der Gleiche tötet den Gleichen. Wird das je enden? Man kann die Idee von Aragon, unsere Zeit sei die Zeit der doppelten Männer, der politischen Janusgesichter, die noch die unterschiedlichsten Zwecke unter die ewig gleichen Mittel zwingt – man kann diese Idee nicht besser bedienen als mit dem zerrissenen Bewusstsein, das Danton zu Robespierre und Robespierre zu Danton macht. Gibt es noch größere Sackgassen der Dialektik, uns bezeichnenderweise offenbart von Freunden aus der Deutschen Demokratischen Republik?

Das Ende zeigt eine ‚Vive le roi!‘ schreiende Lucile Desmoulins, die auf den Stufen zur Guillotine ihre Vernunft verlor. Zwei Sansculotten tragen sie in einem langsamen Walzer, bedrohlich und zart, in eine dunkle Ferne – Farbe unbekannt. Die blutroten Tücher der Bühne öffnen sich, das Licht begrüßt die Finsternis. Die Finsternis übrigens mag heißen, wie sie will, das Licht, das über dem Europa der Schauspieler aufging, heißt Christian Grashof.“

Alexander Lang und jener ästhetische Kosmos, der im Spiel des Christian Grashof Körper und also Kontur gefunden hatte: Traten die Gestalten auf, so wuselten sie durch Gefangenschaften im Reich ihrer Angst. Bilderbögen aus lauter Daseins-Bruchstücken. Zeitloser Raum, raumlose Zeit, irgendwo zwischen Kafka und Kleinem Prinzen. Der Grashof-Kosmos.