Magische Meriten

 

 

Magische Meriten

 

Teil 3: Feuertaufe

 

 

Dennis Frey

 

 

Buch & Autor

 

Der junge Magier Claude bereitet sich auf seine Ausbildung vor und trifft dabei auf Snow, die aus einer der ältesten Magierfamilien der Welt kommt und sich wegen einer geheimnisvollen Prophezeiung für etwas Besonderes zu halten scheint.

Sie und Claude geraten mehrfach aneinander. Obwohl die Wut beider wenig mit dem anderen zu tun hat, steigern sie sich gegenseitig bis in eine dumme Mutprobe hinein, bei der sie für einen Moment die Kontrolle über Ihre Magie verlieren. Das verursacht Probleme, die schließlich die ganze Stadt bedrohen.

Den beiden bleibt nur, sich zusammenzuraufen und mit Hilfe ihrer Freunde das Schlimmste zu verhindern.

 

Dennis Frey liebt Abenteuer, egal ob er sie zu Papier bringt, oder in der Realität erlebt. Nach neun Jahren in Irland und einer Reise um die Welt ist er 2008 mit seiner Familie zurück nach Deutschland gekommen und arbeitet jetzt daran, die gesammelte Inspiration umzusetzen.

Seine Geschichten sind voller Magie und Spannung, gerne auch mal düster aber nie ohne Humor.

Alles, was er unter seinem Namen veröffentlicht, ist in irgendeiner Weise miteinander verknüpft. So kann es durchaus sein, dass man den Helden der Magischen Meriten in einem anderen Werk wieder über den Weg läuft; wie man einen alten Freund anruft, um sicherzustellen, dass es ihm gut geht.

Impressum

 

Originalausgabe | © 2020

Verlag in Farbe und Bunt

Am Bokholt 9 | 24251 Osdorf

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Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdrucks und der Veröffentlichung des Buches, oder Teilen daraus, sind vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Alle Rechte liegen beim Verlag.

 

Herausgeber: Björn Sülter

Lektorat & Korrektorat: Telma Vahey

Cover-Gestaltung: Grit Richter

E-Book-Erstellung: E. M. Cedes

 

ISBN: 978-3-95936-140-8 (Ebook)

1 – Grimmig

 

Ich war beinahe überrascht, wie leicht es mir fiel, ungesehen zu bleiben.

Lag das an meinen Fähigkeiten, oder wollten die Leute einfach nur an jemandem vorbeisehen, dessen Augen auf ein Ziel wie meines gerichtet waren?

Beinahe zärtlich strich ich mit der Hand über mein Notizbuch. Darin waren genug Verdächtige, um einen ganzen Zug zu füllen, auch wenn ich noch keinen endgültig überführt hatte. Was auch immer sie hierhergezogen hatte wie Motten ans Licht, es war bestimmt nicht das Wetter gewesen. Es war wärmer, als es irgendjemand angenehm finden konnte; die Luft stand, stank, und in ihr hing so viel Wasser, dass ich manchmal das Gefühl hatte, mehr zu schwimmen als zu laufen. Ich hasste jede einzelne Straße dieser Stadt, aber was machte das schon, wenn man dafür seiner Bestimmung folgen konnte?

„Alles in Ordnung, Kid?“

Sieh an, nicht jeder übersah mich. Der alte Schwarze blickte mir mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen direkt in die Augen.

Wut zuckte in mir auf, aber ich war lange genug trainiert worden, um meine Reflexe nicht an einem unbeteiligten Passanten auszulassen.

„Bin 19“, sagte ich tonlos.

„Eh?“ „19. Ich bin kein Kind mehr.“ Noch immer hielt ich jede Gefühlsregung aus meiner Stimme. Der Mann lachte.

„Ah ja, mein Jordie mochte es in dem Alter auch nie, wenn ich ihn so genannt habe. Aber trotzdem: Alles in Ordnung? Ich frage nur, weil wir in unserem Viertel nie Weiße sehen, und du, mit Verlaub, bist der weißeste Bursche, den ich seit Jahren gesehen habe.“

Mhm. War das der Grund, warum die Passanten versuchten, mich nicht anzusehen? Fiel ich vielleicht doch mehr auf, als ich dachte? Der Gedanke, meine Hautfarbe könnte mich auffälliger machen, war mir nie gekommen, bis er mich jetzt mit der Wucht eines heranrasenden Trucks traf. Nur weil ich auf andere Merkmale als die Haut schaute, musste das nicht für den Rest der Welt gelten. Ein Punkt, der bei meiner Ausbildung nicht ausreichend berücksichtigt worden war. Sollte ich meine Zeit hier überleben und eines Tages selbst unterrichten, würde ich dieses Wissen einfließen lassen – eine neue Welt lag vor uns, und wir mussten uns bedeckt halten. Die Zeiten, in denen wir wie einfallende Barbarenhorden vorgegangen waren, mussten ein Ende finden, wenn wir unser Ziel erreichen wollten.

„Vielleicht habe ich mich verlaufen“, antwortete ich mit Verspätung und drehte mich um. Der Alte legte seine Hand auf meinen Unterarm, und mir schossen siebzehn Möglichkeiten durch den Kopf, mit denen ich ihn in weniger als einer Sekunde töten konnte. Ich wendete keine davon an, sondern zog nur langsam meinen Arm zurück. Sein Blick sagte mir, dass er verstand, wie gefährlich er die Situation gerade gemacht hatte. Dazu brauchte man keine Magie – wenn man einem wilden Hund gegenüber stand, der die Zähne fletschte, zog man sich zurück.

„Schon in Ordnung, K... Schon in Ordnung. Wenn du der Straße folgst“, er zeigte in die Richtung, „kommst du zurück ins French Quarter. Von da findest du bestimmt deinen Weg.“

Wir hatten den Punkt erreicht, an dem der Alte mich einfach nur noch loswerden wollte, ohne einen gewalttätigen Zwischenfall zu verursachen. Vielleicht hatte er den Kriger in meiner Haltung gesehen, den gerechten Zorn in meinen Augen, oder er ahnte, was sich in der dunklen Tasche verbarg, die ich mir über die Schulter geworfen hatte.

Die Zeiten, in denen ein Weißer einen Schwarzen ungestraft auf offener Straße töten durfte, waren vorbei, aber ihm war sicher so klar wie mir, dass man mich mit Samthandschuhen anfassen würde, solange er nur überlebte. Vielleicht sogar noch, wenn er starb.

Aber das lag nicht in meiner Absicht. Ich wusste genau, wen ich töten wollte, wenn sich meine Vermutungen bestätigten, also nickte ich nur kühl und ging die Straße entlang, die in Richtung des Flusses führte. Vater hätte den alten Mann wohl irgendwohin mitgenommen und ihn dann verschwinden lassen, aber so wollte ich nicht arbeiten. Ich würde die Schuldigen, die Befleckten, töten, um die Unschuldigen zu beschützen. Nicht jedes Leben war gleich viel wert – oder gleich wenig – und was hatte ich mir geschworen, als ich mein Elternhaus für diese Jagd verlassen hatte?

Neue Legion, neue Sitten.

2 – Schnee

 

Raus, nur raus. Claude hämmerte die Tür hinter sich zu, als wolle er, dass sie in die andere Richtung wieder aufging. Vor ihm erstreckte sich der vertraute Anblick seiner Straße, der ihm aber auch keine Ruhe gab. Eine lange, gerade Straße, zu beiden Seiten von Häusern gesäumt, die schon bessere Zeiten gesehen hatten, aber trotzdem noch ansehnlich waren, trotzdem noch deutlich machten, dass sie ein Zuhause für jemanden waren. Trost spenden konnten sie ihm aber nicht.

Dieser hochnäsige, blasse Wichtigtuer. Seit zwei Jahren lebte Thorbjörn schon bei ihnen, und noch immer reichten zwei, drei wohlbedachte Sätze von ihm, um Claude vor Wut die Wände hochgehen zu lassen. Nicht wortwörtlich – er hatte zwar magisches Talent, aber das hatte er bisher noch nicht hinbekommen.

Thorbjörn konnte es bestimmt. Thorbjörn war ja so talentiert. So ein aufmerksamer Schüler. So ein Arschloch! Wenn es nach Claude gegangen wäre, hätte seine Mutter ihren neuen Schüler schon nach zwei Tagen wieder nach Hause geschickt. Zurück nach Schweden, oder wo auch immer er herkam. Wenn seine Familie schon nicht Teil des Hofs sein wollte, musste er es doch auch nicht.

Wütend stapfte Claude durch das windschiefe Tor, das ihr kleines Grundstück von der Straße trennte. Diesmal widerstand er dem Drang, es hinter sich zuzuschlagen, weil er wusste, dass das Holz morsch war und brechen würde. Blödes Tor. Wütend trat er nach einem kleinen Blätterhaufen, doch die Blätter waren nass und klebten am Boden, aneinander und an seinem Schuh, was ihn nur noch mehr frustrierte. Es war, als hätte sich die ganze Welt gegen ihn verschworen! Claude fühlte unter seiner Wut etwas brodeln. Seine Magie mischte sich mit der Emotion, weckte das Feuer, das Element, das seiner Seele nah war. Das war gefährlich, sehr gefährlich, und am einfachsten und sichersten wäre es gewesen, die Emotionen wieder unter Kontrolle zu bringen. Doch Claude wollte wütend sein. Er wollte sich bemitleiden und die Welt verfluchen. Mit einiger Anstrengung unterdrückte er seine Magie soweit, dass das Feuer zu einem schwachen Glimmen wurde. Das sollte reichen.

Er überließ seinen Füßen das Gehen. Es war ihm ohnehin egal, wohin er ging, solange er nur Abstand zwischen sich und die skandinavische Invasion zuhause brachte. Bei dem Gedanken hätte er am liebsten geschrien, aber er verkniff es sich. Die gesamte Nachbarschaft behielt sie sowieso schon ständig im Auge; außerdem würde ein Wutschrei das Feuer wieder auflodern lassen. Als schwarze Familie in New Orleans hatten sie es ohnehin schon schwer genug, auch wenn er keine fremden Häuser anzündete.

 

Claudes Füße führten ihn aus Tremé heraus, am City Park vorbei, bis zu den ordentlichen Reihen von sauberen Holzhäusern mit perfekt getrimmten Vorgärten, die Lakeview ausmachten. Erst hier wurde ihm klar, dass er seit über einer Stunde vor sich hin brütend durch die Stadt gestapft war. Seine Wut war verraucht, und er fühlte sich müde und leer, nur zu bereit, zurück nach Hause zu gehen und mit seinen Eltern und dem Wichtigtuer zusammen am Tisch zu sitzen. Letzteren würde er beim Abendessen, so gut es eben ging, ignorieren.

Lakeview war die weißeste Gegend in New Orleans. Claude mochte sie, mochte den Ausblick auf den Lake Pontchartrain, kam jedoch so gut wie nie hierher, weil die Bewohner dieser Nachbarschaft den Ausblick auf ihn nicht mochten. Sie hatten die Zeiten hinter sich gelassen, in denen er offen von hier verjagt worden wäre, aber die giftigen Blicke der Passanten waren noch immer da. Das Gefühl war noch immer da. Und gerade als Magier war es klug, sich auf sein Bauchgefühl zu verlassen.

Er schnalzte ein wenig enttäuscht mit der Zunge und drehte sich um, was ihn Auge in Auge mit einem Mädchen in seinem Alter brachte, das ihn aus kobaltblauen Augen musterte. Die Augen waren der einzige Farbtupfer an ihr. Ihre Haut war wie Porzellan, ihr Kleid und die Schuhe waren weiß, und selbst ihre Haare hatten die Farbe von frisch gefallenem Schnee. Eine ihrer schmalen Augenbrauen hob sich, doch sie sagte nichts. Brauchte sie auch gar nicht. In dieser kleinen Bewegung lag so viel Arroganz, dass Claude augenblicklich zu seiner Wut zurückfand.

„Und was passt dir nicht?“, fuhr er sie an. Falls sein Ausbruch sie erschreckte, ließ sie es sich nicht anmerken. Eine ihrer schmalen Hände hob sich und strich zwei lose Haarsträhnen hinter das Ohr, so elegant, als wäre sie ein Windhauch. Claude war groß, dunkel und breitschultrig und kam sich neben diesem Püppchen vor wie ein unbeholfener Ochse.

„Ich habe mich nur gewundert“, sagte sie mit einem Akzent, den Claude nicht einordnen konnte. Auf jeden Fall war sie keine Amerikanerin.

„Gewundert? Worüber?“ Ihr Gesicht wurde sogar noch ein bisschen überheblicher und verlor ein klein wenig von der Ruhe, die es zuvor ausgestrahlt hatte. Als würde der Windhauch zu einer steifen Brise werden.

„Ob du wirklich so unhöflich bist, wie du aussiehst. Und da sich diese Frage nun geklärt hat ...“ Sie unterbrach sich selbst und wedelte mit der Hand, als wolle sie ihn fortschicken. Er spürte die Energien gerade noch rechtzeitig, um sich dagegen zu wappnen. Sie hatte nicht allzu viel Kraft in die Bewegung gelegt, doch es hätte gereicht, jeden normalen Menschen ohne ein weiteres Wort davonwandern zu lassen – sie war eine Magierin, genau wie er! Oder, besser gesagt, eine Schülerin der Magie, genau wie er. Den Titel Magier konnte sie sich in dem Alter noch nicht verdient haben. Milde Überraschung umspielte ihr Gesicht, als er ihrem Zauber widerstand.

„Ah“, sagte sie nur.

„An anderer Leute Geist herumspielen ist aber nicht nett“, zischte Claude, und ihm fiel auf, dass er sich dabei sehr viel vorsichtiger ausdrückte, als das normalerweise seine Art gewesen wäre. Sie zuckte mit den Schultern.

„Das Recht des Stärkeren.“

Und da war die Wut wieder.

„Ja, das haben sicherlich schon viele Weiße gesagt, die meine Leute zu irgendetwas gezwungen haben.“

Sie legte ihren Kopf ein wenig schief, was die einzig sichtbare Reaktion auf seine Worte war. Einen Moment lang legte sich Stille über sie, scheinbar über die ganze Straße. Wer weiß, vielleicht hielt in diesem Augenblick ja ganz New Orleans den Atem an. Aber Claude entschloss sich, nicht aus der Haut zu fahren, sondern ebenfalls ganz ruhig zu bleiben. Erst einmal.

Schließlich schüttelte sie mit einem leisen Lächeln den Kopf.

„Zumindest bist du einer von uns“, sagte sie und überließ es ihm, dem Satz einen Sinn zu geben. „Meine Familie ist neu am Hof. Der Name ist Snjókoma Tordsson.“

Was war das nur mit ihm und den Skandinaviern? Oder waren die einfach alle so unerträglich selbstgefällig? Snjókoma deutete seine nichtexistente Reaktion auf ihre Worte wohl falsch, denn sie seufzte schwer und verdrehte ein wenig die Augen.

„Der Name bedeutet Schnee. Du kannst mich Snow nennen, wenn dir das leichter fällt.“

Damit wandte sie sich um und ging auf das prachtvolle Haus zu, vor dem sie gestanden hatten. Claude hoffte inständig, sie niemals irgendwie nennen zu müssen – vielleicht würden sie sich ja kein weiteres Mal über den Weg laufen.

 

*

 

Nach all den leeren Blicken, die sie erntete, war sie mittlerweile soweit, dass sie sich schon selbst manchmal Snow nannte. Sie hasste Amerika. Hasste es hier zu sein, wo die Luft falsch roch, wo Essen und selbst Wasser falsch schmeckten und sogar die pure Energie in Luft und Erde sich nur zögernd mit ihr verband. Aber Vater hatte darauf bestanden, an den Hof zu gehen, und der Hof residierte im Moment nun einmal in New Orleans. Sie vermutete sogar, dass es mit ihr zu tun hatte. Mit ihrer Aufgabe.

„Alles in Ordnung?“ Ihr kleiner Bruder Geralt blickte vom oberen Stockwerk herab. Vielleicht hatte er die kleine Szene an der Straße durch eins der Fenster beobachtet.

„Immer. Geh spielen“, antwortete sie brüsk. Sie konnte es sich nicht erlauben, Schwäche zu zeigen, nicht einmal vor ihrer eigenen Familie.

Geralts Gesicht verhärtete sich sekundenlang. Er war vierzehn, kein Kind mehr, doch sie vergaß das viel zu häufig. Wie oft hatte sie ihn in den letzten sechs Jahren gesehen? Nicht genug, um ihr inniges Verhältnis aus der Kindheit zu erhalten, soviel stand fest. Seit ihr Haar sich weiß gefärbt hatte, bestand Vater darauf, sie sehr viel härter zu trainieren. Ihre Lehrstunden hatten sich seither verdreifacht, und sie hatte das ungute Gefühl, dass er am Hof einen Meister für sie finden würde, der das harte Regiment fortführte.

Geralt verschwand ohne ein weiteres Wort vom Treppenabsatz. So war es zwischen ihnen immer – sie atmeten dieselbe staubige Luft dieses Hauses, doch sie hätten genausogut auf verschiedenen Kontinenten leben können. Er hatte nie etwas gesagt, doch Snow war überzeugt, dass er sie dafür hasste, dass sie so begabt war. Eine der vielversprechendsten Schülerinnen dieser Generation, während seine magische Energie nie für mehr als ein paar Zaubertricks reichen würde. Vater beachtete Geralt kaum noch, seit er den Fluss gestartet und sich das traurig geringe Ausmaß seiner Kräfte gezeigt hatte.

In einer so alten und angesehenen Magierfamilie wie den Tordssons aus Island, die schon in alten Wikingersagas als Geistrufer erwähnt worden waren, wurde der Wert daran gemessen, wieviel man zum Ruf der Familie beitragen konnte.

„Snjókoma.“ Wie immer, wenn sie die Stimme ihres Vaters hörte, straffte sich ihr Körper. Er stand in der Tür des Arbeitszimmers, aufrecht, in seinem altmodischen Anzug, und starrte sie aus denselben blauen Augen an, die auch ihr aus dem Spiegel entgegenblickten. Sein Haar war schwarz, wie das jedes Familienmitglieds – außer ihr.

„Ja, Vater?“

Seine Antwort bestand aus einer einzigen Handbewegung, mit der er sie näher heranwinkte. Als sie der Aufforderung Folge leistete, trat er einen Schritt zurück und hielt ihr die Tür auf.

Sein Arbeitszimmer war düster und beeindruckend und darauf ausgelegt, dass ihm hier niemand zu widersprechen wagte. Es war eine genaue Replik des Raums, in dem er auch zuhause in Akranes seine Geschäfte abwickelte. Das verstärkte ihr Heimweh so sehr, dass sie den Schmerz schon körperlich spürte.

Die Stille zwischen ihnen dauerte noch länger an, während ihr Vater hinter seinem wuchtigen Schreibtisch aus dunklem Nussbaumholz Platz nahm. Sie wurde etwas nervös.

„Noch drei Tage“, sagte er gewichtig, und Snjókoma entspannte sich ein wenig. Gut. Es war ein leidiges Thema, weil sie es schon hundertmal durchgegangen waren, aber zumindest hatte sie nichts angestellt, ohne es zu wissen. „In drei Tagen gibt der Rat den Ball, bei dem du dem Hof vorgestellt wirst.“

Wenn man Vater so reden hörte, konnte man meinen, der Ball würde nur für sie gegeben. In Wirklichkeit war es eine Feier, bei der eine ganze Generation neuer Lehrlinge den potentiellen Meistern und einander vorgestellt wurde. Zumindest theoretisch – praktisch waren zwar viele, aber längst nicht alle der über die Welt verteilten, verfügbaren Meister am Hofe anwesend.

„Ich erwarte bestes Verhalten von dir. Verhalten, das deinem Familiennamen und deiner besonderen ... Aufgabe angemessen ist.“

Beinahe hätte Snjókoma die Augen verdreht. Beinahe. Aber dann hätte dieses Gespräch statt einer Viertelstunde eine ganze in Anspruch genommen, und das war ihr sehr deutlich bewusst.

„Natürlich, Vater.“

„Ich werde dich einigen wichtigen Leuten vorstellen. Einflussreichen Leuten. Wenn du es klug anstellst, wirst du einen der Großmeister als deinen Śikṣaka gewinnen. Gib dich gar nicht erst mit Leuten ab, auf die ich dich nicht aufmerksam mache. Gespräche mit ihnen bringen dich nicht weiter.“

Die alte Leier. Vaters Hauptaugenmerk lag darauf, dass sie den prestigeträchtigsten Lehrer fand, den der Hof hergab. Der erste Schritt für sie, zum Ruf der Tordssons beizutragen. Danach hing alles an ihrer Aufgabe. Mit einem Mal war der Knoten in ihrem Bauch wieder da. Leistungsdruck, hatte ihre Mutter ihr mit einem Lächeln erklärt, ihr aber keinen Ratschlag geben können, der dagegen geholfen hätte.