Seelen

 

Seelen – Das Ruhrstadt Universum

Teil 1: Fang mich auf

 

 

Reinhard Prahl

 

 

 

 

 

 

Buch & Autor

 

Die Metropole Ruhrstadt im späten 21. Jahrhundert: Die 15-jährige Mila stirbt im Keller eines heruntergekommenen Hotels an einer Überdosis der Designerdroge Nartec. Für die Polizei ist das Mädchen lediglich eine geschlossene Akte. Milas Vater, der Journalist Yorik, kämpft jedoch um Aufklärung. Um die Verteiler der Droge zu finden, nutzt er seine beruflichen Kontakte und entdeckt schließlich eine heiße Spur. Doch die Trauer um seine Tochter lässt ihn tiefer in eine Welt der Gewalt, von Sex, Drogen und zerstörter Seelen eintauchen, als er es je für möglich gehalten hätte … (Teil 1 von 3)

 

Reinhard Prahl wurde 1967 in Dortmund geboren. Als Autor populärwissenschaftlicher Artikel und Interviews erscheinen seine Arbeiten seit 1999 in zahlreichen Print- und Onlinemedien. 2006 folgte mit »Auf der Suche nach der Mutterkultur« das erste Sachbuch. 2017 publizierte er seine erste Kurzgeschichte, »A Day in Paradise«. 2018 folgten zwei weitere Storys. »Seelen Teil 1 - Fang mich auf« ist der erste Roman des Schriftstellers.

Impressum

 

Originalausgabe | © 2019

In Farbe und Bunt Verlags-UG (haftungsbeschränkt)

Kruppstraße 82 - 100 | 45145 Essen

www.ifub-verlag.de

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdrucks und der Veröffentlichung des Buches, oder Teilen daraus, sind vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Alle Rechte liegen beim Verlag.

 

Herausgeber: Mike Hillenbrand

verantwortlicher Redakteur: Björn Sülter

Lektorat & Korrektorat: Telma Vahey

Cover-Gestaltung: E. M. Cedes

E-Book-Erstellung: Björn Sülter

 

ISBN: 978-3-95936-146-0 (Ebook)

ISBN: 978-3-95936-163-7 (Print)

Widmung

 

 

 

 

Nun, jeder hat sein Los, und leicht ist keines.

 

(Hermann Hesse, »Der Steppenwolf«)

I. Der Weg nach Hause

Deutlich nervös und mit hastigen Schritten eilte Mila durch die Nacht. Ihr schulterlanges, blondes Haar fiel strähnig und leicht fettig über ihre Schultern. Sie schwitzte erbärmlich, was überdeutlich zu riechen war. Doch das war ihr egal. Ihre zerrissene, fleckige Hose und die löchrigen Schuhe störten sie nicht. Wichtig war nur, was sie in der rechten Tasche ihrer alten, speckigen Lederjacke verbarg. Ihre Hand umklammerte die kleine Phiole, die sie wie einen kostbaren Schatz hütete, den es um jeden Preis zu beschützen galt. Für den Inhalt dieses Fläschchens hatte sie ihre mühsam zusammengeschnorrten Kredits ausgegeben und war mit ihrem gefälschten Ticket mit der Zentral-Bahn durch halb Ruhrstadt gefahren. Sie hatte die allgegenwärtigen Sensoren und Cams ebenso überlistet wie die Retina-Displays der Security-Mitarbeiter, die stets mitfuhren.

Nun befand sie sich auf dem Weg in ihr Versteck, das sie sich mit zwei weiteren Mädchen teilte. Hier konnte sie zur Ruhe kommen, durchatmen, verschnaufen.

 

Furcht war ein unangenehmer Begleiter, und jedes Mal, wenn sie verdächtig nach Polizei aussehende Fremde erblickte, stieg ihre Nervosität ins Unermessliche. Zwei gepflegt wirkende Männer jüngeren Alters, bekleidet mit Laufschuhen, unifarbenen Hemden und leger fallendem Blouson darüber, kamen ihr entgegen und schürten Milas Misstrauen.

Die beiden näherten sich und beobachteten die Sechzehnjährige mit unverhohlenem Interesse.

Das Mädchen begann zu zittern.

Oh nein. Bitte nicht!, flehte sie innerlich.

Noch zehn Meter. Sollte sie sich umdrehen und so schnell rennen, wie ihre Füße sie trugen? Oder einfach die Straßenseite wechseln? Noch bevor die junge Frau ihre Gefühle wieder in den Griff bekam, roch sie auch schon die Alkoholfahnen. Nein, das waren keine Cops. Ihr Puls fuhr langsam herunter und beruhigte sich, bis der kräftigere der beiden Kerle – sie hatte ihn wegen seines Aussehens »Gorilla« – getauft, plötzlich zur ihr sprach.

»Hey du, bleib mal stehen.«

Mila unterdrückte den Trieb zu flüchten, und der dunkelhaarige Typ stellte sich ihr geschickt in den Weg. Er schien der Anführer des Duos zu sein und musterte sie mit einem Blick, der ihr einen Schauer über den Rücken jagte.

»Was?«, raunzte Mila ihn an.

Der Ton amüsierte den Angetrunkenen. Sein Blick wanderte auf unmissverständliche Art und Weise an ihr herab, und trotz ihres schmuddeligen Äußeren schien ihm zu gefallen, was er sah. Offensichtlich erkannte er in Mila eine Gelegenheit, es sich auf die Schnelle billig in einer dunklen Ecke oder hinter einer Hecke besorgen zu lassen.

»Fünfzig Kredits, wenn du mir einen bläst«, tönte er.

Milas Antwort folgte prompt. Mit einem Kopfnicken in die Richtung des zweiten, wesentlich ruhigeren Zeitgenossen entgegnete sie keck: »Lass dir doch von deinem Schoßhündchen einen blasen. Sein Maul scheint genau die richtige Größe für dich zu haben.«

Anstatt angemessen wütend zu reagieren, lachte »Gorilla« laut auf.

»Ganz schön frech, gefällt mir.«

Dann fuhr er ernster fort: »Pass auf, Kleines: selbst ohne eingeschaltetes Display erkenne ich einen Nartec-Junkie auf einhundert Meter Entfernung. Mach mir also nichts vor. Du stinkst ja regelrecht nach Entzug. Weißt du was? Ich steh auf so was. Und ich habe heute eine großzügige Ader. Fünfundsiebzig Kredits, und das ist mein letztes Wort!«

An einem anderen Tag, ohne eine gute Dosis ihres begehrten Stoffes in der Tasche, hätte Mila das Angebot vielleicht angenommen. Heute jedoch konnte sie es sich leisten, mutig zu sein und dem dreisten Kerl eine Lektion zu erteilen.

»Selbst, wenn du mir siebenhundertfünfzig bieten würdest und mir mein Affe die Kotze aus dem Hals triebe, könntest du dich in einer VR-Kapsel selbst ficken, du Arschloch! Und jetzt lass mich endlich vorbei.«

Kaum hatte Mila ihre Tirade zu Ende geführt, rannte sie auch schon los. Währenddessen fuhr sie ihren Ellbogen aus und rammte ihn dem Typen kräftig in die Seite. Er schnappte überrascht nach Luft und wich getroffen einen Schritt zurück. Die entstehende Lücke war gerade groß genug, um hindurch zu schlüpfen.

»Miese Schlampe!«, bellte er gedemütigt.

»Dich krieg ich noch!«

Doch Mila war bereits mit einem Blick über ihre Schulter um die rettende Ecke gebogen. Sie lief und lief wie gehetzt, bis sie sich schließlich sicher sein konnte, nicht verfolgt zu werden. Seitenstiche quälten ihren Leib und trieben würgende Übelkeit hoch. Die Freude über den kleinen Sieg überwog jedoch, und so lachte sie für einen kurzen, befreienden Moment laut auf.

 

Plötzlich verflog diese fröhliche Unbeschwertheit, und ein Angstkloß schnürte Mila die Kehle zu. Um sich den aufdringlichen Kerlen zu entziehen, hatte sie beim Laufen ihre Hand aus der Tasche ziehen müssen.

»Scheiße!«, entfuhr es ihr halb überrascht, halb ängstlich.

Ihre zittrige Finger glitten suchend die rechte Seite der schwarzen Lederjacke hinab.

»Wo ist es? Verdammt! Es war doch eben noch da.«

Doch da war nichts. Ihr Atem beschleunigte sich. Panik machte sich breit und ließ die Haut brennen, als wäre eine Horde Feuerameisen am Werk. Sie suchte genauer nach, doch die Flasche war einfach nicht zu finden.

»Scheiße, scheiße, scheiße!« Die Blondine spie diese Worte fast aus und riss sich die Jacke vom Leib. Sie kniete sich hin und begutachtete das Innenfutter. Es war an einer Stelle gerissen, so dass man gut hineingreifen konnte. Mit erzwungener Ruhe durchsuchte Mila die Eingeweide des Kleidungsstücks, bis sie schließlich etwas ertastete. Mila hatte ihr Nartec gefunden!

II. Routine

Fünfzehn Minuten später erreichte sie die Doppeltür des abgehalfterten »City-Hotels«. Das Etablissement lag in einer ehemals guten Gegend in der Innenstadt einer der größeren Städte des Ruhrgebiets. Im zweiten Drittel des einundzwanzigsten Jahrhunderts wuchs die Region immer stärker zusammen, bis die Landesregierung sie schließlich zur Metropole Ruhrstadt erhoben hatte. Heute war die ehemalige Edel-Unterkunft zu einem Stundenhotel heruntergekommen und lag in einer der dunklen Seitenstraßen des Ausläufers einer Fußgängerzone. Die Holo-Animationen in den Schaufenstern schürten noch immer die Sehnsüchte der vornehmlich jüngeren, gutsituierten Besucher. Der angebliche Abschaum der Gesellschaft vegetierte hingegen arbeitslos in den Vororten dahin.

Vorsichtig betrat die entzugsgequälte Jugendliche den Flur, der geradeaus den Blick auf eine armselig ausgestattete Rezeption freigab. Der Portier beschäftigte sich mit seinem Retina-Display und würde heute nichts von ihr fordern. Auf der rechten Seite befand sich eine baufällig wirkende Steintreppe, die in den Vorraum des Heizungskellers hinunterführte. Hier waren Mila und ihre beiden Freundinnen, Sirita und Noell, zu Hause. Es gab keine Kameras, nur Anonymität und somit Sicherheit. Für das Trio bedeutete dieses »Heim« vornehmlich einen Ort, an dem sie nicht froren und sich ohne allzu große Angst Nartec injizieren konnten. Der Stoff ermöglichte ihnen eine stundenweise Flucht vor der Verzweiflung ihres Lebens. Injektoren waren teuer und, abgesehen vom Schwarzmarkt, nur bei der Gesundheitsbehörde erhältlich. Also teilten sich die drei Teenager eines der Geräte und pflegten es sorgsam.

Routiniert entfernte Mila den Ziegel, den Noell in der hintersten Ecke unter der Treppe gelockert hatte. Dahinter befand sich der kleine, pistolenartig aussehende Apparat.

»Du bist ein Schatz«, flüsterte sie beinahe zärtlich und entnahm das handliche Gerät.

Eine Flasche, die mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war, lag unter dem Absatz bereit. Ebenso fand sie das kleine Schälchen zur Aufbereitung und Dosierung. Saubere Schore gab es nicht. Jeder kleine Dealer streckte. Das galt ebenso für antike Drogen wie für neueste Laborkreationen. Fast allen Substanzen war gemein, dass sie vor der Einnahme von unerwünschten Zusatzstoffen gereinigt werden mussten. Nartec bildete da keine Ausnahme. Man behandelte es mit Dictum-Kristallen, die in einer energetischen Nährlösung aufgelöst und vor dem »Schuss« mit der Tech-Droge vermengt wurden.

Milas schweißnasse Hände fühlten sich rutschig an, als sie die Prozedur vornahm, doch die Vorfreude keimte bereits in ihr auf.

»Na komm schon, schön ruhig, wir haben es ja gleich geschafft«, flüsterte sie.

Der letzte Pitch lag zehn Stunden zurück, und der kleine Zwischenfall mit dem Möchtegern-Freier hatte zusätzlich unnötige Zeit verschlungen. Langsam wurde der Entzug unerträglich, doch bereits bei den Vorbereitungen durchfuhr ihren zierlichen Körper eine wohlige Wärme. Dann war sie endlich fertig und zog die aufbereitete Droge auf. Sie hielt sich den Injektor an den Hals, holte tief Luft … und drückte ab.

 

Ein leiser Seufzer entrann Milas Lippen. Unmittelbar flutete der Stoff in die Venen und erzeugte den bekannten künstlichen Geschmack auf der Zunge, den das Mädchen verabscheute und zugleich auch so sehr liebte. Unaufhaltsam ergoss sich ein unbeschreiblich schönes, den Körper bis in die letzten Poren durchflutendes Gefühl von Geborgenheit, Wärme und Glück in ihr Innerstes, das die nächsten zwei bis drei Stunden anhalten sollte. Neben der enormen Endorphinausschüttung wirkte Nartec noch auf eine weitere, wesentlich gefährlichere Weise. Die enthaltenen Neurobots waren so programmiert, dass sie im Kopf die wundervollsten und realistischsten Welten entstehen ließen, die man sich nur denken konnte. Selbst die teuerste und bestausgestattete VR-Kapsel konnte nicht annähernd leisten, wozu jene kleinen Roboter imstande waren. Allerdings verpuffte dieser biotechnisch erzeugte Orgasmus nach einigen Minuten. Diese unheilige Kombination sorgte für ein unkalkulierbar hohes Suchtpotential. Egal, wie niedrig Anfänger die Einstiegsmenge auch ansetzten: Unstillbare Abhängigkeit umfing die Konsumenten bereits nach der ersten Einnahme. Von nun kannten die Betroffenen nur noch ein Ziel: dem nächsten Traum hinterherzujagen.

 

Für Mila spielte das alles keine Rolle. Sie hatte gerade den ersten harten Kick überwunden und erwartete nun die große Show. Heute jedoch blieb ihr die so vertraute, in rosa Wattewolken gepackte Traumwelt verwehrt. Stattdessen breitete sich Beklemmung in ihrer Brust aus. Leise und unauffällig manifestierten sich düstere Bilder, die sich immer weiter verfestigten und allmählich alptraumhafte Züge annahmen. Das Verhängnis nahm seinen Lauf und ergoss sich schließlich in einer Kakophonie des Grauens, aus dem es kein Zurück mehr gab. Für den außenstehenden Beobachter mochte es so aussehen, als dämmere der Teenager im Drogenrausch friedlich vor sich hin. Doch der Schein trog, denn ihre Seele durchlebte soeben die Hölle auf Erden. Milas Körper wand sich unter den Händen eines imaginären Peinigers, der seine perverse Lust an ihren Qualen befriedigte. Starr vor Schock und Angst zuckte ihr Körper unter Schlägen und Messerstichen, die für sie so real waren wie der kleine, muffige Raum, auf dessen Fußboden sie lag. Mila fühlte die unstillbare Lust nach Gewalt des Triebtäters auf der Haut und im Unterleib, als er seine fürchterlichen sexuellen Fantasien an ihr auslebte. Der Horror nahm kein Ende. Geschunden sah sie sich bluttriefend, mit zerrissenen Kleidern und klaffenden Wunden überall am Körper über schmierige, kalte Fliesen kriechen. Sie vernahm ein groteskes Lachen, fühlte und roch heißen, fauligen Atem nah an ihrem Gesicht. Nach einer kleinen Ewigkeit, in der ihr virtueller Mörder der gebrochenen, jungen Frau die letzten Fetzen vom Leib gerissen und sich ungezügelt an ihr vergangen hatte, verließen sie schließlich die Kräfte. In diesem Augenblick realisierte Mila, dass ihr Leben hier und jetzt enden würde.

III. Sirita und Noell

»Ist doch gut gelaufen«, feixte Sirita.